Afrika ist das neue Asien - Christian Hiller von Gaertringen - E-Book

Afrika ist das neue Asien E-Book

Christian Hiller von Gaertringen

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Deutschlands Perspektive auf den afrikanischen Kontinent ist verzerrt: Im Vordergrund stehen Kriege und Krisen, Katastrophen und Krankheiten. Doch unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit erleben viele afrikanische Staaten einen beispiellosen Wirtschaftsboom und Innovationsschub. Auf seinen Reisen in viele afrikanische Länder hat Christian Hiller von Gaertringen das Entstehen einer neuen, selbstbewussten Mittelschicht beobachtet: Zahllose Start-up-Unternehmen arbeiten erfolgreich, Ausbildungsverhältnisse haben sich teils massiv gebessert, und es gibt völlig neue Aufstiegschancen. Die deutsche Wirtschaft läuft Gefahr, diesen Aufschwung mit all seinen Chancen auf neue Handelsbeziehungen zu verpassen. - Ein Plädoyer für echte wirtschaftliche Zusammenarbeit statt Entwicklungshilfe.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 392

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christian Hiller von Gaertringen

Afrika ist das neue Asien

Ein Kontinent im Aufschwung

Hoffmann und Campe

Ein überholtes Bild

Im deutschen Fernsehen lebt die Kolonialzeit weiter, als wäre diese ein Idyll gewesen und als wäre diese alte Welt nie untergegangen. Die Savanne, wilde Tiere und verwegene Abenteurer mit weichem Kern dienen da gerne als Kulisse für rührende Gefühlsdramen. Sie heißen Kein Himmel über Afrika, Mein Traum von Afrika, Das Traumhotel Afrika, Buschpiloten küsst man nicht oder Afrika, mon amour. Die Geschichten werden nach einem fast immer gleichen Schema erzählt: Eine weiße Frau landet in Afrika, um den armen, aber glücklichen Menschen dort zu helfen und sich dabei nach einer großen Enttäuschung selbst zu finden. Am Anfang ist es schwer, zum Verzweifeln schwer, sich in diese Wildnis einzufinden. Doch dann verliebt sich die weiße Frau – nein, selbstverständlich nicht in einen Afrikaner, sondern meist in den weißen Abenteurer oder den Chefarzt der Buschklinik.

In der ZDF-Produktion Wohin mein Herz mich trägt lebt eine 80 Jahre alte Deutsche glücklich auf ihrer Farm in Namibia, als wäre das Kolonialregime des Deutschen Kaiserreichs nie zu Ende gegangen. Umringt von freundlichen, stets dienstbereiten Schwarzen und einer Vielzahl von Kindern, die fröhlich in dieser Kolonialidylle leben, sorgt sie sich um ihre Farm. Da reist ihre längst erwachsene Enkelin zu ihr, um den Ort ihrer glücklichen Kindheit zu besuchen – und trifft ihre große Liebe wieder. Hans heißt der Mann, der in der Zwischenzeit geheiratet hat, und seine Frau ist durch einen tragischen Unfall an den Rollstuhl gefesselt. »Mit jedem Tag, den Antonia länger auf der Farm bleibt, gewinnt die Liebe zu Hans neue Kraft – doch beide wissen, dass ihre Liebe nicht wieder auflodern darf«, heißt es in der offiziellen Filmbeschreibung. Erst nach vielen Verwicklungen finden die beiden doch wieder zueinander.

Keine deutsche Schauspielerin von Rang scheint das Genre Afrika-Schnulze in ihrer Laufbahn auszulassen: Veronica Ferres, Iris Berben, Alexandra Neldel, Jutta Speidel oder Christine Neubauer – sie alle haben ihre Rolle in diesem Repertoire.

Das deutsche Afrika-Bild hat sich trotz der Verwicklungen seit dem Ende der deutschen Kolonialzeit nach dem Ersten Weltkrieg erstaunlich gut gehalten. Viele der alten Klischees leben bis heute fort, immer wieder neu belebt von Afrika-Romanen und Fernsehromanzen, von Spendenorganisationen und Tierfilmern. Das deutsche Afrika setzt sich zusammen aus Strohhütten, dem Staub der Savanne, der schwülen Hitze von Tropenwäldern, Wasserfällen, wilden Tieren und armen Kindern, von Hunger, tropischen Krankheiten, Epidemien, Kindersoldaten und brutalen Mördern.

Es ist ein sehr einseitiges Bild, das den Deutschen den Blick auf den Aufschwung verstellt, der den Kontinent erfasst hat. Auf unserem Nachbarkontinent im Süden, der von Europa nur durch die schmale Straße von Gibraltar getrennt ist, gehen seit mehr als zehn Jahren Veränderungen vor sich, wie sie die 54 offiziell anerkannten Staaten dieses Kontinents seit ihrer Unabhängigkeit nicht erlebt haben. Mit einer wirtschaftlichen Dynamik, die noch vor 20 Jahren wohl niemand für möglich gehalten hätte, ist der Kontinent dabei, wirtschaftlich zu jenen Ländern aufzuschließen, die wir gerne als entwickelte bezeichnen. In Afrika entstehen gerade die Schwellenmärkte der nahen Zukunft. Begleitet von einem spürbaren Rückgang der bewaffneten Konflikte, einer Verbesserung der politischen Regime und höherer Rechtssicherheit wächst Jahr für Jahr der Wohlstand auf diesem Kontinent.

Afrika ist dabei, die unglaubliche Wachstumsgeschichte, die Asien in den vergangenen 20 Jahren erlebt hat, zu wiederholen. Seit mehr als einem Jahrzehnt liegt das durchschnittliche Wirtschaftswachstum aller afrikanischen Länder Jahr für Jahr bei mehr als 5 Prozent – ungeachtet aller Wirtschafts-, Finanz- und Schuldenkrisen, die in dieser Zeit Europa, Nordamerika, Asien oder Lateinamerika durchstehen mussten.

Deutschland und die deutsche Wirtschaft nehmen an diesem Aufschwung – gemessen an anderen Ländern – so gut wie nicht teil. Deutsche Unternehmen zeigen sich zufrieden mit ihren Erfolgen in China und ignorieren bisher weitgehend, was in Afrika vor sich geht. Das neue Afrika, das gerade entsteht, ist in Deutschland weitgehend unbekannt.

Den Luxus, diese Entwicklung zu ignorieren, kann sich die deutsche Wirtschaft nicht länger leisten. Deutschland braucht Afrika, wenn es seinen Wohlstand auf Dauer erhalten will. Diese Aussage mag überraschen oder gar Entrüstung provozieren. Und in der Tat könnte der Kontrast zwischen Afrika und Deutschland kaum größer sein. Im kalten Norden sitzt eine alternde Mittelschicht in wohltemperierten Reihenhäusern und lebt der Rente entgegen. Unten im Süden streben viele Millionen junger Menschen danach, eine gute Ausbildung zu bekommen und voranzukommen. Sie wollen Familien gründen, ihren Kindern eine gesicherte Zukunft bieten und eines Tages zu den Erfolgreichen auf diesem Erdball zählen.

Afrika ist noch immer der unbekannte Kontinent. Allein schon die in Deutschland gebräuchlichen Weltkarten zeigen ein verzerrtes Bild. Dort ist Afrika auf einen Fleck kaum größer als Grönland zusammengestaucht. Dabei ist die Strecke von Frankfurt am Main nach Osten über Warschau, Minsk, Moskau, Kasan, Ufa, Omsk, Nowosibirsk, Krasnojarsk, Ulan Bator bis nach Peking in etwa so lang wie die Nord-Süd-Entfernung von Algier nach Kapstadt.

12000 Kilometer sind es mit dem Auto von der Nordspitze Afrikas bis ans Kap der Guten Hoffnung. 165 Autostunden müssen laut den gängigen Routenplanern für diese Strecke eingeplant werden. Die Tour führt durch die Sahara in den Norden Nigerias, durch die Zentralafrikanische Republik nach Ruanda, Burundi, den Osten der Demokratischen Republik Kongo nach Sambia, Simbabwe und dann hinein nach Südafrika. Allein die letzte Strecke von Johannesburg nach Kapstadt misst noch einmal rund 1400 Kilometer. Während die Europäische Union auf eine Fläche von etwa 4,4 Millionen Quadratkilometer kommt, bedeckt die afrikanische Landmasse gut 30 Millionen Quadratkilometer der Erde. Während die Europäische Union etwas mehr als 500 Millionen Einwohner zählt, kommt Afrika heute schon auf gut 1,1 Milliarden Menschen. Ihre Zahl wird sich in wenigen Jahrzehnten noch einmal verdoppeln auf dann mehr als das Vierfache der Bevölkerung in der EU.

Auf einer Fahrt von Algier nach Kapstadt begegnet dem Reisenden ein Kontinent mit einer enormen Vielfalt an unterschiedlicher Natur und Klimazonen und einem unerschöpflichen kulturellen Reichtum. Afrika wird in Deutschland oft als eine homogene Landmasse mit einer homogenen Bevölkerung wahrgenommen – das jedoch ist falsch. Ein Xhosa aus Südafrika hat mit einem Ghanaer aus der Ashanti-Region, mit einem Igbo aus Nigeria oder einem Kikuyu aus Kenia kaum etwas gemeinsam. Sie vereint weder eine gemeinsame Sprache noch eine geteilte Geschichte oder dieselben Bräuche.

Manche glauben Afrika fest in der Hand chinesischer Investoren. Sie sind der Ansicht, China habe den Kontinent schon längst erobert und sich ihn einverleibt. Doch beides ist nicht richtig. China kontrolliert weder den Kontinent noch einzelne Regierungen. Und der Kontinent ist auch nicht aufgeteilt. Im Gegenteil: Mehr und mehr Länder sind dabei, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und sich eben gerade von ausländischem Einfluss, Hilfsgeldern, Spenden und Almosen unabhängiger zu machen. Das chinesische Engagement ist, wie wir sehen werden, vielschichtig und hat sich im Laufe der Jahre stark verändert. Für die chinesische Regierung ist das Engagement in Afrika Teil der Lösung der demographischen Probleme, auf die China zusteuert.

Es ist nicht so, dass China durch unlauteren Wettbewerb andere Unternehmen oder andere Länder aus Investitionen in Afrika gedrängt hätte. Chinesische Manager und Unternehmer zeigen dort Präsenz, wo deutsche Wirtschaftsvertreter mit Abwesenheit und Desinteresse glänzen. Chinesische Unternehmen bauen dort Straßen und setzen die verrotteten Eisenbahnlinien der früheren Kolonialherren instand, wo kein deutscher Konkurrent bereit war, zu investieren.

Ein Engagement in Afrika halten viele deutsche Unternehmer und Manager für einen Luxus, den die allermeisten von ihnen sich nicht leisten wollen. Die Frage, die sich der deutschen Wirtschaft stellt, wird in wenigen Jahren nicht mehr sein: Muss sich ein Manager wirklich Afrika antun, mit all den Unbequemlichkeiten, die Reisen und Investitionen auf diesem Kontinent mit sich bringen mögen? Die Frage wird sein: Kann ein Unternehmen es sich erlauben, Afrika auszusparen?

Das größte Handicap für Afrika ist nicht mehr die Armut. Es sind auch nicht die drei großen »K«: Korruption, Kriege, Krankheiten. Das größte Hindernis, das Afrika zu überwinden hat, ist die Vergangenheit. Sie sorgt dafür, dass die meisten Betrachter aus Europa oder Nordamerika bei Afrika immer noch an all die Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte denken, an korrupte Machthaber, die in obszöner Weise ihren Reichtum zur Schau stellen, an abgemagerte Mütter, die ihre Kinder nicht mehr ernähren können, an Kindersoldaten, die ihre Machete oder Kalaschnikow präsentieren.

Diese Bilder sind nicht erfunden. Sie spiegeln eine Realität, die den Kontinent nach wie vor zerreißt. Afrika ist auf Katastrophenhilfe aus dem Norden angewiesen und wird es noch auf viele Jahre bleiben. Auch wird der wirtschaftliche Aufschwung an vielen Menschen in Afrika vorbeiziehen, ohne dass sie in irgendeiner Weise unmittelbar von ihm profitierten. Der einseitige Blick aus Deutschland auf dieses menschliche Leid verstellt jedoch die Sicht auf die wirtschaftliche Dynamik, die den Kontinent erfasst hat. Aus Deutschland betrachtet, ist Nigeria in erster Linie das Land von Boko Haram, islamistischem Terror und einer beispiellosen Umweltverschmutzung durch die Ölförderung. Aus afrikanischer Perspektive ist Nigeria vor allem ein Land mit beeindruckenden wirtschaftlichen Erfolgen und Unternehmern, zu denen viele Afrikaner voller Bewunderung aufschauen. Dieses Buch will diese bisher verkannte Seite Afrikas zeigen, ohne die andere relativieren zu wollen.

Denn: Das Image von Afrika ist heute schlechter als die Realität. Und Afrika leidet daran. Hungernde Kinder mit eingefallenen Wangen und großen traurigen Augen sind ein gängiges Afrika-Bild, dem die Deutschen in Bussen, Straßenbahnen, in Zeitschriften und auf Plakatwänden am häufigsten begegnen. Afrika ist das Reservat der großen Hilfsorganisationen auf der Suche nach öffentlichen Aufträgen und Spenden. »Weniger ist leer« – mit diesem Slogan wirbt die Organisation Brot für die Welt um Spenden und zeigt einen Teller mit ein paar Reiskörnern darauf. Solche Werbung schockiert viele Afrikaner. Diesem Afrika-Bild würden sie gerne entgegensetzen: »Afrika ist mehr«, mehr als dieses einseitige Bild. Die Organisationen der Entwicklungs- und Katastrophenhilfe, von der niederländischen Journalistin Linda Polman als »Mitleidsindustrie« bezeichnet,[1] zeichnen nur einen Ausschnitt aus der vielfältigen Lebenswirklichkeit der Afrikaner.

Daneben stehen als gängiges Klischee die Idylle der Savanne, friedliche Elefanten oder dösende Löwen im Schatten eines Baobab-Baums. So werben Reiseveranstalter gerne für Safari-Touren nach Südafrika, Namibia oder Kenia – zu Recht übrigens. Die Tierwelt Afrikas zählt zu den großen Naturwundern dieser Erde.

Die Konturen eines neuen Afrikas, das mit dem alten wenig gemein hat, dringen nur langsam ins öffentliche Bewusstsein: Dank der Entschuldungsinitiativen der 1990er Jahre und des Rohstoffbooms in den Jahren nach 2000 hat sich in Afrika eine wirtschaftliche Dynamik entfaltet, die auch anhielt, nachdem die Weltmarktpreise für Rohstoffe nach 2012 zum größten Teil zu fallen begannen.

Ist Afrika von Europa aus betrachtet ein Kontinent des Elends, sieht dies aus afrikanischer Sicht ganz anders aus: eine Region voller Hoffnung, voller Optimismus, voller Zuversicht, die Zukunft zu meistern. Die Menschen dort sehen selbstverständlich all die Unzulänglichkeiten der Gegenwart. Doch sie strengen sich an, damit es ihnen besser gehen wird und ihre Kinder eine gute Ausbildung bekommen. Diese Energie, mit der die Menschen dort ihr Leben anpacken, ist mitreißend. Afrika hat im Laufe der Jahre beeindruckende Unternehmerpersönlichkeiten hervorgebracht. Einige von ihnen werden in diesem Buch vorgestellt. Es gibt noch viel mehr. Die wenigsten von ihnen sind in Europa bekannt.

Afrikas Wirtschaft hat das meiste, was sie benötigt: Der Kontinent hat Rohstoffe im Überfluss. Die wenigsten von ihnen sind auch nur annähernd erschlossen. Der Kontinent hat optimistische Konsumenten und Millionen ehrgeiziger Arbeitskräfte. Der Kontinent bekommt die politische Stabilität und die rechtliche Zuverlässigkeit, die den notwendigen Rahmen für einen dauerhaften Aufschwung der Wirtschaft schaffen.

Was die afrikanische Wirtschaft braucht, ist Kapital und einen besseren Zugang zu Know-how. Die nächste Etappe auf der Entwicklung des Kontinents ist seine Industrialisierung. Chinas Unternehmen beginnen schon damit, Fertigungsstätten aus Südostasien nach Afrika zu verlagern, weil in China und zunehmend in den angrenzenden Ländern die Lohnkosten steigen.

Eine Spirale des Erfolgs zieht den Kontinent nach oben: Unternehmen öffnen neue Märkte, schaffen Arbeitsplätze und Einkommen. Diese kreieren Nachfrage nach neuen Produkten, nach Bildung, nach Gesundheitsvorsorge, nach Wohnungen, Autos, Konsumgütern. Diese Nachfrage bietet anderen Unternehmen neue Chancen und setzt Anreize, Fabriken in Afrika zu bauen.

Die deutsche Wirtschaft vergewissert sich gerne selbst, dass sie ja in Afrika mehr tun könnte, wenn sie wollte. »Made in Germany« habe in Afrika einen guten Klang, heißt es dann zur Selbstbestätigung. Doch der Aufschwung auf dem Kontinent findet weitgehend ohne die Deutschen statt. Es fehlen Leuchtturminvestitionen und Unternehmen, die mutig vorangehen. Die deutsche Wirtschaft hat ihren Radius in den vergangenen 20, 25 oder 30 Jahren mit großem Erfolg nach Asien verlegt und wie die Wirtschaft kaum eines anderen Landes in Europa Nutzen aus dem Aufschwung in Asien und speziell in China gezogen. Dies gilt es nun, in Afrika zu wiederholen. Denn Afrika ist das neue Asien.

Mein Buch will einen Beitrag dazu leisten, das neue Afrika besser kennenzulernen. Denn auf diesem Kontinent könnte ein Schlüssel liegen, um die Schwierigkeiten zu meistern, die Deutschland in den kommenden Jahrzehnten zu bewältigen hat. Entstanden ist das Buch auf der Grundlage von vielen Reisen, die mich quer über den Kontinent geführt haben – in staubige Dörfer mitten in Äthiopien, in die keine Straßen führen, sondern nur ein von Hand gezogenes Floß, in das Bankenviertel von Lagos, in die Fabriken rund um Nairobi, an die Südspitze des Kontinents nach Kapstadt, in die entlegenen Rohstoffgebiete Malis. Das Buch geht zurück auf unzählige Gespräche mit Bankern, Unternehmern, einfachen Bauern, Studenten, Professoren, Managern und Vertretern von Hilfsorganisationen. Ihnen allen sei hier für ihre Unterstützung, für ihre Einschätzungen und Ansichten, die sie mit mir teilten, gedankt.

1Der Exportriese Deutschland zeigt Schwächen

An diesem Nachmittag entlang der Ausfallstraße der äthiopischen Universitätsstadt Adama, auch als Nazret bekannt, in Richtung Süden drängen sich Hunderte von Jungen und Mädchen, in den unterschiedlichsten Schuluniformen: grüne Röcke, rote Blazer, blaue Hosen, manche tragen gelbe Halstücher, andere Mützen. Überall sind junge Menschen zu sehen, Erstklässler wie Teenager, die nach ihrem Schulschluss gemeinsam den Weg nach Hause antreten und ausgelassen Fangen spielen oder aufgeregt Neuigkeiten austauschen.

Afrika ist ein junger Kontinent. In vielen Ländern stellen Menschen unter 20 Jahren die Bevölkerungsmehrheit. Die Alten dagegen sind in der Minderheit. Welch ein Kontrast zu Deutschland. Hierzulande diskutiert man über barrierefreie Haltestellen, Treppenlifte und Kassenzuzahlungen für Slipeinlagen bei Inkontinenz. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender spezialisieren sich auf Krimikomödien und Liebesschnulzen für ältere Damen. Die Anzeigen vieler Zeitschriften werden von Mitteln gegen erhöhten Harndrang oder zur Erhöhung der Konzentrationsfähigkeit dominiert.

Wollte ein Anleger in aussichtsreiche Aktien in Deutschland investieren, sollte er wohl Hersteller von Hörgeräten oder Rollatoren auswählen. Leider ist keiner von ihnen an der Börse notiert. Auf den Aktienmärkten in Afrika hingegen dominieren Unternehmen, die in junge Konsumenten investieren. Hersteller von Haarmode, von Mitteln zur Körperpflege, von Kosmetika, von Trendgetränken oder von Immobiliengesellschaften, die Wohnungen für die aufstrebende Mittelschicht bauen – das sind die Aktien, die den wirtschaftlichen Aufschwung Afrikas tragen und die an den Börsen des Kontinents gefragt sind.

Während Europa auf dem Weg ist, das Altersheim des Planeten zu werden, strotzt Afrika vor Jugend, Kraft und Zuversicht. In Städten wie Lagos oder Nairobi wechseln die Konsumtrends so schnell, dass die Unternehmen Mühe haben, mitzuhalten. Ein Sänger oder eine Band kann einen Augenblick lang der Hit und kurze Zeit später schon wieder in Vergessenheit geraten sein. Neue Wörter entstehen so schnell und Bedeutungen ändern sich in einer Geschwindigkeit, dass Außenstehende kaum folgen können. Außenstehende – das sind auch ganz schnell diejenigen, die nur mal für ein paar Monate weg sind. In Nairobi sprechen die Jugendlichen Sheng, eine eigene Sprache, die in den Elendsvierteln entstand und über die Musik rasch Verbreitung im ganzen Land und darüber hinaus fand. Sheng verändert sich im Tempo des Aufschwungs im Osten des Kontinents. Nichts steht fest in Afrika. Alles befindet sich in einem beständigen Fluss der Veränderung.

Was haben die Alterung Europas und die Jugend in Afrika miteinander zu tun? Weshalb sollte sich jemand in Deutschland dafür interessieren, was fernab in Afrika geschieht? Es ist ganz einfach: Während die deutsche Wirtschaft dabei ist, sich auf die Rente vorzubereiten, entsteht in Afrika die Zukunft des Planeten. Afrika ist der letzte Kontinent, der nach Europa, Nordamerika, Lateinamerika und Asien dabei ist, sein wirtschaftliches Potenzial freizusetzen, und verringert den Abstand zur entwickelten Welt in großen Schritten.

In Afrika wird gerade das letzte Kapitel dieser enormen wirtschaftlichen Umwälzung geschrieben, die vor etwa 200 Jahren begann, die in unglaubliche technische Innovationen und schließlich in die Globalisierung mündete, in das Zusammenwachsen der Welt, das Ende abgeschotteter Wirtschaftsräume.[2] Diese Umwälzung verwandelte Agrarländer in Industrienationen, führte zur Ablösung von Diktaturen und Tyrannei durch Demokratie und eröffnete Millionen Menschen den Weg zu gesünderen Lebensverhältnissen, Bildung und Selbstentfaltung, zu einem Leben in Wohlstand und Sicherheit.

Afrika ist der letzte Kontinent, der sich auf diesen Wandel macht, von einem Agrarerzeuger, der nur wenige Millionen Menschen dauerhaft ernähren konnte, zu einer modernen Wirtschaftsregion, die in der Lage ist, jener Milliarde Menschen, die heute schon Afrika bevölkert, ein gutes Auskommen zu sichern.

Die deutsche Wirtschaft kann es sich nicht leisten, jenen Kontinent zu ignorieren, auf dem sich das Wachstum der Weltwirtschaft der kommenden Jahrzehnte abspielen wird, auf dem heute Unternehmen aus China, Indien, Malaysia oder Brasilien die Marktanteile von morgen verteilen.

Die Erfolge der deutschen Wirtschaft in den vergangenen Jahren sollten nicht täuschen. Deutschland profitierte einige Jahre lang vom Boom in China und anderen Schwellenländern. Deutsche Maschinen, deutsche Autos, deutsche Chemie waren in Südostasien gefragt wie nie. Das relativ kleine Deutschland ist zu einem der wichtigsten Handelspartner des mächtigen China geworden. Während Südeuropa im Zuge der Schuldenkrise in den Jahren nach 2009 am Boden lag, strotzte die deutsche Industrie vor Kraft. Dieser Erfolg hat grundlegende Schwächen überdeckt. Deutschlands längerfristiges Wachstumspotenzial ist gar nicht so stark, wie oft behauptet wird, schrieb der Journalist des Wall Street Journal Deutschland, Simon Nixon, im August 2013.[3] »Geringe Investitionen, eine schwache Arbeitsproduktivität und eine schrumpfende Bevölkerung drohen die Wirtschaft zu bremsen«, befürchtete Nixon.

Findet in der deutschen Wirtschaft kein Umdenken statt, droht sie im internationalen Wettbewerb zurückzufallen. Chinesische Unternehmen drängen in Hightech-Branchen vor, indische Unternehmen in moderne Gesundheitstechnik, und brasilianische Unternehmen bauen irgendwann Autos für die Massenmärkte in Afrika. Ein Niedergang kann lange dauern. Oft beginnt er kaum merklich, dann beschleunigt er sich, ohne dass er die Menschen beunruhigt und veranlasst umzudenken. Wird er allgemein sichtbar, ist es oft zu spät, gegenzusteuern. Deshalb wäre es verfehlt, sich auf den Erfolgen der Vergangenheit auszuruhen und die Chancen auf dem afrikanischen Kontinent liegenzulassen, weil die Reisen dorthin zu beschwerlich sind, die Geschäftspartner unbekannt, die Sitten und Gebräuche fremd und die Justiz unberechenbar. Will die deutsche Industrie ihre Spitzenposition in der Welt halten, kann sie den Aufschwung Afrikas nicht länger ignorieren.

Ganz andere Sorgen treiben die Unternehmer zwischen Algier und Kapstadt um. Aus europäischer Sicht sind es Luxussorgen. Die Nachfrage nach ihren Produkten ist oft so unersättlich groß, dass die Unternehmen bis an die Grenze ihrer Produktionskapazitäten gefordert werden. Nestlé beispielsweise hat die auch in Deutschland so beliebte Maggi-Suppenwürze nach Nigeria gebracht. Bei den afrikanischen Frauen war dieses Allerweltsprodukt ein solcher Erfolg, dass die Regale in den Supermärkten regelmäßig leergefegt waren. Nestlé hatte Mühe, mit der Produktion nachzukommen. Diese Erfahrung machen viele Unternehmen in Afrika: Eine junge Bevölkerung, die weiter wächst, und ein damit ständig wachsender Konsummarkt peitschten die Wirtschaft immer weiter voran.

Während in Deutschland viele Marketingmanager verzweifelt überlegen, mit welchen Ideen sie zusätzlichen Umsatz auf diesen übersättigten Märkten erzeugen können, werden die Unternehmen in Afrika von einer überwältigend großen Nachfrage gezogen. In Afrika bilden die Verbraucher eine immense Nachfragemacht, die nur darauf wartet, Produkte in verlässlicher Qualität zu bezahlbaren Preisen zu erhalten. Deutsche Unternehmer und Politiker haben dies lange verkannt. In Zukunft werden deutsche Unternehmen auf Afrika angewiesen sein. Denn auf den Boom allein in den anderen Schwellenländern wie China, Russland oder Brasilien sollte sich die deutsche Wirtschaft nicht verlassen. Die atemberaubend hohen Wachstumsraten der vergangenen Jahre könnten bald der Vergangenheit angehören. Schon heute flacht sich die Wachstumskurve in bedeutenden Schwellenländern wie China, Russland, Brasilien oder Indien ab. Afrika dagegen wird dank seiner jungen Bevölkerung und dem starken Bevölkerungswachstum in wenigen Jahren das sein, was China in den vergangenen Jahrzehnten war: ein manchmal chaotischer, aber dynamischer Wachstumsmotor für die Weltwirtschaft.

Die Sättigung vieler Märkte in Europa hat viel mit dem Wohlstand zu tun, der hier in den vergangenen Jahrzehnten erwirtschaftet worden ist. Doch noch mehr wird die demographische Entwicklung zu einer Belastung für die Sozialsysteme. Die Zahl der Geburten ist so niedrig, dass sie inzwischen unter der Zahl der Sterbefälle liegt. 673570 Kinder in Deutschland wurden 2012 laut dem Statistischen Bundesamt lebend geboren.[4] Diesen Geburten standen 869582 Sterbefälle gegenüber. Damit liegt die Zahl der Geburten um rund 196000 unter der Zahl der Verstorbenen – Deutschland schrumpft.

Einige Jahre lang wurde dieser Effekt dadurch überlagert, dass die geburtenstarken Jahrgänge – die in den 1960er Jahren geborenen Kinder des Babybooms – in das Alter kamen, in denen sie selbst Familien gründeten und Kinder zeugten. Dementsprechend hoch war die Zahl der Geburten. Doch dieser vorübergehende Anstieg ändert nichts daran, dass viele Erwachsene in Deutschland keine oder nur wenige Kinder in die Welt setzen. In Deutschland bekommt eine Frau weniger als 1,5 Kinder. 2011 lag die Geburtenrate bei 1,36 Kindern je Frau. Notwendig wäre, um die Bevölkerungszahl langfristig stabil zu halten, ein Wert von 2,1 oder noch besser 2,2. Dieser wird jedoch nur in wenigen Industrieländern erreicht. Das angeblich so gebärfreudige Frankreich schafft gerade einmal die Marke von 2,1, und selbst in Israel, wo der Staat besonders gut für Kinder und ihre Eltern sorgt, liegt die Rate im Landesdurchschnitt bei 2,7.

Die Gebärfreudigkeit der Menschen hat Folgen für die wirtschaftliche Zukunft eines Landes. Schon heute kostet die Überalterung Deutschlands nach OECD-Schätzungen Jahr für Jahr ein halbes Prozent Wirtschaftswachstum. Das ist viel angesichts der Tatsache, dass in Deutschland die jährliche Wachstumsrate in den vergangenen Jahren regelmäßig unter 1,5 Prozent lag. Dabei steht die große demographische Herausforderung erst bevor, dann nämlich, wenn die Babyboom-Kinder in Rente gehen. Die Folgen der niedrigen Geburtenraten in Deutschland werden sich kaum umkehren lassen, herrscht dieser Trend doch seit Jahrzehnten vor. »Seit 1983 war die Geburtenrate in Deutschland nicht mehr höher als 1,5 Kinder pro Frau«, stellt die OECD fest.[5]

Die Überalterung Deutschlands wird das Wachstum bremsen. Bis 2025 wird die deutsche Wirtschaft bestenfalls um ein Prozent jährlich wachsen, warnte das Wirtschaftsforschungsinstitut Prognos 2010 in seinem Bericht Deutschland Report 2025.[6] »Die wirtschaftliche Dynamik geht zurück«, warnte der Geschäftsführer von Prognos, Christian Böllhoff, bei der Vorstellung des Berichts. »Langfristig bremst vor allem die demographische Entwicklung.«

Abschied vom Rekordwachstum – das wird die bittere Folge des Bevölkerungsrückgangs in Deutschland sein und viele neue Konflikte schaffen. Wachstum löst viele soziale Auseinandersetzungen. Fordert die eine soziale Gruppe mehr Geld, muss sie dazu anderen Gruppen nichts oder nur wenig wegnehmen, solange die Wirtschaft wächst. Herrscht jedoch Stagnation oder Flaute in der Wirtschaft, muss der Staat den einen etwas wegnehmen, um den anderen etwas geben zu können. Schärfere Verteilungskämpfe werden die Folge niedrigen Wachstums sein. Wer füllt beispielsweise die Rentenkassen auf, wenn immer mehr Alte sie leeren und die künftigen Einzahler nicht mehr geboren werden?

Dass der demographische Trend in Deutschland das Wirtschaftswachstum dämpfen wird, ist unter den Ökonomen unstrittig. Nicht nur die jährlichen Wachstumsraten werden sinken. Die deutsche Wirtschaft wird auch krisenanfälliger werden. »Bisher gab es nur in Ausnahmefällen, alle fünf bis zehn Jahre mal eine Rezession«, sagt Harald Preißler, Chefvolkswirt der Fondsgesellschaft Bantleon in Hannover.[7] »In der Zukunft könnte uns das alle zwei Jahre blühen.« Mit einer schrumpfenden Bevölkerung hält er es kaum für möglich, ein hohes Wachstumstempo zu halten. »Der größte Treiber des Wirtschaftswachstums war in der Vergangenheit die Demographie«, meint Preißler. Um durchschnittlich 3,5 Prozent im Jahr sei die Weltwirtschaft in den vergangenen drei Jahrzehnten gewachsen. »Knapp 2 Prozent davon gingen allerdings allein auf das Bevölkerungswachstum zurück, also mehr als die Hälfte«, sagt der Volkswirt.

Damit wird auf den Kapitalmärkten der Treibstoff knapp, der die Kurse nach oben bewegt. Denn das Sparaufkommen der zusätzlichen Bevölkerung hat bisher die Kurse auf den Finanzmärkten getrieben. Dieser Zustrom wird versiegen. Als Erstes wird sich dies auf den Aktienmärkten zeigen. »Wer in der Vergangenheit noch langfristige Wertentwicklungen von 7 bis 8 Prozent an den Börsen einkalkulierte, der wird sich künftig mit durchschnittlich 4 bis 5 Prozent begnügen müssen«, sagt Preißler voraus. Das ist der Blick auf Aktien insgesamt. Noch gravierender werden die Folgen innerhalb der Aktienmärkte sein: Manche Märkte oder Branchen werden zu den Gewinnern zählen. Viele Unternehmen jedoch werden überdurchschnittlich stark unter dem Rückgang des Bevölkerungswachstums leiden.

Auch wenn die deutsche Wirtschaft auf das geringere Wachstumspotenzial im Inland mit noch höheren Ausfuhren reagierte, es würde wenig helfen. Schließlich schafft sich eine auf Export ausgerichtete Wirtschaft wie Deutschland eigene Probleme. Das Gegenstück zu starken Exporten sind hohe Geldforderungen gegenüber dem Ausland. Jede Ausfuhr von Waren oder Dienstleistungen geht mit einer Forderung gegenüber dem Ausland einher, oft auch noch, wenn der Abnehmer seine Rechnung schon bezahlt hat, denn jeder amerikanische Dollar auf deutschen Bankkonten stellt eine Forderung gegenüber den USA dar. Der Mittelständler, der eine Maschine nach China verkauft, erhält eine Forderung. Diese erlischt, sobald der Käufer sie abgetragen hat und der Erlös in Euro getauscht ist. Beim Export von Konsumgütern kann dies schnell geschehen. Bei großen Industrieprojekten wie dem Bau eines Zementwerkes, eines Flughafens oder einer Autofabrik kann sich dies über viele Jahre hinziehen. Oft sind die deutschen Exporte an kreditfinanzierte Projekte gebunden, die über einen langen Zeitraum abbezahlt werden. Auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene besitzt eine Nation wie Deutschland, die mehr exportiert, als sie importiert, stets mehr Forderungen gegenüber dem Ausland als Schulden. Das bedeutet aus einer anderen Perspektive betrachtet: Die Devisen, die aus dem Export von deutschen Industriegütern ins Inland fließen, werden in Deutschland nicht vollständig für die Bezahlung von Importen benötigt.

Deutschland ist wegen seiner Exportstärke Jahr für Jahr Netto-Exporteur von Kapital. Nur weil Deutschland gleichzeitig das für den Kauf seiner Produkte notwendige Kapital bereitstellt, kann die heimische Wirtschaft ihre Exportstärke ausspielen. Deshalb ist Deutschland mehr als andere Länder darauf angewiesen, dass es seinen Schuldnern im Ausland wirtschaftlich gutgeht, damit diese ihre Rechnungen bezahlen können. Wie sehr Deutschland durch seine Exportüberschüsse auf gute Auslandsbeziehungen angewiesen ist, hat sich in den vergangenen Jahren während der Griechenland-Krise gezeigt. Die starke Ausrichtung der deutschen Wirtschaft auf den Außenhandel schafft viele Vorteile, aber auch ganz besondere Risiken.

Die deutsche Wirtschaft hat sich in ihren Handelsbeziehungen zu sehr von einigen wenigen Ländern abhängig gemacht. Europa ist Abnehmer für rund die Hälfte der deutschen Exporte. Dort, vor allem in den Krisenländern im Süden, wird wegen der Notwendigkeit, die öffentlichen Haushalte zu sanieren, auf Jahre hinaus wenig Wachstum zu erwarten sein. Das gilt auch für die Vereinigten Staaten. In China, das mit seinem starken Wachstum in den vergangenen Jahren die deutsche Wirtschaft stark gezogen hat, werden sich die Wachstumsraten zwangsläufig abflachen.

Der Fall der Wachstumsraten in China spielt sich freilich in Höhen ab, die für die deutsche Wirtschaft unerreichbar geworden sind. Wenn von einem Rückgang der Wachstumsraten in China oder anderen Schwellenländern die Rede ist, meinen die Ökonomen keinen Absturz auf deutsches Niveau von weniger als 1,5 Prozent. Die amerikanische Wirtschaftszeitung Wall Street Journal hatte im Juli 2013 eine Umfrage unter Ökonomen durchgeführt und kam als Ergebnis auf längerfristige Wachstumserwartungen für China von rund 7,5 Prozent jährlich.[8] Das ist immer noch beachtlich. Doch fast die Hälfte weniger als die 14,2 Prozent Wachstum, die China im Jahr 2007 erreicht hatte.

Fast 30 Jahre lang ist es China gelungen, die Wirtschaftsleistung des Landes um 10 Prozent jährlich und manchmal sogar noch mehr zu steigern. Das ist eine unglaubliche Leistung, die wohl noch keinem Land zuvor über einen so langen Zeitraum gelungen ist. In den vergangenen gut 20 Jahren lagen die Hoffnungen vieler deutscher Unternehmen auf China. Wohl kein anderes westliches Land hat so stark in diesem Riesenreich investiert wie Deutschland. Besonders die Hersteller von Industriegütern suchten dort neue Kunden. China wurde ein beliebter Absatzmarkt, der Produkte »Made in Germany« gierig aufsog. Von den Fließbändern deutscher Autobauer rollen die Autos, nach denen die aufstrebende Mittel- und Oberschicht in Asien verlangt. Immer mehr werden sie nicht nur direkt vor Ort montiert, sondern komplett gebaut. Der von der Shanghai Volkswagen Automotive Company gebaute Santana ist aus chinesischen Großstädten kaum noch wegzudenken. 1984 kam er dort auf den Markt und wurde dort das, was der VW Käfer jahrzehntelang in Deutschland war: das Auto für jedermann. Im Frühjahr 2013 kam eine neue Generation des Erfolgsmodells auf den Markt. Und deutsche Konzerne liefern die Hightech-Produkte, die sich China zunehmend leisten kann. Jedes Jahr bringt der Volkswagen-Konzern mehr als eine Million neue Fahrzeuge auf den chinesischen Markt.

Immerhin ist China seit 2009 das Land, das jährlich die meisten Autos auf der Welt produziert. Davon profitieren nicht nur die Autohersteller, sondern auch die Automobilzulieferer, größere und kleinere, Maschinenbauer, Elektrounternehmen und andere Unternehmen aus dem deutschen Mittelstand. Viele von ihnen haben mutig im Fernen Osten investiert und Märkte dort aufgebaut. Die vielen deutschen Unternehmer und Ingenieure produzieren die Maschinen, die Chinas Unternehmen für den Aufbau ihrer Industrie brauchen.

Je mehr sich die chinesische Wirtschaft entwickelt, desto weniger werden chinesische Unternehmen auf deutsche Technik angewiesen sein. Auch wollen immer mehr Chinesen die Früchte ihrer Anstrengungen genießen. Sie wollen mehr konsumieren und weniger arbeiten. Das schafft neue Absatzmöglichkeiten für konsumorientierte Unternehmen, während es für Hersteller von Investitionsgütern, die gerade die Wirtschaftsstärke Deutschlands ausmachen, schwerer werden dürfte. Auch wenn sich die pessimistischeren Prognosen für China nicht bewahrheiten sollten, wäre es fatal für die deutsche Wirtschaft, weiterhin so sehr auf China zu setzen wie in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Deutschland sollte auf jeden Fall seine wirtschaftlichen Außenbeziehungen breiter fächern.

Allein aus dem Grund einer breiteren Streuung der deutschen Exporte wäre es klug, einen Teil der Engagements deutscher Unternehmen im Ausland nach Afrika umzulenken und in den Kontinent zu investieren. Afrika bietet die Märkte, die Deutschland in Zukunft braucht. Denn jedes Kind, das zur Welt kommt, sorgt für neue Nachfrage. Es braucht Kleidung, Medikamente, Milch, Essen, Getränke. Es wird Bildung erhalten, Medien, Bücher, Zeitschriften konsumieren und später vielleicht einmal reisen, ein Auto kaufen, ein Haus bauen und schließlich eine eigene Familie gründen. Ältere Menschen haben von allem schon das meiste. Sicher können sich Unternehmen auf diese Zielgruppe einstellen und diesen Menschen vermehrt Produkte anbieten, die auf ihre speziellen Bedürfnisse abgestimmt sind. So haben manche Hersteller von Babykost in Europa oder den Vereinigten Staaten Fertiggerichte für Senioren in ihr Angebot aufgenommen. Doch es wird auf Dauer unmöglich sein, in Deutschland jene Wachstumsraten zu erzielen, wie sie in den aufstrebenden Märkten Afrikas möglich sind. Deutsche Unternehmen müssen, wenn sie weiter wachsen wollen, auf den Wachstumsmärkten der Welt vertreten sein. Das wird in Zukunft Afrika sein.

Doch die Wachstumsstory der Schwellenländer hat Kratzer bekommen. Ende Juni 2013, mitten in einer Hitzewelle aus Afrika, die Deutschland zum Schwitzen brachte, platzte eine Nachricht, die Tausende Anleger aufschreckte und Hunderte Volkswirte verunsicherte. Ben Bernanke, damals noch der Präsident der mächtigen amerikanischen Notenbank Fed, deutete zaghaft an, dass er daran denke, eines Tages von seiner extrem lockeren Geldpolitik abzuweichen. Vielleicht werde die Fed dann nicht mehr ganz so viele amerikanische Staatsanleihen kaufen, wie sie es auf dem Höhepunkt der Finanzkrise im Herbst 2009 begonnen hatte und seitdem Monat für Monat tat. 85 Milliarden Dollar wandte er bis dahin jeden Monat auf, um amerikanische Staatsanleihen zu kaufen und auf diese Weise die amerikanischen Zinsen niedrig zu halten, die Wirtschaft mit Liquidität zu versorgen und zu stabilisieren. Um 10 bis 15 Milliarden Dollar auf dann vielleicht 70 oder 75 Milliarden Dollar wolle er möglicherweise irgendwann diese Käufe drosseln. Dieser Betrag ist immer noch unvorstellbar hoch.

Diese Überlegungen genügten, um für einen Augenblick in diesem Sommer 2013 die Weltbörsen in Panik zu stürzen. An der Wall Street stürzte der Dow-Jones-Index, der Pulsmesser der Weltbörsen, um 1,4 Prozent. Die asiatischen Aktienmärkte erlebten den größten Kursverfall seit anderthalb Jahren. Der Aktienindex MSCI Asien verlor an einem Tag mehr als 3,5 Prozent. Es war zwar kein Crash, aber ein ernstzunehmender Warnschuss, auch wenn sich Bernanke daraufhin beeilte, seine Aussagen zu relativieren.

Den Akteuren in der Weltwirtschaft wurde plötzlich bewusst, wie verwundbar die Schwellenländer am Ende doch sind. Schwellenland, dieses Wort war in den Jahren zuvor gleichbedeutend mit hohem Wachstum, niedriger Staatsverschuldung, schnell expandierenden Unternehmen und vor allem sicheren Gewinnen mit Aktien und Anleihen. Der Begriff umschreibt viele Länder: Südafrika und Mexiko genauso wie Brasilien, China, die Türkei, Malaysia, die Ukraine, Polen, Ungarn, Litauen oder Russland. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat eine sehr großzügige Definition gewählt und zählt auch Thailand, die Philippinen und selbst Pakistan hinzu. Insgesamt kommt der IWF auf 150 Schwellenländer weltweit, mehr als drei Viertel der 193 Länder, die Mitglied der Vereinten Nationen sind.

In den Jahren nach Ausbruch der Finanzkrise in den Jahren 2007 und 2008 warf die Finanzindustrie immer mehr Fonds auf Aktien und Anleihen aus diesen Schwellenländern auf den Markt. Angesichts der Gefahr steigender Zinsen in den Vereinigten Staaten zogen internationale Investoren und Investmentfonds vom Sommer 2013 an jedoch Kapital aus diesen wirtschaftlich aufstrebenden Ländern wieder ab und brachten es in die entwickelten Länder zurück, wo sie es stärker in Sicherheit wähnten. Sollten die Zinsen in den Vereinigten Staaten steigen, so die Überlegung, werden Kapitalanlagen dort wieder attraktiver, bei geringeren Risiken als in Schwellenländern. Dann saugt der amerikanische Kapitalmarkt das Geld aus den Schwellenländern ab und hinterlässt dort Lücken, die auch diese Länder trotz der Devisenreserven, die viele von ihnen angehäuft haben, nicht so schnell schließen können.

Privatanleger, aber auch Lebensversicherer, Versorgungswerke und Pensionskassen investierten in großem Stil in »Emerging Market Funds«. In den Jahren 2009 bis 2012 flossen 4,2 Billionen Dollar privates Kapital in die Schwellenländer, meldete das Wall Street Journal Europe und berief sich dabei auf Zahlen des Institute of International Finance, des globalen Bankenverbands.[9] Allein in der Woche nach Bernankes Ankündigung zogen die Anleger aus Schwellenländer-Anleihen fast 6 Milliarden Dollar ab. Das war schon doppelt so viel wie in der Woche davor. Dies sei der schlimmste Ausverkauf seit 2009 gewesen, verglich das Wall Street Journal diese Verkaufswelle mit dem Höhepunkt der Finanzkrise.

Mit Blick auf China mischten sich ohnehin verstärkt Sorgen und Skepsis bezüglich der Wachstumsaussichten in diesem Land, seit die Staatsführung Anfang 2012 angekündigt hatte, nach dem industriellen Aufbau stärker auf die Entwicklung des privaten Konsums zu setzen. Dazu wollte sie höhere Löhne gewähren und ein langsameres Wirtschaftswachstum in Kauf nehmen. Nach den Jahrzehnten der Entbehrungen sollte der Aufstieg künftig stärker der Bevölkerung zugutekommen.

Als dann auch noch 2012 der Rohstoffboom zu Ende ging und die Preise für viele Industriemetalle zu fallen begannen, kamen Zweifel auf, wie gut eigentlich die anderen großen Schwellenländer, besonders Brasilien und Russland, dastehen. BRIC hieß das Zauberwort, das 2001 der damalige Chefvolkswirt der amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs, Jim O’Neill, aufgebracht hatte. Das Kunstwort setzte sich aus den vier Anfangsbuchstaben jener Länder zusammen, die in den kommenden Jahrzehnten die zentralen Wachstumstreiber der Weltwirtschaft werden sollten: Brasilien, Russland, Indien, China. Hunderte BRIC-Fonds entstanden daraufhin, und ungezählte deutsche Anleger investierten seitdem in diese Aktienfonds und andere Anlageinstrumente, um am fabelhaften Aufstieg der BRIC-Länder teilzuhaben.

Diese vier Länder schrieben in der Tat eine Erfolgsgeschichte, wie sie nur selten in der Wirtschaftsgeschichte vorkommt. »In nur zehn Jahren war das Bruttoinlandsprodukt von Brasilien, Russland, China und Indien um mehr als das Fünffache auf 14,5 Billionen Dollar gewachsen«, hob die Wirtschaftszeitung Handelsblatt hervor.[10] »Noch 2012 trug das Quartett mehr als 60 Prozent zum weltweiten Wirtschaftswachstum bei.« Doch Bernankes Ankündigung, die amerikanische Geldpolitik vielleicht etwas weniger locker zu gestalten, traf die BRIC-Länder an ihrer empfindlichsten Stelle: »Die fatale Abhängigkeit der Schwellenländer von den internationalen Kapitalströmen könnte den einstigen Wachstumsträgern zum Verhängnis werden«, merkten die beiden Handelsblatt-Autoren unter Berufung auf eine Studie des Internationalen Währungsfonds (IWF) an.

Seit dem Sommer 2013 ist der Glaube der Ökonomen an den unaufhaltsamen Aufstieg der Schwellenländer, die einmal die Vereinigten Staaten als die führende Wirtschaftsmacht der Welt ablösen sollten, gebrochen. »Die BRIC-Staaten befinden sich in einer strukturellen Anpassungskrise«, meinte Joachim Fels, Chefökonom der amerikanischen Investmentbank Morgan Stanley, Ende Juli 2013.[11] »Die Wachstumsmodelle, die diese Länder in den vergangenen Jahren so erfolgreich gemacht haben, funktionieren nicht mehr.« China habe auf den Export von Industrieprodukten gesetzt. Doch die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen habe sich in den vergangenen Jahren verschlechtert. Chinas Produkte sind seiner Ansicht nach im internationalen Vergleich zu teuer geworden.

Brasilien und Russland litten unter dem Verfall der Rohstoffpreise und wie China unter einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit der Industrie. Indien habe zu sehr auf staatlich geförderten Konsum gesetzt, was die öffentlichen Finanzen überfordert hat. Zudem werde zu wenig in die Infrastruktur investiert. »Auch Indiens Wachstumsmodell ist nicht aufrechtzuerhalten«, glaubt Fels. Für die deutsche Industrie wird es seines Erachtens große Veränderungen nach sich ziehen, dass China den Schwerpunkt von der Industrie auf den Konsum verlagert. »Deutschland wird dann nicht mehr so viele Investitionsgüter, sondern mehr Konsumgüter nach China liefern«, lautet die Hoffnung des Morgan-Stanley-Ökonomen.

Schon ist von »broken BRICs« die Rede, von zerbrochenen Ziegeln in Anspielung auf das englische Wort für Ziegel, brick, auf dem das Wortspiel BRIC beruht. Es wäre jedoch verfrüht, das Ende des Booms in den Schwellenländern auszurufen. Viele Ökonomen sehen jedoch das BRIC-Konzept als überholt an. Es spiegelte noch nie eine politische oder kulturelle Realität. Brasilien, Russland, China und Indien hatten ökonomisch nie viel mehr gemeinsam als hohe Wachstumsraten. In Zukunft könnte die Entwicklung auseinanderdriften. Wenn die Rohstoffpreise auf den Weltmärkten fallen, trifft dies in erster Linie Brasilien und Russland, die dann wichtige Einnahmen aus dem Verkauf ihrer Rohstoffe verlieren. China und Indien dagegen profitieren davon, werden für sie doch Importe der Metalle und des Öls, auf die ihre aufstrebenden Industrien angewiesen sind, günstiger.

Dauerhaft niedrigere Wachstumsraten in der Weltwirtschaft werden auch für die Schwellenländer große soziale Umwälzungen zur Folge haben. Es wird den Regierungen schwerer fallen, das Versprechen einzulösen, dass es der Bevölkerung eines Tages besser gehen wird, wenn sie die Entbehrungen der Aufbaujahre auf sich nehmen. Mit dem Boom in diesen Ländern entstand dort eine Mittelschicht, die sich bedroht sieht, wenn die Aussichten nicht mehr ganz so rosig sind. Allein in China wird die Zahl derjenigen, die der Armut entkommen sind und sich eine erfolgversprechende Karriere als Angestellter aufgebaut haben, auf 300 Millionen Menschen geschätzt. Damit ist sie allein in diesem Land, in dem vor 30 Jahren in manchen Landstrichen noch bittere Armut herrschte, heute so groß wie die gesamte Bevölkerung der Vereinigten Staaten. Es ist die Mittelschicht, die in den vergangenen Jahren in Brasilien oder in Nordafrika auf die Straße gegangen ist. Vor allem bringen nachlassende Wachstumsraten die Schattenseiten des Booms ans Licht: Die soziale Ungleichheit teilt immer noch die Gesellschaft. Die Regierungsführung und das Rechtssystem weisen große Mängel auf. Die Umweltverschmutzung hat vielerorts zugenommen und nicht abgenommen, und die Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen Nutznießern des Systems und den Benachteiligten sind gewachsen.

Zudem werden die Überalterung der Gesellschaft und das Schrumpfen der Bevölkerung in BRIC-Ländern wie China und Russland zunehmend das Wachstumspotenzial beschränken. Allein Indien dürfte in den kommenden Jahren von einer steigenden Bevölkerungszahl profitieren. In Brasilien ist die Bevölkerung in den vergangenen 60 Jahren zwar von 54 Millionen auf 197 Millionen gewachsen. Doch der Anstieg der Bevölkerung ist seit den 1950er Jahren von jährlich rund drei Prozent auf heute weniger als ein Prozent gefallen. Seine höchste Bevölkerungszahl dürfte Brasilien 2050 mit 250 Millionen Einwohnern erreichen. Von da an dürfte auch dort die Bevölkerungszahl sinken. Damit folgt Brasilien, wenn auch zeitversetzt, der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland. In China ist das schon Realität. Dort begann die Bevölkerungszahl schon 2012 zu sinken.[12]

Die Welt muss sich wohl oder übel auf ein dauerhaftes Nachlassen der wirtschaftlichen Dynamik in den Schwellenländern einstellen. Das trifft vor allem die deutsche Wirtschaft. Dort haben sich viele Unternehmen darauf verlassen, dass es der Boom in China für sie schon richten wird. Martin Winterkorn, der Vorstandsvorsitzende von Volkswagen beispielsweise, hatte schon den Bau zehn neuer Fabriken in China angekündigt.

Angesichts der sich eintrübenden Aussichten in den Schwellenländern wird die starke Abhängigkeit der deutschen Exportwirtschaft von China zunehmend zum Problem. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die deutschen Unternehmen generell immer mehr ins Ausland orientiert. 1991 hatten die deutschen Exporte ein Gewicht von 22,2 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung. Heute liegt ihr Anteil bei 41,5 Prozent.[13] Damit hat er sich in rund 20 Jahren in etwa verdoppelt und erreichte 2012 einen Wert von 1097 Milliarden Euro oder 1,1 Billionen Euro. »Nie zuvor war die deutsche Wirtschaft so stark vom Exportgeschäft abhängig wie jetzt«, kommentierte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).[14] Hinter China und den Vereinigten Staaten, zwei unvergleichlich größeren Ländern, folgt Deutschland auf dem dritten Rang der größten Exportnationen der Welt.

Autos, Maschinen, Chemie sind nach wie vor die deutschen Exportschlager. Zusammen stellen diese drei Branchen mehr als 40 Prozent aller deutschen Ausfuhren. Auf den Rängen folgen Produkte der Metallindustrie, Büromaschinen, EDV und Elektroanlagen. Damit ist Deutschland wie kaum ein anderes Land einseitig auf Industriegüter ausgerichtet. Während allein die Autoindustrie 2012 ein Gewicht von 190 Milliarden Euro im deutschen Außenhandel erreicht hatte, sind die Branchen Bekleidung mit 14 Milliarden Euro oder Textilien mit 10 Milliarden Euro Leichtgewichte. Die Bedeutung der Industriegüter im deutschen Außenhandel dürfte noch zunehmen. Der Anteil des Maschinenbaus an den deutschen Exporten wird voraussichtlich von aktuell einem Drittel bis 2030 auf mehr als die Hälfte steigen, erwartet das britische Wirtschaftsforschungsinstitut Oxford Economics, das im Auftrag der britischen Bank HSBC die internationalen Handelsströme untersuchte.[15]

In den vergangenen Jahren haben sich die deutschen Exporteure immer stärker auf China ausgerichtet. »In den Jahren von 2000 bis 2012 sind die deutschen Ausfuhren in die Volksrepublik um jahresdurchschnittlich 17,7 Prozent gestiegen«, heißt es weiter in der Studie des DIW.[16] China war 2012 mit Exporten im Wert von 66,6 Milliarden Euro der fünftwichtigste Abnehmer der deutschen Unternehmen – hinter Frankreich, das auf 104,5 Milliarden Euro kommt, den Vereinigten Staaten, Großbritannien und den Niederlanden.[17] Bei den Einfuhren folgt China schon an zweiter Stelle mit 77,3 Milliarden Euro – nach den Niederlanden mit 86,6 Milliarden Euro.

Die Abhängigkeit von China hat im Zuge der Finanzkrise, die ihren Höhepunkt im Herbst 2008 mit dem Zusammenbruch der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers erreicht hatte und vom Frühjahr 2010 an Griechenland mit voller Wucht traf, zugenommen. Der Anteil der Europäischen Union an den deutschen Exporten sank nach der Finanzkrise auf 57 Prozent und wird nach einer Prognose des Außenhandelsverbands BGA bis 2030 auf 50 Prozent sinken.[18] Spätestens 2030 könnte China Frankreich als wichtigsten Handelspartner Deutschlands ablösen, erwartet das britische Wirtschaftsforschungsinstitut Oxford Economics.[19] Die Autoren der Studie rechnen damit, dass der deutsche Handel mit China in den kommenden Jahren zwar weiter steigen wird. Doch das Tempo wird spürbar nachlassen. Anstatt der 17,7 Prozent jährlich in den vergangenen Jahren erwartet Oxford Economics, dass sich das Wachstum des deutschen Außenhandels mit China auf acht bis zehn Prozent jährlich verlangsamt.

Auf drei Regionen ist die deutsche Außenwirtschaft somit ausgerichtet: auf Europa, die USA und China. Dass sich die Exporte zunehmend von der Krisenregion Europa nach China, eine Region mit nachlassender Dynamik, verlagern, behebt die strukturellen Ungleichgewichte der deutschen Wirtschaft kaum. Sie bleibt einem Teil der Welt verhaftet, deren wirtschaftliche Perspektive durch steigenden Wohlstand, eine drohende Überalterung der Gesellschaft und eine schrumpfende Bevölkerung belastet sein wird.

Deutschen Wirtschaftspolitikern und Unternehmensführern sollte bei diesem Gedanken nicht allzu wohl sein, wenn sie sich vor Augen führen, dass die deutsche Exportindustrie vor allem in Regionen aktiv ist, die einen negativen demographischen Trend aufweisen, und nur unzureichend in Afrika, wo die Bevölkerung auf Jahrzehnte hinaus wachsen wird.

Die Gefahren, die auf die deutsche Industrie in den Schwellenländern lauern, liegen nicht in weiter Ferne. Sie sind bedrohlich real. Denn China hat die hohen Wachstumsraten der vergangenen Jahrzehnte genutzt, um nicht nur das Land zu modernisieren, sondern auch um in Bereiche hochqualitativer Produkte vorzustoßen, die bisher die Domäne deutscher Wertarbeit waren. Es lässt sich nicht mehr verdrängen: In den Schwellenländern erwächst der deutschen Industrie bedrohliche Konkurrenz. China ist heute nicht mehr der Hersteller von billigem Plastikspielzeug, von schäbigen Massentextilien und elektronischem Tand. Die Unternehmen im Fernen Osten stoßen in Hightech-Branchen vor. Da China immer wohlhabender, aber auch teurer werde, werde das Land voraussichtlich auf komplexere Industrien setzen, erwartet die britische Bank HSBC.[20] Simplere Produktionen wie die von Textilien würden dann stärker in Länder wie Vietnam oder Bangladesch abwandern. In Zukunft werden diese Fertigungen zunehmend von afrikanischen Arbeiterinnen und Arbeitern übernommen.

Schon heute verdrängen chinesische Unternehmen ihre deutschen Konkurrenten. Vor allem in großen Schwellenländern wie Indien oder Brasilien ist dies zu beobachten. Genauso wie deutsche Maschinenbauer im 19. Jahrhundert die englischen Fabrikanten ausstachen, indem sie deren Produkte kopierten, so drängen nun chinesische Hersteller in die Stammindustrien deutscher Qualitätsfertigung: in die Autoproduktion, in den Maschinenbau, in die Herstellung von Hochgeschwindigkeitszügen, in die mechanische Industrie. Selbst in Frankreich, Großbritannien und Italien geht der deutsche Anteil am Import von Chemieprodukten zurück, während China in diesen drei Ländern Marktanteile gewinnt, brachte eine Studie der Bertelsmann-Stiftung und des Prognos-Instituts zutage.[21] Auch im Maschinenbau verlieren deutsche Unternehmen in Italien Marktanteile an chinesische Konkurrenten.

Außerhalb Europas sind die Exporterfolge der chinesischen Maschinenbauer noch klarer zu sehen: In den Vereinigten Staaten und Japan sind sie an den deutschen Ingenieuren vorbeigezogen. Dasselbe gilt laut der Studie von Bertelsmann-Stiftung und Prognos für die Chemieindustrie, für die Medizintechnik sowie für die Mess- und Steuerungstechnik. Auch in Indien hat China im Maschinenbau und in der Chemie die Marktführerschaft erobert. »Es besteht kaum Hoffnung, dass Deutschland hier Boden gutmachen kann«, lautet das düstere Fazit der Studie. China werde seinen Vorsprung ausbauen und der deutsche Marktanteil sinken. Auch in der Autoindustrie, dem deutschen Exportmotor par excellence, liegen in Indien und Brasilien Hersteller aus Korea, Japan und selbst Argentinien vor der deutschen Konkurrenz.

Die deutsche Industrie ist dabei, ohne größeren Widerstand wichtige Positionen im Welthandel aufzugeben. Ohne den Außenhandel wird sich der Wohlstand in Deutschland nicht halten lassen, und der deutsche Außenhandel besteht, wie wir gesehen haben, zum großen Teil aus Industriegütern. Die deutschen Unternehmen müssen sich deshalb dem Wettbewerb mit den neuen Konkurrenten aus den Schwellenländern stellen und neue Märkte erschließen. In Afrika hat »Made in Germany« nach wie vor einen guten Klang. Deutsche Produkte gelten als teuer, aber zuverlässig. Deshalb werden Afrikaner gerne Kunden deutscher Produkte, sobald sie es sich leisten können. Denn deutsche Wertarbeit ist in den wirtschaftlich aufstrebenden Ländern der Erde ein Statussymbol.

Es ist unverständlich, warum die deutsche Wirtschaft bisher kampflos ihren chinesischen Konkurrenten die afrikanischen Märkte überlassen hat. Afrika bietet alles, was deutsche Unternehmen brauchen, um dort erfolgreich zu sein:

Die Wachstumsraten sind hoch, höher als in vielen anderen Schwellenländern.

Die Wirtschaftsdynamik wird, getrieben von einem weiteren Anstieg der Bevölkerung, auf absehbare Zeit hoch bleiben.

Das politische Umfeld in Afrika ist in den vergangenen Jahren stabiler geworden, in vielen Ländern stabiler als in anderen aufstrebenden Ländern der Erde.

Die Kunden in Afrika wollen deutsche Produkte und erwirtschaften zunehmend die Kaufkraft, um sich diese leisten zu können.

Gleich wie sich die Wirtschaft im Fernen Osten in den kommenden Jahren entwickeln wird, ist es an der Zeit für die deutschen Unternehmen, ihre Abhängigkeit von den asiatischen Märkten zu verringern. Es geht nicht darum, den chinesischen Markt aufzugeben und alle Ressourcen auf Afrika zu richten. Es geht darum, die Absatzmärkte zu diversifizieren, Exportrisiken breiter zu streuen und neue Märkte zu erschließen.

Dass Afrika seine ganz eigenen wirtschaftlichen Risiken bietet, zeigen die Streikwelle, die seit Jahren die südafrikanische Wirtschaft erschüttert, und die inneren Unruhen, die Ägypten seit Jahren durchlebt. Auch der islamistische Terror im Norden Nigerias ist keine Werbung für den Wirtschaftsstandort Afrika. In vielen Ländern ist es ungleich schwerer, Geschäft zu machen als in Europa. Doch mit den meisten dieser Risiken können Auslandsinvestoren zurechtkommen. Die Schwierigkeiten sind in Afrika nicht größer als in Indien oder China.

Zudem wird die Zahl der erfolgreichen, verlässlichen und sicheren Länder in Afrika von Jahr zu Jahr größer. Selbst in Somalia, das seit mehr als 20