Afrika sichtbar machen - wa Thiong'o Ngugi - E-Book

Afrika sichtbar machen E-Book

wa Thiong'o Ngugi

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Beschreibung

Seit über sechzig Jahren schreibt Ngugi wa Thiong’o, der 2019 mit dem renommierten Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis geehrt wurde, über die Geschichten, Herausforderungen und Zukunftssaussichten Afrikas, insbesondere seines Heimatlandes Kenia. In seinem Werk, das Theaterstücke, Romane und Essays umfasst, erzählt Ngugi von der Ungerechtigkeit kolonialer Gewalt und dem diktatorischen Verrat der Entkolonialisierung, vom Streben nach wirtschaftlicher Gleichheit angesichts der großen Ungleichheit und nicht zuletzt von seinem Kampf für Freiheit und die anschließende Inhaftierung. Ngugis Romane haben große Anerkennung gefunden, seine politischen Essays hingegen – obwohl ebenso brillant – kennen die wenigsten. Nach "Moving the Centre" und "Dekolonisierung des Denkens" legt Ngugi mit "Afrika sichtbar machen" nun einen weiteren Essayband vor, der verschiedene Vorträge und Texte thematisch vereint. In dem sehr persönlich und gut lesbar geschriebenen Buch geht es um Afrikas Stellung in der dekolonisierten und globalisierten Welt, um die Nachwirkungen der Sklaverei, um politische Kämpfe in einer Ära des entfesselten Kapitalismus, um die Rolle der Kulturschaffenden und Intellektuellen in afrikanischen Gesellschaften sowie um die Aussichten auf eine gerechte und friedvolle Zukunft. In einer Zeit, in der Afrika in den Diskussionen über die Globalisierung weitgehend ignoriert wird, wird "Afrika sichtbar machen" zur Pflichtlektüre.

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Seitenzahl: 168

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Ngũgĩ wa Thiong’o

Afrika sichtbar machen!

Essays über Dekolonisierungund Globalisierung

aus dem Englischen vonThomas Brückner

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.ddb.de abrufbar.

Ngũgĩ wa Thiong’o: Afrika sichtbar machen!

Herausgegeben von stimmen afrikas und Eine-Welt-Forum Münster e. V.

Übersetzung aus dem Englischen von Thomas Brückner

Erscheinungsdatum Oktober 2019

© Ngũgĩ wa Thiong’o 2016

Titel der Originalausgabe Secure the Base: Making Africa Visible on the Globe

Veröffentlicht in Absprache mit Seagull Books, London

eBook UNRAST Verlag, Dezember 2020

ISBN 978-3-95405-041-3

© UNRAST-Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de – [email protected]

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Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Helen Stelthove

Layout und Satz: helenstelthove.de

DER AUTOR

Ngũgĩ wa Thiong’o wurde 1938 in Limuru, Kenia, geboren. Bis zu seiner Verhaftung im Jahr 1977 arbeitete er als Dozent an der Universität von Nairobi. Anlass der Verhaftung war ein in seiner Muttersprache Gikũyũ verfasstes Theaterstück. Auf Intervention von Amnesty International kam er nach einem Jahr frei und ging ins Exil nach London. Später siedelte Ngũgĩ wa Thiong’o in die USA über. Dort lehrte er Literaturwissenschaften unter anderem an der Yale University, der New York University und an der University of California, Irvine. Seine Arbeit wird international gewürdigt. In diesem Jahr erhält er den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück

Ngũgĩ wa Thiong’o ist Autor einer Vielzahl von Romanen, die überwiegend auch auf Deutsch vorliegen, z. B. Der Fluss dazwischen, Verbrannte Blüten und Herr der Krähen. Auf Deutsch erschienen auch drei Bände seiner Lebenserinnerungen Träume in Zeiten des Krieges, Im Haus des Hüters und Geburt eines Traumwebers. Von seinen theoretischen Schriften erschien bisher in deutscher Übersetzung Moving the Centre und Dekolonisierung des Denkens.

DER ÜBERSETZER

Thomas Brückner (*1957), studierte Afrikanistik und Kultur- und Literaturwissenschaften. Er lebt in Leipzig und ist Gastprofessor in Deutschland und Schweden. Thomas Brückner übersetzte u. a. Werke von Ivan Vladislavić, Helon Habila und Abdulrazak Gurnah.

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabevon Boniface Mabanza Bambu

Vorwort zur englischen Ausgabevon Ngũgĩ wa Thiong’o

Verachtung und SelbstverachtungWie das Wort ›Stamm‹ die Wirklichkeit afrikanischer Politik verschleiert

Privatisiert oder seid verdammtAfrika, Globalisierung und kapitalistischer Fundamentalismus

Neue Grenzen des WissensDie Herausforderungen an panafrikanische Geisteswissenschaftler*innen

Pracht durch ElendDie globale Verantwortung für den Schutz der Menschheit

Das Vermächtnis der Sklaverei

Der Klub atomar bewaffneter KeulenschwingerMassenvernichtungswaffen und die Intellektuellen

Schreiben für den FriedenZurück zu den zwei Gräben

Glossar

Bibliografie

Herausgeber*innen

Endnoten

BONIFACE MABANZA BAMBU

studierte Philosophie, Literaturwissenschaften und Theologie in Kinshasa und promovierte 2007 an Universität Münster zum Thema »Gerechtigkeit kann es nur für alle geben. Globalisierungskritik aus der afrikanischer Perspektive«, er ist u. a. Koordinator der Kirchlichen Arbeitsstelle Südliches Afrika (KASA) in Heidelberg und arbeitet hauptsächlich zu afrikabezogenen sozioökonomischen Fragen.

Ngũgĩ wa Thiong’os Essays mit dem deutschen Titel Afrika sichtbar machen! sind von großer Bedeutung für Bürger*innen der Einen-Welt, die sich dafür einsetzen, dass für zentrale gegenwärtige Herausforderungen der Menschheit Lösungen gefunden werden. Von großer Bedeutung sind sie besonders für all diejenigen, die sich für den afrikanischen Kontinent und seinen Platz in der Welt interessieren, und nicht zuletzt für Menschen afrikanischer Abstammung, denen die Vereinten Nationen die Internationale Dekade (2015 – 2024) widmen. Ngũgĩ wa Thiong’os Sorgen um Afrikas Erbe, seine Selbstwahrnehmung, seine Wahrnehmung von außen und vor allem um seinen Platz in der Welt sind in seinen Essays stets spürbar. In einer verständlichen Sprache und ohne zu viel vorauszusetzen, gelingt es dem Autor, die Aufmerksamkeit auf wichtige Themen zu lenken, die für Afrikas Rolle in der Weltgeschichte und vor allem für Afrikas Beziehungen zu den ehemaligen Kolonialmächten Europas an Aktualität nicht zu überbieten sind. Auch deshalb lohnt es sich für Europäer*innen, seine Bücher und seine Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus, seinen fortdauernden Strukturen und Wirkungen sowie mit der Dekolonisierung kennenzulernen.

In Deutschland hat die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit erst begonnen und die Erkenntnis fällt offenbar sehr schwer, dass der gegenwärtige gesellschaftliche Reichtum Europas historisch auf Sklaverei und koloniale Ausbeutung aufgebaut ist und noch gegenwärtig die Armut Afrikas bedingt. Viele Probleme des globalen Südens wie Bürgerkrieg, Korruption und Migration haben komplexe Ursachen, aber Entstehungsbedingungen finden sich auch in der Kluft zwischen reichen und armen Nationen. Und das ist das größte Verdienst Ngũgĩ wa Thiong’os: Er zeigt die erschreckenden Kontinuitäten der zerstörerischen Angriffe auf Afrika in den Begegnungen mit der sogenannten westlichen Welt auf. Ich nenne hier nur die Stichwörter Sklaverei, Kolonialismus, Neokolonialismus, Schuldensklaverei und Ausbeutung afrikanischer Ressourcen bis in die Gegenwart.

Dabei stellt Ngũgĩ wa Thiong’o Afrika nicht als Opfer dar, sondern er geht auch hart ins Gericht mit der Rolle – genauer ausgedrückt: den Verfehlungen – afrikanischer Eliten, weil sie die wahren Interessen des Kontinents und seiner Menschen verrieten und verraten und eine unheilvolle Allianz mit den Kräften bildeten und noch bilden, die zerstörerisch auf den Kontinent wirkten und wirken. Dass das Handeln solcher Eliten in Afrika noch immer von erschreckender Aktualität ist, ist daran zu erkennen, dass sie keine Notwendigkeit sehen, die Lebensmöglichkeiten der Bevölkerung entscheidend zu verbessern, um deren Rückhalt zu gewinnen. Die fehlende Legitimation von innen soll durch die Legitimation von außen ersetzt werden, zum Beispiel auf der diplomatischen Bühne, wo die Eliten als Staatsgäste oder als Gastgeber*innen für internationale Politiker*innen auftreten oder als Verhandlungspartner*innen bei Wirtschaftstreffen oder als Garant*innen einer auf Unrecht beruhenden politischen Stabilität. Legitimiert werden sie vom Ausland. Das war schon während des Kalten Krieges so, daran hat sich in vielen Ländern trotz formaler demokratischer Verfahren und Institutionen nichts Entscheidendes verändert. Im Kalten Krieg war die Macht quasi ein Geschenk für die Vertretung der Interessen eines der herrschenden Blöcke. Heute bedanken sich einige afrikanische Eliten, deren Staaten oft mit den strategisch wichtigsten Ressourcen des 21. Jahrhunderts gesegnet sind, für die Legitimierung von außen mit der Erteilung der wertvollsten Abbaukonzessionen zu lachhaften Preisen an ausländische Konzerne. Diese Unternehmen kommen nicht selten aus den Ländern, die sich durch die Verdinglichung des Schwarzen Menschen in der langen Geschichte von Sklaverei und Kolonialismus hervorgetan haben.

Trotz dieser negativen Rolle bestimmter afrikanischer Eliten, die Ngũgĩ wa Thiong’o stark betont, sind seine Essays nicht pessimistisch, sondern kämpferisch. Sie sind sogar voller Hoffnung, dass der Kontinent allen Gefahren und Angriffen von innen und von außen trotzen und es schaffen kann, zu sich selbst zu finden und seinen gerechten Platz in der Welt zu bestimmen. Dafür verfügt Afrika, so seine und auch meine Überzeugung, über viele intellektuelle, moralische und spirituelle Ressourcen. Die wichtigste von ihnen ist die Vielfalt seiner Sprachen und seiner Kulturen, die es zu sichern und als Motor der Transformation zu nutzen gilt, damit Afrika seinen Platz in der Welt selbst und selbstständig definieren kann. Dies ist für Ngũgĩ wa Thiong’o die Basis, und sie ist stark. Die Selbstdefinition ist Programm und dieses ambitionierte Programm ist aus verschiedenen Gründen notwendig. Ein Grund sind die vielfältigen Krisen, mit denen sich die Welt heute konfrontiert sieht – wie die ökologische Krise und der Klimawandel, die so bedrohlich sind, dass es um nichts Geringeres als um das Überleben der Menschheit geht. Angesichts der Tatsache, dass diese Krisen mit einem vorherrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zusammenhängen, welches vom Westen geprägt und dominiert wird, stellt sich die Frage, wie Auswege aussehen können, die nicht in der Linearität des Denkens verhaftet bleiben, das diese Krisen verursacht hat. Diese Auswege sind unter dem Begriff zu subsumieren, den die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie G benutzt: Pluralität. Diese gilt es neu zu entdecken, um die Pluralisierung des Denkens und des Handelns zu ermöglichen.

Adichie kritisiert die »single story«, die Afrika homogenisiert und auf das Bild eines defizitären Kontinents reduziert. Sie zeigt die Notwendigkeit, viele verschiedene Perspektiven einzunehmen, die andere Zugänge zum Kontinent ermöglichen. Nur die Überwindung der Fixierung auf »single stories« kann den Blick auf die Schätze des Kontinents öffnen, und diese gilt es sichtbar zu machen. Ngũgĩ wa Thiong’os Plädoyer, afrikanische Stimmen und Optionen des Lebens hörbar und erlebbar zu machen, ist so wichtig, weil es in Zeiten von Krisen gilt, an gebrochene Traditionen – in denen sich die Vielfalt und Vielschichtigkeit der Menschheit ausdrückt – zu erinnern, an sie anzuknüpfen und ihre schöpferischen Potentiale für den jetzigen Kontext zu entfalten.

Afrikanische Stimmen wurden von den dominanten Stimmen zum Verstummen gebracht und ihre alternativen Lösungsansätze für viele Probleme der Welt unsichtbar gemacht. Sie sichtbar zu machen, begründet sich nicht allein darin, dass sie existieren, sondern weil sie zeigen, dass sie auf dem afrikanischen Kontinent und darüber hinaus Wirklichkeiten prägen können – ganz im Sinne der Antwort Wole Soyinkas G auf die Négritude à la Senghor G[1]: »Der Tiger verkündet seine Tigritude nicht … er springt!«. Dies soll eine Aufforderung an Afrika sein, sich nicht in Ankündigungen zu verlieren, sondern im Gegenteil: zu handeln. Ich ziehe daraus den Schluss, dass es darum geht, Menschlichkeit zu leben, indem man gemeinsam dort, wo dies im Kleinen, in dezentralen Räumen, schon geschieht, an Strukturen und Verfahren arbeitet und dann deren Übertragung auf die Makro-Ebene ermöglicht. Nur so kann es gelingen, Afrikas Beitrag auch zu Lösungen von Klima- und Umweltkrisen wirksam zu gestalten. Denn wenn sich diese Lösungen nicht nur auf technokratische Ansätze beschränken sollen, dann gewinnen afrikanische Traditionen, mit ihrer Spiritualität der Nachhaltigkeit und ihrer intergenerationellen Verantwortungsethik, die die Mitwelt immer einbezieht, an Bedeutung. Das gilt auch für das alte Wissen aus verschiedenen afrikanischen Regionen – etwa in der Landwirtschaft – angesichts des Klimawandels. So entwickelte der Bauer Yacouba Sawadogo G aus Burkina Faso eine fast vergessene Anbautradition für die Pflanzung von Hirse und Bäumen weiter. Er erhielt 2018 den ›Alternativen Nobelpreis‹ und wird als der Mann bezeichnet, der die Wüste aufhält.

Die Selbstdefinition Afrikas bedeutet auch, betont Ngũgĩ wa Thiong’o, die Komplexität der Wirklichkeiten zu berücksichtigen und den Kontinent aus dem Stereotyp der gänzlichen Fremdheit zu befreien, in das es lange eingezwängt worden war, als wäre Afrika kein Teil der Welt. Afrika ist genauso komplex und vielschichtig wie jeder andere Raum der Erde, so die Botschaft Ngũgĩ wa Thiong’os. Die Reduktion afrikanischer Wirklichkeiten auf einfache Denkmuster hat eine lange Geschichte und war Teil des großen Projektes, afrikanische Kulturen herabzusetzen, um den grausamen Umgang mit den Afrikaner*innen in der Versklavung und während des Kolonialismus zu rechtfertigen.

Dort, wo in Afrika komplexe politische Systeme – wie zum Beispiel mit männlichen und weiblichen Machtzentren – für einen Ausgleich der Interessen zugunsten der Allgemeinheit sorgten, wollten die Kolonialisten nur männliche Strukturen für sich gewinnen, deren Macht sie für ihre Zwecke stärkten. Ein Beispiel ist die Rolle der ›Queen Mother‹ in vielen Gesellschaften der heutigen Republiken Togo und Ghana. Sie verstanden die Queen Mother als eine mit Kompetenz und entsprechenden Befugnissen ausgestattete politische Instanz, deren Funktion u. a. darin bestand, letztlich Entscheidungen im Sinne der Interessen der Allgemeinheit zu überprüfen. Diese Praxis wurde von den Kolonialverwaltungen ausgeschaltet. Erst während der Ausarbeitung der neuen Verfassung Ghanas wurde die Debatte darüber belebt, dass das, was als Tradition mit der Betonung der Macht der Könige galt (ein Begriff, der auch eine Übertragung westlicher Wirklichkeiten auf afrikanische Wirklichkeiten darstellt), nur eine korrumpierte Version der ursprünglichen Tradition ist. Mit den traditionellen komplexen Strukturen wollten die Kolonialisten nichts zu tun haben. Ihre Interventionen trugen im Laufe der Jahrhunderte zur Entwicklung monolithischer Strukturen bei, die heute interessanterweise afrikanischen Traditionen angelastet werden. Es erscheint paradox, dass westliche Entwicklungsprojekte seit einigen Jahren etwa versuchen, die vom westlichen Kolonialismus unterdrückten Stimmen von Frauen, deren Interessen und deren Repräsentation in politischen Ämtern wieder stärker zu berücksichtigen.

Komplexität zu berücksichtigen, bedeutet für Ngũgĩ wa Thiong’o nicht, die über Jahrhunderte entstandenen Probleme des Kontinents zu leugnen, sondern deren tatsächliche Ursachen in Angriff zu nehmen und sich nicht mit einfachen Erklärungen, etwa für Konflikte, zufrieden zu geben. Afrika sichtbar zu machen, heißt für ihn, die Vielfalt afrikanischer politischer Traditionen wiederzuentdecken. Überlieferungen gibt es mehr als genug: Ngũgĩ wa Thiong’o erzählt von Jomo Kenyatta G, der die Selbstorganisation in vielen gesellschaftlichen Bereichen der Gĩkũyũ G beschreibt; und Nelson Mandela erzählt in seiner Autobiografie von seinen Erfahrungen mit tiefen demokratischen Traditionen bei den Xhosa G, die sein Bekenntnis für Demokratie beeinflusst haben, für deren Verwirklichung er später gegen Nachkommen von Europäer*innen kämpfen und ins Gefängnis gehen musste. Mandela illustriert dies mit dem Ablauf von Versammlungen, in denen durch offene öffentliche Diskurse die Mitbestimmung der Einzelnen möglich wurde.

Dies sind nur einige Beispiele von lebendigen politischen Traditionen, die Teile des Kontinents geprägt haben. Momente zu identifizieren, die Brüche solcher Traditionen markieren, um daran wieder anknüpfen zu können, sollte Bestandteil des Prozesses der Dekolonisierung sein – nicht um Strukturen der Vergangenheit einfach auf die Gegenwart zu übertragen, sondern um Elemente aus diesen Traditionen freizulegen, die für den Aufbau politischer Strukturen im heutigen Kontext relevant sein können. Wenn Menschen aus Afrika so handeln würden, trügen sie zur Sicherung ihrer Geschichten und ihrer Geschichte bei, ganz im Sinne des englischen Titels der vorliegenden Essaysammlung von Ngũgĩ wa Thiong’o Secure the Base (Die Grundlagen sichern). Dies ist der erste Schritt zur ›Auswicklung‹, denn Afrika und seine Menschen wurden in die Geschichte der Europäer ›eingewickelt‹. Dass der Kontinent sich von solchen Vorstellungen befreien muss, ist eine Botschaft Ngũgĩ wa Thiong’os, die von anderen Stimmen des Kontinents wie Yash Tandon G, Felwine Sarr G und Achille Mbembe G bekräftigt wird.

Die Übersetzung von lebendigen und fruchtbaren Elementen der jeweils eigenen Traditionen in die gegenwärtigen Zusammenhänge wäre die Konkretisierung der Geschichtsschreibung durch die Afrikanerinnen und Afrikaner selbst. Davon träumte Patrice Lumumba G, als er 1960 aus dem Gefängnis schrieb, dass eines Tages Afrika eine eigene Geschichte verfassen werde: »Doch es wird nicht die Geschichte sein, welche in Brüssel, Paris, Washington oder den Vereinten Nationen gelehrt wird. Es wird die Geschichte sein, die in den Ländern gelehrt wird, welche die Freiheit vom Kolonialismus und seinen Puppen gewonnen haben. Afrika wird seine eigene Geschichte schreiben, und in beiden Teilen, im Norden und Süden, wird es eine Geschichte voller Glorie und Würde sein.« Es wird darum gehen, Geschichte nicht nur anders zu schreiben, sondern Geschichte zu machen, indem die Potentiale des Kontinents durch die Schaffung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Strukturen genutzt werden, die eines ermöglichen: sich zu entfalten.

Zu den wichtigsten Themen, die Ngũgĩ wa Thiong’os Essays durchziehen, gehört der Panafrikanismus. Er erinnert an die ursprüngliche Vision afrikanischer Intellektueller sowohl auf dem Kontinent als auch in der Diaspora, der zufolge Panafrikanismus ursprünglich zwei Hauptfunktionen erfüllen sollte: eine gemeinsame Abwehrfront nach außen und die Förderung der Solidarität nach innen. Mit anderen Worten: Afrika muss sich nach außen schützen, um sich nach innen öffnen zu können. Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Abwehrfront liegt in der von Kwame Nkrumah G sehr früh artikulierten und von Ngũgĩ wa Thiong’o bekräftigten Überzeugung »Unite or perish« (Vereinigt euch oder geht unter). Kleine Länder haben nur eine Chance, sich im globalen Wettbewerb zu behaupten, wenn sie sich zusammentun. Nur so vermeiden sie, gegeneinander ausgespielt zu werden. Aktueller kann diese Botschaft nicht sein, wenn man die asymmetrischen Kräfteverhältnisse bei Verhandlungen betrachtet, die einzelne afrikanische Länder über Ressourcen, Handel, Investitionen oder Klima mit globalen Mächten führen. Die negativen Effekte zeigen sich vor allem im Wettbewerb um ausländische Direktinvestitionen, wenn sich afrikanische Regierungen nationalstaatlich der Übermacht transnationaler Konzerne ausliefern. Im Endeffekt erweisen sich ausländische Direktinvestitionen dann in vielen Fällen als Lizenzen zur Ausplünderung der Ressourcen.

Einige afrikanische Eliten vertrauen in ihrer Außenorientierung auf Rezepte von Institutionen wie Weltbank, Internationalem Währungsfonds oder Welthandelsorganisation, die den Namen nach multilateral sind, aber von den Interessen der Mächtigen dominiert werden. Afrikanische Eliten erliegen nun aber oft der Illusion, dass ausländische Investitionen die Entwicklungskrise ihrer Länder lösen würden. Dafür sind sie jederzeit bereit, alles in Gang zu setzen, um die Bedingungen zu erfüllen, die ausländische Geldgeber ermutigen, in ihrem Land und nicht beim Nachbarn zu investieren. Die ›Gestaltung der Rahmenbedingungen‹ für Investitionen – eine gern gepflegte Rhetorik – bedeutet dann eine übertriebene Unternehmensfreundlichkeit, die darin Ausdruck findet, dass ausländische Firmen, die in afrikanischen Ländern investieren, bis auf ein paar Ausnahmen wie Fremdkörper agieren. Sie weigern sich, zu lokalen Akteur*innen zu werden, die existierende Arbeitsnormen, Umweltauflagen und demokratische Mitbestimmungsrechte akzeptieren. Stattdessen kämpfen sie für ›Sonderwirtschaftszonen‹, in denen ihre eigenen Gesetze gelten. Sie beuten die Menschen und die Schätze des Kontinents aus, ohne konsequent Steuern zu zahlen, und das tun sie sogar legal, weil afrikanische Regierungen sie in ihrer Großzügigkeit uneingeschränkt handeln lassen. So verlieren diese Regierungen die nationale Kontrolle über die Wirtschafts- und Sozialpolitik, die ein substanzieller Bestandteil der Unabhängigkeit von postkolonialen Strukturen sein sollte.

Die Befreiung beginnt im Kopf. Selbstbestimmung wieder zu gewinnen und sich dezidiert zu weigern, sich von fremden Mächten führen zu lassen, ist aber nicht die erste Etappe. Die erste Etappe besteht darin, den Irrglauben aufzugeben, dass afrikanische Länder nicht überleben könnten ohne ausländische Direktinvestitionen, ohne ›gute‹ Beziehungen zum IWF G, zur Weltbank, zur Welthandelsorganisation, zur EU, zu den USA und neuerdings auch zu China. Internationales Kapital und gute Beziehungen zu internationalen Finanzinstitutionen öffnen Türen zur Auferlegung von Konditionen, die die nationale Unabhängigkeit auf eine Formalität reduzieren. Afrika sichtbar zu machen bedeutet in der Wirtschaft, die Doppelabhängigkeit von Importen und Exporten, von ausländischen Direktinvestitionen und Expertentum zu beenden, um die lokalen Potentiale besser nutzen zu können. Das heißt unter anderem, bei der Produktion und Vermarktung von Waren oder Dienstleistungen lokale gegenüber ausländischen Unternehmen zu bevorzugen. Zur Außenorientierung gibt es nur die Alternative, die lokalen Ressourcen besser zu mobilisieren, was neben der Effizienzsteigerung der Verwaltungen auch den Kampf gegen Korruption beinhaltet und darüber hinaus eine Erhöhung der Sparquote, die Kanalisierung der Ersparnisse in die produktivsten Bereiche der Wirtschaft und die Anwendung aller Maßnahmen, die lokalen Unternehmen helfen können: Kreditmöglichkeiten, Produktionssubventionen, Exportanreize und Schutz des Inlandsmarktes.

Ein Bereich in den meisten afrikanischen Ländern, der von ausländischen Konzernen dominiert wird, ist der Bergbau, einer der am meisten von Korruption betroffenen Sektoren. Statt den Kontinent zu entwickeln, produziert er viel Leid und Zerstörung. Die Korruption untergräbt die verantwortungsvolle Verwaltung der Ressourcen, insbesondere durch die Förderung der illegalen Ausbeutung, der schlechten Umwelt- und Sozialpraktiken sowie durch die Erosion der staatlichen Steuerbasis. Hier geschieht genau das Gegenteil dessen, was Ngũgĩ wa Thiong’o betont: die Notwendigkeit, die materiellen Ressourcen zu schützen und dadurch die Verantwortung für die Zukunft des Kontinents zu übernehmen. Dabei kommt es im Wesentlichen darauf an: Konzepte zu entwickeln, die von dem ausgehen, was Afrika hat, was es anderen Kontinenten geben kann oder will und welche Art von Außenbeziehungen es braucht, um das zu sein, was es sein will.

In einer Welt, in der es Platz für verschiedene Entwicklungswege und eine multipolare Ordnung geben muss, hat sich Afrika so zu positionieren, dass niemand von außen sich das Recht nimmt zu bestimmen, was dort geschieht und dass niemand sich im Namen von Moral und Entwicklung mit pseudo-altruistischen Konzepten in seine Angelegenheiten einmischt. Nur so kann es gelingen, ein Afrika aufzubauen, das ein Paradies für Afrika selbst ist, wie Ngungi wa Thiong’o schreibt, anstatt ewig ein Paradies für die anderen zu bleiben, die der Kontinent als Reservoir billiger Arbeitskräfte und Rohstoffe oder als Nettoexporteur von Devisen durch Schuldendienst und illegale Kapitalabflüsse durchfüttert. Alle afrikanischen Initiativen, einschließlich derjenigen mit gut klingenden Namen wie ›Afrikanische Freihandelszone‹, müssen sich daran messen lassen, inwiefern sie die Unabhängigkeit stärken und somit die Sichtbarkeit des Kontinents erhöhen. Ngũgĩ wa Thiong’o ist die Klarstellung zu verdanken, dass solch eine Umorientierung mit einer grundlegenden Besinnung beginnt – mit dem Glauben an sich selbst.

Boniface Mabanza Bambu

Vorwort