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»Sollte das Leben nicht eigentlich genau so sein? Ohne Socken, mit Wind in den Haaren.«
Nach einem riesigen Streit mit ihrem Mann will Agnes nur noch weg. Ohne Plan geht sie los – zunächst ins Hotel, dann zu Fuß quer durch Hamburg, immer weiter, bis ins grüne Marschland der Elbe. Was, wenn sie einfach weiterliefe? Am Fluss entlang, bis nach Berlin. Ob das Gehen ihr Antworten schenkt? Vielleicht könnte sie herausfinden, wohin ihre beruflichen Träume verschwunden sind. Wo sie selbst eigentlich während all der Jahre des Kümmerns um Kinder, Haushalt und Familie geblieben ist. Und: ob ihre Ehe noch eine Chance verdient. Unter weitem Himmel wandert Agnes durch malerische Auen, begegnet Menschen und Möglichkeiten und geht Schritt für Schritt einer unerwarteten Zukunft entgegen.
Ein wundervoller Roman über die Liebe, das Glück des Alleinseins in der Natur und die Träume, die uns beflügeln
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Seitenzahl: 373
Veröffentlichungsjahr: 2023
ÜBERDENROMAN
Nach einem riesigen Streit mit ihrem Mann will Agnes nur noch weg. Ohne Plan geht sie los – zunächst ins Hotel, dann zu Fuß quer durch Hamburg, immer weiter, bis ins grüne Marschland der Elbe. Was, wenn sie einfach weiterliefe? Am Fluss entlang, bis nach Berlin. Ob das Gehen ihr Antworten schenkt? Vielleicht könnte sie herausfinden, wohin ihre beruflichen Träume verschwunden sind. Wo sie selbst eigentlich während all der Jahre des Kümmerns um Kinder, Haushalt und Familie geblieben ist. Und: ob ihre Ehe noch eine Chance verdient. Unter weitem Himmel wandert Agnes durch malerische Auen, begegnet Menschen und Möglichkeiten und geht Schritt für Schritt einer unerwarteten Zukunft entgegen.
ÜBERDIEAUTORIN
Katja Keweritsch ist Ethnologin und Journalistin. Sie ist in einem friesischen Dorf aufgewachsen, von dem aus es sie schon früh in die Welt zog. Neben Köln und Hamburg studierte sie in Los Angeles und lebte zeitweise in Mumbai und auf Sansibar. Heute wohnt sie mit ihrer Familie an der Elbe. In ihren Romanen »Die wundersame Reise der Bienen« und »Agnes geht« schreibt sie über die Liebe und darüber, wie wichtig es ist, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren.
Katja Keweritsch
Roman
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Zitatnachweise [>>]:
Jane Austen, Stolz und Vorurteil, Stuttgart 2015.
Kristine Bilkau, Nebenan, München 2022.
Die Handlung sowie alle Namen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.
Originalausgabe 03/2023
Copyright © 2023 by Diana Verlag,
München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt von der Literaturagentin Dorothee Schmidt.
Umschlaggestaltung: © das verlagsatelier Romy Pohl
Umschlagmotiv: © Shutterstock.com (Fafarumba; Msnty studioX; Uncle Leo)
Redaktion: Antje Steinhäuser
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-29563-9V001
www.diana-verlag.de
Ich gehe ganz gern zu Fuß. Die drei Meilen! Wenn man ein Ziel hat, ist die Entfernung nicht der Rede wert.
Lizzy Bennet in Jane Austens Stolz und Vorurteil
Aus meiner Sicht ist es erstaunlich, wie viel Einsamkeit es erfordern kann, eine Ehe mit Kindern am Laufen zu halten.
Marli in Kristine Bilkaus Nebenan
Wer sich nicht bewegt spürt die Fesseln nicht.
Rosa Luxemburg
Der Tag, an dem Agnes in die Schule einbrach, war ein Donnerstag. Sie schob sich mit den Füßen voran durch das ebenerdige Fenster des naturwissenschaftlichen Trakts. Es lag auf dem seitlichen Schulhof hinter zwei Hartriegelsträuchern, deren breiter Schattenwurf es für den Einbruch qualifizierte – hilfreich war zudem die Tatsache, dass jemand das Fenster auf Kipp gestellt hatte. Agnes hakte die seitlichen Scharniere aus, genauso wie bei dem kaputten Schlafzimmerfenster, um dessen Reparatur sie sich dringend kümmern mussten. Das Linoleum federte sowohl das Patschen des Aufpralls als auch ihren Körper ab. Trotzdem spürte sie, wie die Aufregung ihre Glieder verspannte. Aus den umliegenden Klassenzimmern drangen Stimmen. Es roch nach Putzmitteln, Schweiß und akademischen Fragen.
Agnes wunderte es nicht, dass heute Donnerstag war. All dies konnte nur an einem Donnerstag geschehen. Schließlich hatte jedes einschneidende Ereignis ihres Lebens am vierten Tag der Woche stattgefunden. Von ihrer Geburt über den ersten Kuss von Tom im Morgengrauen vor dem Banksy Graffiti in Hamburgs Steinwegpassage, der spontanen standesamtlichen Trauung, Jonas’ Geburt (Emma hatte den Donnerstag um sieben Minuten verpasst, was sie gewissermaßen zu einem verhinderten Donnerstagskind machte) bis zur letzten Prüfung ihres Biologiestudiums. Selbst der Kanarienvogel ihrer Kindheit hatte an einem Donnerstag das Zeitliche gesegnet. Außerdem hatte Agnes sich eine eigentümliche Aussprache dieses mittlersten aller Wochentage angewöhnt. Donne-stag. Sie verschluckte das r. Es klang wie: Don, ne? Stag. Eine Handlungsanweisung in einer Kunstsprache, die nur sie verstand. Ihr ganz eigener Wochentag.
Agnes schaute sich um. Schließfächer, Kleiderhaken, Pinnwände, Bilder und vereinzelte Stühle säumten den breiten Flur, der sich ein Stück weiter in vier Richtungen aufspaltete. Von da aus führten Gänge tief in die fachschaftlichen Eingeweide der Schule. Niemand kam. Es war 8.55 Uhr. Die zweite Stunde des ersten Blocks begann gerade. Agnes schnappte sich einen Stuhl und schob ihn unter das geöffnete Fenster, damit sie notfalls schneller fliehen konnte. Sie schlich zur Flurkreuzung, bog ab in den langen Gang des Nawi-Trakts, der hinüber ins Hauptgebäude führte, drückte sich eng an der Wand entlang, erklomm die Freitreppe hinauf in den ersten Stock, nahm den zweiten Gang rechts und erreichte schließlich Emmas Klassenzimmer, ohne gesehen zu werden. Sie zog das zusammengerollte Plakat aus dem Rucksack und hängte es in einem Stoffbeutel an die Garderobe.
Zurück auf dem Schulhof ließ Agnes sich auf eine der Bänke fallen. Obwohl sie die Lippen aufeinanderpresste, drang ein glucksendes Lachen aus ihrer Kehle. Sie war tatsächlich in die Schule eingebrochen! Hatte die Sekretärinnen mit ihrem »Das ist hier keine Poststelle!« und »Die Kinder müssen lernen, die Konsequenzen ihrer Vergesslichkeit selbst zu tragen!« ignoriert und das Glück ihrer Tochter in die Hand genommen. Natürlich wollte man herumschwirrende Helikoptereltern zügeln, die dem Nachwuchs täglich Radiergummis hinterhertrugen. Und klar ging es auch um die Sicherheit der Kinder. Es gab zu viele verstörende Geschichten, in denen sich Unbefugte Zutritt zu Schulen verschafft hatten. Aber die Kinder konnten ja auch einmal etwas wirklich Wichtiges vergessen. Das war nur menschlich. Und zeichnete sich Menschlichkeit nicht dadurch aus, dass man sich menschlich verhielt? Wie sollten die Kinder Anteilnahme, Nachsicht, Mitgefühl lernen, wenn man es ihnen nicht vorlebte? Natürlich spielte Verhältnismäßigkeit eine Rolle. Niemand lernte Großmut von einem verbummelten Radiergummi. Aber Emma hatte nächtelang über den Zeichnungen für das Plakat gebrütet. Mit der Zunge zwischen den Lippen malte sie das Herz-Kreislauf-System eines Menschen im Maßstab 1:1, tuschte es mit Aquarellfarben, beschriftete es bis zum letzten Lymphknoten, um nicht nur den verhassten Biologielehrer, sondern auch ihren medizinierenden Vater zu beeindrucken.
Und dann hatten sie alle heute Morgen verschlafen. Agnes rätselte noch immer, wie es dazu hatte kommen können. Sie war zwar eher Eule als Lerche, aber meist wachte sie bereits auf, wenn Tom die Wohnung zum Frühdienst verließ. Heute hatte nicht einmal der Wecker geholfen.
Sie rieb sich die Augen. Eine ungewohnte Müdigkeit lastete auf ihren Lidern. Es fühlte sich an, als sei sie ohne ihren Körper aufgestanden, als läge er noch immer horizontal auf den sieben Zonen der Kaltschaummatratze. Schwer und erschöpft. War wahrscheinlich der Hektik des Morgens geschuldet. Dem Adrenalin, das ihren Körper durchfahren, sie aufgeputscht und durch die Wohnung hatte hetzen lassen und das sich jetzt langsam abbaute. Sie textete Emma, dass das Plakat an der Garderobe hing und wünschte ihr viel Glück für die Präsentation.
Agnes entschied sich auf dem Weg zum Einkaufen für die Strecke entlang des Isebekkanals. Die Sonne strahlte, als hätte jemand sie am altweibersommerblauen Himmel festgeklebt und per Knopfdruck eingeschaltet. Sie stand bereits tief zu dieser Jahreszeit. Die Schatten der Bäume streckten sich weit, berührten fast die unteren Etagen der Häuser auf der gegenüberliegenden Uferseite. Licht spiegelte sich auf dem dunklen Wasser, brach auf zarten Wellen in glitzernde Tropfen. Agnes konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt die Zeit für einen Ausflug gefunden hatten. Mal raus aus der Stadt, rein in die Natur. Hamburg bemühte sich. Redlich. Aber Beton war Beton war Beton.
Sie fuhr mit dem Rad in Richtung Hoheluftchaussee und schrieb Britta, dass sie ausnahmsweise morgen statt heute zum Arbeiten kommen würde.
Agnes: Frag nicht.
Britta: Witzig. Willst du, dass mein Psychologinnenherz stirbt vor Neugier?
Agnes: Das verhindert die Pädagogin in dir.
Britta: Erinnere mich daran, dir eine Fortbildung Empathie zu genehmigen.
Agnes grinste. Sie schrieb: Ich muss jetzt los. Fügte dann aber doch ein lachendes Emoji hinzu. Britta streckte ihr mit einem der kleinen gelben Gesichter die Zunge heraus.
Voll beladen schloss Agnes zwei Stunden später die schwere grüne Holztür zur Contastraße 15 auf. Sie stolperte ins Treppenhaus, in dem es zu jeder Tageszeit nach Essen roch. Der Duft schien dabei aus keiner der zehn Wohnungen selbst zu strömen, vielmehr haftete er in den Fugen der Kacheln und im Klebstoff der alten Lincrusta-Tapeten. Agnes liebte diesen Gründerzeitcharme. Den säuerlichen Bohnerwachsgeruch, der von den Linoleumplatten auf den Stufen ausging, das seltsame Strohgemisch, das aus den Holzbalkendecken rieselte, wenn man versuchte, eine neue Lampe aufzuhängen, den abgeplatzten Stuck, die Schrammen auf den Pitchpinedielen. Sie fand schon immer, dass man Narben stolz präsentieren sollte. Gelebte Geschichte. Es hatte Jahre gedauert, bis Tom und sie sich diesen gemeinsamen Traum leisten konnten: eine Altbauwohnung, hundertfünfundvierzig Quadratmeter Raum, absurd hohe Wände, zentral im Westen der Stadt gelegen.
In der Wohnung fand Agnes in der Küche die Brettchen, Gabeln, Teller und Messer vom Abendessen der Kinder in der Spüle. Zum Aufräumen und Frühstücken hatte es an diesem hektischen Morgen nicht gereicht. Sie seufzte. Wie viele Stunden Eltern weltweit wohl schon damit zugebracht hatten, ihre Kinder aufzufordern, das Geschirr direkt in die Spülmaschine zu stellen anstatt in die Spüle. Die Besiedelung des Mars hätte man in dieser Zeit abschließen können.
Sie packte die Einkäufe aus, räumte das Geschirr in die Maschine, kochte Gemüse und Nudeln, stapelte alles in einer Keramikschale und schob den Auflauf mit einer Käsesoße in den Ofen. Agnes staubsaugte das Wohnzimmer, klaubte schmutzige Klamotten aus den Kinderzimmern, füllte die Waschmaschine und leerte den Trockner. Deshalb liebte sie Aufläufe. Sie boten ihr die Gelegenheit, noch während des Kochens Dinge zu erledigen. Pfannkuchen waren dafür denkbar ungeeignet. Genauso wie geröstete Pinienkerne, Mehlschwitzen oder Kurzgebratenes. Zum Glück verzichteten sie inzwischen alle größtenteils auf Fleisch, was den mittäglichen Aufwand reduzierte.
Agnes wusste aus Kindheitstagen, wie schön es war, wenn zu Hause jemand mit warmem Mittagessen wartete. Allerdings endete der Unterricht ihrer Kinder meist zu unterschiedlichen Zeiten, sodass Agnes oft zweimal aß, um beiden gerecht zu werden. Ein Ritual, das im Laufe der Jahre nicht nur kneifende Hosen, sondern auch drückende BHs zur Folge hatte.
Mit einer halben Stunde Verspätung kam Emma als Erste nach Hause. Die Ereignisse des Schultags purzelten bereits im Flur aus ihr heraus. Noch bevor der Rucksack den Boden berührte, sie die Schnürbänder ihrer hohen Sneaker gelöst und die Jeansjacke auf die Sitzbank gekickt hatte, kannte Agnes die emotionalen Eckpfeiler ihres Vormittags. Manchmal erschienen ihr diese atemlosen Erinnerungen wie Wackersteine, die Emma bei ihr ablud, um sie nicht länger selbst tragen zu müssen. Aber dafür waren Mütter schließlich da.
Offenbar hatte der Biologielehrer sich bei den Erläuterungen zum neuen Thema verquatscht, sodass am Ende zu wenig Zeit für Emmas Präsentation blieb. Sie sollte nächste Woche referieren, was Emma mit einem lapidaren Schulterzucken quittierte. Agnes hingegen spürte die Enttäuschung über ihren sinnlosen Einbruch wie ein zu eng geschnürtes Korsett.
Nach dem Mittagessen mit ihrer Tochter buk sie ihre Wut auf den Lehrer in einen Marmorkuchen, von dem Jonas die Hälfte verschlang, als er endlich heimkam. Nach Auflauf war ihm nicht.
Später radelte Emma zum Klavierunterricht, und Jonas musste zum Handball. Doch er trödelte.
»Ich gehe heute nicht zum Training.«
»Warum nicht?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Du bist deiner Mannschaft gegenüber verpflichtet. Du kannst nicht einfach fortbleiben, nur weil du mal keine Lust hast.« Noch während sie das sagte, schloss Agnes innerlich die Augen. Sie klang wie ihre Mutter. Ein Bollwerk aus Regel, Moral und Anstand.
»Der neue Trainer nervt.«
»Tja. Dann melden wir dich wohl vom Handball ab.«
Jonas verdrehte die Augen. Er stapfte in sein Zimmer, schwang die Sporttasche über die Schulter und verließ die Wohnung grußlos.
Agnes bügelte einen Teil des Wäschebergs und rieb sich die müden Augen. Die Erschöpfung des Morgens klebte noch immer an ihr wie eine durchgeschwitzte Bluse.
Am Abend aßen sie alle gemeinsam. Tom legte Wert auf Familienmahlzeiten, wann immer es sein Dienst erlaubte. Im Anschluss chatteten und zockten die Kinder mit Freunden in ihren Zimmern. Agnes schlug Tom vor, den spätsommerlichen Abend im kleinen Hinterhofgarten bei einem Glas Wein zu genießen, aber er hatte einen furchtbaren Tag in der Klinik hinter sich und wollte zum Abschalten nur noch auf das Sofa und irgendeine Komödie streamen. Agnes leistete ihm Gesellschaft, bis er zu schnarchen begann. Sie schaltete den Fernseher aus, weckte Tom und brachte sie beide zu Bett.
Am nächsten Tag verließ Tom als Erster das Haus, die Kinder folgten kurz darauf. Agnes nutzte die ruhigen Morgenstunden, um Müslischalen, Löffel und Brettchen aus der Spüle in die Maschine zu räumen, das Bad zu putzen und die Wäsche zusammenzulegen. Danach öffnete sie alle Türen ihres Kleiderschranks und hockte sich im Schneidersitz davor.
Sie verbrachte fast eine halbe Stunde grübelnd, bevor sie dreimal das stretchige blaue Etuikleid anprobierte, zweimal das geblümte Wickelkleid, den langen grünen Rock, den kurzen geringelten. Sie wechselte die High Heels mit jedem Look und stöhnte schon jetzt über schmerzende Füße. Vielleicht hätte sie sich doch um ein neues Kleid kümmern sollen. Der Anlass gab das sicher her. Aber sie scheute die beflissenen Verkäuferinnen und die grell ausgeleuchteten Kabinen, die ihr bitter vor Augen führten, welchen Weg ihr Körper in den Jahren seit den Schwangerschaften gegangen war. Da gab es diese weichen, leicht schwabbeligen Stellen am Bauch, den Innenseiten der Oberarme, den Pobacken. Klar, lag am Alter. Aber während alle Frauen um sie herum diäteten und sich in Skinny-Jeans und Bikinis hungerten, hielt Agnes’ Körper beharrlich an zehn postnatalen Kilos fest. Sie wirkte heute runder und weicher als früher. Mütterlich. Zwei Kinder hatte ihr Körper entwickelt, hervorgebracht und genährt. Lange Zeit gehörte er Agnes nur in Teilen, bisweilen gar nicht. Und irgendwie hatte sie nie wieder eine wirklich gute Beziehung zu ihm aufbauen können.
Sie entschied sich für das blaue Etuikleid, das Tom ihr vor einigen Jahren geschenkt hatte. Es spannte inzwischen über dem Busen und noch ein wenig mehr über dem Bauch. Aber sie wusste, dass er auf diesen zeitlosen, klassisch-eleganten Look stand. Und da das heute Abend eine Krankenhausveranstaltung war … Agnes seufzte. Sie faltete das Kleid, entschied sich für die am wenigsten quetschenden Stöckelschuhe und verstaute alles in ihrem Rucksack.
Sie lief die paar Meter zur Bushaltestelle an der Kottwitzstraße zu Fuß. Die Sonne strahlte hoch über den Dächern der Mehrfamilienhäuser. Agnes zog die Strickjacke aus. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie die meteorologische Singularität des Altweibersommers zum letzten Mal so bewusst gespürt hatte. Milde, fast windstille Luft, ungewöhnlich heiße Tage für September. Natürlich lag es an der Stadt. In den bunt gefärbten Wäldern der amerikanischen Ostküste wäre dieses alljährliche Phänomen ungleich schwerer zu übersehen. Das warme Ausklingen des Sommers erforderte eine Phase gleichmäßiger Witterung und ein stabiles Hochdruckgebiet. Hatte wohl geklappt in diesem Jahr. Sogar in Hamburg.
Agnes stieg in die Linie 20 nach Altona. Die Luft schaffte es kaum, sich zwischen die Ausdünstungen der Fahrgäste zu zwängen. Agnes blieb in der Nähe der Tür. Die Müdigkeit des gestrigen Tages haftete noch immer an ihr. Wie ein Kaugummi unter der Schuhsohle, der sich einfach nicht abstreifen lassen wollte. Sie starrte auf urbane Farbstrahlen, die am Fenster vorbeiflossen und streckte sich an jeder Haltestelle dem Hauch eines frischen Luftzugs entgegen. In Altona wechselte sie in die S1, um in weiteren acht Stationen an den Rand der Stadt zu gelangen. Für viele Menschen aus den citynahen Vierteln wie Eimsbüttel, St. Georg, Altona oder ihrem eigenen Quartier Hoheluft kam das einer Reise ans Ende der Welt gleich. Und die meisten würden sich eher für Australien als für den spießigen Speckgürtel entscheiden.
Agnes schlenderte in Rissen durch den Schöns Park, eine knapp vier Hektar kleine wilde Ansammlung von Buchen, Birken und Nadelbäumen, die im Süden an die S-Bahn grenzte und im Norden durch etliche Wohnsiedlungen vom eigentlichen Waldgebiet des Klövensteen abgeschnitten wurde. Sie bog ab in eine der Nebenstraßen und erreichte das bonbonblaue Haus mit den bunten Graffiti-tags. Zwei Fahrräder warteten an der Wand, einträchtig aneinandergelehnt.
Agnes schmiss sich Schulter voran gegen die ewig klemmende Haustür, stolperte in den Flur und prallte gegen Britta.
»Hoppla!« Britta grinste, auf ihren mit Sommersprossen übersäten Wangen bildeten sich kleine Grübchen. Sie drehte den Kopf, klemmte den gerade nachwachsenden Pony hinter die schmalen, spitz zulaufenden Ohren, deren Läppchen angewachsen waren und ihr einen klugen, irgendwie zukunftsgewandten Ausdruck verliehen, und sagte: »Ich höre.«
Agnes lachte. »Darf ich erst ankommen?«
Generös lud Britta sie mit einer Geste ins Innere des Hauses ein. Agnes schlüpfte in das Kabuff neben dem Billardzimmer, hängte Rucksack und Strickjacke an einen Haken und gesellte sich zu Britta auf die angenehm kühle Terrasse.
Der verwilderte Garten lag im Halbschatten, die Sonne linste nur knapp über die hohen Wipfel der Buchen und Birken hinweg, die das Grundstück säumten. Moos wucherte im hinteren Teil zwischen Rasenschollen, Brombeersträuchern, einem Lagerfeuerplatz und Trittplatten aus Betonstein. An die Terrasse grenzte ein Hochbeet mit Karotten, ein kleiner Nutzacker, der Stangenbohnen, Kartoffeln und Broccoli nährte sowie diverse Blumenkübel mit rosafarbenen Hortensien, Farnen und weißen Astilben.
Britta reichte Agnes eine Tasse Tee. Sie zog die Augenbrauen hoch und schaute.
»Ja, ja, schon gut.« Agnes setzte sich zu ihr auf die selbst gebaute Bank – ein altes Türblatt auf zwei Baumstümpfen. »Ich bin gestern in die Schule eingebrochen.« Sie erzählte die Geschichte ihres unverhofften Abenteuers und konnte nicht verhindern, so etwas wie Stolz über die Verwunderung in Brittas Augen zu empfinden.
»Ich glaube, das ist so ziemlich das Verrückteste, das du in den fünfzehn Jahren, seit wir uns kennen, getan hast!« Britta prostete ihr zu. »Chapeau!«
Agnes lächelte. »Reine Mutterliebe.«
»Nein, nein, nein.« Britta schüttelte den Kopf. »Aus psychologischer Sicht, kann ich dir sagen, steckt viel mehr dahinter.«
Agnes rollte mit den Augen. Britta neigte dazu, die Dinge stets Länge mal Breite zu erörtern, gerne mit Bezug zu ihrem doppelten Studienabschluss und der Weisheit ihrer Gedanken. Doch dieses Mal überraschte sie sie.
»Meine Schwester arbeitet ja als Landschaftsökologin beim Pflanzenschutzamt in Berlin. Da wird jetzt eine Stelle frei. Ein Kollege wandert wohl mit seiner Familie nach Kanada aus. Ich denke, das wäre was.«
»Ach ja?« Agnes runzelte die Stirn. »Für wen?«
»Herrje, für dich natürlich!«
»Und auf diese Idee kommst du, weil ich gestern in die Schule meiner Kinder eingebrochen bin?«
»Diese Idee habe ich schon lange. Aber ich denke, dass jetzt endlich der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«
Agnes zog ungläubig die Augenbrauen in die Höhe. »Ich habe noch nie fest angestellt irgendwo gearbeitet! Von den Jobs während des Studiums mal abgesehen. Und die sind fünfzehn Jahre her.«
»Eben! Darum passt das ja jetzt so gut! Vitamin B bringt dich in einen Job, bei dem du endlich beweisen kannst, wie gut du bist. War schließlich dein Diplomarbeitsthema, oder? Ökosysteme in Kulturlandschaften oder so ähnlich.«
»Willst du mich loswerden?«
»Himmel!« Britta rollte mit den Augen. »Du willst doch nicht in dieser Maßnahme versauern und bis an dein Lebensende Salat pflanzen!«
Agnes richtete sich auf. »Ich helfe benachteiligten Jugendlichen dabei, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, und zwar in einer chronisch unterfinanzierten Einrichtung, die meine Freundin ins Leben gerufen hat. Die Freundin übrigens, die mich noch vor drei Jahren bekniet hat mitzumachen und die es wegen ihres Psychologiestudiums nicht lassen kann, sich ständig in die Angelegenheiten anderer einzumischen.«
Britta winkte ab. »Das liegt an der Sozialpädagogik. Die Psychologin in mir schlägt sich ständig beschämt die Hände vors Gesicht. Jetzt gerade ist sie allerdings Feuer und Flamme! Komm schon, Agnes. Das wäre genau das Richtige.«
Agnes trank den letzten Schluck Tee. »Ein Vollzeitjob. In Berlin. Dreihundert Kilometer von hier entfernt.« Sie lachte. »Du spinnst.«
Britta stand auf. »Altersarmut. Schon mal gehört? Das betrifft vor allem Mütter. Weil sie zu Hause geblieben sind oder nur halbtags arbeiten, um Zeit für Haushalt und Kinder zu haben.«
»Tom verdient gut. Das betrifft mich nicht.«
»Und wenn ihr euch trennt?«
»Jetzt lass mal die Kirche im Dorf!«
»Herrgott noch einmal! Du bezeichnest dich selbst als emanzipiert und triffst derart reaktionäre Entscheidungen!«
Agnes erhob sich ebenfalls. »Weil ich nicht nach Berlin gehen will, bin ich reaktionär? Hörst du dir auch mal selber zu?«
Britta strich über Agnes’ Arm. »Sei nicht so, Schatz. Sei anders. Spontaner. Wie gestern, als du in die Schule eingebrochen bist. Das Leben ist zu kurz.«
»In jedem Fall zu kurz für derartige Flausen. Aber danke, dass du an mich gedacht hast. Ich muss jetzt arbeiten, sonst bekomme ich Ärger mit meiner Chefin.«
Den Vormittag über kümmerte Agnes sich um Cheyenne und Vanessa, zwei fünfzehnjährige Mädchen, die zarte Schritte unternahmen, wieder in einen geregelten Alltag einzusteigen, nachdem sich monatelang niemand darum gekümmert hatte, dass sie nächtelang durchfeierten und tagsüber die Schule verschliefen. Sie versuchten, pünktlich in der Maßnahme zu erscheinen, Verantwortung für eigene kleine Projekte zu übernehmen und regelmäßig zu essen. Heute wollte Agnes sie zum Gärtnern ermutigen. Die Blätter der Kartoffelpflanzen ragten bereits üppig über die Ränder des Hochbeets hinaus, und sie hoffte, dass der späte Erntezeitpunkt die Knollen nicht ruiniert hatte.
Agnes pflügte mit ihren Fingern durch den Boden. Kühl und weich umschloss die Erde ihre Hände, setzte sich unter den Fingernägeln fest und kuschelte sich in die Falten der Haut. Ein Gefühl, das sie jederzeit gegen einen Wellnesstag im Spa eingetauscht hätte. Aber die Mädchen sorgten sich um ihre Maniküre und beließen es beim Zuschauen. Unter gelangweilten Blicken zog Agnes eine Pflanze nach der anderen aus dem Hochbeet. Zumindest redete Cheyenne. Das war ein Fortschritt. Viele gute Krisengespräche begannen so. Die Jugendlichen mussten erst einmal den Kopf freibekommen, sich alles von der Seele rotzen, wie Britta es gern formulierte, bis nichts mehr das eigentliche Thema verdeckte, es archäologisch freigeschnäuzt war. Bei vielen hockte das Selbstwertgefühl weit jenseits der dunklen Schichten, aus denen Agnes gerade die Kartoffeln befreite.
»Hey ihr.« Britta lief zu ihnen hinüber, zwei Gläser in den Händen. Ihre Jeans schlackerte an den Beinen, und Agnes wünschte sich nicht zum ersten Mal, ihre Hose möge nur halb so gemütlich sitzen, wie es bei Britta aussah. »In der Küche gibt es Brötchen.«
Die Mädchen stießen einen Freudenschrei aus und rannten zurück zum Haus, ohne sich zu verabschieden. Agnes sah ihnen nach und schüttelte den Kopf.
»Nicht zweifeln«, mahnte Britta und reichte Agnes ein Glas Wasser. »Wenn du anfängst, an dir selbst zu zweifeln …«
»… haben schlechte Menschen gute Arbeit geleistet, ich weiß.« Agnes leerte das Glas in einem Zug. Ihre schmutzigen Finger hinterließen schwarze Abdrücke auf der geriffelten Oberfläche. »Danke! Das habe ich jetzt gebraucht.« Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, öffnete den obersten Knopf ihrer Jeans und setzte sich neben Britta auf die Bank. Sie sprachen über Cheyennes Fortschritte, darüber, dass sie sich langsam öffnete.
Später wusch Agnes die Kartoffeln, motivierte einen der Jungs, ihr nach dem Brunch beim Laubrechen zu helfen, redete noch einmal mit Cheyenne, half einem neuen Mädchen beim Ausfüllen einiger Unterlagen für das Arbeitsamt. Am Nachmittag drehte sie eine Runde durch den Garten, stakste über Waschbetonplatten, deren Kanten und Ecken überall auf dem Grundstück in seltsamen Winkeln aus dem Boden ragten, und reinigte die Feuerstelle, die die Kids später sicher wieder benutzen würden. Schließlich kehrte sie in das blaue Haus zurück.
Agnes verschwand in dem Kabuff neben dem Billardzimmer, schlüpfte aus Schuhen, Hose und Sweatshirt und zog das blaue Etuikleid aus dem Rucksack. Am Schlitz hinten hatte sich eine Falte quer über den Stoff geknickt. Egal. Sie würde sowieso den ganzen Abend über auf einem unbequemen Holzstuhl hocken, fiel also niemandem auf. Agnes gähnte. Ihr graute vor den engen Stuhlreihen und den Stunden, während derer sie gegen eine Müdigkeit ankämpfen würde, die an ihr zog, als hätte jemand die Schwerkraft falsch austariert. War sie noch immer erschöpft oder schon wieder? Sie konnte es nicht sagen.
Entnervt stieg sie in das Kleid und kämpfte mit dem Reißverschluss auf dem Rücken. Beim Blick zurück in den Rucksack registrierte sie, dass sie eine kurze Radlerhose zum Unterziehen vergessen hatte. Im Winter funktionierten Kleider und Röcke dank Strumpfhosen hervorragend. Im Sommer variierte sie gegen die wunden Innenseiten ihrer Oberschenkel dünne Radlershorts, Babypuder, Vaseline oder Deoroller. Heute würde es ohne gehen müssen.
Agnes stopfte die hochhackigen Schuhe in ihre Handtasche und schlüpfte zurück in die Sneaker. Die ausgezogenen Klamotten schob sie neben dem Rucksack in das Metallregal.
Auf dem Flur begegnete sie Cheyenne. »Würdest du mir wohl den Reißverschluss hochziehen?« Agnes drehte sich um.
»Ich dachte, du willst uns hier beibringen, dass Partys und so scheiße sind.« Cheyenne zog am Reißverschluss. »Und nun gehst du selbst sündigen.«
Agnes rollte mit den Augen. »Witzig.«
Cheyenne grinste, musterte Agnes dann allerdings abschätzig. »Du willst nicht echt so gehen?«
Agnes sah an sich herunter. Das Kleid reichte bis kurz über die Knie. Es wellte sich am Bauch, war aber glücklicherweise so nachgiebig, dass es sich einigermaßen bequem anfühlte. Sie zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?«
Zwanzig Minuten später versuchte Agnes, sich unter den Schichten Concealer, Foundation, Lidschatten, Eyeliner, Rouge und Highlighter wiederzufinden, die Cheyenne und Vanessa aus den Untiefen ihrer Handtaschen direkt auf ihr Gesicht befördert hatten, um sie dem Abend angemessen aufzuhübschen. Doch im Spiegel über dem Handwaschbecken im blau gekachelten Toilettenraum hockte eine Frau mit eng am Kopf anliegenden Zöpfen, Smokey Eyes und kirschroten Lippen, die Agnes nicht kannte.
Die S1 fuhr in den Bahnhof Rissen ein, als Agnes die Fußgängerüberquerung erreichte. Sie spurtete zum Bahnsteig und sprang in den Zug. Als sie auf einen der freien Fensterplätze glitt, spürte sie, wie das Kleid über ihre Knie nach oben rutschte. Sie zubbelte am Stoff, aber die Rundungen ihres Oberkörpers beanspruchten so viel Material, dass unten schlicht etwas fehlte. Als sie den Blick des ihr gegenübersitzenden Mannes bemerkte, platzierte sie beschämt die Tasche auf den Beinen. Er grinste.
An den Landungsbrücken stieß die Bahn aus dem innerstädtischen Tunnel. Es war bereits 17:11 Uhr. Agnes stieg aus, erklomm mit müden Schritten den Elbhang der Helgoländer Allee, nahm die Abkürzung durch den kleinen Park, vorbei am Bismarck-Denkmal, überquerte die vielspurige Budapester Straße und erreichte endlich das Museum für Hamburgische Geschichte. Verblüfft hielt sie inne, mitten auf dem Radweg, und starrte auf das alte Backsteingebäude. Der Anblick war überwältigend.
Riesige Scheinwerfer setzten das imposante Haus, seinen Turm und das Eingangsportal mit wechselnden Spots in Szene. Hohe Palmen in breiten Kübeln wechselten sich zu beiden Seiten eines langen roten Teppichs mit flackernden Feuerkörben ab. Hier dachte jemand nicht groß, sondern größer.
Agnes brauchte einen Moment, bis sie Tom neben einer Litfaßsäule seitlich des ganzen Brimboriums entdeckte. Er trug den dreiteiligen nachtblauen Anzug, den er sich vor zwei Wochen neu zugelegt und von dem Agnes lediglich das Sakko gesehen hatte. Tom war nach dem Shoppen zu genervt und kaputt gewesen, um ihr das komplette Ensemble vorzuführen. Mit einem weißen Hemd, gepunkteter Krawatte, Einstecktuch und braunen Schuhen orientierte er sich offenkundig an der Mode seiner Lieblingsserie Suits. Die dunklen Haare hielt er kurz, weil er nicht mochte, wenn sie sich zu sehr lockten. Agnes fand, dass ihm ein Bart gut stehen würde, aber Tom befürchtete, dass die Masken im OP nicht mehr dicht abschließen könnten. Er wirkte smart und urban und erfolgreich und einnehmend und stylisch und …
Agnes verlangsamte ihre Schritte. Sie fühlte, wie das Unheil einer steifen Brise gleich heranwehte. Es wirbelte über den roten Teppich, streifte ihre Arme und die feinen Härchen richteten sich auf, als wollten sie nachschauen, was geschah. Eine seltsame Anspannung lag in der Luft. Tom wandte den Kopf und sah zu ihr herüber.
Bis zu diesem Moment hatte Agnes geglaubt, jeglichen Ausdruck in den Augen ihres Mannes zu kennen. Sie las Tom zu jeder Zeit. Auch jetzt. Am liebsten wäre sie davongerannt.
»Agnes!« Er schritt auf sie zu, mit den Daumen die Finger reibend, sein Ausdruck von Nervosität.
»Hallo.« Sie wartete nicht, bis er zu ihr aufschloss, sondern bog ab in Richtung Fahrradständer und zerrte die Stöckelschuhe aus der Handtasche. »Ich wollte schnell hier sein, deshalb habe ich die Chucks angelassen.« Sie hielt sich an einem der Stahlbügel fest und wechselte die Schuhe. Die silbrig glitzernden High Heels waren an den Zehen geschlossen, sodass sie auf das Lackieren der Nägel verzichtet hatte. Auch die Fingernägel waren unlackiert, schließlich wusste sie, dass die Farbe die Gartenarbeit heute niemals überstanden hätte. All das erschien ihr wie die Zündschnur zu einer langen Reihe von Fehlentscheidungen.
Tom starrte sie an. Er brachte kein Wort heraus, wirkte gleichzeitig erschüttert und zornig. Da klopfte ihm ein Kollege auf die Schulter, und Tom setzte eine Maske auf. Er scherzte, begrüßte die Frau des Mannes, stellte Agnes vor. Dann reichte er ihr seinen Arm, und sie schritten alle gemeinsam mit etlichen weiteren Paaren über den roten Teppich hinein in den Glanz. Agnes spürte Toms Anspannung, wie es in ihm brodelte. Er hatte noch immer keinen Satz mit ihr gesprochen.
Als sie die Türsteher passierten und Tom die Karten vorzeigte, erkannte Agnes endgültig, dass sie sich im Vorfeld zu wenig mit diesem Abend auseinandergesetzt hatte. Um sie herum strahlten aufgepuderte Frauen in langen Ballkleidern mit dezent schimmerndem Schmuck und hauchfeinem Make-up. Einige der Männer waren im Smoking erschienen. Agnes nestelte am Saum ihres Kleids, aber es wollte sich nicht zu einem Festgewand entrollen.
Sie glitten durch die weitläufige Eingangshalle des Museums und fanden sich kurz darauf im riesigen Innenhof wieder, den in zwanzig Metern Höhe eine gewaltige Glaskuppel überspannte. Agnes empfand diesen Raum schon zu ruhigen Besuchszeiten als sakral und einschüchternd. Jetzt hatte ihn jemand genutzt, um ein beispielloses Happening zu inszenieren.
An etlichen Balken, die jeweils zwischen zwei Fenster der oberen Etagen gelegt worden waren, hingen mächtige Kronleuchter in unterschiedlichen Höhen. Agnes zählte einundzwanzig. Überall glitzerte und funkelte es. Den Boden mit dem Kopfsteinpflaster zierten Dutzende runder Tische. Antik anmutende Holzstühle bildeten einen edlen Kontrast zu langen weißen Tischdecken, glänzenden Gläsern, spiegelblankem Silberbesteck und zartem Porzellan. In der Mitte thronte jeweils eine Amphore mit einem üppigen Bouquet aus Farn, Goldruten, Hortensien, Fetthenne, Phlox und Duftnesseln. Apfelbäume in hohen Kübeln bildeten den Rahmen für das Fest. In ihren Ästen baumelten Windlichter. Auf den Stufen des alten Portals der Petrikirche, das hier in den Innenhof versetzt worden war, brannten riesige Leuchtbuchstaben: UKE. Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
»Wir müssen nach rechts.« Auf einer Tafel prangte der Saalplan mit den Sitznummern. Tom schob Agnes in den Hof hinein. Ihr Tisch lag in der Nähe einer Freitreppe, die hoch zur doppelflügeligen Tür eines weiteren Eingangsportals führte. Mit ihnen fanden fünf andere Paare Platz. Tom begrüßte seinen Chefarzt, dem er, soweit Agnes wusste, die Einladung zu diesem Event verdankte. Es stellte sich heraus, dass seine Frau eine toupierte Societygröße war, deren altersloses Gesicht Agnes bereits einige Male in Zeitschriften gesehen hatte. Sie glaubte, einen amüsierten Zug um Elna Markgrafs Mund zu entdecken, als diese ihr die Hand entgegenstreckte.
»Sie sind sicher sehr stolz auf Ihren Mann.«
Was für eine seltsame Aussage. Agnes nickte. »Natürlich.«
»Setzen wir uns doch«, schlug Tom vor und rückte Agnes den Stuhl zurecht.
Sie glitt bis an den vorderen Rand der Sitzfläche, bemüht das Kleid nicht bis zur Mitte der Oberschenkel hinaufrutschen zu lassen, zumal die Radlerhose fehlte, und fühlte sich dennoch in mehr als einer Hinsicht entblößt.
Im nächsten Moment erschienen livrierte Kellner mit schwarzen Fliegen und nahmen ihre Getränkewünsche auf. Tom unterhielt sich mit Gernot Markgraf, Agnes nickte dem unbekannten Mann rechts von sich zu, bevor sie weiter den unglaublichen Aufwand bestaunte, den das UKE zur Feier seines hundertdreißigjährigen Bestehens und dem siebzigsten Geburtstag seines noch immer aktiven Vorstandsvorsitzenden Prof. Dr. Friedhelm von den Berning betrieb. Sie hatte mit einem trockenen Festakt gerechnet, langweiligen Reden, gegenseitigem Schulterklopfen, Lachshäppchen und Sekt. Stattdessen musterte sie nun sprachlos den Gruß aus der Küche, das Amuse-Gueule, dessen eingelegtes Gemüse so arrangiert worden war, dass es tatsächlich erkennbar das Gesicht des Jubilars abbildete, der just in diesem Moment die Freitreppe erklomm und eine launige Rede hielt. Tom lachte und mit ihm der ganze Saal. Agnes versuchte, sich zu entspannen, aber Toms missbilligende Distanz und seine Schweigsamkeit schüchterten sie noch stärker ein als das Gefühl der Scham über ihren unzulänglichen Auftritt.
Weder zur Hummercremesuppe noch zu den Hors d’oeuvres aus gebackenen Austern richtete Tom das Wort an sie. Er unterhielt sich mit Gernot Markgraf über die kunstvoll arrangierten Speisen, die Suppe in einem Bambusschalenboot mit einem Segel aus hauchdünn gewalztem und kross gebackenem Brot und die Austern auf echten Elbkieseln mit Kaviarperlen.
»Tom.« Agnes spürte, wie eine Mischung aus Trotz und Unbehagen sie zwang, die Lippen aufeinanderzupressen. Er drehte sich zu ihr um. »Können wir bitte mal kurz rausgehen und reden?«
Seine Antwort verhallte im aufbrandenden Applaus für Prof. Dr. Kaltenbach, die Klinikdirektorin. In einem dunkelblauen Abendkleid mit paillettenbesetztem Oberteil funkelte sie von der Freitreppe herunter in den Saal. Sie sprach über das erfolgreich vergangene Jahr des UKE, Auszeichnungen, die errungen, Erfolge, die erwirtschaftet worden waren.
»Ganz besonders freue ich mich, wie in jedem Jahr unsere drei Excellence-Awards an aufstrebende, engagierte und über die Maßen qualifizierte Menschen vergeben zu dürfen, die mit ihrer Empathie und ihrem Einsatz neue Standards gesetzt haben.« Applaus brandete auf. Agnes schielte hinüber zu Tom, der nervös die Finger aneinanderrieb. An seinen Schläfen hatten sich glitzernde Schweißtröpfchen gebildet. »Das UKE ist sehr darauf bedacht, die Arbeit aller Kolleginnen und Kollegen und ihren Willen zu einem humanen und engagierten Miteinander sichtbar zu machen«, fuhr Prof. Dr. Kaltenbach fort. »Wissen, forschen, heilen durch vernetzte Kompetenz. Das ist unser Motto. Und getreu diesem Leitspruch vergeben wir unsere Excellence-Awards in genau diesen drei Kategorien. Ich möchte an diesem Abend mit dem Sinn unseres Handelns beginnen, dem Grund, aus dem wir alle hier gelandet sind – dem Heilen. Und dafür bitte ich Dr. Tom Morgenthaler zu mir auf die Treppe.«
Agnes erstarrte. Das konnte doch nicht sein. Sie musste sich verhört haben. Doch Tom erhob sich bereits unter erneutem Applaus und einigen Jubelrufen. Er strahlte, fuhr weiter mit den Daumen über seine Finger, wirkte jedoch nicht überrascht. Elna Markgraf nickte ihr über den Tisch hinweg lächelnd zu.
Da endlich begriff Agnes.
Elna Markgraf hatte es gewusst! Deshalb die seltsame Bemerkung vorhin. Alle hatten es gewusst!
Agnes fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Ihr war schwindelig. Elna Markgraf schien das zu einer weiteren Geste zu ermuntern. Sie klatschte behutsam in die Hände, nickte Agnes erneut zu, noch immer lächelnd, deutete Applaus an für die starke Frau hinter dem starken Mann. Das Paar zu ihrer Linken stimmte mit ein, nickte, lächelte und applaudierte in Agnes’ Richtung. Selbst ihr Sitznachbar lehnte sich ein wenig herüber und raunte ein »Glückwunsch« durch die allgemeine Begeisterung hindurch.
Agnes umklammerte den Saum des Etuikleids und presste die Fingernägel in die Oberschenkel. Ihre Muskeln schienen in Sekundenbruchteilen zu übersäuern, und ihr Magen wünschte nichts sehnlicher, als sich umzustülpen und die zerkauten Überreste der Austern über die weiße Tischdecke zu speien.
Tom schritt unterdessen um den Tisch herum und federte die Stufen zu Prof. Dr. Kaltenbach hinauf, die ihn herzlich begrüßte. Die Klinikdirektorin pries Toms Arbeitsmoral, sein Engagement, was die Ausbildung des Nachwuchses anging, sein Ethos, die Empathie im Umgang mit den Patienten, seinen Humor, der im Krankenhausalltag so manche Brücke baute, die Präzision, mit der er arbeitete, und natürlich seine gewinnende Art.
»Und aus all diesen Gründen erhielt Dr. Tom Morgenthaler bei der diesjährigen Abstimmung zum Excellence-Award in der Kategorie Heilen mit großem Abstand die meisten Stimmen. Herzlichen Glückwunsch!«
Sie überreichte Tom eine gerahmte Urkunde und einen Blumenstrauß aus rosafarbenen Lilien. Es gab Wangenküsschen. Tom verbeugte sich. Die Menschen im Saal erhoben sich klatschend, als er zum Tisch zurückkehrte. Agnes stand ebenfalls auf. Ihr Herz peitschte gegen den Brustkasten, und ihre Beine drohten zitternd unter ihr wegzuknicken. Mit versteinertem Gesicht ertrug sie Toms Umarmung, die sicher jeder hier von ihnen erwartete. Sie überwand sich, ihm zu gratulieren, bevor er sich umdrehte, um den Handschlag von Gernot Markgraf und die Wangenküsse von dessen Frau entgegenzunehmen. Agnes wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. Sie blinzelte unschlüssig in die Runde, nestelte an ihrem Kleid, den vielen geflochtenen Zöpfen, stützte sich auf der Stuhllehne ab. Der Moment schien ewig anzudauern.
Endlich trugen die livrierten Kellner unter wohlwollendem Gemurmel den nächsten Gang auf, und alle setzten sich. Es gab Zander an Kürbisschaumpüree, arrangiert zu einem Pokal. Auf der essbaren Plakette stand Tom. Er lachte, jemand rief: »Ein Hoch auf den Koch!« Erneutes Klatschen. Die Atmosphäre im Raum lockerte sich, es war inzwischen ausreichend Alkohol im Umlauf. Nur Agnes starrte den Tränen nah auf ihren Teller.
Warum hatte Tom ihr nichts erzählt? Er musste seit Wochen von der Auszeichnung gewusst haben. Wieso nur hatte er diesen Abend als Einladung von Gernot Markgraf getarnt? Und es derart heruntergespielt, dass Agnes nicht nur underdressed, sondern vollkommen uninformiert zur Stunde seines Triumphs erschien und jetzt derart deplatziert am Tisch hockte, dass die Scham wie Feuer auf ihrer Haut brannte? Was sollte das? Wollte er von seiner vollkommen überraschten Ehefrau bewundert werden? Sollte sie ihn zusammen mit seiner gottverdammten Auszeichnung auf ein Podest stellen und anhimmeln? Tom rettete Leben! Jede Woche! Manchmal sogar zwei pro Tag! Er war ein Held. Jeder wusste das. Agnes wusste es. Das hier war eine Demonstration von Macht und Stärke. Nie hätte sie geglaubt, dass diese Aspekte in ihrer Ehe eine Rolle spielten.
Agnes ertrug es keinen Augenblick länger.
Sie erhob sich, stieß dabei ein Wasserglas um, das der Mann neben ihr mit einer schnellen Bewegung wieder aufstellte, um sogleich darauf mit einer Serviette auf der nassen Tischdecke herumzutupfen. Agnes griff nach ihrer Handtasche, die über der Stuhllehne baumelte, quetschte sich an Tom vorbei, blieb mit dem Schulterriemen der Tasche hängen, sodass ihr Stuhl sich drehte, gegen den Tisch stieß, den Sitznachbarn touchierte und schließlich polternd auf den Steinboden krachte. Agnes spürte, wie sich die Blicke Hunderter Augenpaare mit medizinischer Präzision in ihren Rücken bohrten. Sie schnappte nach Luft. So schnell die verfluchten High Heels es erlaubten, stürzte sie über das unebene Kopfsteinpflaster durch den Saal hinaus in die Eingangshalle. Tränen verwischten das Make-up. Sie rannte über den roten Teppich, zwischen Palmen und Feuerkörben hindurch und stützte sich schließlich auf eine niedrige Mauer, die die Wallanlagen von der Straße abgrenzten. Keuchend rang sie um Atem.
»Agnes!« Tom schloss mit schnellen Schritten zu ihr auf. »Was bitte soll das?« Wie ein Ausrufezeichen zog sich die Zornesfalte von seinem Nasenrücken zwischen den Augenbrauen hindurch bis in die Stirn.
»Das frage ich dich!« Sie schluchzte. »Wie konntest du mir das antun? Mich so bloßzustellen!«
»Was?« Er trat einen Schritt vor. »Das hast du ja wohl ganz allein geschafft! Sieh dich nur an!« Er streckte die Arme aus, deutete mit den Handflächen auf sie. »Dieses Kleid! Auf einem Ball! Und dann diese Girlie-Hippie-Frisur, die vielleicht Emma stehen würde. Und dazu trägst du Make-up wie der letzte Vamp des Abends. Herrgott! Was hast du dir nur dabei gedacht? Wer hat hier wen blamiert?«
Agnes richtete sich auf. »Das Kleid hast du mir geschenkt!«
»Vor zehn Jahren!« Tom schrie jetzt. »Da hat es auch noch gepasst! Und der Anlass war sicher kein Ball!«
Agnes schloss die Augen. Tränen quollen unter den getuschten Lidern hervor, hinterließen dunkle Rinnen auf den Wangen, tropften schmutzig von ihrem Kinn.
»Warum hast du mir nichts von der Auszeichnung gesagt?«
Tom fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »In der Tat, das war ein großer Fehler! Mein Gott, wie konnte ich nur so dumm sein!« Er kickte einen Stein zur Seite, verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Da habe ich doch tatsächlich in meinem hohen Alter, nach sechzehn Jahren Ehe, gedacht, ich könnte meine Frau noch einmal beeindrucken!«
Seine Stimme triefte seit jeher vor Ironie, wenn er versuchte, Verletzungen zu kaschieren. Er verwendete seinen Zorn als Ausdruck von Autorität oder vielleicht auch zum Beweis von Männlichkeit. Agnes hatte das eine nie vom anderen trennen können. Und es war auch egal. Jedes seiner Worte rammte Pfähle in ihr Herz.
»Vielleicht«, fuhr Tom mit erhobener Stimme fort, »wollte ich auch einfach nur mal wieder spüren, dass ich dir etwas bedeute, dass du stolz auf mich bist. Dass alles irgendeine Bedeutung hat!« Er wedelte in einer energischen Geste mit den Armen. »Ich dachte, du würdest im Publikum sitzen und dich mit mir über diese Auszeichnung freuen! Vielleicht wollte ich die Zeit zurückdrehen. Vielleicht wollte ich uns zurück. Vielleicht wollte ich aber auch etwas, das es so schon lange nicht mehr gibt.«
»Was?« Agnes atmete scharf ein.
»Herrgott!« Tom rollte mit den Augen. »Jetzt tu doch nicht so, als ob alles prima laufen würde. Unsere Ehe ist am Ende! Unser ganzes Leben ist im Arsch! Ich gehe vor die Hunde, und du merkst es nicht einmal!« Er lachte. Laut und falsch. »Ich schufte! Seit Jahren! Jeden Tag! Schichtdienste, Überstunden, Bereitschaften, Fortbildungen. Nie ist es genug. Und wofür? Für dich und die Kinder! Für die Altbauwohnung mit Garten, mitten in der Stadt, ein Auto, Klavier, Reiten, Gitarre, Handball, Skifahren, Sommerurlaube, Bionahrungsmittel.« Er rang nach Luft. »Verdammt! Ich fühle mich wie der Esel, der Gold scheißt!«
»Du tust so, als würde ich nichts zu unserem Leben beitragen!«
Tom warf die Arme in die Höhe. »Dieser lächerliche Job bei Britta? Das reicht nicht mal für Emmas Klavierstunden!«
Agnes schluckte. Sie dachte an Elna Markgrafs stille Gratulation zur besten Ehefrau des Abends. »Ich kümmere mich um die Kinder, den Haushalt und alles andere. Du erhältst Excellence Awards, weil ich dir den Rücken freihalte.«
»Wow! Du kümmerst dich um zwei Teenager und den Haushalt?« Mit hochgezogenen Augenbrauen begann Tom, ein imaginäres Hindernis zu umrunden, zu dem er auch zu sprechen schien. »In der Tat, vielleicht sollte ich dir dabei noch mehr zur Hand gehen, was meinst du? Neben den Patienten, der Station, meinen Mitarbeitern, der Verwaltung, externen Gutachten, Fachtagungen, unserem Einkommen, dem Auto kümmere ich mich jetzt auch noch um die Wäsche und Emmas Hausaufgaben. Kein Problem.«
»So habe ich das doch gar nicht …«
»Nein, nein!« Er wackelte mit dem rechten Zeigefinger in der Luft wie ein Lehrer alter Schule. »Lass uns bei der Wahrheit bleiben, ja? Du hast das ganz genau so gemeint. Mein Erfolg ist eigentlich gar nicht mein Erfolg, sondern deiner. Dabei beweist die Auszeichnung heute Abend genau das Gegenteil! Denn mit dem Excellence Award wurde der Arzt Tom Morgenthaler gekürt!« Agnes senkte den Blick. Sie spürte es. Genau jetzt. Wie Tom sich in eine Rage redete, die über sie beide hinwegrauschte und keine Überlebenden zurückließ. »Ich bin der Arzt, der sich vorbildlich um seine Patienten kümmert! Der Arzt, der fachlich herausragend arbeitet! Der Arzt, der das Team einer Station führen kann! Der Arzt, der im vergangenen Jahr mehr und besser performt hat als jeder andere in diesem verdammten Krankenhaus!« Tom schnaubte. »Ahnst du überhaupt, was mir diese Auszeichnung bedeutet?« Endlich blieb er stehen, hielt in dieser sich aufwärts schraubenden Kreisbewegung inne und fixierte Agnes. »Ja, verdammt, ich wollte heute Abend glänzen! Ich wollte endlich ernten, was ich seit Jahren säe. Und dann kommst du in diesem … diesem lächerlichen Aufzug daher! Gönnst mir nicht den Lohn meiner Mühen, wirfst mir vor, dich bloßzustellen, den Erfolg nicht verdient zu haben. Scheiße! Ich reiße mir den Arsch auf und dachte tatsächlich, die Auszeichnung heute Abend würde für mich sprechen! Aber du hörst gar nicht zu! Nie hätte ich gedacht, dass so etwas wie Neid in unserer Ehe eine Rolle spielen könnte.«
Tom verharrte einige Sekunden in einem bohrenden Blick, den er durch die Zeit und Agnes’ Herz trieb. Dann drehte er sich abrupt um, stapfte mit riesigen Schritten zurück zum roten Teppich und entschwand durch das angeleuchtete Portal des Museums.
Agnes schlug die Hände vor das Gesicht. Sie drückte mit den Fingern auf Augen, Schläfen, Wangenknochen, hielt alles am Platz, damit es nicht verrutschte, ihr nicht entglitt. Das Leben rieselte durch ihre Hände, und je mehr sie versuchte, es zu halten, desto schneller entschwand es. Sie schnappte nach Luft, hyperventilierte, zwang sich, auf das hektische Flattern ihres Atems zu lauschen.
Noch nie hatte Tom so mit ihr geredet. Noch nie! Noch nie hatte er ihr all diese Dinge vorgeworfen. Noch nie hatte seine Stimme so eisig geklungen. Noch nie hatte sie solche Angst empfunden. Noch nie. Niemals in ihrem Leben.
Agnes sprang auf. Sie wankte in die Wallanlagen, stakste hinein in den Park, der auf den Ruinen der ehemaligen Stadtbefestigung wuchs. Die Stilettoabsätze sanken in die Fugen zwischen den Pflastersteinen. Agnes taumelte. Sie konnte an nichts denken, erinnerte sich kaum, warum sie hier war. Über allem schwebte dieses Gefühl von Fassungslosigkeit. Entsetzen. Scham. Wie hatte das nur passieren können? Wie war sie hier gelandet? Bedeutete das das Ende ihrer Ehe? Wie konnte er ihr das antun? Was sollte sie den Kindern sagen? Würden sie die Wohnung verkaufen? Wie konnte es so weit kommen? Liebte Tom sie nicht mehr?
Agnes stolperte, versuchte noch, das Gleichgewicht auf den hohen Schuhen wiederzufinden, doch ihr rechter Fuß knickte um, ihre Arme ruderten, ihre Hände griffen ins Leere. Agnes fiel, stürzte ins Bodenlose, spürte, wie der Absatz ihres linken High Heels sich tief in die weiche Erde bohrte, bevor sie in einem Beet aus Funkien landete. Sie schluchzte zwischen den halbrunden Stängeln der Pflanzen, verbarg das Gesicht unter den herzförmigen Blättern und weinte um ihr Leben.
»Allens klor bi dir?«