Alice und das Blau des Wassers - Katja Keweritsch - E-Book

Alice und das Blau des Wassers E-Book

Katja Keweritsch

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Manchmal muss man sich freischwimmen, um die eigenen Träume wieder zu finden

Ausgerechnet an ihrem Hochzeitstag erfährt Alice, dass ihr Mann sie verlässt. Mit 49 Jahren findet sie sich plötzlich allein und ohne Job wieder. Um mal für einige Woche kostengünstig rauszukommen und Abstand zu gewinnen, bestätigt sie die erste Anfrage auf einer Haustauschplattform: Guernsey, die zweitgrößte der Kanalinseln zwischen England und Frankreich. Vielleicht kann sie dort, weit weg von Hamburg, herausfinden, wie es weitergehen soll. Ist es möglich, mitten im Leben noch einmal die Richtung zu ändern? Wie soll das funktionieren? Und was erwartet sie eigentlich von der zweiten Hälfte ihres Lebens? Alice wagt sprichwörtlich den Sprung ins kalte Wasser: Auf Guernsey wird sie zur Freischwimmerin im offenen Meer. Und sie lernt Menschen kennen, aus deren Freundschaft sie Kraft, Zuversicht und neue Möglichkeiten schöpft.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 339

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Ausgerechnet an ihrem Hochzeitstag erfährt Alice, dass ihr Mann sie verlässt. Mit 49 Jahren findet sie sich plötzlich allein und ohne Job wieder. Um mal für einige Woche kostengünstig rauszukommen und Abstand zu gewinnen, bestätigt sie die erste Anfrage auf einer Haustauschplattform: Guernsey, die zweitgrößte der Kanalinseln zwischen England und Frankreich. Vielleicht kann sie dort, weit weg von Hamburg, herausfinden, wie es weitergehen soll. Ist es möglich, mitten im Leben noch einmal die Richtung zu ändern? Wie soll das funktionieren? Und was erwartet sie eigentlich von der zweiten Hälfte ihres Lebens? Alice wagt sprichwörtlich den Sprung ins kalte Wasser: Auf Guernsey wird sie zur Freischwimmerin im offenen Meer. Und sie lernt Menschen kennen, aus deren Freundschaft sie Kraft, Zuversicht und neue Möglichkeiten schöpft.

Die Autorin

Katja Keweritsch ist Ethnologin und Journalistin. Sie ist in einem friesischen Dorf aufgewachsen, von dem aus es sie schon früh in die Welt zog. Neben Köln und Hamburg studierte sie in Los Angeles und lebte zeitweise in Mumbai und auf Sansibar. Heute wohnt sie mit ihrer Familie an der Elbe. In ihren Romanen schreibt sie über die Liebe und darüber, wie wichtig es ist, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren.

KATJA KEWERITSCH

ALICE UND DAS BLAU DES WASSERS

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 03/2025

Copyright © 2025 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Dieses Werk wurde vermittelt von der Literaturagentur Dorothee Schmidt.

Redaktion: Antje Steinhäuser

Umschlaggestaltung: Romy Pohl unter Verwendung von Shutterstock.com (Mabelin72; Dooder)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31819-2V001

www.heyne.de

Für Mama und all die wunderbaren Frauen in meinem Leben

Eine Frau geht durch die Formen. Die Verwandlung ist ihre Natur.

Svenja Leiber, Kazimira

1. Quartal

Januar

Drei Minuten, siebenunddreißig Sekunden. Das war mein Rekord. Keine Ahnung, welche Umstände zu dieser Bestmarke geführt hatten. Manchmal versuchte ich, mich selbst zu schlagen. Aber Druck wirkte kontraproduktiv.

Ich streifte die graue Wollmütze, Neoprensocken und Handschuhe über und schlüpfte aus dem Bademantel. Nie fühlte ich mich nackter als in diesem Moment. Der Winter biss in jeden Quadratmillimeter Haut. Schon seit Tagen fielen die Temperaturen unter die Frostgrenze.

Ich zwang mich, die Atemmeditation durchzuführen, mein Herz zu beruhigen. Nur keine Aufregung. Ich kletterte auf den Hocker, griff nach der Halterung am Schuppendach und piekste den großen Zeh durch die dünne Eisscholle, die mittig auf dem Wasser im Holzfass trieb. Spitze Splitter drifteten an den Rand. Ich zog beide Beine an, atmete, atmete erneut und tauchte mit den Füßen voran in die Kälte.

Der Schock explodierte mit einer solchen Wucht in den Nervenenden, dass ich japste. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich. Mein Körper schaltete in den Überlebensmodus. Er leitete das Blut aus Händen, Armen, Beinen in den Rumpf, um die Organe zu schützen. Die Gefäße der Haut verengten sich. Ein eiserner Ring spannte sich um die Lungen. Das Atmen wurde zu einem bewussten Akt, einer existenziellen Anstrengung.

Ein Teil des Blutes rauschte in den Kopf, der Druck stieg. Hyperämie. Ich atmete ruhig gegen die Panik meines Körpers an, löste die Arme vom Fassrand und sank in die Hocke, bis mein Kinn das Wasser berührte.

Kurz darauf geschah es. Ein paradoxes Wärmegefühl. Meine Hormone gingen auf Heldenreise. Adrenalin, Noradrenalin, Kortikoide und Endorphine schwärmten aus, kämpften gegen das Auskühlen und Erfrieren an. Wie nebenbei rangen sie dabei auch andere Wehwehchen nieder, die Wechseljahresbeschwerden, die mich mit ständig schwankender Präsenz heimsuchten. Aber nun bot ich ihnen die Stirn.

Während meine Silhouette von außen zusammenschrumpelte, weitete ich mich innerlich. Mein Herz schwoll an, die Gefäße, Organe, alles arbeitete präzise und effektiv. Ich atmete. Schaute der Dämmerung beim Einsetzen zu, beobachtete, wie ein kalter Schimmer sich am Himmel über den Fichten am Ende des Gartens ausbreitete.

Als das Wasser sich durch mein Zittern zu kräuseln begann, streckte ich die Beine, schwer, langsam, wie in Zeitlupe und stieß mich vom Boden des Fasses ab. Ich tastete nach dem Griff am Schuppendach und zog mich aus dem Eisbad. Die Stoppuhr an der Schuppenwand zeigte zwei Minuten und sieben Sekunden an.

Ich blieb noch einen Moment lang auf der Terrasse stehen, atmete die Lungen weit, genoss, wie die Haut prickelte, und spürte dem Glücksgefühl nach, das mich zuverlässig und jedweden Lebensumständen zum Trotz dreimal pro Woche überschwemmte. Es machte, dass ich mich erhaben fühlte, unverletzbar, bereit, mit großem Überblick auf die Welt zu schauen.

Ich streifte Neoprensocken, Handschuhe und Wollmütze ab und wickelte mich zurück in den Bademantel. Die Gelenkschmerzen, die sich vorhin beim Aufstehen angefühlt hatten, als schabe Knochen an Knochen, waren erfroren.

Leise schob ich die Terrassentür auf, trippelte durch das dunkle Wohnzimmer ins Bad und duschte mit warmem Wasser gegen das Taubheitsgefühl in Armen und Beinen an. Als ich sicher war, die Klinge wieder ruhig führen zu können, rasierte ich Beine und Achseln. Kurz dachte ich über einen Brazilian Cut nach; erst neulich hatte ich Michael ertappt, wie er in der Büroküche in einer Frauenzeitschrift blätterte und eine Übersicht von Intimrasuren studierte. Ich fragte ihn, ob wir darüber nicht hinweg wären. Er lachte.

Ich verwarf den Gedanken.

Dafür entschied ich, die parfümierte Körperlotion zu benutzen, die er mir vor einiger Zeit geschenkt hatte. Ich fand den Geruch etwas penetrant, zu viel Vanille, aber heute war ein zweifach besonderer Tag.

Ich stieg in den schwarzen Spitzenbody, den ich extra bestellt hatte, und vermied es, mich darin im Spiegel zu betrachten. Seit den Schwangerschaften vor so vielen Jahren hatten mein Körper und ich uns in einer Art Burgfriede arrangiert. Ich ignorierte, dass die Kilos heute an mir klebten wie früher die Kinder, er verschonte mich mit demütigenden Forderungen nach Diäten oder Sport.

Meine Mutter scherzte gern, dass Frauen sich im Alter für Pest oder Cholera entscheiden mussten, entweder dick und faltenfrei oder schlank und verschrumpelt. Mia hielt dagegen, dass dieser Ausspruch schlimmstes body shaming war, woraufhin ihre Großmutter mit der Zunge schnalzte und ihre Naivität rügte. Mia hatte natürlich recht. Aber der Stachel saß tief.

Ich verließ das Bad in Jeans, Bluse und Blazer, zubbelte auf dem kurzen Weg in die Küche aber bereits derart an den kneifenden Metallbügeln des Bodys herum, dass ich überlegte, mich wieder umzuziehen. Ich könnte meinen Körper schließlich auch später noch, im Bad vom Büro, in die Grenzen dieses hübschen Hauchs quetschen. Andererseits würde mich die Unbequemlichkeit den ganzen Tag über an die Vorfreude auf den heutigen Abend erinnern. Wer schön sein will und so weiter.

Ich drückte den Lichtschalter in der Küche und erschrak. Michael hockte auf einem Barhocker am Tresen.

»Himmelherrje! Was machst du hier im Dunkeln? Warum bist du schon auf?« Ich ging zu ihm, schlang meine Arme um seine Schultern und küsste ihn. »Guten Morgen, alles Gute zum …«

»Herzlichen Glückwunsch.« Michael erhob sich und gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Tut mir wirklich leid, aber ich muss los.« Er war bereits angezogen.

»Aber … ich wollte uns gerade Frühstück machen.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Ich habe gar keinen Termin für heute Morgen eingetragen.«

»Hat sich kurzfristig ergeben.«

»Bei wem denn?«

»Neuakquise.«

»Fenster oder Markise?«

»Vielleicht beides.« Er schritt in den Flur, und ich sah, dass er bereits Schuhe trug. Nicht die schwarzen Stiefel, sondern die neuen braunen. Dazu den marinefarbenen Kurzmantel und einen hellgrauen Schal statt wie sonst die rote Funktionsjacke. Ich justierte die Metallbügel des Spitzenbodys. Gute Entscheidung. Nicht nur ich hatte mich mit der Buchung im Gourmetrestaurant des Vier Jahreszeiten Hotels aus dem Fenster gelehnt, auch Michael schien etwas für heute Abend zu planen.

»Dann sehen wir uns um neunzehn Uhr am Jungfernstieg?«

Michael hob die Hand, öffnete die Haustür und verschwand. Keine zwanzig Sekunden später hörte ich den klobigen SUV aus der Ausfahrt schnarren.

Zurück in der Küche brühte ich schwarzen Tee auf, entschied mich für Kluntje und Sahnewölkchen, setzte mich auf das Sofa im Wohnzimmer und schaute zu, wie der Garten erwachte. An Eisbadetagen schien ein ganz besonderer Zauber über den hohen Fichten, der weiten Rasenfläche und den ausladenden Rhododendren zu liegen. Fast schon etwas Märchenhaftes. Der Wald des Klövensteen drängte sich so dicht an das Grundstück mit dem Bungalow heran, dass es manchmal schien, als reichte ein Happs, und die Bäume verschlängen jeden Meter, den wir ihm so mühsam abgerungen hatten. Wahrscheinlicher aber war, dass all die freigesetzten Endorphine meinen Blick verklärten.

Ich verzichtete auf Rühreier und frühstückte wie immer Haferflocken, jetzt, da Michael sich schon auf den Weg gemacht hatte, als mein Handy vibrierte. Jannis schickte Glückwünsche in den Familienchat. Ein Selfie von sich mit einem Sektglas an der Reling des Eisbrechers, auf dem er gerade irgendwo in der Region um Spitzbergen das Verhalten von Ruderfußkrebsen für seine Doktorarbeit untersuchte. An seinem Schnäuzer klebten Eiszapfen. Ich schrieb eine Antwort, aber er war bereits wieder offline.

Von Glückshormonen beseelt, beschloss ich, mit dem Fahrrad ins Büro zu radeln. So könnte ich später auch auf die umständliche Busfahrt von Schenefeld zur S-Bahn verzichten.

Ich schlüpfte gerade in die Winterjacke, als Mia anrief.

»Happy birthday to you, happy birthday to you …«

Sie sang nicht schön, aber leidenschaftlich, schmetterte die Zeilen mit einer Inbrunst, die mich grinsen ließ.

»Danke, mein Schatz!«

»Alles Liebe, Mama! Dein Geschenk ist im Briefkasten. Viel Spaß beim Rätseln und bis heute Mittag.«

Sie legte auf, und ich öffnete überrascht die Haustür. Im Briefkasten steckte ein großer Umschlag mit rotem Glitzer, etlichen Metallherzchen, vermutlich neunundvierzig, und einem selbst gemalten Kreuzworträtsel. Gut gelaunt machte ich mir noch einen Tee und setzte mich in die Küche.

1. Frage: Was war das Tollste an unseren Kindergeburtstagen?

Die Wasserbomben, das war leicht. Mia und Jannis hatten beide im August Geburtstag. Sie liebten es, wenn ich mich als Zielscheibe zur Verfügung stellte und sie mich mit ihren Freunden abwerfen durften.

2. Frage: Welches Kleidungsstück würdest du nie tragen?

Ich lächelte. Jogginghosen. Die Erziehung meiner Mutter saß tief. Keine Jeans am Wochenende, niemals Wohlfühlklamotten. Kleidung war mächtig; Uniformen verwandelten Menschen in Soldaten, Korsetts rangen Frauen nieder, in Jogginghosen verlor man die Kontrolle über sein Leben. Ich liebte Seidenblusen, die nur mit der Hand gewaschen werden durften. Sie brauchten eine Sonderbehandlung, glänzten mit einer Selbstverständlichkeit auf den Bügeln meines Kleiderschranks, von der ich hoffte, dass sie beim Tragen auf mich abfärbte.

Die Lösungsbuchstaben meiner Antworten auf Mias Fragen ergaben den Satz: Schau in der Truhe im Flur nach. Unter dem Deckel des wuchtigen Erbstücks von Michaels Eltern, in dem wir Gummistiefel und Gartenschuhe aufbewahrten, fand ich ein Fotoalbum. Mia hatte Babybilder von mir eingescannt, Klassenfotos, die mich mit langen Zöpfen zeigten, Schulporträts, meine Abi-Abschlussrede nach der Zeugnisverleihung, die meine Mutter scheinbar irgendwo ausgegraben hatte, etwas steife Aufnahmen unseres Hochzeitswalzers kein Jahr später, die schönsten Kinderbilder von ihr und Jannis.

Ich weinte vor Rührung.

Sehr viel später als gewöhnlich machte ich mich auf den Weg. Ich nahm die Route durch den Wald, an den Fischteichen vorbei, raus auf die Felder, strampelte über landwirtschaftliche Wege, an unbeweideten Pferdekoppeln und Kuhwiesen entlang, passierte Zäune, Gräben und Reiterhöfe. Die Sonne wagte sich zögerlich an ein milchiges Licht. In den braunen Ackerfurchen glitzerte Eis. Meine Wangen brannten vom frostigen Wind. Die Metallhäkchen des Bodys drückten in meine Vulvalippen.

In Schenefeld, dieser seltsamen schleswig-holsteinischen Kerbe in der Hamburger Stadtphysiognomie, bog ich in das kleine Gewerbegebiet ab, fuhr über den Hof des Baustoffhandels und parkte schließlich vor dem zweigeschossigen Flachdachgebäude mit dem mittig angebrachten Schriftzug Janssen Fenster & Markisen.

Jeden Morgen, wenn ich das lachsfarbene Schild mit den abblätternden Buchstaben sah, schwor ich mir, noch einmal mit Michael darüber zu sprechen, ein neues anfertigen zu lassen. Wir könnten das alte Schild zu Hause in der Garage aufbewahren oder es an die Schuppenwand nageln. Egal. Aber als Standortzeichen für die Firma, als Marker für einen Familienbetrieb und Hinweis auf Qualitätsarbeit hatte es ausgedient. Hannes wäre sicher meiner Meinung gewesen. Als hanseatischer Kaufmann galt sein Blick stets der Zukunft, nie einer nostalgisch verklärten Vergangenheit.

Michael vermisste seinen Vater.

Ich kettete das Fahrrad an und wunderte mich, dass aus keinem der beiden Büroräume Licht auf den Bürgersteig fiel. Die Haustür war verschlossen. Ich sperrte auf, passierte die Stufen hinab ins Souterrain mit den Sanitäranlagen und stieg die Treppe hinauf zu den Ausstellungsräumen und Büros. Da Janssen Fenster & Markisen vor allem für gewerbliche Kunden arbeitete, verzichteten wir auf jeglichen Chic. Die Büros langweilten in schlichtem Grau, die Ausstellungsräume präsentierten Fenster- und Markisenmodelle mit Baumarktcharme. Auf diese Weise warben wir angeblich für unser Preis-Leistungs-Verhältnis und den Firmengrundsatz »Janssen – Qualität vom Fachmann«. Ich hatte noch nie verstanden, auf welcher Ebene hochwertige Fenster mit einer stilvollen Ausstellung oder behaglichen Büros konkurrierten, aber in diesem Punkt blieb Michael genauso stur wie früher sein Vater. Selbst drei Jahre nach Hannes’ Tod gestalteten sich Gespräche über Veränderungen schwierig. Never change a running system. Vielleicht hielt unsere Ehe auch deshalb auf den Tag genau seit neunundzwanzig Jahren.

Ich schaltete Licht und Computer an, setzte in der kleinen Küche eine Kanne Tee auf und wunderte mich erneut über die morgendliche Stille. Hamza, Matteo und Adrian arbeiteten seit zwei Wochen auf einer Großbaustelle in der Hafencity, Milan lag noch immer mit einer Grippe flach, aber Ahmad und Simon sollten heute Vormittag eigentlich im Lager aufräumen, was um diese Uhrzeit bereits einige Tassen Kaffee erfordert hätte. Doch das Geschirr pausierte noch immer in der Spülmaschine. Wo blieb Laura? Letztes Jahr hatte ich den Lilienstrauß auf meinem Schreibtisch schon auf der Treppe gerochen. Heute glänzte hier alles so aufgeräumt, wie ich es gestern hinterlassen hatte.

Ich schluckte meine Enttäuschung mit dem ersten Schluck Tee hinunter und begann, E-Mails zu beantworten. Ich schrieb Rechnungen, korrigierte Preislisten, fand heraus, dass Simon und Ahmad bereits seit gestern Nachmittag mit der Installation neuer Fenster in einem Bürogebäude in Henstedt-Ulzburg beschäftigt waren, und rätselte weiter, wo Laura blieb. Sie arbeitete seit vier Jahren bei uns und unterstützte mich beim Officemanagement. Michael hatten die erhöhten Personalkosten lange umgetrieben, aber Laura bewies im stressigen Sommergeschäft viel Coolness. Die Kunden mochten ihre nordisch klare Art. Ich empfand immer etwas mütterlich für sie, vielleicht, weil sie nur vier Jahre älter war als Jannis.

In meiner nächsten Teepause rief ich Laura an, erwischte aber nur die Mailbox. Ich las die Glückwünsche meiner Eltern auf WhatsApp. Sie hatten das Foto eines rot-gelben Tulpenstraußes geschickt, den sie mir morgen Abend bei einem Glas Wein überreichen wollten. Zwei alte Schulfreundinnen hatten ebenfalls Nachrichten geschickt, genauso wie eine Cousine, meine Schwiegermutter und beide Tanten.

Ich wollte gerade noch einmal bei Laura anrufen, als sie ins Büro stolperte.

»Morgen …«

Laura plumpste auf den Drehstuhl am Schreibtisch mir gegenüber, schleuderte ihre schwarze Handtasche neben die Tastatur und wühlte sich aus dem Daunenmantel. Ihre Wangen glühten apfelbäckchenrot in einem bleichen Gesicht. Den hohen Pferdeschwanz hielt ein Gummiband, das die Gesichtshaut zu straffen schien.

Sie sah mich an, und ihre Augen begannen zu stieren. »Alice … verdammter Mist!« Sie sprang auf, riss die Handtasche an sich und stürmte aus dem Büro.

Verwirrt schaute ich ihr hinterher.

Laura polterte die Treppe hinunter, aber es drangen weder das typische Wischen der Bürstendichtung noch das sonore Klicken der Haustür nach oben. Stattdessen tönte Rascheln von unten aus den Toiletten herauf. Kurz darauf ein dumpfes Rumpeln.

Danach Stille.

»Laura?« Ich ging zur Treppe. »Ist alles okay?«

Keine Reaktion.

Ich stieg die Stufen hinab, hielt aber auf dem Absatz inne. Ich wollte ihr nicht die Freude an einer Überraschung verderben, die sie vielleicht gerade vorbereitete.

»Laura?«

Ihr Schweigen tönte in meinen Ohren. Ein unheilvoll hohler Hall. Ich spähte durch das Glas der Haustür, hinter dem das Asphaltgrau der Straße mit dem Betongrau der Gebäude, dem Stahlgrau des Himmels verschwamm.

»Laura?« Ich redete, während ich die letzten Stufen hinunter zu den Sanitäranlagen nahm. »Was ist los? Kann ich dir irgendwie helfen? Sag Bescheid, wenn …«

Sie lag auf den Kacheln vor den Toilettentüren. Neben ihr ein halb ausgepackter Strauß weißer Lilien. Es roch penetrant nach einer Mischung aus Honig und Urin.

»Laura!«

Ich sank auf die Knie, fühlte kalten Schweiß auf Lauras Wangen. Ihre Lider flatterten.

»Laura? Kannst du mich hören?«

Ich scannte ihren Körper, den blauen Rollkragenpulli, die Jeans, deren oberster Hosenknopf offen stand, die hellen Boots. Kein Blut, keine Verletzung.

»Laura …«

Sie war bewusstlos. Ich hatte keine Ahnung, was ihr fehlen könnte.

Hastig sprang ich auf, rannte die Treppe hoch ins Büro, schnappte mein Handy, flog die Stufen wieder hinunter, kniete mich erneut neben Laura, die sich noch immer nicht rührte, und wählte den Notruf.

Dann geschah alles auf einmal.

Noch während ich mit der Frau in der Notrufzentrale telefonierte, öffnete Laura die Augen. Ich wollte sie gerade ansprechen, als Michael neben uns auftauchte. Er schrie, stürzte zu Laura, umfasste ihren Kopf, hob ihren Oberkörper an und wiegte sie in seinen Armen. Lauras Lippen zuckten, sie flüsterte etwas, das ich nicht verstand. Ich versuchte am Telefon zu erklären, was geschah, fand aber nicht die richtigen Worte. Barsch fuhr Michael in einen meiner gestammelten Sätze. »Sie ist schwanger! Sie sollen sich verdammt noch mal beeilen!«

Ich starrte auf Lauras Bauch, die nicht erkennbare Wölbung, meinen Mann, der meiner Kollegin über die Wange strich, sie beruhigte, alles gut, die Lilien im Packpapier, die er zur Seite gestoßen hatte, um Platz neben Laura zu finden, alles gut, die Frau in meinem Ohr redete auf mich ein, alles gut. Alles gut.

Die Sanitäter untersuchten Laura, während Michael am Waschbecken lehnte und ich mich in den Vorflur drückte. Sie vermuteten eine Kreislaufschwäche, empfahlen wegen der Schwangerschaft aber einen Check-up im Krankenhaus. Michael stützte Laura, als sie die Treppen hinauf zum Krankenwagen gebracht wurde. Ich tappte hinterher, wattige Schritte, die kaum den Boden zu berühren schienen.

Als Laura im Krankenwagen auf die Trage gelegt wurde, erklärte Michael, er würde mit dem Auto hinterherfahren, um später vom Krankenhaus wieder wegzukommen.

»Alles wird gut«, sagte er, nestelte mit fahrigen Bewegungen an der dünnen Decke, die die Sanitäter über Laura ausgebreitet hatten, und legte seine Stirn an ihre. Michael schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Streichelte Laura über die Wange. Dann küsste er sie.

Der Krankenwagen fuhr ab und ließ uns zurück.

Es dauerte, bis das Gesehene sich in meinem Kopf zu Gedanken formte. Wie bei diesem alten Fernsehratespiel, Dalli-Klick, wo ein Bild schrittweise enthüllt wurde, so lange, bis auch der letzte Ratende es durchschaute.

Ich starrte ins Leere, die Umrisse der Gebäude verschwammen, Nebelschleier schienen die Welt zu entrücken. Allein Michaels Silhouette setzte sich als dunkler Fokus ab. Mit dem Rücken zu mir schob er die Hände in die Taschen des Mantels, den er vor kaum drei Stunden zu Hause übergezogen hatte. Er spannte um die Schultern. Ich hatte ihn darauf hingewiesen, als wir vor vier Wochen gemeinsam Weihnachtsgeschenke in der Innenstadt shoppten und Michael sich diesen Mantel als Gabe von mir unter dem Baum wünschte. In Konfektionsgröße fünfzig. Die trug er schließlich schon immer. Sein ganzes erwachsenes Leben lang. Seit wir uns kannten, mein Mann und ich. Mein Ehemann seit neunundzwanzig Jahren, auf den Tag genau. Mein Michael. Der gerade meine Kollegin geküsst hatte.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Du hättest es nicht so erfahren sollen.«

Ich fragte mich, ob seine Entschuldigung einzig und allein den Umständen galt oder ob es ihm auch ein wenig um unsere Ehe ging. Um all die gemeinsamen Jahre. Um uns. Um mich.

»Ist es von dir?«

Er nickte. »Ich muss jetzt ins Krankenhaus. Lass uns später reden.«

Michael stieg ins Auto und floh.

Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Parkplatz ausharrte und dem SUV hinterherschaute. Es war wie bei einem dieser zeitgebundenen Fotos, die mit langer Belichtung arbeiteten und die Rücklichter des Wagens als eine leuchtende Spur vor allumfassendem Grau abbildeten, wie eine Fährte, der es zu folgen galt.

Das Zittern meiner Hände in winterlicher Kälte weckte mich. Mein Körper sendete Notsignale zur Rettung, genau wie heute Morgen im Eisfass.

Ich stakste die Treppe hinauf ins Büro, fuhr den Computer runter, zog mich an, schaltete das Licht aus, verließ das Gebäude, schloss ab, folgte automatisierten Abläufen. Die ganze Zeit über versuchten meine Lippen, sich aufeinander zuzubewegen, aber sie hakten in der Schwebe zwischen Sprechen und Denken fest und fanden keinen Weg zur Artikulation. In meinem Kopf: Totenstille. Vielleicht fühlte es sich auch nur so an. Vielleicht sprangen und wirbelten und rotierten die Gedanken in Wahrheit auch so schnell, dass ich einfach keinen von ihnen zu fassen bekam. Im Ergebnis blieb es sich gleich.

Ich zwang mich, den Blick nach außen zu richten. Wahrzunehmen, was ich tat. Doch als ich mich umschaute, hatte ich Schenefeld längst hinter mir gelassen und radelte durch die Felder. Feiner Nebel schwebte über den Weiden. Die Landschaft wirkte surreal. Kein Strauch sah den anderen, jeder Grashalm war für sich allein. Nur einzelne Baumkronen stachen wie Schiffbrüchige aus einem Meer.

Ich trat in die Pedale. Meine Füße kreisten mit den Kurbelarmen um das Kettenrad, schnell, schneller. Auf den Wegen tauten die zarten Eisschichten auf den Pfützen, sodass Dreck und Glätte sich abwechselten. Ich schlingerte durch menschenleeres Niemandsland. Der Wald baute sich dunkel am Horizont auf.

Als ich die ersten Bäume erreichte, rann der Schweiß bereits über meinen Rücken, an den Korsettdrähten des Bodys hinunter, bis zum Po. Ich keuchte, strampelte gegen die Gedanken an. Wurzeln bogen sich mir entgegen, Gestrüpp riss an meinen Ärmeln. Ich erhob mich, trat jetzt im Stehen. Durchpflügte Laubhaufen, flog über Kuhlen. Webte mich im Slalom um die Bäume. Schnitt einen Haken vor einem herabgefallenen Ast. Schlingerte, verkeilte das Vorderrad, balancierte, rutschte. Stürzte vorne über den Lenker und riss das Fahrrad mit mir die Böschung hinab in den Teich.

Ich prustete, versuchte, die verhedderten Beine zu entwirren, schnappte nach Luft und erkannte, dass der Teich am Ufer nicht annähernd so tief war, wie ich immer vermutet hatte. Das Fahrrad lag seitlich im Wasser, der rechte Griff ragte aus einer zerbrochenen Eisscholle. Ich hockte daneben, bis auf den schwarzen Spitzenbody durchnässt. Der Schock verschleierte den Schmerz, sodass ich nicht feststellen konnte, ob ich mich ernsthaft verletzt hatte. Ich betrachtete meine behandschuhten Hände, hob die Füße, tastete in meinem Gesicht nach Blut, nichts. Schließlich schob ich mich hoch, stützte eine Hand am Lenker ab, richtete mich auf und stakste aus dem schmoddrigen Wasser.

Ich setzte den Rucksack ab, fingerte nach dem Handy, um Michael anzurufen – und brach mitten in der Bewegung ab.

Mein Mann betrog mich mit meiner jungen Kollegin, die ein Kind von ihm erwartete. Das konnte doch nicht sein. Was für ein Klischee. Michael. Uns ging es doch gut. Keine Ehe fühlte sich nach neunundzwanzig Jahren an wie in den ersten Wochen. Dafür hatten wir uns etwas aufgebaut. Ich stutzte. Hatte Laura sich neulich wirklich den Magen verdorben? Oder degradierte mich mein Carepaket aus Haferflocken, Anis-Fenchel-Kümmel-Tee, Elektrolytlösung, Zwieback und Blumen zu einer peinlichen Witzfigur? Verlangte der Architekt der Großbaustelle in der Hafencity wirklich, den Fortschritt der Arbeit mit Michael persönlich zu besprechen? Wollte Michael wirklich cleveres Networking betreiben, indem er regelmäßig mit ihm essen ging? Ich war so blind.

Im Wald um mich herum knackte es. Zweige brachen unter der Last des gefrorenen Wassers. Ich zitterte. Schon wieder. Kurz überlegte ich, das Fahrrad aus dem Teich zu fischen. Es war ein klassisches Hollandrad, das wir während eines Urlaubs direkt beim Hersteller in den Niederlanden gekauft hatten. Michael fand die Idee charmant.

Ich riss meinen Rucksack vom Boden und stapfte los. Die Metallbügel des Bodys hatten sich beim Sturz verbogen und quetschten meinen Busen in Richtungen, die der Schwerkraft widersprachen. Ich versuchte, sie durch das Futter der Winterjacke zu justieren, aber meine Finger fühlten sich taub an. Hastig schritt ich um den Teich herum zu dem schmalen Pfad, der an den hinteren Zäunen der Nachbarn vorbei zur Wedeler Au und nach einigen Hundert Metern in unseren Garten führte. Ich stieß das Tor zwischen den Rhododendren auf, eilte über den gefrorenen Rasen und die Terrasse zum Eingang. Mit bebenden Fingern nestelte ich nach dem Schlüssel im Rucksack, vibrierte Halm und Bart ins Schloss und stolperte ins Haus. Noch im Flur zerrte ich Mantel, Mütze, Handschuhe, Blazer, Bluse, Jeans und Stiefel seltsam steif von mir. Ich ließ alles liegen und taumelte in die Küche. Mit der großen Haushaltsschere durchtrennte ich die Träger des Bodys, setzte noch einen weiteren Schnitt zwischen den Brüsten an und schälte mich aus der schwarzen Spitze.

Irgendwann hockte ich geduscht mit einer Decke auf dem Sofa und nippte an einem heißen Tee. Ich dachte jede Sekunde des vergangenen Jahres durch, in der mir hätte auffallen müssen, was sich direkt vor meinen Augen abspielte. Hatte Michael wirklich nur ein fürsorglicher Chef sein wollen, als er die betrunkene Laura am Ende des Sommerfests nach Hause fuhr, während ich mit Hamza und Simon noch aufräumte? War Laura im März wirklich eine Woche zu ihren Großeltern gereist, während Michael drei Tage auf der Messe Fensterbau Frontale in Nürnberg verbrachte? Ich wusste nicht, was ich noch glauben sollte. Mein Leben hatte seinen Wahrheitsgehalt eingebüßt. Alles eine große Lüge.

Ich starrte hinaus ins Grau, aus dem kein heller Tag mehr werden würde, und versuchte meine Gefühle zu ergründen. War ich traurig? Wütend? Schockiert? Ängstlich? Ja. Aber irgendwie auch nicht. Wenn ich ganz tief in mich hineinhorchte, spürte ich da nur den Widerhall meiner Gedanken in einem gänzlich leeren Raum.

Es rasselte an der Haustür. Mein Herzschlag verdreifachte sich. Sosehr ich Michael herbeisehnte, fürchtete ich doch, die ganze Geschichte mit allen abgeschmackten Details aus seinem Mund zu hören.

»Mama?« Mia rauschte ins Wohnzimmer. Sie pfefferte Tasche und Schlüssel auf den Sessel, lief aus ihrem Mantel raus wie ein Model auf dem Catwalk und stürzte sich auf mich. »Ach, Mama.« Sie schluchzte. Ihre braunen Locken, eine Mischung aus Michaels krausblondem und meinem dunklen, pferdemähnendickem Haar, wippten ruckartig.

»Hat Papa dich angerufen?«

»So ein Arschloch!«

»Mia …«

»Was?« Sie stieß sich von mir ab und rieb mit den Fingern über die tränennassen Wangen. »Verteidige ihn ja nicht! Wie konnte er uns das antun?«

Sie weinte, und ich erkannte, dass es auch darum ging, was das Ganze für sie bedeutete. Für sie und Jannis. Unsere Kinder. Die den Thron väterlicher Liebe bald mit einem weiteren Wesen teilen müssten.

»Was hat er dir gesagt?«

»Dass er was mit Laura hat! Seit dem Sommerfest vorletztes Jahr! Das sind eineinhalb Jahre! Ich kann es echt nicht fassen!« Sie sprang auf, lief zum Büfett und kam mit dem Hammershøi-Küchenrollenhalter von Kähler zurück, den Michael mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Klares dänisches Design aus Eichenholz mit einem geriffelten Keramikkopf.

Mia riss ein Stück Papier ab, schnäuzte sich und betrachtete den Halter auf dem Sofatisch. Sie griff danach, schraubte den Keramikkopf ab und schleuderte ihn quer durch das Wohnzimmer zurück in die Küche, wo er mit einem schnarrenden Klirren auf den Fliesen zerbarst. »Was für ein beschissenes Geschenk! Eigentlich hätten wir es da schon wissen müssen!«

Ja, dachte ich. Oder zu einem x-beliebigen anderen Zeitpunkt während der vergangenen neunzehn Monate und drei Tage seitdem Michael offenbar mit Laura schlief. Warum nur hatte ich nichts bemerkt? Wie hielt Laura es aus, sich jeden Tag im Büro erneut an den Schreibtisch mir gegenüberzusetzen? Was dachte Michael, wenn wir Sex hatten? Wer schaffte es, so lange eine Lüge zu leben?

Mia umarmte mich wieder, streifte die Stiefel ab und kuschelte sich zu mir unter die Decke. »Es tut mir so leid, Mama.«

Mutterliebe tropfte aus mir heraus wie bei einem leckgeschlagenen Tank. »Er bleibt dein Vater, Schatz. Daran ändert sich nichts.«

»Hör auf, ein gutes Wort für ihn einzulegen!« Mia schnaubte. »Ich werde wahrscheinlich irgendwann zwischen Michael, dem tollen Vater, und Michael, dem Arschloch-Ehemann unterscheiden können. Aber noch nicht jetzt!«

Ich küsste meine wunderbare Tochter auf die Stirn und entschied, es Michael dem Arschloch-Ehemann zu überlassen, seinen Kindern von dem neuen Geschwisterchen zu erzählen. Mias Mitgefühl strengte mich auch ohne diesen Nebenkriegsschauplatz an. Ich war die Mutter, Trost spenden Teil meiner Kernkompetenz. Aber ich fand gerade keine Kraft in mir. Weder für Mia noch für mich.

Abends lenkten wir uns mit bestellter Pizza, Wein und einem Film ab, in dem Carey Mulligan als Racheengel Männer heimsuchte, die Frauen misshandelten. Mias Wahl.

Ich versicherte ihr, dass sie nicht bei mir schlafen musste, dass ich es allein im Ehebett aushielt, und war froh, als sie sich in ihr ehemaliges Kinderzimmer zurückzog.

Im Schlafzimmer hingen eine von Michaels Jeans, sein blau gepunktetes Hemd und ein T-Shirt über dem Stuhl auf seiner Bettseite. Schwarze Socken krumpelten auf dem Boden. Neben einem halb leer getrunkenen Glas Wasser lag Im Grunde gut von Rutger Bregman auf dem Nachtschrank. Ich hatte Michael das Buch zu seinem Geburtstag im Oktober geschenkt, aber er konnte meine Begeisterung für diesen wundervoll positiven Blick auf die Menschheit nicht nachvollziehen. Eine dünne Staubschicht schimmerte auf dem Cover.

Passierte es jetzt?

Ich horchte in mich hinein. Suchte nach Tränen, Wut, Verzweiflung. Nach Angst. Aber da war nichts. Gar nichts. Musste der Schock sein. War das nicht die erste der fünf Trauerphasen? Alles zu leugnen? Oder waren es sieben?

Eigentlich sollte ich mich fragen, wie es jetzt weiterging. Mit meiner Arbeit in Michaels Familienunternehmen. Unserem Haus. Ich brauchte einen neuen Job, mit fast fünfzig. Wie sollte das gehen? Wohnungen in Hamburg waren teuer. Wie sollte ich mir das leisten?

Die Fragen fühlten sich fremd an. So, als würden sie nicht zu mir gehören, sondern zu einer anderen Frau in einem anderen Leben.

Ich hob Michaels Socken auf und legte sie in den Wäschekorb, roch an Hemd und T-Shirt und legte beides dazu. Die Jeans schien sauber zu sein. Ich hängte sie an einen leeren Bügel. Vor dem Kleiderschrank sank ich auf den Boden und streckte mich auf der Stelle aus, wo kurz zuvor die Socken geknautscht hatten.

Ich werde entheiratet, dachte ich. Entliebt wurde ich wohl schon.

~

Das Badezimmer glänzte bereits, als ich die Fensterbänke im Wohnzimmer wischte. Ich hatte mir online ein Tuch bestellt, das die Blätter von Zimmerpflanzen besonders sanft entstaubte. Die Monstera dankte es mir mit dunkelgrünem Schimmer. Ich saugte die Küche, reinigte die Dunstabzugshaube, putzte die Lampenschirme, startete die Geschirrspülmaschine. Die von Frost bepuderzuckerte Welt luscherte durch die Fenster. Ich stemmte mich gegen die Zeit, die so schnell verrann, dass nach unserem kurzen Chat nur noch zwei Stunden blieben, bis Michael hier wäre. Mia hatte schon früh zu einem wichtigen Seminar aufbrechen müssen, was mich erleichterte. Trotzdem fühlte ich mich wie damals in der Schule, wenn man eine Hausarbeit noch nicht begonnen hatte, der Abgabetermin aber längst verstrichen war.

Als ich nichts mehr zum Putzen fand, stellte ich den Wasserkocher an. Er knackte. Ich öffnete den Deckel, schaute hinein und entdeckte Risse in der dünnen weißen Kalkschicht auf dem Boden.

Statt Tee zu trinken, schüttete ich Essigreiniger in den Wasserkocher und setzte mich mit einem Glas Wasser auf das Sofa. Vor dem Fenster: viel draußen. Ich dachte daran, wie Michael und ich das Haus vor knapp dreißig Jahren zum ersten Mal besichtigt hatten. Es war noch nicht offiziell auf dem Markt. Michaels Vater hatte den Tipp von einem Großkunden bekommen. Er sagte, Beziehungen schaden denjenigen, die keine haben. Ein Zyniker. Michael küsste damals meinen täglich wachsenden Babybauch und malte unsere Zukunft am dunklen Waldrand in den schillerndsten Farben. Wir weihten jeden Raum mit einer anderen Sexstellung ein. Sogar den Hauswirtschaftsraum. Vor allem den Hauswirtschaftsraum. Dort stand schon die Waschmaschine, es gab einen Hocker, Regale, den alten Tisch … Ich nippte an meinem Wasser. Mein Ehegedächtnis war ein Snob. Es wollte sich nur an die guten Dinge erinnern.

Ich hörte ein Rascheln an der Tür. Identifizierte die Art, wie der Schlüssel sich im Schloss drehte und die Tür mit der linken Schulter aufgestoßen wurde als Michaels. Registrierte, dass er die Schuhe nicht mit einem Plong unter die Garderobe pfefferte, sondern sie scheinbar ordentlich von Hand nebeneinander platzierte wie ein Gast.

»Alice?« Er betrat die Küche, schaute ins Wohnzimmer hinunter und nickte. Mit dem Schlüsselbund in der Hand und noch immer im Mantel stieg er besockt die zwei Stufen hinab und setzte sich auf den Sessel mir gegenüber.

»Wie geht es Laura?«

»Gut. Dem Baby auch.«

Ich nickte. Das hier war absurd. Michael trug einen Pulli, den ich ihm gekauft hatte. Seine Jeans hatte ich Dutzende Male gewaschen. Ich war dabei, als seine Mutter ihm die Uhr an seinem Handgelenk nach Hannes’ Beerdigung feierlich überreichte. Ich kannte jede Delle an Michaels nicht mehr jungem Körper, wusste, dass die Narbe am linken Knie von einem Sturz während eines Kreta-Urlaubs herrührte, hatte Tausende Male die Stoppeln seines Dreitagebarts gestreichelt, interpretierte den leicht fettigen Haaransatz vermutlich korrekt als fehlenden Conditioner (die Spezialwaffe für sein noch immer volles blondes Haar stand in der Dusche in unserem Badezimmer) und ahnte, dass er keine Boxershorts trug, weil er es verabscheute, an zwei Tagen hintereinander dieselbe tragen zu müssen, sodass er sicher lieber unten ohne in die Jeans gestiegen war. Trotzdem saß ein Fremder vor mir, der es nicht wagte, den Blick zu heben, aus Angst, meinem zu begegnen.

»Ich nehme ein paar Anziehsachen mit. Über alles andere müssen wir dann mal in Ruhe reden.«

»Ist es dir hier gerade zu laut?«

Er rollte mit den Augen.

Ich hasste alles an dieser Situation. Wie wir hier saßen. Wie er mich nicht anschauen konnte. Wie er herumdruckste. Wie er tat, als wäre sein Umzug von mir zu Laura eine Klamottenfrage. Wie ich vor Aufregung zitterte. Wie kalt es draußen war.

Die Stille hielt an. Musste ich wirklich fragen? Konnte er nicht einfach von selbst mit dem Erzählen beginnen? Michael klimperte mit den Schlüsseln in seiner Hand.

»Seit wann?«

Er verstand sofort, räusperte sich. »Da war doch vor zwei Jahren mal dieses Flimmern vor meinen Augen. Schwarze Streifen, du weißt schon. Ein paar Mal. Irgendwie hat das was verändert. Ich habe damals gedacht, was ist, wenn das wirklich was Schlimmes ist? Wenn ich mein Augenlicht verliere? Wäre das okay, weil ich schon so viel gesehen und alles erlebt habe, was ich immer wollte? Oder gibt es da noch Dinge in meinem Leben, die ich unbedingt sehen will.«

»Und dann hast du dich dafür entschieden, noch einmal den Körper einer jungen Frau anzuschauen? Ernsthaft?«

»Nein!« Er fuhr sich durch die Haare. Eine Geste, die seine Worte Lügen strafte. »So ist das nicht gewesen. Du verstehst das nicht. Ich denke, ich war einfach offener für bestimmte Dinge.«

»Für aufregenden neuen Sex?«

»Nein! Herrgott! Laura ist so viel mehr als das! Du kennst sie doch! Hast sie immer gemocht! Sie ist tough!« Sein Blick zuckte durch den Raum. »Aber auch sanft und besonders, wirklich reif für ihr Alter.« Er schien nach innen zu schauen. »Sie hat so etwas Fürsorgliches an sich, geradezu nährend …« Er nickte. »Laura tut mir gut. Sie ist eine Seelenverwandte.«

Ich schnaubte. »Wenn Laura Nahrung für deine Seele ist, was bin dann ich? Eine Beilage? Verzichtbares Basilikum?«

Er stand auf. »Ich kann nicht mit dir reden, wenn du so bist.«

»Wie bin ich denn? Verletzt? Traurig? Weil mein Mann mich nach neunundzwanzig Jahren für eine Jüngere verlässt und ich plötzlich in einem überstrapazierten Klischee lebe? Echt? Ist ja seltsam.«

»Ironie steht dir nicht.«

»Und dir steht mit fünfzig kein Baby, das nicht dein Enkelkind ist!«

»Super, Alice, toller Kommentar, bringt uns hier echt weiter.« Michael stieg die zwei Stufen zur Küche hinauf. »Aber okay, sprechen wir es ruhig aus: Ich bin ein schlechter Partner. Ist es das, was du hören willst? Ich allein habe versagt, ich trage die Schuld am Ende unserer Ehe, ich bin der Böse. Wenn du dich mit dieser doch sehr beschränkten Sicht auf die Dinge besser fühlst, bitte. Ich gehe jetzt packen.«

Er ließ den Schlüsselbund in die Manteltasche gleiten, schritt durch die Küche und verschwand im Flur. Ich hörte die Schranktüren im Schlafzimmer klappern, lauschte einem Rascheln und Poltern und Rumoren, das sehr viel wütender klang, als es Michaels Worte hätten vermuten lassen. Im Badezimmer schepperte es. Michael stapfte durch den Flur, ich hörte den Reißverschluss eines Koffers, das Rollen der Räder auf den Fliesen in der Diele, das Schnappen der Haustür. Dann nichts mehr. Michael war gegangen, ohne sich zu verabschieden.

Ich blieb noch eine Stunde im eindunkelnden Wohnzimmer sitzen, dann nahm ich das volle Glas Wasser, schüttete den Inhalt über dem Sessel aus, auf dem Michael gehockt hatte, und legte mich aufs Sofa.

Wieso hatte Michael nicht einfach eine Bohrmaschine mit allen verfügbaren Aufsätzen kaufen können, um der Ohnmacht des Alterns zu begegnen? Von mir aus auch ein Motorrad oder einen roten Ferrari, selbst wenn uns das finanziell ruiniert hätte. Mit Klischees gegen das Klischee! Aber nein, er suhlte sich nicht einfach in seiner Midlife-Crisis, er trieb diesen Abklatsch eines bescheuerten Mythos auf die Spitze und zeugte ein Kind! Mit einer jungen Frau! Der Inbegriff seiner im vollen Saft stehenden Männlichkeit. Verdammt!

Ja, wir alterten. Es war nicht länger zu leugnen. Ich menstruierte unregelmäßig, meine Gelenke schmerzten, nachts weckten mich Hitzewallungen, Fett sammelte sich um Bauch und Hüften, Falten gruben sich in meine Haut, die Wechseljahre hatten mich fest im Griff. Ging es darum? Hielten meine neunundvierzig Jahre Michael seine eigene Sterblichkeit vor Augen? Hoffte er, sich an Lauras Jugendlichkeit nähren zu können, vampirgleich? War es deshalb an der Zeit, mich auszutauschen?

Es klingelte, und ich zuckte zusammen. Mein Herz stolperte über seine eigene Geschwindigkeit. Dann erinnerte ich mich, dass Michael einen Schlüssel besaß.

Ich trottete durch die dunklen Zimmer zur Haustür.

»Mäuschen!« Mein Vater umschlang mich mit seinen von der Arbeit als Maurer gestählten Armen. Er roch wie immer nach seinem liebsten Parfum, Moschus, Minze, Lavendel, Sandelholz und ein bisschen Meer. Selbst mit neunundvierzig Jahren fühlte sich das an wie nach Hause kommen. Ich schloss die Augen und inhalierte seinen Duft.

Meine Mutter zwängte sich an uns vorbei und tätschelte mir den Rücken. »Ich stell mal die Blumen ins Wasser.«

Erst jetzt sah ich den Strauß roter und gelber Tulpen. Geburtstagsblumen. Nichts schien weiter weg zu sein als der gestrige Tag.

Mein Vater löste sich von mir. »Ich gehe mal kurz raus Schnee schippen, was? Ist ja gefährlich so eine glatte Auffahrt.«

»Das brauchst du nicht, Papa. Michael …« Ich stockte.

»Wir haben mit Mia gesprochen«, rief meine Mutter aus der Küche.

Papa schubberte meinen Oberarm, lächelte halbseitig und hastete nach draußen. Frauengespräche nannte er es, wenn Mama und ich uns unterhielten. Nicht sein Terrain. Als Jannis auf die Welt kam, hatte er sich geweigert, den Kinderwagen seines ersten Enkelkindes zu schieben. Erst nach viel Zusprache überwand er sich und mochte es später sogar. Aber wahrscheinlich hätte es weiterer dreihundert Enkelkinder bedurft, um ihn dazu zu bringen, auch nur einmal eine Windel zu wechseln.

Ich seufzte, die Ära unserer verbalen Schlachten lag weit hinter uns, ging zu meiner Mutter in die Küche und setzte Wasser für einen Tee auf.

»Männer in der Midlife-Crisis«, sagte sie und stopfte die Tulpen mit derartiger Verve in die Vase, dass ein paar Blätter einrissen. »Ich dachte, eure Generation hätte diese Nabelschau überwunden. Frauen werden schließlich auch älter und kommen damit klar.«

»Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob das stimmt.«

Sie schaute auf. »Wir altern, glaub mir. Ich spüre es deutlich.«

Ich lächelte. »Ich weiß nicht, ob ich damit klarkomme.«

Sie hörte auf, die Tulpen zu malträtieren. »Du hast auch eine Affäre?«

»Nein! Und um deine nächste Frage gleich mitzubeantworten: Ich bin nicht schwanger.«

Sie schnaubte und widmete sich wieder den Tulpen.

Ich setzte mich auf einen der Barhocker. »Was ich meine, ist, dass ich nicht zufrieden bin. Ich habe den Eindruck, dass in den vergangenen Jahren … das klingt jetzt vielleicht schräg, aber ich habe das Gefühl … als hätte ich einen größeren Überblick, als würde ich die Welt besser durchschauen.« Ich schüttelte den Kopf. »Na ja, zumindest einen Teil davon, den, der nichts mit mir zu tun hat … keine Ahnung. Ich dachte, es liegt am Alter … Michael meinte vorhin, er hätte sich im vergangenen Jahr gefragt, ob das hier alles ist oder ob er sich noch mehr vom Leben erhofft. Wir haben nie darüber gesprochen … aber das habe ich mich auch schon gefragt.«

»Ja, nur machst du dir Gedanken, während seine Antwort dieses junge Ding ist. Tja … Männer können sich einen Ausbruch halt leisten.« Sie knickte versehentlich einen Tulpenkopf ab und kniff die Lippen zusammen. Gemeinsam mit den abgebrochenen Blattresten beförderte sie alles in den Müll. »Na ja, du wirst schon sehen. Nach ein paar Wochen kommt er zurück. Dann müsst ihr natürlich reden und die Dinge aufarbeiten, haben wir damals auch, das ist unerlässlich, aber dann, na ja, ist halt auch nur eine Phase und die Zeit heilt alle Wunden.«

»Wie meinst du das, ihr habt das auch gemacht?«