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Drei Generationen und das Geheimnis einer Familie Als Mona in der Marsch eintrifft, um den 80. Geburtstag ihres Opas Karl zu feiern, ist Oma Annemie spurlos verschwunden. Karl macht sich wenig Sorgen, Mona dafür umso mehr. Sie zieht zu ihrem Opa in das reetgedeckte Haus am Rand des kleinen Dorfs in den Weiten der Marsch, wo Monas Mutter Sabine gemeinsam mit den Zwillingsbrüdern Stefan und Sven aufgewachsen ist. Dass Annemie ein schmerzvolles Geheimnis birgt, das das Leben der ganzen Familie schon lange beeinflusst, ahnt niemand. Gemeinsam mit einem alten Freund aus Kindheitstagen macht Mona sich auf die Suche nach ihrer Oma. Im Laufe eines langen Sommers taucht sie tief ein in die Familiengeschichte und stößt auf falsche Erinnerungen und erschreckende Geschehnisse, von denen kaum jemand weiß. Denn Annemie hat alles dafür gegeben, das Schweigen aufrechtzuerhalten - damit niemand redet, in diesem kleinen Dorf, in dem jeder jeden kennt.
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Seitenzahl: 435
Veröffentlichungsjahr: 2025
Katja Keweritsch
Roman
Für Paul, Stella und Emil
Vielleicht erzittert in der
Gegenwart immer auch die Vergangenheit,
ob wir es spüren oder nicht.
DOIREANN NÍ GHRÍOFA, Ein Geist in der Kehle
Das Dorfschild war wie eine Tür. Kaum rollten die Reifen meiner alten Vespa über die gedachte Trennlinie zwischen Dorf und Land, wechselten meine Gefühle.
Ich war wütend in Hamburg losgefahren, empört und gekränkt. Auch das Überqueren der Grenze zu Schleswig-Holstein hatte nichts an meinem Ärger geändert. Im Gegenteil. Seit zwanzig Minuten stießen Worte an meinen Gaumen, die ich wie Kaugummi malmte und in die passende Form knetete, um sie Opa Karl vor die Füße spucken zu können.
Dann passierte ich das Dorfschild, öffnete die Tür zu Erinnerungen an sorglose Kindheitssommer, erahnte die Marsch, roch sie an diesem warmen Maitag, bevor ich sie sah, diese feuchte Frische, und all mein Zorn war wie weggeblasen.
Natürlich hatte ich auch schon auf dem Weg hierher Marschland durchfahren, Äcker, Knicks und Pferdekoppeln, einige der H-Dörfer, Holm und Hetlingen, etliche Kuhweiden, Obstplantagen nicht zu vergessen, aber erst hier, jenseits des Dorfschilds, zwischen erster und zweiter Deichlinie, dem Geestrand und der Elbe, tief in diesem von Sturmfluten und Überschwemmungen gepeinigten Landstrich, begann meine Marsch.
Ich verließ die lange Ziehstraße, die die Dörfer schnurgerade miteinander verband, auf der man grundsätzlich mit Gegenwind rechnen musste, obwohl der Deich mit den grasenden Schafen sie auf einer Seite schützte, und bog links ab.
Das Haus thronte wie ein Pilz auf seiner Wurt. Bemoostes Reet über rotem Klinker, weiße Schießscharten als Fenster, na ja, zumindest wirkten sie klein unter dem tief gezogenen Dach. Innen blieb es dadurch auch im Sommer kühl. Und dunkel.
Die alte Vespa hoppelte über das Natursteinpflaster. Ich parkte sie neben dem Carport mit Opas Pajero, den er wegen des hohen Einstiegs liebte. Seine rechte Hüfte meckerte seit einem Unfall vor Ewigkeiten immer mal wieder. Natürlich war er zu sehr alter weißer Mann, um sich seiner Gesundheit anzunehmen, zur Physio zu gehen oder Sport zu treiben. Lieber lamentierte er und ließ sich von Oma Annemie bedienen.
Ich hängte den Helm über das Lenkrad, klemmte die nervigen Ponylocken, die der Friseur zu kurz geschnitten hatte, mit den restlichen Haaren hinter das Ohr, ging zur Haustür und klingelte. Ein Schrillen ließ das Haus erzittern. Ich atmete tief durch, versuchte, mich dem Gefühl der Wut wieder anzunähern, ließ all die vorbereiteten Worte von innen gegen meine Zähne klacken, bereit zum Ausspeien. Aber niemand öffnete.
Ich folgte dem Weg um das Haus herum in den Garten. Ein breites Schwertlilienbeet umfasste es fast vollständig wie ein Burggraben. Die unzähligen Blüten dufteten fruchtig, ein wenig zitronig, berauschend wie Veilchen, fast schon penetrant. Omas erklärte Lieblinge. Ich erinnerte mich an Schachblumen auf der weiten Rasenfläche, irgendwann einmal in meiner Kindheit, aber sie hatten die Zeit genauso wenig überdauert wie die Sträuße aus Sumpfdotterblumen, Wiesenschaumkraut, Ampfer und Löwenzahn, die ich früher auf meinen Streifzügen in der Marsch pflückte.
Alles, was Oma heute auf dem sechstausend Quadratmeter großen Grundstück duldete, waren Schwertlilien, Schilf, Gras und das kleine Wäldchen vor dem Deich, hohe Eichen, Weiden, Erlen, Pappeln.
Ich erreichte die Terrasse, aber die hintere Tür war geschlossen. Ratlos sah ich mich um. Der Wind rauschte in den Bäumen und raschelte mit dem Schilf am zugewucherten Teich. Sonst war es still, nur ab und an hörte man einen Graureiher aus der benachbarten Kolonie krächzend rufen.
Ich ging auf der anderen Seite des Hauses zurück zur Tür, duckte mich unter den tief hängenden Zweigen des Pflaumenbaums hindurch und klingelte erneut. Nichts. Das war seltsam. Opa nahm immer das Auto, wenn er das Grundstück verließ. Es lag ein wenig vom Dorfkern mit der Bäckerei und dem Landgasthof entfernt, zu weit, als dass er jemals in Erwägung gezogen hätte, zu Fuß zu gehen. Oma hatte nie einen Führerschein gemacht. Scheinbar reichte es ihr, dass Opa fahren konnte. Sie bestritt all ihre Wege mit einem Hollandrad.
Ich lief zum Carport und öffnete die Tür des angrenzenden Schuppens. Zwischen Rasenmäher und allerlei Gartengerätschaften stand das Hollandrad. Ich ging zurück zur Haustür und klopfte.
»Hallo?« Ich klopfte erneut.
Vielleicht hatte eine von Omas Bekannten sie abgeholt. Sie engagierte sich im Landfrauenverein, beim Rotary Club, dem Seniorenbeirat, der Kirchengemeinde und bei der Kunsthandwerkergemeinschaft. Vielleicht auch noch bei weiteren Vereinigungen, von denen ich nichts wusste. Sie war sehr umtriebig.
Meine sowieso kaum noch vorhandene Wut verwandelte sich in Sorge.
Da hörte ich ein Klappern im Haus. Ich klingelte noch einmal, pochte gegen die Fensterscheibe der Haustür, hielt die Hände ans Gesicht und versuchte hineinzuluschern. Ich sah, wie die Tür zum Windfang sich öffnete und Opa mich anschaute. Er zog die schwere Holztür auf.
»Mona, Kind. Na, das ist ja eine Überraschung.«
Er sah aus wie immer, ordentlich, gepflegt. Weißer Vollbart, zurückgekämmte Haare, kariertes Hemd, Jeans. Groß. Schwer. Helle graue Augen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er mir je die Tür geöffnet hatte. Das war Omas Aufgabe.
»Ich klingele schon seit zehn Minuten.«
»Ein alter Mann ist kein D-Zug. Ich war hinten im Büro.«
Er trat von der Tür zurück, und ich folgte ihm ins Haus.
Wie immer bewunderte ich die kunstvoll gemusterten Fliesen im Windfang. Geschichte sprach aus jeder Kerbe. Das Gleiche galt für den Bauernschrank im Flur, die schwere Truhe, die Eichengarderobe und all die übrige Einrichtung. Opa wirkte in dem alten Haus wie Mobiliar, ein Teil des Inventars, der mit dem Hintergrund verschmolz, sich darin auflöste wie Sahne in Milch.
Es roch nach Holz und Beständigkeit.
Nur nach Essen duftete es nicht.
Ich ging hinter Opa her in die Küche und schaute auf die Uhr. Schon nach zwölf.
»Wo ist Oma?«
Opa blieb vor der Terrassentür stehen und blickte hinaus in den Garten. Er zuckte mit den Schultern.
»Habt ihr schon gegessen?«
Er schüttelte den Kopf.
Ich schaute zum Herd, den Arbeitsflächen, der Spüle. Alles blitzeblank. Es sah nicht aus, als hätte hier heute jemand etwas zubereitet.
»Hat Oma heute nichts gekocht? Wo ist sie denn?«
Opa starrte noch immer aus dem Fenster. Er war noch nie besonders redselig gewesen, aber das hier überstieg das Maß seiner regulären Schweigsamkeit bei weitem.
»Was ist los?« Ich stellte mich neben ihn ans Fenster, strich die vorderen Strähnen hinter die Ohren.
Er schüttelte den Kopf, als müsste er lästige Fliegen vertreiben. Seine Unterlippe glitt nach vorn. Die Hände bohrten sich tief in die Taschen der Jeans.
»Opa?«
Er sah mich an, das Kinn trotzig vorgereckt. »Ich weiß nicht, wo deine Oma ist. Ich habe sie heute noch nicht gesehen.«
»Auch nicht beim Frühstück?«
Er drehte sich um und verließ die Küche. Irritiert blieb ich zurück. Ich konnte mich an keinen vergleichbaren Moment in diesem Haus erinnern. Es gab Regeln, Abläufe, Rituale, Traditionen. Eine grundlegende Ordnung, wie die Dinge zu laufen hatten. Opa legte viel Wert darauf. Oma auch. Dachte ich zumindest.
Ich stürmte aus der Küche, warf einen Blick in das perfekt aufgeräumte Wohnzimmer, das untere Bad, das Gästezimmer, in dem ich früher übernachtet hatte. Das Himmelbett war mit weißen Leinen bezogen und hergerichtet. Auf dem Nachtschränkchen standen eine Tischleuchte, ein halbvolles Glas Wasser, eine Pillendose aus Perlmutt, eine umhäkelte Taschentuchbox und ein Wecker. Ich schaute in den rustikalen Kleiderschrank. Omas Blusen, Hosen und Röcke hingen säuberlich auf den Bügeln, Pullis, Shirts und Unterwäsche stapelten sich in Fächern und Schubladen. Das hier war Omas Raum, es gab kein Gästezimmer mehr. Was mich für sie freute. Schließlich wussten wir alle spätestens seit Virginia Wolf, dass jede Frau ein eigenes Zimmer brauchte.
Seltsam fand ich es trotzdem.
Warum schliefen sie getrennt? Opas Schnarchen hatte Oma nie gestört. Sie beschrieb ihren Schlaf als murmeltierhaft, wobei Oscar mir erst neulich erklärt hatte, dass Koalas viel länger schliefen, nämlich zweiundzwanzig Stunden pro Tag, sodass dieser Vergleich hinkte. Ob das auf ein Jahr gerechnet allerdings länger war als der sechsmonatige Winterschlaf der Murmeltiere, das müsste man mal ausrechnen. Ich verdrängte den Gedanken. Ärger stieg in mir auf. Oscar. Er hatte sich zurück in meinen Kopf geschummelt.
Seit dem furchtbaren Gespräch mit meinem neuen Chef heute Morgen hatte ich nicht an ihn gedacht. Danach überlagerte die Wut alles. Erst jetzt, in diesem mehr als verwirrenden Moment, schwappten meine Gefühle wieder über den sorgfältig austarierten Rand ihres Quartiers. Oscar. Er sollte den Londoner Transit inzwischen hinter sich gelassen und den Flug nach Washington angetreten haben. Aber ich konnte jetzt nicht an ihn denken. Aus purem Selbstschutz hatte ich mein Geheimnis in eine Distanz von sechstausendvierhundertneunundsechzig Kilometer gewickelt. Da war es vorerst sicher. Was mich anging, drängte die Auseinandersetzung nicht. Außerdem hatte ich gerade andere Probleme.
Ich schloss die Türen des Kleiderschranks und ging zu Opa in sein Büro. Die Treppe nach oben zu nehmen, wagte ich nicht, es erschien mir zu privat, ein Vordringen in eine Intimsphäre, die nicht für mich bestimmt war. Scheinbar nicht einmal für Oma. Es gab dort nur das Schlafzimmer und ein Bad. Die ehemaligen drei Kinderzimmer hatte Oma schon vor langer Zeit in Abstellkammern verwandelt.
»Was ist passiert?« Ich lehnte mich in den Türrahmen zu Opas Büro.
Er saß am schweren Eichenschreibtisch und sortierte Papiere. Erneut zuckte er mit den Schultern und schaute mich nicht an.
»Hattet ihr Streit?«
»Ach was.«
»Wo ist Oma dann?«
Keine Reaktion.
»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«
»Gestern Mittag.«
»Das ist vierundzwanzig Stunden her! Machst du dir gar keine Sorgen?« Ich dachte an das gemachte Bett. »Sie ist aber erst heute Morgen gegangen, richtig?«
Schulterzucken.
Ich dachte an die saubere Küche. »Hast du seitdem was gegessen?«
»Behandle mich nicht wie ein Kleinkind.« Er hatte die Stimme nicht erhoben, trotzdem wich ich einige Zentimeter zurück, rutschte mit der Schulter vom Türrahmen.
»Ich koche uns was, ja?«
»Ist nicht heute dein erster Arbeitstag?« Endlich sah er mich an.
Meine Wut brodelte zurück an die Oberfläche. Stürmisch und scharfkantig. Ich versuchte mich an die einstudierten Worte zu erinnern, erkannte aber schnell, dass ich sie nicht auszusprechen wagen würde. Die alte Erwachsener-Kind-Dynamik funktionierte noch immer, zumal in diesem Haus. Opa war derjenige mit Wissen und Weitblick. Ich das unerfahrene Ding, noch grün hinter den Ohren.
Niemals würde ich wollen, dass eine Kluft besteht zwischen dem, was ich dachte, und dem, was ich sagte. So etwas machte bitter oder brach einem das Kreuz. Aber Wut hatte ihre Zeit und Rationalität eine andere.
»Ich habe den Job deinetwegen bekommen.«
»Gerd und ich kennen uns vom Jagdverband.«
»Er erwähnte so was.«
»Beziehungen schaden nur dem, der sie nicht hat.«
Damit war zu diesem Thema alles gesagt.
Endlich dämmerte es. Wie konnte die Sonne nur so lange auf sich warten lassen und diese schreckliche Nacht in die Länge ziehen? Freya wischte mit dem nackten Unterarm über die tränenblinden Augen und versuchte, die Geschwindigkeit auf dem Fahrrad beizubehalten, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Der Fahrtwind trieb Gänsehaut auf ihre Arme. Sie trat in die Pedale und ließ endlich den Hamburger Stadtpark und die Jarrestadt hinter sich. Der verschnörkelte Träger des neuen BHs rutschte über die Schulter. Sie ließ ihn hängen.
Der Abend hatte so wundervoll begonnen.
Nach einem Cafébesuch in St. Georg war Freya am späten Nachmittag in ihren Kommilitonen Arne hineingestolpert. Sie lachten, hielten sich an den Armen, fanden den Zufall wirklich erstaunlich, beschlossen, sich dieser schicksalhaften Fügung würdig zu erweisen, und spazierten gemeinsam um die Alster. Irgendwann schlug Arne vor, etwas essen zu gehen. Er kannte ein französisches Restaurant in der Neustadt, wo es schwere Samtvorhänge und eine Jazzsängerin in einem hautengen roten Kleid gab, die im schmalen Durchgang zum oberen Stockwerk melancholische Balladen schluchzte. Ihre Stimme ergriff Freya derart, dass sie beschloss, darüber hinwegzusehen, dass Arne bereits mit allen Frauen aus dem Mikrobiologie-Seminar geschlafen hatte.
Als sie gingen, schob er ihr Fahrrad und legte später im Club einen Arm um ihre Schulter. Sie drückten sich dicht aneinandergeschmiegt auf ein Sofa ganz hinten im Raum und fabulierten über die perfekte Einrichtung für ein Loft in New York und die Länder, die sie gerne bereisen würden. Es war wundervoll. Freya schwebte irgendwo zwischen der Milchstraße und dem Großen Bären, als Arne fragte, ob sie noch auf einen Kaffee mit zu ihm kommen wolle.
Sie schlenderten wieder an der Alster entlang, Arm in Arm, balancierten auf Geländern, Hand in Hand, zwischendurch versuchten sie, zu zweit auf Freyas Fahrrad zu fahren, sie auf dem Sattel, Arnes Taille umklammernd, er in die Pedale tretend. Nie war sie so froh über den kaputten Gepäckträger gewesen.
Irgendwann erreichten sie Arnes Zweier-WG, die er sich mit einem Freund teilte, der in dieser Nacht nicht in der Stadt war. Statt Kaffee, den Freya sowieso nicht mochte, blieben sie bei Rotwein, und ihr Bauch kribbelte nicht nur vom Alkohol. Arne umgarnte sie, schmeichelte ihr, machte unwiderstehliche Komplimente. Und dann war er auch noch lustig.
Als sie schließlich müde wurden, bot Arne ihr sein Wasserbett an. Sie amüsierten sich noch über die Vor- und Nachteile eines wabernden Untergrunds beim Sex, als Arne plötzlich erklärte, dass er die Nacht im Bett seines WG-Kumpels verbringen würde.
»Es stimmt«, sagte er bedeutungsvoll und nahm ihre Hände. »Du bist nicht wie die anderen Mädchen im Seminar.«
»Okay …« Freya zog das Wort in die Länge. »Soll das ein Kompliment sein?«
Er lächelte. »Unbedingt. Du bist nicht einfach Kerbe hundertdreiundzwanzig für mich. Kein Mädchen für eine Nacht.«
Freya blinzelte.
»Ich mag dich.«
»Und darum können wir nicht vögeln?«
Arne lachte. Er zog Freya in seine Arme. Dann küsste er sie auf die Stirn. Ihr wurde schlecht.
Arne lächelte edelmütig, deckte sie mit seiner Bettdecke zu und verschwand im Nachbarzimmer. Als Freya endlich sein gleichmäßiges Schnarchen hörte, stand sie auf, zog sich an und schlich aus dem Haus, wo die Tränen nicht lange auf sich warten ließen.
Sie fühlte sich belogen, in die Irre geführt. Verhöhnt und verspottet. Sie war das nette, fürsorgliche Mädchen. Brave Tochter, aufmerksame Schwester. Jetzt hatte sie ein Mal Sex gewollt, ganz unkompliziert und ohne Konsequenzen, so wie die Jungs, einen spaßigen One-Night-Stand mit jemandem, den sie kaum kannte, den sie bis vor wenigen Stunden nicht einmal gemocht hatte. War angelockt und zurückgewiesen worden. So naiv. Die Deern vom Land. Quiddje, Zugezogene. Was hatte sie sich nur gedacht? Schuster, bleib bei deinen Leisten. Hieß es nicht so?
Freya strampelte weinend von Hoheluft Ost über West in Richtung Schlump. Die Stadt schlief noch. Niemand interessierte sich für ihre Geschichte.
In der Nähe der Christuskirche kam ihr ein Fußgänger entgegen. Ein Typ in Jeans und Kapuzenpulli. Er torkelte ein wenig. Freyas Wehklagen wich einer angespannten Aufmerksamkeit. Da sie schon mittags die Wohnung verlassen hatte und nur auf ein, zwei Tassen Tee hatte wegbleiben wollen, lag das Pfefferspray zu Hause auf dem Kommodenschränkchen.
Sie fuhr jetzt schneller, nahm Anlauf für den größtmöglichen Bogen um den Mann, dicht an den parkenden Autos entlang, am äußersten Rand des Radwegs.
Als sie sich beide auf gleicher Höhe befanden, holte der Mann aus und schlug mit voller Wucht gegen einen Stromkasten, der in einer Linie mit ihnen stand.
WAAAAMMMMM!
Der Knall echote zwischen den Häusern, potenzierte seine Gefahr. Freya zuckte zusammen, ihr Herz schrie, Angst durchzitterte ihren Körper. Das Fahrrad schlingerte. Der Vorderreifen verkeilte sich, und sie stürzte vornüber auf den Bürgersteig.
»Lern erstma’ richtig fahren, du Fotze!«, schrie der Mann und marschierte lachend davon.
Freya hockte verdreht auf dem Gehweg, den linken Fuß unter dem Vorderrad, und rang um Atem. Ihre rechte Hand brannte, der Ellbogen schmerzte. Sie schaute an sich hinab, tastete über Beine, Bauch und Arme, zum Glück schien nichts gebrochen zu sein.
Vorsichtig zog sie den Fuß unter dem Reifen hervor, wackelte mit den Zehen in den Chucks. Alles okay. In der Jeans klaffte ein langer Riss vom linken Oberschenkel bis hinab zum Schienbein. Freya stand auf. Sie wischte sich Rotz und Tränen an der Bluse ab, band den Pferdeschwanz neu. Der Vorderreifen hatte eine Acht, der Gepäckträger klemmte zwischen den hinteren Speichen.
Freya griff nach der abgesprungenen Lampe, die vor dem Stromkasten kullerte, und schleuderte sie mit aller Wucht auf das Metallknäuel, das einmal ihr Fahrrad gewesen war. Als sie spürte, dass das nicht ausreichte, packte sie das Wrack mit beiden Händen, stemmte es in die Höhe und stieß es gegen den Kastanienbaum, der zwischen zwei Parkbuchten wuchs.
»Waaahhh!« Sie schrie lauter, als es schepperte.
Außer Atem betrachtete sie ihr Werk, die Konsequenz einer erniedrigenden Nacht.
»Besser?«
Freya fuhr herum. Eine junge Frau in violetter Gymnastikhose und blauem Body mit buntem Rucksack, Pferdeschwanz und einem weiß-gelben Regenschirm lächelte sie an. Aufgemalte Deutschlandflaggen bedeckten beide Wangen.
»Das Turnfest«, sagte die Frau. Offenbar verspürte sie das Bedürfnis, Freyas entgeistertem Blick eine Erklärung entgegenzustellen. »Organisierte Anarchie. Vor allem bei den Klamotten.«
Das 29. Deutsche Turnfest. Freya erinnerte sich. Mehr als hunderttausend Menschen fluteten seit Tagen die Stadt. Die Nachrichten waren voll davon. Sie schwenkte den Blick hinüber zum demolierten Fahrrad, sah an sich hinab, auf die zerrissene Jeans, die schmutzige Bluse, schaute zurück zu der Frau.
»Wie bei mir«, sagte sie und lächelte die andere an.
Am Ende der Straße krabbelte die Sonne endlich über die Hausdächer. Es würde ein warmer Tag werden.
Die Kinder schrien. Ohrenbetäubend. Janne hockte zur Rückbank verdreht auf dem Beifahrersitz, hielt den Schnuller in Fannys aufgerissenes Erdbeermündchen, streichelte mit der anderen Hand Ansgars Knie unter dem Zebraschlafanzug, aus dem Milan gerade herausgewachsen war, und sang lauter, als sie eigentlich wollte, weil sonst niemand sie verstanden hätte.
»Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar. Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar.«
»Wo ist der Mond?«, rief Milan. Er spähte aus dem Fenster, schluchzte plötzlich wieder auf. »Der ist weg!«
Der Lärm schwoll erneut an.
Es war erstaunlich, wie empathisch kleine Kinder reagierten, wie wenig sie zwischen eigenen Gefühlen und denen anderer unterschieden. War ich traurig, oder schluchzte jemand neben mir? Die Heftigkeit von Emotionen überwältigte sie. Janne hätte am liebsten mitgeweint.
Stefan schaltete das Radio an und drehte die Lautstärke auf. Dumpfe Beats dröhnten durch den Wagen. Janne hatte seine Vorliebe für Sender mit stampfendem Techno-Sound noch nie verstanden, das erklärte nicht einmal der Altersunterschied zwischen ihnen. Die Kinder rissen erschrocken die Augen auf. Einen Moment lang schienen sie zu schockiert, um zu schreien, dann begann alles von vorn.
Janne wechselte zu einem Sender mit klassischer Musik, faltete die Beine zum Schneidersitz und atmete. Der Kummer der Kinder zerriss sie. Zum Glück war der Weg nicht weit.
Sie schaute hinaus in die Finsternis der Marsch, versuchte, sich wegzukonzentrieren, ihre Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, das hinter dem Lichtkegel der Scheinwerfer lag, versteckt im Dunkel, irgendwo im Verborgenen.
Schon oft hatte sie sich gefragt, ob die Landstraßenfinsternis nicht deshalb so beklemmend wirkte, weil das Licht der Scheinwerfer von einer anderen Möglichkeit erzählte, einer helleren, offensichtlicheren. Vielleicht wäre Dunkelheit weniger beängstigend, wenn man sich ihr hingäbe, aufhörte zu kämpfen und sich zu wehren.
Wie einfach alles sein könnte.
Sie bogen auf die Hauptstraße ab. Die Kinder schrien noch immer, und Stefan kontrollierte zum fünften Mal die Handbremse. Das Auto ließe sich wohl kaum in dieser Geschwindigkeit durchs Dorf treiben, wäre die Bremse noch immer festgestellt, aber Janne ermüdete der Gedanke. Sie hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, wollte diesen unlauteren Vorteil Stefan, dem Fahrer, gegenüber aber nicht ausspielen. Stattdessen murmelte sie »Sch, sch, sch«. Für Stefan und die Kinder.
Nach endlosen sieben Minuten erreichten sie den Hof.
Das Licht sprang an, als Stefan den Wagen vor dem Carport parkte. Das alte Haus dämmerte dunkel auf seiner Wurt. Wahrscheinlich saßen Mona und Karl hinten in der Küche.
Als Stefan die Fahrertür öffnete, zerriss das Geschrei der Kinder die Stille der Nacht. Janne glaubte fast, erschrockenes Flügelschlagen zu hören, empörtes Hufgetrampel. Ein kollektives Aufbegehren und Davoneilen ob der menschlichen Invasion. Der Wind zischte zornig.
Stefan hob Milan aus dem Auto, der sich sofort an sein Bein klammerte. Er nahm Ansgar auf den Arm, während Janne die Gurte von Fannys Babyschale öffnete und sie heraushob. Eingespielte Abläufe.
Sie wackelten über das unebene Natursteinpflaster. Die Kinder schluchzten leise. Zum Schreien war die Nacht zu unheimlich.
Stefan klingelte, schloss auf, stemmte sich gegen die schwere Haustür und knipste den Lichtschalter in der Diele an. Am anderen Ende öffnete sich die Tür zur Küche. Mona kam ihnen entgegen.
»Hey.« Sie lächelte, ging in die Hocke und öffnete die Arme für Milan, der noch immer das Bein seines Papas umklammerte. »Hallo, Großer.« Er drehte den Kopf weg.
»Na los, Milan«, sagte Stefan und versuchte, die kleinen Hände zu lösen.
»Schon gut«, sagte Mona. »Kommt erst mal an.«
Sie folgten ihr in die Küche.
Karl saß am kurzen Ende des Tischs auf der Eckbank, sein Stammplatz. Vor ihm dampfte eine Tasse Tee. Wie immer wirkte er wie aus dem Ei gepellt. Jeans, ein kariertes Hemd, das im Bund steckte, darüber ein dünner Pulli, Gürtel, Schuhe. Als säße er hier nur vorübergehend und könnte jederzeit kurzfristig aufbrechen. Janne glaubte nicht, ihn jemals in Socken gesehen zu haben.
»Ach Gott. Was sollen die Kinder hier?« Karl sah zu Janne.
Offenbar war die Frage an sie gerichtet, aber noch bevor sie antworten konnte, sagte Stefan: »Wir wollten natürlich alle gemeinsam kommen.«
Es erstaunte sie, wie beiläufig er log. Sie hatte dafür plädiert, die Kinder nicht aus dem Schlaf zu reißen.
»Weiß man schon was Genaueres?«
»Oma hat sich noch immer nicht gemeldet«, sagte Mona, die mindestens angespannt, eher besorgt wirkte. Ständig versuchte sie, eine widerspenstige Locke hinter dem Ohr festzuklemmen, aber die Strähne war einfach zu kurz. »Wir haben bei Sibylle Hanstätt angerufen, bei Hannah Detlefsen und Ilse Beeken. Und beim Pfarrer. Nichts.«
»Was ist mit den Landfrauen?«, fragte Stefan.
»Elisabeth Lohse hat gesagt, sie hört sich um. Wir haben gar nicht von allen die Nummern.«
»Die kann ich besorgen.«
»Hast du nicht zugehört?« Karl erhob sich. »Elisabeth macht das. Da müssen wir nicht zwischenfunken.« Er drängte sich an Janne und Fanny vorbei und verließ die Küche.
»Wo gehst du hin?«
»Auf die Toilette in meinem eigenen Haus, wenn es denn passt!«
Fanny wimmerte. Karls polterige Stimme hatte sie erschreckt. Janne streichelte ihr über den Kopf.
»Habt ihr schon die Polizei angerufen?« Stefan setzte sich mit den Jungs auf die lange Seite der Eckbank.
Mona schüttelte den Kopf. »Opa wollte nicht. Er glaubt, Oma will sich vor seiner großen Geburtstagsfeier wichtigmachen, was auch immer das heißen soll. Er sagt, sie haben sich nicht gestritten, aber was soll das alles dann?«
»Wahrscheinlich ist es ihm unangenehm, wenn sich das im Dorf rumspricht.« Janne zog einen Stuhl zur Seite und setzte sich ebenfalls. Sie zog Fanny die Jacke aus. »Die Frau des früheren Bürgermeisters wird nach einem Streit vermisst. Wie sieht das denn aus …?«
»Putzchen, bitte. Das hilft jetzt niemandem«, sagte Stefan, und Milan krabbelte unter dem Tisch hindurch zu Janne und Fanny herüber. »Ich kann Holger anrufen, der behandelt das erst mal vertraulich. Reicht aber bestimmt auch morgen früh. Wahrscheinlich übernachtet Mama bei einer Freundin.«
»Meine Rede.« Karl kam zurück in die Küche und setzte sich wieder an seinen Platz.
»Aber das macht sie doch sonst auch nicht, oder?« Mona lehnte an der Spüle, die Arme weit geöffnet, als erwartete sie, mögliche Antworten auffangen zu können. Niemand reagierte. »Macht ihr euch gar keine Sorgen?«
Es klingelte. Sie sahen einander an, erwartungsvoll. Die schwere Haustür knarzte.
»Hallo!«
Mona stieß die Küchentür auf, und Sven trat ein, aufgebrezelt im schwarzen Anzug mit passender Weste und Krawatte, gefolgt von einer Frau, die noch jünger zu sein schien als Janne, ja selbst jünger als Mona. Ihre langen glatten Haare schimmerten wie Seide, das Make-up schien frisch aufgelegt, die Gelnägel leuchteten rot, das kleine Schwarze war ein paillettenglänzender Hauch. Ein Alien hätte in dieser Bauernküche kaum deplatzierter gewirkt.
»Hallo, alle zusammen … äh, das ist Chiara, wir waren gerade auf einem Empfang in Blankenese am Süllberg, als Mona anrief.« Sven fuhr sich mit der Hand durch die blondierten Haare. »Ja, ähm … Chiara, das ist meine Familie. Mein Vater, mein Bruder Stefan mit seiner Frau Janne und den Kindern … ähm, und meine Nichte Mona.«
Chiara hob die Hand. »Hallo.«
Janne schaute zu Stefan hinüber, der die Dinge auf dem Tisch in einer Reihe sortierte, Kerzenständer, Vase, Streichhölzer, Untersetzer, Wasserglas, Krug. Er schien Ansgar auf seinem Schoß vollkommen vergessen zu haben.
Sie stand auf. »Die Kinder sind müde. Ich versuche mal, sie im Gästezimmer hinzulegen. Komm, Ansgar-Schatz.«
Mona schien etwas sagen zu wollen, lächelte dann aber nur.
Ansgar kletterte von Stefans Beinen herunter, duckte sich unter dem Tisch hindurch und folgte Janne, Milan und Fanny in den Flur. Die Situation schüchterte die Kinder ein, nachts in Opas Küche, ohne Oma, dafür mit Menschen, denen sie nur an Weihnachten zum Kaffeetrinken begegneten, wenn überhaupt. Das bot keine sichere Basis für quengelige Eskapaden.
Kaum hatte Janne die Küchentür geschlossen, hörte sie gedämpft, wie Stefan aufbrauste. »Das hier ist eine Familienangelegenheit! Du kannst nicht einfach irgendjemanden mitbringen!«
Janne drängte die Kinder den Flur hinunter.
Im Gästezimmer krabbelten Milan und Ansgar gleich auf das Himmelbett. Seit Annemie vor kurzem hier hinuntergezogen war, angeblich weil Karl immer lauter schnarchte, roch es nach ihr, oder zumindest nach dem Parfüm, das sie benutzte. Blumig und schwer. Janne fand es zu aufdringlich. Sie legte Fanny zwischen die Jungs und alle miteinander quer auf die breite Matratze. Auf diese Weise würden sie nicht vom Bett purzeln.
Janne sang leise Schlaflieder, streichelte Köpfe, Wangen, Bäuchlein. Wider Erwarten kamen alle drei schnell zur Ruhe. Das alles hier schien sie zu ermüden.
Als selbst Ansgar mit den Fäustchen neben dem Gesicht leise schnarchte, rutschte Janne vorsichtig von der Matratze. Sie platzierte die beiden Kissen vom Sessel und die drei vom Bett auf beiden Seiten des Bettes auf dem Boden, nur für den Fall. Die Dielen waren hart.
Sie reckte sich, dehnte den schmerzenden Rücken, sie musste Fannys Trage unbedingt neu einstellen, die Kleine war schon wieder gewachsen. Janne wollte in die Küche zurückkehren, um Stefan zu unterstützen. Er und Sven schafften es selten, sich im selben Raum aufzuhalten, ohne aneinanderzugeraten. Janne mochte Sven, seine freie, unabhängige Art, vielleicht weil sie ihn nie wirklich ernst nahm. Er war oberflächlich, aber amüsant. Stefan hingegen empfand die Karriere und die Einstellungen seines Bruders als ständigen Angriff auf seine Lebensweise. Dabei war Stefans Fürsorglichkeit genau das, was Janne an ihm liebte, sein unerschütterlicher Glaube an den Zusammenhalt ihrer kleinen fünfköpfigen Einheit. Zum Glück war Mona da. Sie wehte, wenngleich viel zu selten, wie frischer Wind durch die Ritzen dieses alten Gehöfts.
Janne hockte sich mit einer Pohälfte ganz vorne an den Rand des Sessels neben der Kommode. Sie konnte nie lange still sitzen. Lieber wuselte sie durchs Haus und erledigte all die Kleinigkeiten, die den Tag über liegenblieben. Aber Ansgar wachte in letzter Zeit gerne noch einmal auf, weil er Durst hatte. Sie versuchte, seinem Trinkverhalten besondere Aufmerksamkeit zu schenken, notierte, wie viele Gläser er täglich leerte. Vielleicht ging es bei dieser nächtlichen Sitte weniger um Wasser als um mütterliche Aufmerksamkeit.
Janne wackelte mit dem Bein. Hier war es ganz still. Die Dunkelheit schob sich durchs Fenster. Von irgendwoher war der Mond ans Himmelszelt zurückgewandert und färbte den Raum mit silbrigem Glanz.
»Dinge gehen vor im Mond, die das Kalb selbst nicht gewohnt …« Janne flüsterte die Worte aus einem Gedicht von Christian Morgenstern gegen die von Sprossen durchzogenen Fensterscheiben. »Aus den Kratern aber steigt Schweigen, das sie überschweigt.«
Sie wusste selbst nicht, wie diese Zeilen den Weg zu ihr gefunden hatten. Es war ewig her, dass sie sie gelesen hatte. Es gab noch mehr Strophen, aber sie konnte sich an keine weitere erinnern. Das Stillen durchwirkte ihr Hirn jedes Mal wie ein gefräßiger Pilz, irgendwann würde es so porös sein, dass es ihr aus den Ohren rieselte. Sie lächelte. Was für ein absurdes Bild.
Janne rutschte tiefer in den Sessel, zog die Beine an und setzte sich in den Schneidersitz. Vielleicht schlief Ansgar nach diesem aufregenden Abend ja durch, und sie überwanden das neue Ritual. So angekuschelt an seine Geschwister, vielleicht gab ihm das ausreichend Geborgenheit.
»Mama?«
Janne fuhr hoch wie aus einem Albtraum. Ihr Herz raste, das Blut rauschte ihr in den Ohren. »Ja?« Sie musste eingenickt sein. Hier. Auf dem Sessel im Gästezimmer. War einfach zwischen die Ritzen der Polster gerutscht und verschwunden.
»Ich hab Durst.« Ansgar.
»… okay.« Janne stützte sich auf den Armlehnen des Sessels ab und schob sich hoch, versuchte, die Schwere aus den Gliedern zu treiben. Es fühlte sich an, als wäre sie in ein starkes Gravitationsfeld geraten, jede Bewegung eine übermenschliche Anstrengung. »Ich hole dir was.«
Sie wischte sich mit den Händen über die Augen und schlurfte in die Diele. Stefans verhaltene Stimme klang weniger aufgeregt als vorhin. Janne sollte gleich wirklich zurück zu den anderen in die Küche gehen. Schließlich sorgte auch sie sich um Annemie, die auf keinen Fall bei einer Freundin übernachtete. Das war in all den sechs Jahren, die Janne sie kannte, kein einziges Mal vorgekommen. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Im Bad fand Janne einen penibel gesäuberten Zahnputzbecher im Spiegelschrank. Eine lindgrüne Zahnbürste steckte darin, die ebenfalls wirkte, als käme sie gerade aus der Spülmaschine. Nur an den leicht nach außen gebogenen Borsten ließ sich erkennen, dass jemand sie benutzte. Annemie hatte einen Sauberkeitstick, wüsste Janne das nicht längst, wäre dies der ausschlaggebende Beweis.
Sie füllte den Zahnputzbecher mit Wasser und brachte ihn Ansgar, der gierig trank. Janne küsste seine Stirn, kuschelte ihn zurück unter die Decke neben Fanny und streichelte seinen Rücken, bis er wieder eingeschlafen war.
Als sie den Becher auf der Kommode abstellte, sah Janne die schwarze Handtasche, die Annemie immer trug, ein lederner Shopper mit Magnetverschluss. Er stand auf dem Boden, angelehnt an die Kommode. Sie griff nach der Tasche und ging hinaus in die Diele, schaltete das Licht an und schaute hinein. Taschentücher, ein Regenschirm, ein Einkaufsbeutel, zwei Kugelschreiber, Pfefferminzpastillen und Annemies Geldbörse.
Janne zog das Portemonnaie heraus und öffnete es. Gesundheitskarte, einige Bons, Kleingeld und Scheine, insgesamt vielleicht sechzig Euro, eine Karte für die Bücherei in Wedel, eine Kundenkarte für Rossmann und ein altes Schwarz-Weiß-Foto. Janne pulte es aus einem engen Fach mit Klarsichthülle, wo eine Ecke sich hinter dem Personalausweis hervorknickte.
Ein schlafendes Baby, noch reichlich zerknautscht, sicher nicht älter als ein paar Stunden. Man hatte es in eine Spitzendecke gewickelt, die Ärmchen lugten angewinkelt heraus, kleine Fäuste neben den Wangen, die Stirn fasste ein Band mit Schleife ein.
Janne hatte das Foto noch nie gesehen. Überhaupt wunderte es sie, dass Annemie nur ein Bild ihrer Tochter und keines der Zwillingssöhne bei sich trug. Nie käme sie selbst auf die Idee, nur ein Bild von Fanny ins Portemonnaie zu stecken. Ihr schlechtes Gewissen den Jungs gegenüber fräße sie auf. Außerdem verstand Annemie sich gut mit Stefan und Sven. Vielleicht mangelte es den Beziehungen ein wenig an Wärme, aber dafür war Annemie generell nicht der Typ.
Seltsam nur, dass Tasche und Portemonnaie hier im Haus lagen. Hätte Annemie nicht alles mitgenommen, wenn sie zu einer Freundin gegangen wäre?
Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel. Natürlich strahlte sie. Annemie sprang aus dem Bett und wickelte vorsichtig Kopftuch und Lockenwickler ab, mit denen es sich wirklich unbequem schlief, aber was tat man nicht alles, um die Frisur aus dem Haarsalon über die Woche zu retten. Wer schön sein wollte, musste leiden, so war es nun einmal. Außerdem wusste sie, dass sich jede Leidenssekunde dieses Opfers mehr als lohnte.
Die Haare saßen gut. Wie konnte es an diesem herrlichen Sommertag auch anders sein? Annemie zupfte an einigen Strähnen, toupierte am Hinterkopf und sprühte Lackspray. Es sah jetzt fast so aus wie bei Jackie Kennedy, ein hübscher Bouffant.
Sie schminkte sich, nur dezent, damit es Mutter nicht gleich auffiel, dann schlüpfte sie in das marinefarbene Shiftkleid aus Piqué, das sie an Dutzenden von Abenden nach einem Schnittmuster aus der Burda Moden genäht hatte. Es saß leicht tailliert. Als Accessoire dazu hatte sie sich von Elisabeth einen weißen Bindegürtel geborgt. Jetzt noch die Pumps mit den Riemchenfenstern. Sie hatte Mutter angefleht, ihr ein neues Paar mit einem breiteren Absatz zu kaufen. Im Geschäft in Wedel hatte sie eins gesehen, das wirkte fast wie ein Trotteur, sah zudem ungeheuer bequem aus und hatte eine moderne abgerundete Kappe. Aber Mutter war nicht zu bewegen gewesen. Jetzt musste es eben so gehen.
Annemie rannte die Treppenstufen hinunter, überschäumend, der alte Hof auf seiner Wurt viel zu klein für ihre Lebendigkeit, viel zu eng für die Größe ihrer Gefühle.
»Annemie Andersen!« Ihre Mutter Hertha stand in der Küchentür, die Arme in die Hüfte gestemmt. »Wirst du dich wohl gesittet benehmen in diesem Haus und aufhören, zu rennen wie ein Huhn auf der Flucht vor dem Beil!«
»Entschuldigung.«
»Und zieh die Pumps aus! Wie oft soll ich das noch sagen! Es sind überall Macken in den Dielen!«
Annemie schlüpfte aus den hochhackigen Schuhen und zuckelte langsam an ihrer Mutter vorbei in die Küche, spürte aber, wie die Ameisen der Aufregung über ihre Haut krabbelten, dass es kaum auszuhalten war. »Guten Morgen.«
Großmutter Alma hockte auf der Eckbank und schälte Spargel für das Mittagessen. Sie war eine dicke Frau mit großem Busen, weich und wunderbar zart. Annemie hatte es als Kind geliebt, sich im Winter abends neben dem Bollerofen an sie zu kuscheln. Außerdem konnte Alma einen Laib Brot auf ihren Brüsten balancieren und mit einem langen Messer exakt gleich dicke Scheiben abschneiden. Sie neckte Annemie gern damit, dass sie erst heiraten dürfe, wenn sie diese Technik ebenfalls beherrschte.
»Bist du auch endlich wach.« Oma Alma lächelte. »Hübsch siehst du aus.«
»Die Naht am linken Schulterblatt ist schief«, sagte Hertha und füllte eine Isolierkanne mit Kaffee. »Hättest du mal gehört und sie vorab gereiht und nicht bloß mit den Stecknadeln geheftet.«
Oma Alma zwinkerte Annemie zu, und sie setzte sich, ohne Widerworte zu geben, neben sie, trank eine Tasse Tee und aß ohne Murren und Knurren ein Butterbrot, obwohl sie bei jedem Bissen das Gefühl hatte, es müsste ihr im Halse stecken bleiben.
»Schling nicht so.« Hertha rollte mit den Augen. »Ich bringe Vati sein Frühstück.«
»Wo ist Vati?«
»Nach dem Gewitter letzte Nacht muss er die Gräben in der Marsch überprüfen. Ist sicher einiges überschwemmt.« Hertha griff in das obere rechte Fach des Büfetts, zog eine Flasche Frauengold hinter den Tellern hervor, füllte einen Eierbecher mit der braunen Flüssigkeit und kippte alles mit einem Schluck hinunter.
Annemie räusperte sich. »Herr Schrader hat gesagt, dass Frauengold ein gemeiner Betrug ist. Er hat das in einem Zeitungsartikel gelesen. Es soll nichts anderes sein als ein gewöhnliches Stärkungsmittel aus Südwein und pflanzlichen Stoffen.«
»Und was weißt du schon davon, Kind.« Hertha spülte den Eierbecher und stellte ihn neben die Flasche zurück ins Büffet. »Frauengold schafft Wohlbehagen, wohlgemerkt an allen Tagen. So steht es auf den Werbeplakaten. Die werden ja wohl wissen, was sie da schreiben.«
»Na ja, oder eben nicht. Herr Schrader sagt –«
»Ich will jetzt nichts mehr von Herrn Schrader hören! Es reicht, dass er euch den ganzen Vormittag für seine Belange einspannt und ihr nicht zur Schule geht und lernt, im Jahr vor der Reifeprüfung. Das ist mir genug Herr Schrader für heute.«
Annemie presste die Lippen aufeinander. Sie sollte jetzt nichts mehr sagen, was Mutti reizen könnte, sonst würde sie ihr noch das heutige Abenteuer verbieten.
Hertha packte Isolierkanne und Stullen in einen Korb und verließ das Haus.
Als Annemie das krachende Einrasten der schweren Holztür hörte, sprang sie auf und spülte schnell Tasse, Messer und Brettchen.
»Bis heute Mittag!«
Sie winkte ihrer Oma, zog die Pumps beim Gehen an, rannte so elegant wie möglich aus dem Haus, stieg auf das Fahrrad und strampelte los. Ihre Mutter lief sicher über das weitläufige Grundstück mit den Gemüsebeeten, auf denen es seit Tagen wieder stank, da Vati die Gülle aus der Sickergrube ausgebracht hatte, durch das kleine Wäldchen, über den Deich, hinein in die Marsch mit den Apfelbäumen und Bienenstöcken, bis sie die Weiden mit den Kühen und den Entwässerungsgräben erreichte, an denen Vati arbeitete. Keine Gefahr, ihr auf dem Weg ins Dorf zu begegnen.
Annemie fuhr auf die Hauptstraße und ließ den Deich links liegen. Sie sah Frau Hellmann in weißer Schürze die Wäsche abhängen und grüßte. Obwohl das benachbarte Reetdachhaus schmaler war, die Wurt niedriger, das Grundstück kleiner und die Gemüsegärten nicht annähernd dem Renommee der Kartoffeln, Karotten, Kürbisse und Kohlrabi ihrer Mutter standhielten, beackerte Herr Hellmann doch ein anständiges Stück Land, dessen angesparte Erträge sie nach der furchtbaren Sturmflut vor zwei Jahren vor dem Ruin bewahrt hatten. Vati sprach immer respektvoll über die Nachbarn, wie eigentlich über alle im Dorf, was sicherlich mit seinem Amt als Bürgermeister in Verbindung stand. Er sah sich selbst gern als eine Art König Salomon der Marsch, gerecht, klug und weise. Aber Annemie vermutete schon eine ganze Weile, dass er mit diesem Habitus zu kaschieren versuchte, wie mangelhaft seine Fähigkeit zum Wirtschaften ausgebildet war. Neben den Apfelbäumen, der Imkerei, dem Bandreißen, einem langsam aussterbenden Handwerk, ein paar Kühen und dem Reet, das er im Winter schlug, versuchte er es nun auch noch mit Binsen. Sie hatte ihn abends schon einige Male mit Herrn Hellmann die Köpfe zusammenstecken sehen. Vielleicht kam dabei ja etwas Gutes heraus.
Annemie radelte auf der unbefestigten Dorfstraße am Landgasthof vorüber, an der fast siebenhundert Jahre alten Kirche, der Bäckerei und dem Kaufmannsladen. Sie empfand den Weg durch das Marschhufendorf schon immer als Zumutung. Häuser und Höfe, die sich zu beiden Seiten an die Straße hefteten, aneinandergereiht wie die eisernen Glieder einer Kette, zur Elbe hin begrenzt vom Deich, an dessen Schulter sie sich schmiegten, ins Land hinein durch endlose Äcker und Entwässerungsgräben freiwillig abgeschnitten von der nächsten Zivilisation. Argusaugen zur Rechten und Linken. Hier gab es nur zwei Richtungen. Vorwärts oder zurück. Und sie würde ganz sicher nicht nach hinten schauen.
Als Annemie den Schulhof erreichte, wimmelte es dort bereits von Menschen im Sonntagsstaat. Sie lehnte das Fahrrad an den Zaun und grinste. Das hier entsprach zwar noch nicht dem fanfarenklingenden Leben, das sie sich erträumte, aber es war ein Ausbruch aus dem täglichen Allerlei, ein Vorgeschmack.
»Da bist du ja endlich!« Geli flanierte auf sie zu wie ein Mannequin. Annemie hatte die eleganten, fast schon anrüchigen Bewegungen ihrer Freundin, diesen Schwung in der Hüfte, das Langsame, Ausgewählte, früher fälschlich als Arroganz gedeutet. Erst als sie sich auf einem Schulausflug näher kennenlernten, verstand Annemie, dass es Gelis Natur entsprach. Sie konnte nicht anders. Diese lasziv wirkenden halb geöffneten Lider, die vollen Lippen und hohen Wangenknochen. Selbst in dem schlichten Zweiteiler, den sie trug, weiße Bluse zu blauem Rock, weil sich ihre Eltern als Heimatvertriebene aus Danzig, die seit Jahren bei einer Bauernfamilie zwei Dörfer weiter einquartiert waren, kostspielige Kleider nicht leisten konnten, sah sie hinreißend aus.
»Geht es schon los?«
»Nein, nein. Es sammeln sich noch alle. Du siehst umwerfend aus in dem neuen Kleid! Dreh dich mal.«
Annemie vollführte eine Pirouette. Da klickte es. Geli hielt eine Kamera in der Hand. Sie hatte Annemie fotografiert.
»Was …?«
»Herr Schrader hat sie mir für heute zur Verfügung gestellt. Es ist eine echte Leica M! Mit Messsucher und Bajonettanschluss für die Objektive! Alle großen Fotografen besitzen so eine. Selbst Henri Cartier-Bresson fotografiert damit. Ist das nicht fabelhaft?«
Annemie nickte. Kurz spürte sie das betäubende Ziehen der Eifersucht, weil Geli auserwählt worden war, den heutigen Tag bis in alle Ewigkeit zu dokumentieren. Andererseits könnte sie selbst für die Technik einer Kamera niemals dieselbe Begeisterung aufbringen. Annemie entschied, sich vorbehaltlos für die Freundin zu freuen.
Die beiden liefen über den Hof, auf dem die Spiele gerade begannen. Es gehörte zur Tradition des Kindergrüns, dass die einzelnen Grundschulklassen am letzten Tag vor den Sommerferien bis in den späten Vormittag hinein Wettspiele veranstalteten. Es gab Klassiker wie Flaschendrehen, Eierlauf, Fischstechen, Tauziehen und Dosenwerfen, aber hin und wieder auch neue Ideen. In diesem Jahr schienen Hula-Hoop-Meisterschaften und Wäscheaufhängen die Renner zu sein.
Geli und Annemie sollten gemeinsam mit Ruth und Elisabeth die Festlichkeiten begleiten, als Journalistinnen der von Herrn Schrader neu gegründeten Schulzeitung am Gymnasium. Annemie wanderte mit Zettel und Stift von Stand zu Stand, notierte sich Spiele, besondere Herausforderungen, Preise und natürlich die jeweiligen Klassensieger. Die Königinnen erhielten eine rote Schärpe, die Könige eine blaue. Sie befragte Lehrer, unterhielt sich mit Kindern, beobachtete, wie der Spielmannszug sich für die Parade formierte. Nur Wolf hatte sie noch immer nicht entdeckt.
Sie wusste, er würde wegen des Unterrichts erst später dazustoßen, aber nun, zur Mittagszeit, sammelten sich bereits alle für den großen Umzug, und noch immer war seine blonde Haartolle nicht zu sehen.
Die Kinder gruppierten sich klassenweise. Die kleinen Majestäten schritten voran, bekränzt von Blumenbögen aus Rosen und Blättern, die gestern fleißig gebastelt worden waren. Die Träger wechselten sich ab. Der Spielmannszug folgte mit lautem Tschingderassabum hinunter vom Schulgelände, ins Dorf hinein, durch das Spalier von Eltern und Anwohnern hindurch, die sich entlang der Straße am Deich formierten, um den Grünschnäbeln, die nach den Ferien an die höhere Schule wechseln würden, zu applaudieren.
Annemie marschierte hinter den Musikern, gleich hinter den Trommlern der letzten Reihe. Es war ein fröhliches Aufspiel, passend zum Ereignis und dem herrlichen Sonnenschein, aber Annemie geriet zunehmend nervös. Wo blieb nur Wolf? All die Vorbereitung, wie sie sich hergerichtet hatte, die Frisur, das neue Kleid. Im Anschluss an die Feier im Gasthof, nach dem Einzug, den Tänzen, der Polonaise, den Vorführungen, nach Speis und Trank würde es niemandem auffallen, wenn sie für eine Weile verschwände. Alle wären bis in die Seelen hinein gesättigt, sodass auch sie sich um ein kleines bisschen Seligkeit kümmern könnte. Und nun gab es keine Spur von Wolf.
Vor der Bäckerei winkte Frau Hellmann ihr zu, schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Die Dorfbewohner standen in kleinen Gruppen, winkten, klatschten und tänzelten zur Musik. Jeder schien auf den Beinen zu sein. Mit Ausnahme von Annemies Familie. Weder Vater, Mutter noch Großmutter hatten Zeit für derlei Tüddelkram. Wo Geli, Elisabeth und Ruth steckten, ließ sich bei diesem Gewusel auch nur vermuten. Hinter Annemie spazierte ein alter Mann, der die Melodie der Kapelle mitpfiff, neben ihr wirbelte die Kleine von Brandstätters einen Hula-Hoop-Reifen um den Hals, während sie sich zuckelnd vorwärtsbewegte.
Da spürte Annemie einen Lufthauch an ihrem Nacken. Ein Duft von Pfefferminz. Sie lächelte.
»Ich kann mich noch erinnern, wie einige der Lehrer an meiner alten Schule die Reifen verbieten wollten.«
Wolf. Endlich. Bei dem Lärm ähnelte sein Flüstern einem Schreien, aber wenigstens konnte niemand Anstoß daran nehmen, wie nah sich ihre Gesichter kamen.
»Es galt als unziemlich. Und wirklich schadhaft für die Hüften junger Frauen …«
Er berührte ihre Taille, wie aus Versehen, als wäre er gestolpert. Sie drehte sich zu ihm um, lachte, ihr Herzschlag ein Sturm, berauschender als die Hymnen rund um sie herum. Wolf grinste. Die blonde Tolle wippte bei jedem Schritt. Nichts, so schien es Annemie, war so aufregend wie das, was möglich wäre.
»Annemie!«
Geli, Ruth und Elisabeth drängelten sich hinter dem Spielmannszug zu ihnen durch.
»Wir dachten schon, wir hätten dich verloren!«
»Wo warst du nur?«
»Wir suchen dich schon überall.«
Ein breites Lächeln erstrahlte auf Gelis Gesicht, die rückwärts vor Annemie lief, aufgeregt darauf bedacht, den Trommlern nicht zu nahe zu kommen, die Kamera fest vor der Brust umklammert.
»Ich habe fabelhafte Bilder geschossen! Es klappt alles ganz wunderbar! Vielen Dank noch mal, Herr Schrader, dass ich heute fotografieren darf!«
Das Gespräch bekam keinen Rhythmus. Wir unterhielten uns seit einer Stunde, Stefan, Sven, Chiara, Opa und ich, wobei Chiara nicht wirklich etwas zur Diskussion beitrug, wie sollte sie auch. Niemanden hier hatte sie je zuvor gesehen. Sie wirkte nett und zugewandt, wie sie da neben Sven am Büfett lehnte, aber auch, als wäre sie auf halbem Weg zwischen Tür und Stuhl verlorengegangen. Alle paar Minuten wechselte sie das Standbein, und ich fragte mich, ob ihre Zehen in den High Heels schmerzten.
Was für eine banale Überlegung. Ständig drifteten meine Gedanken ab, wohl um der Sorge um Oma nicht zu viel Raum zu öffnen.
Ich hatte Erfahrung mit abwesenden Menschen, aber nicht mit Personen, die einfach verschwanden, und es irritierte mich, dass niemand meine Ängste zu teilen schien. Ja, Oma war erwachsen und durfte gehen, wohin und wann sie wollte. Aber ohne jemandem Bescheid zu geben? Opa hatte eine Auseinandersetzung mehrfach als abwegig bezeichnet und sogar behauptet, dass sie nie stritten, was ich einfach nicht glauben konnte. Wer, bitte schön, lebte in ständiger Harmonie?
»Ich werde morgen früh Holger anrufen«, sagte Stefan sicher zum siebten Mal. Er hatte die Gegenstände auf dem Tisch wiederholt in unterschiedlicher Reihenfolge sortiert, und ich versuchte noch immer, das zugrunde liegende Muster zu entschlüsseln.
Opa hielt sich mit Redebeiträgen zurück und hatte die oft wiederholte Aussage Stefans bislang nicht kommentiert, was vielleicht mit ein Grund war, warum Stefan sich in diesem repetitiven Reigen verfing, aber nun sagte er: »Morgen ist Samstag.«
»Herrgott!« Sven stieß sich vom Büfett ab und fuhr sich mit den Händen durch die zurückgegelten Haare. »Und am Samstag darf man niemanden als vermisst melden, oder was? Am Wochenende verschwinden keine Menschen, und sonntags passieren keine Verbrechen, weil sich da alle Kriminellen auf dem Sofa ausruhen oder mit ihren Kindern spielen!«
»Dein Sarkasmus bringt uns wirklich weiter.« Stefan blickte nicht vom Tisch auf, während er sprach.
»Ich begreife einfach nicht, worauf wir warten! Ruf doch deinen Megakontakt bei der Polizei jetzt an! Ist ja noch Freitag, recht knapp zwar, aber so ruinieren wir wenigstens niemandem das wohlverdiente Wochenende.«
Stefan holte Luft, und ich sah Sven bereits türenknallend aus dem Haus stürmen, wie an Weihnachten.
Am ersten Feiertag war er in Begleitung von Tara (Tiara?) erschienen, und wir alle folgten zunächst ohne besondere Vorkommnisse der traditionellen Liturgie aus Tischdecken, Essen, Tischabdecken, Kirche, Kaffeetafeldecken, Essen, Kaffeetafelabdecken, Bescherung. Selbst die vollkommen überdrehten Kinder ließen sich von diesem Rhythmus vereinnahmen. Dann überreichte Sven Oma und Opa zwei Flugtickets nach Island. Er hatte gerade sein jährliches Survival-Training irgendwo dort in den Bergen absolviert, fernab der Zivilisation, nur er und die Wildnis. Wir wussten, er brauchte das. Immer schon. Genauso wie die Sechzig-Stunden-Woche als Marketingmanager einer großen Agentur im restlichen Jahr. Aber dieses Geschenk sprengte nicht nur den Rahmen der Präsente, die wir einander sonst überreichten, es widersprach wahrscheinlich auch in jeglicher Weise den Wünschen von Oma und Opa. Und es demütigte Stefan, den schuftenden Alleinverdiener einer fünfköpfigen Familie.
»Vielleicht sollten wir –«, begann ich, als Janne die Küchentür öffnete.
Sie sah blass aus, schlaftrunken, zerknautscht und wirkte ein wenig gespenstisch, so eingehüllt in eine Wolldecke, deren Fransen über die Dielen schleiften.
»Ich habe Annemies Tasche gefunden und ihre Geldbörse«, sagte Janne und zog Omas Portemonnaie unter der Decke hervor. »Ist es nicht komisch, dass sie die Sachen hiergelassen hat?«
Opa schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch. Ich zuckte zusammen. Stefan schaute auf. Janne machte einen Schritt rückwärts, stolperte über die Decke, ruderte mit den Händen, suchte nach Halt und griff schließlich nach Chiaras Arm, die sie zaghaft anlächelte.
Opa erhob sich. »Wie kannst du es wagen, einfach in fremden Sachen herumzuwühlen? Mache ich das etwa auch? Komme zu euch nach Hause und filze alles wie ein verdammtes Sondereinsatzkommando?«
Janne starrte ihn an. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie blinzelte nicht, hielt den Mund geöffnet, als wollte sie auf seinen Ausbruch reagieren, nur fanden die Worte nicht den Weg über ihre Lippen.
Opa schob sich von der Eckbank. Seine Wangen glühten. Jeder Muskel in seinem Körper schien zu vibrieren. So hatte ich ihn noch nie erlebt.
Mit zwei Schritten war er bei Janne und entriss ihr die Geldbörse.
»Vater«, sagte Sven. »Sie hat es doch nur gut gemeint.«
»Das Gegenteil von gut ist gut gemeint«, sagte Opa, und noch bevor jemand etwas darauf erwidern konnte, schien eine Welle durch Jannes Körper zu schwappen. Sie riss die Hände vor den Bauch, streckte den Hals und erbrach sich direkt vor Opas Füße.
Chiara, die Janne am nächsten stand, stützte sie, konnte aber nicht verhindern, dass sie gemeinsam zu Boden sanken. High Heels. Sven umarmte beide von hinten. Ich reichte Stefan die Küchenrolle, und er wischte hektisch den Boden, während ich den Putzeimer mit Wasser füllte. Opa umklammerte Omas Geldbörse und blickte starr auf das Chaos.
»Ist sie schwanger?« Chiara flüsterte, aber wir alle konnten die Frage hören.
Fanny war noch kein Jahr alt. Das schloss eine erneute Schwangerschaft natürlich nicht aus. Trotzdem. Es gab viele Gründe für Übelkeit, jenseits von Schwangerschaften. Ich kotzte ja auch nicht.
Stefan half Janne auf die Eckbank, strich ihr über die Haare und wiegte sie in den Armen. Man konnte erahnen, was sie miteinander verband, das Wissen um das Wesen des anderen, Vertrauen, Gefühle, die weit über Liebe hinausgingen und sich im Alltag gern unter vollen Windeln und Geldsorgen versteckten. Sie so zu sehen, beruhigte mich auf eine Weise, die mich selbst überraschte.
»Was hast du denn, Putzchen, was fehlt dir?«
Ich wischte den Boden und fand es seltsam, dass Was hast du? und Was fehlt dir? in Stefans Frage das Gleiche bedeuten sollten. Dabei waren besitzen und verlieren nicht dasselbe, ganz und gar nicht. Niemandem schien diese Kuriosität aufzufallen.
Ich räumte Eimer und Bodentuch zurück in den Schrank unter der Spüle und betrachtete Janne, ihre eingefallenen Wangen, die dunklen Ringe unter den Augen, ihren weichen Körper, nachgiebig und mütterlich, sehr zart in Stefans Armen.
Das Bohnerwachs im Hausflur roch beißend real und bestätigte Freya, dass sie diese verrückte Nacht nicht nur geträumt hatte. Sie stapfte die Stufen hoch in den dritten Stock und dachte an Aenne, die junge Frau, mit der sie sich noch eine ganze Weile über das demolierte Fahrrad amüsiert hatte. Aenne bezeichnete ihr gemeinsames Lachen als comic relief. Sie studierte Psychologie und erzählte, dass schon Shakespeare witzige Figuren in seine Stücke eingebaut hatte, um Spannung abzubauen. Literarischer Galgenhumor.
Trotz ihrer seltsamen Aufmachung schien Aenne nett zu sein. Sie wohnte gleich um die Ecke und jobbte in der Kneipe die Straße runter. Irgendwie fand diese schräge Nacht mit ihr einen versöhnlichen Ausklang.
Freya schloss die Wohnungstür auf und stolperte über Aykos Turnschuhe. Genervt pfefferte sie sie unter die Garderobe, wo sie gegen ihre Inlineskates prallten, die vom Boden des Schuhregals rumpelten und gegen die alte Milchkanne aus Aluminium knallten, die sie neulich auf einem Flohmarkt gefunden hatte und zum Regenschirmhalter umfunktioniert hatte. Freya schloss die Augen und lauschte auf die Schimpftirade, die jeden Moment einem Sturm gleich aus Aykos Zimmer zu ihr herüberwüten würde.
Aber nichts geschah.
Freya setzte Teewasser auf, sinnierte noch ein wenig über die verkorkste Nacht, diesen Vollpfosten Arne, mit dem sie nie wieder ein Wort reden würde, duschte und zog sich um für die Uni.
Ayko war noch immer nicht aufgestanden.
Sie klopfte an seine Tür.
Es gab Zeiten, in denen Ayko eine gewisse Melancholie überfiel, dann schrieb er Gedichte, sorgte sich wegen der anhaltenden Jugoslawienkriege, der schrecklichen Ereignisse in Ruanda, die er ganz klar als Völkermord bezeichnete, der rechtsradikalen Anschläge in Mölln und Rostock-Lichtenhagen, des Brandanschlags auf die Synagoge in Lübeck, des Bombenattentats in Euskirchen, der neuen rechten Regierung in Italien, des Suizids von Kurt Cobain, seinem Idol. Ayko saugte das Böse in der Welt auf wie ein Schwamm, als ließe es sich damit von der Erde tilgen, stattdessen verstopfte es seine Poren, brachte ihn zum Weinen und zwang ihn tagelang ins Bett.
Freya öffnete die Tür. »Ayko?«
Die schweren Vorhänge waren zugezogen. Freya brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass Ayko nicht zwischen den zerknautschten Laken auf dem breiten Metallbett schlief. Sie ließ Sonnenlicht in den Raum und öffnete das Fenster.
Zettel, Collegeblöcke, Karteikarten, Bücher und Zeitungen stapelten sich in einem wilden Mix auf dem Schreibtisch. Ayko behauptete, seine Recherchen folgten einer strengen Ordnung, aber Freya vermutete, dass er sie damit seit Jahren auf den Arm nahm. Das wandfüllende Regal quoll über vor Büchern, die sich auch auf der Fensterbank, dem Nachtschrank, dem alten Ohrensessel und den Dielen stapelten. Freya freute sich über die Zwei-Zimmer-Altbauwohnung, für die sie zum einen den Zuschlag erhalten hatten, weil Ayko als Journalist über den nötigen Gehaltsscheck verfügte, zum anderen, weil sie als Geschwister so vertrauenserweckend wirkten, vor allem aber freute sie sich für Ayko über die vier Meter hohen Wände, die sein Zimmer trotz der chaotischen Überfüllung fast luftig erscheinen ließen.
Freya schloss das Fenster und machte sich auf den Weg zum Seminar. Wahrscheinlich hatte sie einfach nicht richtig zugehört, als Ayko ihr von einem frühen Termin heute Morgen erzählt hatte.
Sie sprang die Treppe hinunter und erinnerte sich erst im Parterre, als sie gerade nach hinten in den Hof zu den Rädern abbiegen wollte, an das drahtesellose Leben, das sie seit einigen Stunden führte.