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Anna hat ihren Urlaub an der sonnigen Côte d’Azur gerade beendet und will zurück nach Hamburg reisen. Als sich die Türen des Flugzeugs schließen, hat sie eine Panikattacke und verlässt fluchtartig die Maschine. Wie soll sie jetzt nach Hause kommen? Bus und Bahn scheiden aus, denn auch dort wäre sie eingesperrt und könnte nicht jederzeit aussteigen. Schließlich registriert sie sich bei der Mitfahrzentrale - und lernt Harm kennen. Er ist auf dem Rückweg von Südfrankreich nach Kiel. In seinem Gepäck: Bienenköniginnen. Er nimmt Anna mit und gemeinsam machen sie sich auf zu einem emotionalen Roadtrip, der völlig anders endet als erwartet.
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Seitenzahl: 467
Veröffentlichungsjahr: 2022
ZUMBUCH
Anna hat ihren Urlaub an der sonnigen Côte d’Azur gerade beendet und will zurück nach Hamburg reisen. Als sich die Türen des Flugzeugs schließen, hat sie eine Panikattacke und verlässt fluchtartig die Maschine. Wie soll sie jetzt nach Hause kommen? Bus und Bahn scheiden aus, denn auch dort wäre sie eingesperrt und könnte nicht jederzeit aussteigen. Schließlich registriert sie sich bei der Mitfahrzentrale – und lernt Harm kennen. Er ist auf dem Rückweg von Südfrankreich nach Kiel. In seinem Gepäck: Bienenköniginnen. Er nimmt Anna mit und gemeinsam machen sie sich auf zu einem emotionalen Roadtrip, der völlig anders endet als erwartet.
ZURAUTORIN
Katja Keweritsch ist Ethnologin und Journalistin. Sie ist in einem friesischen Dorf aufgewachsen, von dem aus es sie schon früh in die Welt zog. Neben Köln und Hamburg studierte sie in Los Angeles und lebte zeitweise in Mumbai und auf Sansibar. Heute wohnt sie mit ihrer Familie an der Elbe. In ihrem Debütroman schreibt sie über die Liebe und darüber, wie wichtig es ist, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren.
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Originalausgabe 03/2022
Copyright © 2022 by Diana Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München.
Covergestaltung: das verlagsatelier Romy Pohl
Covermotiv: © Mnsty studioX/Shutterstock.com
Redaktion: Antje Steinhäuser
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-26516-8V004
www.diana-verlag.de
Teil 1
Myriaden von Glühwürmchen tanzten über dem verschwenderisch blühenden Lavendel in den hohen Tonkrügen. Lichtpünktchen, die aufleuchteten, verloschen und wieder aufglimmten. Selbst zwischen den Palmen und Zypressen hinter mir blinkte und glitzerte es. Es war ein bisschen wie auf dem Jahrmarkt, nur nicht ganz so bunt.
Ich hatte die hochhackigen Schuhe abgestreift und mich neben den Stuhl auf den Steg gesetzt. Der Duft des Lavendels war betörend. Ich tauchte meine Füße in das kühle Teichwasser unter den Seerosenblättern. Am Ende des Gartens, tief unter uns, erstrahlte das gigantische Lichtermeer Nizzas. Ein Funkeln und Flimmern, an dem ich mich nicht sattsehen konnte. Rundherum, auf allen Hügeln, über alle Ebenen schillerte es wie in einem Kaleidoskop. Nur das Meer lag dunkel und still am Horizont, so als müsse es sich von einem aufreibenden Tag erholen.
Von der Terrasse am Haus drang lebhaftes Stimmengewirr, Gelächter und das Klirren von Gläsern. Ich blickte hinüber und sah Christopher, der unter den quer über den Garten gespannten Lichterketten auf mich zusteuerte. Der Mond bummelte über ihm an einem wolkenlosen Himmel. Eine sanfte Brise schaukelte die zarten Makrameevorhänge, die rund um den Pavillon am anderen Ende der Rasenfläche hingen. Christopher hatte sein Jackett abgelegt und die Ärmel hochgekrempelt. Er trug einen Ausdruck tiefster Zufriedenheit und zwei Gläser Champagner. Die ganze Szenerie wirkte maximal kitschig. Und unüberbietbar romantisch.
»Pass auf, dass die Fische nicht anbeißen.« Christopher reichte mir das gefühlt zwanzigste Glas Schampus an diesem Abend. »Kois stehen auf knallrote Köder.«
»Santé!« Ich wackelte mit den Zehen. »Auf mutige Anglerinnen!«
Wir ließen die Gläser klirren und küssten uns. Christopher hockte sich auf die Holzplanken neben mir, behielt aber seine Schuhe an.
Der Alkohol perlte an meinem Gaumen. Im dunklen Wasser vor mir spiegelte sich der Schein Dutzender Fackeln. Einzelne Pärchen tranken, aßen oder unterhielten sich leise. Sie entspannten in Liegestühlen aus Bambus, deren Design an den verschnörkelten Jugendstil der Belle Époque erinnerte. Die Frauen trugen Kleider, die Männer Anzüge. Es gab einen Dresscode. In einem Restaurant! Hoch über der Côte d’Azur schienen wir ein wenig aus der Zeit zu fallen.
»Ein Wunder, dass man aus diesem unglaublichen Anwesen ein Restaurant und keine ewig ausgebuchte Hochzeitsfeier-Location gemacht hat.« Ich ließ meinen Blick zu den Olivenbäumen am anderen Ende des Gartens gleiten, zu den Lavendelamphoren, den Spalieren an der Terrasse, die unter der Last prächtiger Blüten nachzugeben drohten, den schimmernden Farben des Oleanders, den Lichterketten, Lampions und Feuern. Und natürlich den Glühwürmchen.
»Weißt du«, sagte Christopher, stützte sich auf den linken Unterarm und beschrieb mit dem rechten einen weiten Kreis, »hier, heute Abend, in diesem Garten … da kann ich mir so etwas auch vorstellen.«
Ich folgte seiner Armbewegung und verlor den Blick am Pavillon, wo ein livrierter Kellner gerade einem älteren Paar das unter einer silbernen Servierglocke verborgene Menü servierte.
»Es ist verzaubernd.« Ich lächelte. »Wahrscheinlich, weil wir zum ersten Mal hier sind. Ich weiß nicht, ob man so einen Abend wiederholen kann.«
»Das will ich auch gar nicht. Ich will einen eigenen verzaubernden Abend.«
Ich lachte. Christopher war klug, charmant, zielstrebig, zuverlässig. Mein Fels in der Brandung. Das Wort romantisch hatte bislang keinen Platz in meiner Auflistung seiner Charakterstärken gefunden. Aber diese südfranzösische Nacht schien mich eines Besseren belehren zu wollen.
»Christopher, Christopher … du entdeckst doch nicht etwa eine gefühlsduselige Seite in dir?«
»Da besteht keine Gefahr.« Er lächelte. »Aber ich glaube, du missverstehst mich.« Zärtlich nahm er meine Hand. »Sieh mal, Anna, ich weiß, dass wir uns eigentlich dagegen entschieden haben. Und dazu stehe ich auch. Aber irgendwie … ich weiß auch nicht …«
Auf einmal lief ein Schauer von meinen Schultern quer über den Rücken. Ich zitterte, dabei atmete das Holz noch immer die Hitze des Tages. Hier fiel die Temperatur auch nachts nicht unter angenehme 18 Grad. Christopher sprach weiter, und ich hatte keine Zeit, mir über die seltsame Reaktion meines Körpers Gedanken zu machen.
»Außerdem ist mein Vater nicht mehr der Jüngste, und nach seinem Herzinfarkt … Ich denke einfach, dass es das Richtige wäre. Es würde ja auch eigentlich nichts ändern. Aber nach diesem Abend hier, da kann ich mir vorstellen, dass es ein schönes Fest geben würde. In jedem Fall draußen, im Sommer. Du könntest dekorieren, was das Zeug hält. Und du wärst mit Sicherheit wunderschön.«
Ich schüttelte den Kopf. Der Champagner flutete meinen Verstand. War das ein Heiratsantrag?
»Christopher – was willst du mir sagen?«
»Ach Anna, mach’s mir doch nicht so schwer. Du weißt, dass ich so was nicht gut kann …«
»So was wie einen Heiratsantrag?«
»Ja.«
»Ja, was?«
»So was wie einen Heiratsantrag.«
Ich schluckte. Jetzt war es raus. Christopher hatte gerade gefragt, ob ich ihn heiraten möchte. Okay, vielleicht nicht mit diesen Worten. Und auch nicht mit Worten wie Liebe, Zukunft, Leidenschaft oder für-immer-und-ewig. Stattdessen fanden Begriffe wie Vater, Herzinfarkt und Deko ihren Weg in diesen Antrag. Aber was wusste ich schon? Dies war der erste Heiratsantrag meines Lebens. Und er kam von dem Mann, mit dem ich seit nunmehr sechs Jahren eine Beziehung führte.
»Anna? Was sagst du?«
»Ich … nun ja, das war nicht unbedingt der romantischste Antrag, den ich mir vorstellen kann …«
»Ach Anna …«
»Ja, schon gut. Ich glaube auch nicht, dass ich einen Mann auf den Knien brauche. Bei deinen Meniskusproblemen wäre das wohl auch weniger ratsam …«
»Herrgott! Würdest du das bitte ernst nehmen?«
Ich schluckte. Stritten wir uns jetzt während des Heiratsantrags?
»Es tut mir leid, dass ich dich so überrumpelt habe.« Christopher fuhr jetzt ruhiger fort. »Ich hatte das nicht geplant und deshalb auch nichts vorbereitet. Ist ja sonst eher nicht meine Art. Aber dieser Abend, der Champagner, die Location … keine Ahnung. Vielleicht sollten wir morgen noch mal in aller Ruhe darüber reden. Wir müssen nichts überstürzen.«
Überstürzen? Nach sechs Jahren? Wie sehr hatte ich mir anfangs gewünscht, Christopher würde mich um meine Hand bitten. Ganz altmodisch. Um ein Zeichen zu setzen: Wir gegen den Rest der Welt! Wie meine Eltern, die schon mit sechzehn wussten, dass sie füreinander bestimmt waren, und kaum volljährig heirateten. Wie Christophers Eltern, die sich zeitlebens heroisch über vierundzwanzig Jahre Altersunterschied hinwegsetzten und allen Kritikern gleichmütig trotzten. Eine verschworene Gemeinschaft, ein Team. Ein Ehepaar.
Aber derart sentimentale Ansichten verloren sich in unserem karrieregeprägten Alltag. Wann war mir das eigentlich zum ersten Mal aufgefallen? Dass ein Großteil unseres Lebens sich im Job abspielte. Dass wir schon deshalb meist samstagnachmittags im Bett landeten, weil in der Woche gar kein Zeitfenster dafür zur Verfügung stand. Wann hatte ich zum ersten Mal festgestellt, dass wir eine geschickte Routine lebten? Jetzt gerade? Wirklich?
Vielleicht inhalierte ich diesen letzten Urlaubsabend auch deshalb wie reinen Sauerstoff, weil ich eigentlich schon lange so eine Ahnung hatte.
Christopher erhob sich. Er wirkte traurig und abgespannt. »Ich bin müde. Lass uns ins Hotel fahren. Wir müssen morgen ziemlich früh am Flughafen sein.«
Ich stand ebenfalls auf. »Christopher?« Ich nahm seine Hand. »Danke. Danke, dass du mich gefragt hast. Ich weiß, dass dir das nicht leichtgefallen ist. Und ich kann deine Argumente nachvollziehen – auch wenn sie nicht besonders romantisch klingen.«
Er lächelte.
Ich streichelte seine Wange und das Grübchen am Kinn, das ich so liebte. »Weißt du … eigentlich wollte ich dich schon immer heiraten. Auch wenn wir uns darauf geeinigt haben, dass wir keinen Trauschein brauchen, um eine Beziehung zu führen. Tief in mir wollte ich es, glaube ich, schon immer. Ich bin nur ein wenig … überrascht. Verstehst du?«
Er nickte, küsste mich auf die Stirn. »Lass uns morgen weiterreden. Da sehen wir bestimmt klarer.«
Dunkelheit war das Erste, was ich wahrnahm, als ich aufwachte und versuchte, meine schweren Lider zu öffnen. Ich hörte Türen schlagen, das Gleiten von Schubladen auf ihren Schienen, jemanden, der fluchte. Irgendwo unter meinen Haaren musste es eine Schaltstelle, so etwas wie einen ON-Knopf für konstruktives Denken geben, aber ich konnte ihn nicht finden. Es dröhnte in mir. Irgendwie tat alles weh.
»Verdammter Mist! Anna! Jetzt steh endlich auf!«
Christopher riss etwas von meiner Stirn, und ein greller Blitz schlug direkt oberhalb meiner Nasenwurzel ein.
»Au!«
»Das war nur der Waschlappen! Werd’ endlich wach!«
Vorsichtig linste ich unter meinem rechten Augenlid in den Tag. Es war hell. Viel zu hell. Die Fensterläden luden weit geöffnet die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen in unser Hotelzimmer ein. Christopher lehnte mit den Händen in den Haaren an der geschmiedeten Balkonbrüstung und taxierte den Hang mit der Olivenbaumplantage. An meinen Schläfen trommelte ein Djembe-Ensemble einen eingängigen Pre-Chorus. Ich schielte auf mein Handy.
»Es ist erst vier Minuten nach sechs!« Ich zog die Bettdecke bis über mein Kinn. »Ich will schlafen!«
Christopher fuhr zu mir herum.
»Ja, das will ich auch«, flüsterte er in einem so akzentuiert zischenden Ton, dass ich mich überwand und ihn anschaute. »Ich hätte auch gerne einen Lottogewinn und Weltfrieden. Am allerliebsten aber hätte ich jetzt gerade gerne mein Handy, das ich bereits seit einer geschlagenen Stunde suche! Das Handy, Anna, das ich dir gestern in die Hand gedrückt habe, als ich zum x-ten Mal Champagner holen ging!«
Okay. Ich war wach.
»Oh Gott, ich … es muss noch am Seerosenteich sein. Ich hatte es auf den Steg gelegt.«
»Toll! Genau so habe ich mir das gedacht … Dann los! Ich besorge uns ein Taxi. Wir müssen unbedingt auf dem Weg zum Flughafen dort vorbei.«
Christopher stürmte aus dem Raum und pfefferte die Zimmertür hinter sich zu. Eine Zehntelsekunde später knallte die geöffnete Balkontür gegen den Rahmen. Eine kleine Vase mit Lavendelzweigen taumelte von der Fensterbank und zersplitterte auf den Fliesen. Das Echo hallte in meinem Kopf. Sieben Jahre Pech. Oder galt das nur für Spiegel?
Beunruhigt stemmte ich mich aus dem Bett und wankte ins Bad, möglichst ohne die Trommel-Combo in meinem Kopf aus dem Rhythmus zu bringen. Ich meinte mich zu erinnern, irgendwo einmal gelesen zu haben, dass Champagner keinen Katzenjammer verursachte. Fake News. So viel stand fest. Ich schlurfte zur Dusche und tat mir selbst furchtbar leid.
Das Wasser brauchte eine Weile, bis es heiß aus dem Duschkopf rieselte. Als es die altertümlich wirkende Duschwanne erwärmt hatte, hockte ich mich hinein. Rinnsale strömten über meinen Rücken und tropften von den Haaren auf mein Gesicht. Das entsetzliche Pochen in meinem Schädel verebbte. Ich schloss die Augen und entspannte mich.
Bilder der vergangenen Nacht tauchten vor mir auf. Christophers seltsam verwickelter Heiratsantrag. Die Ehen unserer Eltern. Seine Karriere. Mein Job. Die Routine.
Ich schlug die Augen auf. Etwas hatte mich erschreckt. Zumindest fühlte es sich so an. Mein Herz schlug bis zum Hals. In den Ohren hörte ich mein Blut rauschen. Wasserdampf hatte die Duschkabine beschlagen und das Bad in eine Saunalandschaft verwandelt. Warmer Nebel umwaberte mich, die Dusche, das Waschbecken, die Toilette. Alles verschwamm. Dennoch hatte ich das Gefühl, die Wände des Raums bewegten sich auf mich zu. Meine Hände zitterten. Ich hatte Angst. Überwältigende Angst. Ich musste raus. Raus! Raus hier!
Ich warf mich gegen die Glastür der Dusche, stolperte aus dem Bad und riss die Balkontür auf. Mein Atem pulsierte hektisch. Ich stützte mich auf das Geländer. Keuchte. Versuchte zur Ruhe zu kommen. Zu atmen. Ich fixierte die Olivenbäume. Ein Stamm. Noch einer. Ich begann zu zählen. Drei, sechs, neun, zwölf … Die Konzentration beruhigte mich. Vielleicht lenkte sie mich auch einfach nur ab. Ich realisierte, dass die Sonne schien, ein einsamer Hund trabte durch den Hain, sanfte Seeluft kühlte meinen nassen Körper.
»Was tust du denn da?« Christopher zog mich an den Schultern vom Balkon. Ich hatte ihn gar nicht zurückkommen gehört.
»Anna, was ist los? Bist du noch immer betrunken? Um deine exhibitionistische Seite zu erkunden, hättest du wahrlich keinen besseren Zeitpunkt finden können. Jetzt beeil dich! Wir müssen los. Unten wartet ein Taxi.«
Christopher verstaute den Kulturbeutel in seinem silbernen Hartschalenkoffer. Ich trottete benommen ins Bad, das jetzt wieder genauso aussah wie der leicht altbackene Raum, über den er sich seit sieben Tagen beschwerte, den wir aber nicht hatten wechseln können, weil in dem kleinen Boutique-Hotel, in das ich mich zu Hause am Bildschirm schockverliebt hatte, kein anderes Zimmer mehr frei gewesen war. Hochsaison an der Côte d’Azur. Lavendelblüte. Zum Glück hatte der hübsche Pool, in dem wir täglich Stunden verbrachten, ihn besänftigt.
Ich schüttelte den Kopf. Was war nur los mit mir? Ich fühlte mich zugleich erschöpft und aufgeregt. Was um alles in der Welt war gerade im Bad mit mir passiert? Wovor hatte ich auf einmal solche Angst gehabt? Obwohl mein Herz noch immer raste, drückte eine tiefe Mattigkeit mich nieder.
Christopher drängelte, aber ich schaffte es nur mit großer Mühe, mich anzuziehen und meine restlichen verstreuten Sachen in die Reisetasche zu stopfen. Er zog mich hinter sich her aus dem Hotel und in das Taxi. Während der ganzen Fahrt trommelte er nervös mit den Fingern auf dem Armaturenbrett herum. Mir war schlecht. Der Taxifahrer unterhielt sich ausschließlich mit Christopher, der in einem schwer verständlichen Französisch, das meinem nicht annähernd das Wasser reichen konnte, kauderwelschende Sätze über Handys und Hochzeiten stammelte.
Als wir vor dem verschlossenen Tor der Einfahrt hielten, lag die Villa Claire noch in tiefem Schlaf. Christopher sprang aus dem Taxi, stürmte zur rechten Steinsäule und klingelte energisch. Nichts regte sich.
»Hier ist erst am Nachmittag wieder jemand«, rief der Taxifahrer aus dem geöffneten Seitenfenster. »Habe ich Ihnen ja gesagt.«
Christopher fuhr herum. Seine Mimik schwankte zwischen Verzweiflung und Tatendrang. Plötzlich nickte er entschlossen, wirbelte herum und kletterte über das Holztor. Der Taxifahrer stürzte aus dem Wagen.
»Monsieur! Was tun Sie denn da? Kommen Sie sofort herunter! Ich rufe die Polizei! Das ist Einbruch! Damit will ich nichts zu tun haben!«
Ich hievte mich aus dem Auto. Christopher spurtete über die kiesbedeckte Auffahrt. Es war beeindruckend. Mein Freund, Inbegriff von Rechtschaffenheit, Guru von Anstand und Schicklichkeit, setzte sich hastend über das Gesetz hinweg. Ich versuchte, dem Taxifahrer die Außergewöhnlichkeit der Situation zu vermitteln, aber er fühlte sich von uns konspirativ in die Falle gelockt.
»Ich hätte es gleich wissen müssen!«, rief er. »Um diese Uhrzeit hier hochzufahren! Was soll das bringen? Aber ich will nichts damit zu tun haben! Hören Sie? Gar nichts! Ich verschwinde von hier! Ich habe nichts gesehen, nichts getan! Ich habe rein gar nichts damit zu tun!«
Er fiel geradezu über den Kofferraum her, zerrte unser Gepäck heraus und schleuderte es auf die Straße.
»Monsieur, bitte …«
Der Taxifahrer sprang ins Auto und preschte tatsächlich mit quietschenden Reifen von dannen.
Ratlos starrte ich ihm hinterher. Die Villa Claire lag am Ende einer steilen Sackgasse. Über uns erhob sich ein kleines Waldgebiet. Geradezu senkrecht ragten die Bäume in den nizzablauen Himmel. Bergab führte in haarsträubenden Serpentinen eine mehr schlecht als recht geteerte Straße, auf der wir uns gerade mühsam nach oben gequält hatten. Sonst gab es nichts. Die nächsten Nachbarn wohnten eine Kreuzung weiter unten.
Das Gefühl der vergangenen Nacht, irgendwie aus der Zeit gefallen zu sein, überkam mich erneut. Allerdings hatte es nun einen weitaus weniger romantischen Beigeschmack. Unser Flug ging in zwei Stunden. Eigentlich sollten wir jetzt gerade unser Gepäck einchecken. Ich knipste mein Handy an. Groß und weiß leuchteten mir die Zahlen entgegen. 8:42 Uhr. Ich schob alle Erinnerungen beiseite. Wir mussten diesen Flug erwischen.
Christopher hatte am Montag um 10 Uhr den Pitch vor Dr. Knoll, dem Deutschland-Geschäftsführer des norwegischen Telekommunikationskonzerns, für den er arbeitete. Dabei ging es um ein Finanzierungsmodell für den schnelleren Glasfaserkabelausbau in Deutschland. Christopher und sein Team hatten Monate daran gearbeitet, tägliche Überstunden wie Zähneputzen akzeptiert. Er gönnte sich auch jetzt nur eine Woche Urlaub und verbrachte trotzdem täglich wenigstens zwei Stunden am PC. Den Pitch hatte er mir abends auf dem Balkon bei einem Glas Rotwein vorgetragen, wir hatten gemeinsam an Formulierungen gefeilt und die Stringenz seiner Argumentation modelliert. Wir mussten nach Hause. Dringend.
Ich hockte mich auf den Schalenkoffer und googelte nach der Nummer eines Taxiunternehmens. Es würde zwanzig Minuten dauern, bis jemand hier draußen bei uns wäre, teilte man mir mit. Weitere vierzig Minuten zum Aéroport Nice Côte d’Azur. Nervös schielte ich zur Villa Claire, deren verzauberter Garten Christopher verschluckt zu haben schien. Es würde knapp werden.
Trotzig kauerte das alte Steinhaus am Ufer der Banquière. Der Mistral hatte immer wieder an den groben Quadern der Mauern geleckt und ihnen im Lauf der Jahre eine geradezu skulpturale Struktur geschenkt. Zusammen mit den bemoosten Tonziegeln, den blauen Fensterläden und all der Patina schien das Haus wie natürlich aus dem fruchtbaren Boden der Côte d’Azur zu wachsen.
Harm beobachtete einen Esel, der mürrisch blökend über das Grundstück jenseits des Flusses trottete. Neben den träge plätschernden Wellen des Wassers und einem zaghaften Rauschen in den Pinien durchbrach er als Einziger die verschlafene Stille – vielleicht abgesehen vom gelegentlichen Knattern eines Quads oder Treckers, der mit eindeutig überhöhter Geschwindigkeit die steilen Kurven von Tourrette-Levens schnitt.
Die Kirchenglocken läuteten. Metallisch und hohl, als sei beim Guss der Glocke die Bronze ausgegangen. Halbzeit, dachte Harm. Die Mitte des Tages. Und auch der Wendepunkt seiner Reise. Nach dem langen Weg von Kiel durch Deutschland über Österreich, die Schweiz und Italien bis hierher nach Südfrankreich würde ihn seine Bienenmission nun stetig zurück in Richtung schleswig-holsteinischer Heimat führen. Den ersten Teil der Königinnen hatte er ausgeliefert. Nun folgten die französischen Stationen.
Harm fühlte ein hohes Maß an Dankbarkeit in sich. Nie hätte er erwartet, auf so viel Güte und Gastfreundschaft zu stoßen. Imker waren schon ein erstaunliches Volk. Mit welcher Sanftheit sie die Bienen entgegennahmen, wie sehr sie die Gründe dieser persönlichen Übergabe wertschätzten. Selbst Gérard, dieser Berg von einem Mann, der im Gras neben ihm döste, hätte die Bienenkönigin in ihrem kleinen Holzkäfig am liebsten mit seinen tätowierten Pranken gestreichelt – gleich nachdem er Harm bei der Begrüßung um den Hals gefallen und ihm mit tränenerstickter Stimme sein Mitgefühl ausgedrückt hatte.
Harm nippte am Rotwein. Er mochte den pelzigen Geschmack auf der Zunge, die angenehm warmen Strahlen der Junisonne in seinem Gesicht, die kühlen Wasser der Banquière um seine Füße. Natürlich konnte diese Reise ihn nicht glücklich stimmen, das hatte er auch gar nicht erwartet. Aber er war zur Ruhe gekommen. Das Gefühl des Getriebenseins hatte er irgendwo auf der Autobahn überholt und abgehängt. Inzwischen hoffte er sogar, so etwas wie Frieden in sich zu finden, wenn alles erledigt wäre. Er gönnte sich einen kräftigen Schluck und den luxuriösen Versuch, einige Augenblicke lang an rein gar nichts mehr zu denken. Gérard, der mindestens drei Gläser Rotwein in kühnem Tempo geleert hatte, gab sich einer ähnlichen Taktik hin, stieß im Schlaf allerdings ab und an prustende Gurgellaute aus. Eine milde Brise trug den betörenden Duft des Lavendels hinunter ans Ufer, und Harm beobachtete, wie sich die Sonnenstrahlen in einem kleinen Regenbogen über dem Wasser brachen. Er wackelte mit den Zehen und schien dabei flüssiges Gold auf seiner Haut zu verteilen.
Auf der anderen Seite des Flusses zog etwas an den Schilfstängeln, die sich zwischen einigen Astern ans Wasser gedrängt hatten. Harm kniff die Augen zusammen. Er hatte einen Fisch in Verdacht, eine Forelle vielleicht oder einen Hecht. Das Ruckeln und Zupfen hörte nicht auf. Jetzt spritzte Wasser, und Harm glaubte, eine Flosse erkannt zu haben. Er stellte sein Glas zurück auf das Tablett und glitt langsam das steinige Ufer hinab ins kühle Wasser. An dieser Stelle reichte die Banquière bis knapp über seine Knie. Harm spürte, wie das Wasser gemächlich zwischen seinen Beinen hindurchströmte und die Waden streichelte, wie seine Shorts sich vollsogen. Er balancierte über die glitschigen, glatt geschliffenen Steine am Grund. Das Schilf zuckte noch immer. Inzwischen erkannte er, dass sich ein Netz zwischen den Halmen verfangen hatte, feinmaschig und grün, so wie sie es hier in der Gegend bei der Olivenernte einsetzten.
Mit einem weiteren großen Schritt erreichte er das andere Ufer. Das Netz hatte sich in Ästen verfangen, die im Wasser trieben. Zudem hing es an einem Stein fest. Harm zog vorsichtig und hielt plötzlich eine Forelle in der Hand. Zu klein, um geangelt zu werden. Zu jung, um an diesem Müll zu verrecken. Er fischte sein Taschenmesser aus der Hosentasche, zerschnitt das Netz und entließ den Knirps in sein Element. Dann zog er kräftig, zerrte und riss an den Enden des Netzes, klaubte die Äste zusammen und trug das Bündel zurück ans Ufer. Wenn man überlegte, wie viele Hunderte von Kilometern an Netzen jährlich während des Fischfangs auf hoher See verloren gingen und fortan als Geisternetze die Ozeane vermüllten und Fische qualvoll verenden ließen, war dies sicher nicht einmal der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Aber ein kleiner Glücksgriff für eine junge Forelle.
»Papa!«
Harm sah auf. Ein Junge wetzte vom Walnussbaum auf der anderen Seite des Hauses auf sie zu. Harm schätzte ihn auf etwa acht Jahre. Er fuchtelte mit den Armen und schien sehr aufgeregt zu sein.
»Papa!«
Harm wuchtete das Bündel seiner guten Tat ans Ufer und rüttelte an Gérards Bein.
Der Junge rief jetzt lauter. »Papa!«
Gérard schlug die Augen auf und blinzelte benommen. »Oui, oui … de quoi?« Er wälzte sich umständlich über seinen umfänglichen Bauch auf die Knie. Der kleine Junge stolperte japsend in seine Arme.
»Papa! Bienen, ein ganzer Schwarm, es sind unglaublich viele, ich habe sie gerade gesehen, sie sitzen vorne im Olivenbaum, um den großen Ast und am Stamm, es sind so viele, Papa, sie …«
Der Junge erzählte in einem derart halsbrecherischen Tempo, dass Harm schmerzlich bewusst wurde, wie viel Rost sein bilingual erworbenes Französisch angesetzt hatte.
»Ein Bienenschwarm?« Gérard unterbrach den Redefluss seines Sohnes. »Wirklich? Wo kommt der denn her?« Er rieb sich die Augen und klopfte mit den Fingern gegen seine Wangen. »In Ordnung. Los, Olivier! Hol eine Kiste aus dem Schuppen. Wir treffen uns vorne.«
Gérard sprang mit einer Behändigkeit auf die Füße, die Harm ihm nicht zugetraut hätte.
»Komm.« Er reichte ihm die mächtige Hand mit dem Kronentattoo auf dem Zeigefinger, zog ihn rauf auf das Ufer und rief: »Lass uns Bienen jagen!« Er hieb Harm auf das Schulterblatt, dass er befürchtete, es würde sich vorne auf seinem Brustkorb durchdrücken. Dann trabte er los. Harm stolperte hustend hinter ihm her.
Sie liefen unter den alten Apfelbäumen entlang, umrundeten das Steinhaus, die Hochbeete voller Tomaten und die zwei hölzernen Schuppen, die Gérards Imkerausrüstung beherbergten. In gebührendem Abstand zur ausladenden Krone des Olivenbaums stoppten sie schließlich. Gespannt suchte Harm die graugrünen Blätter ab.
»Sieh an.« Gérard deutete auf einen der knorrigen Äste. »Sie sind schon zur Ruhe gekommen.«
Endlich entdeckte Harm die seltsame Verdickung an der Gabelung einiger Zweige. Ein alter, brauner Stofflappen, den jemand kunstvoll drapiert hatte. Erst bei näherer Betrachtung erkannte er das Wuseln Tausender Bienen, die in einer engen Traube übereinanderher krabbelten.
»Ich verstehe das nicht.« Gérard band seine schulterlangen Haare zu einem Pferdeschschwanz zusammen, damit keine der Bienen sich darin verirrte. »Ich habe die Völker gerade erst kontrolliert und keine Schwarmzelle entdeckt. Natürlich könnten so viele Bienen auf einer Wabe gesessen haben, dass sie die Schwarmzelle verdeckten. Aber, hm … so richtig vorstellen kann ich mir das nicht. Wenn wir sie eingefangen haben, werde ich das überprüfen. Es kann aber natürlich auch ein fremder Schwarm sein, oder sie kommen von nebenan …«
»Du meinst, sie gehören eigentlich Arthur?« Olivier parkte die Schubkarre, in der er einen großen Holzkasten transportierte, neben seinem Vater.
Gérard strubbelte ihm durch die Haare. »Wir werden sehen. Ich führe später mal ein nachbarschaftliches Gespräch mit dem alten Griesgram. So von Imker zu Imker. Jetzt aber fangen wir die kleinen Scheißerchen erst mal ein. Harm, würdest du Olivier helfen, den Kasten unter den Schwarm zu heben?«
»Klar.« Harm lächelte Olivier an. »Kriegen wir hin, oder?«
Olivier nickte begeistert. »Das ist schon der vierte Schwarm, den ich einfange!«
»Ernsthaft?« Harm nickte anerkennend. »Dann musst du gut aufpassen und mich einweisen. Ich bin blutiger Anfänger.«
»Klar.« Olivier lächelte. Er öffnete den Deckel des Holzkastens und hob ihn an der einen Seite an. Harm griff nach den gegenüberliegenden Ecken, und gemeinsam schlichen sie hinter Gérard her, der sich eine Sprühflasche mit Wasser aus der Schubkarre geschnappt hatte.
Je näher sie sich an die Bienen heranpirschten, desto eindringlicher dröhnte das Summen ihrer unzähligen Flügel. Harm konnte jetzt einzelne Tiere erkennen, die in Dutzenden von Schichten übereinanderwimmelten. Gérard zückte die Sprühflasche und bedeckte den Schwarm mit einem zarten Nebel.
»So«, wisperte er, »das sollte reichen, um sie ruhig zu halten. Hebt den Kasten jetzt hoch.«
Harm und Olivier platzierten die Kiste direkt unter den Bienen.
»Gut festhalten«, raunte Olivier.
Harm nickte.
»Alors.« Gérard hob den Arm. Und riss am Ast.
Die Bienentraube purzelte mit einem dumpfen Knall in die Holzkiste. Sofort besprühte Gérard sie mit Wasser.
»Wartet. Ich fege die Übrigen auch noch hinein.«
Mit einem kleinen Handbesen, der Harm bislang gar nicht aufgefallen war, strich Gérard vorsichtig vorne über den Ast. Dann geschah alles sehr schnell.
Gérard hatte übersehen, dass sich ein Teil der Bienentraube auf der Rückseite des dicken Asts gesammelt hatte. Als er Harm und Olivier mit der Kiste an den vermeintlich richtigen Platz dirigierte, um mit dem Besen die restlichen Tiere hineinzufegen, touchierte er die hintere Gemeinschaft. Wie ein Stück Fallobst plumpsten die Bienen auf den Boden – genau an die Stelle, an der sich Harms noch immer nackter, linker Fuß befand. Er schrie auf, stieß den Kasten in Oliviers Arme. In einer fließenden Abwärtsbewegung fiel der Junge mit der Kiste in die Schubkarre. Die Bienen stoben auf. Harm tanzte um den Olivenbaum. Er schlenkerte mit den Füßen und schüttelte seine Beine. Gérard griff nach dem Deckel und drückte ihn auf den Kasten. Viele Bienen waren bereits entwischt. Sie surrten in einer dunklen Wolke zwischen den Blättern des Olivenbaums. Olivier weinte. Er hatte seine Hand zwischen Kiste und Schubkarre eingeklemmt.
»Scheiße!« Harm versuchte verzweifelt, die Bienen von seinen Füßen, Beinen und Händen zu schütteln. »Fuck!«
»Zum Fluss!« Gérard klemmte sich Olivier unter den Arm und setzte zum Spurt über die Streuobstwiese an.
Harm rannte hinter ihnen her. Er flog zwischen den Apfelbäumen hindurch, sprang vom Flussufer auf einen der großen Felsbrocken im Wasser und rutschte von dort in die kühlen Strudel der Banquière.
Ich komme hier nicht mehr raus. Plötzlich war dieser Satz in meinem Kopf. Er plusterte sich auf wie die Wolken vor einem Sturm. Groß und dunkel, theatralisch drohend. Ich komme hier nicht mehr raus. Noch bevor ich den Gedanken bis zu seinem Punkt gedacht hatte, nestelte ich bereits an der Schnalle meines Gurtes. Ich riss sie auf, stützte die Hände auf den viel zu eng angeordneten Lehnen ab, kletterte über Christophers Beine und stolperte den Gang entlang zum hinteren Einstieg des Flugzeugs. Die gewölbten Wände schienen sich zusammenzuziehen, ich fürchtete, ersticken zu müssen.
»Kann ich Ihnen helfen?« Eine Flugbegleiterin stellte sich mir im Gang entgegen.
»Mir geht’s nicht gut«, stammelte ich. Schweiß sammelte sich auf meiner Stirn. Die Angst wuchs, wuchs in rasender Eile.
Die Flugbegleiterin schob mich in den winzigen Toilettenraum. Ich keuchte. Wände. Vor mir. Neben mir. Ich konnte meine Arme nicht ausstrecken, ohne gegen Halterungen und Aschenbecher zu stoßen. Das Stahlkorsett des Flugzeugs schien mich zu erdrücken. Ich stützte mich auf dem Waschbecken ab, doch meine buttrigen Arme gaben nach. Ungelenk rutschte ich auf den Toilettendeckel.
Viel zu hektisch hechelte ich viel zu flachen Atem in meine Lungen und wieder hinaus. Was um alles in der Welt war los? Was geschah mit mir? Ich komme hier nicht mehr raus.
Das Gefühl aus dem Badezimmer heute Morgen fiel mir ein. Die plötzliche Angst beim Duschen. Aber das war nichts im Vergleich zu den Symptomen jetzt! Und sie verstärkten sich.
Meine Hände zitterten. Das T-Shirt klebte in fetten feuchten Flecken an meinem Körper. Ich schwitzte nicht einfach, ich zerfloss. Ein Strudel schien sich von meiner linken Bauchseite aus über meinen ganzen Körper zu drehen. Ich fühlte mich heiß und rot und panisch. Meine Organe pulsierten.
»Müssen Sie sich übergeben?«
Ich schüttelte den Kopf.
Die Flugbegleiterin bugsierte mich um die Ecke auf einen der Notsitze und zwängte eine Papiertüte in meine Hände.
»Atmen Sie da hinein«, befahl sie. »Reisen Sie allein?«
»Sie gehört zu mir.« Ich hörte Christophers Stimme aus dem Off. Kurz darauf kniete er neben mir. »Anna, mein Gott, was ist denn los?«
Er wischte mit den Daumen Tränen von meinen Wangen, die ich nicht spürte. Ich atmete in die Tüte. Ein und aus. Konzentrierte mich auf meinen Atem. Ein und aus. Ich spürte nichts. Gar nichts. Außer Angst. Eine rasende Panik, die sich steigerte, intensivierte, potenzierte, anschwoll, die mich zu verschlingen drohte. Ich konnte nichts mehr denken, nichts mehr fühlen. Außer: Ich muss hier raus!
Ich sprang auf und stürzte zur Tür. Sofort rissen stählerne Ketten an meinen Armen, und mehrere Flugbegleiterinnen nötigten mich zurück auf meinen Sitz.
»Ich halte das nicht aus!«
Die Angst war ein Tiger und bleckte ihre scharfen Eckzähne. Ich wusste, sie würde mich zerreißen.
»Sie hat eine Panikattacke«, informierte jemand Christopher. Und an mich gewandt: »Möchten Sie aussteigen?«
Eine halbe Stunde später kauerte ich auf der Umrandung des Gepäckbands Nummer 3 am Aéroport Nice Côte d’Azur. Ich ankerte meinen Blick an einem quadratischen Stück Himmel, das durch das Fenster einer Tür schimmerte. Kreuzte jemand diesen Ausblick, bebte mein Herz. Verharrte jemand vor der Tür, sprang ich auf, zwängte mich an der Person vorbei und eroberte meine Aussicht zurück. Nur der Hauch des Gefühls von Eingesperrtsein ließ die Angst von der Leine. Ich hatte Angst vor der Angst. Es war zum Verrücktwerden!
Angestrengt versuchte ich, mich auf organisatorische Fragen zu konzentrieren: Was sollte ich jetzt tun? Wohin konnte ich gehen? Wie um alles in der Welt kam ich nach Hause? Aber meine Gedanken sprangen und kehrten ständig zu dem unfassbaren Ereignis zurück, dessen Beginn kaum eine Stunde zurücklag, mein Leben aber in seinen Grundfesten erschütterte.
Die Flugbegleiterin hatte mich gedrängt, eine Entscheidung zu treffen. Der Flug musste pünktlich starten. Entweder ich nahm wieder meinen Platz ein, oder ich stieg aus. Christopher streichelte meine Hände und versuchte, mich zu beruhigen, aber ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, in dieser Blechröhre ausharren zu müssen.
»Dann steigen Sie also aus.« Die Flugbegleiterin griff nach dem Bordtelefon.
»Wir steigen beide aus«, sagte Christopher.
»Aber der Pitch!« Es konnte doch nicht alles umsonst gewesen sein! Christophers monatelanger Verzicht auf Urlaub, die unzähligen Vorbereitungsnächte im Büro, all die Stunden vor dem PC hier in Frankreich, der Gesetzesbruch auf der Jagd nach dem Handy, unsere halsbrecherische Taxifahrt von der Villa Claire zum Flughafen. »Du musst dich vorbereiten, alles überarbeiten …« Meine Stimme klang, als spräche sie jemand anderes. »Lass mich allein aussteigen. Wenn ich mich beruhigt habe, nehme ich einen anderen Flug.«
»Sie müssen sich jetzt wirklich entscheiden!« Die Flugbegleiterin wedelte mit dem Hörer. »Der Pilot erhält gleich die Freigabe zum Start!«
»Ich will raus!«
Jemand rief einen Krankenwagen und öffnete die Tür für die Sanitäter. Warme Luft streichelte mein Gesicht, und ich holte Luft, klammerte meinen Blick an das Draußen, den blauen Himmel, ans Flughafengebäude, Koffer auf Anhängern. Die Sanitäter maßen den Blutdruck und leuchteten in meine Pupillen. Ich spürte, wie mein Körper sich ein wenig entspannte.
»Mach dir keine Sorgen«, hörte ich mich sagen, als Christopher mich zum Abschied umarmte, »ich komme schon klar. Ich brauche nur ein bisschen Ruhe und Zeit. Dann nehme ich den nächsten Flieger.«
Den nächsten Flieger? Sicher. Das hatte ich gesagt. Geglaubt hatte ich es nicht.
Die Sanitäter entluden mich nach dem Ausfüllen eines dreiseitigen Berichts für meine Krankenkasse in der Gepäckhalle. Doch selbst hier bedrängte mich das Gefühl, die Decke hänge viel zu niedrig und drohe mich zu zerquetschen. Nur der rettende Blick auf mein kleines Stückchen blauen Himmel verknüpfte mich mit der realen Welt und bändigte die Angst in mir.
»Madame?« Ein Mann in gelber Warnweste trat aus der Tür neben dem kleinen Schalter an der Seite des Gepäckbands. »Ist das hier Ihr Gepäck?«
Ich drehte mich um und starrte entgeistert auf Christophers silbernen Hartschalenkoffer. Man hatte unsere Reisetaschen vertauscht! Nicht genug, dass wegen der allgemeinen Terrorgefahr mit jedem Passagier immer auch ein Gepäckstück das Flugzeug verlassen musste – jetzt reiste ich zudem mit Christophers schmutzigen Unterhosen, seinem Nasenhaartrimmer und einem Paar Badelatschen in Größe 46.
»Madame? Ist alles in Ordnung?« Der Mann sah mich mitfühlend an.
»Nein!« Ich blinzelte trotzig ein paar Tränen weg. Ich wollte ihm entgegenschleudern, dass ich gerade im Flugzeug eine Panikattacke gehabt hatte und noch vor dem Start aussteigen musste. Dabei war ich schon um die halbe Welt geflogen und hatte es immer geliebt! Keine Ahnung, warum das gerade passiert war oder wieso ausgerechnet jetzt, und wie ich nach Hause kommen sollte, wusste ich auch nicht, allein die Vorstellung, in ein anderes Flugzeug zu steigen, löste eine erneute Panikattacke in mir aus, mein Herz raste noch immer, als ob ich einen Marathon gelaufen wäre, und die Angst klammerte sich an jede Faser meines Körpers, am liebsten hätte ich mich mitten in die Halle gestellt und geheult! Und da kam er und überreichte mir feierlich den klobigen Schmutzwäschekoffer meines Freundes, und ich war hier ganz allein mit meiner Angst. Nein, ich glaubte mit Bestimmtheit sagen zu können, dass mit mir absolut nichts in Ordnung war!
Der Mann schaute mich an wie ein verletztes Katzenbaby. »Das wird schon wieder.« Er tätschelte meinen Arm und schenkte mir ein zuversichtliches Lächeln, bevor die Flughafenarchitektur ihn verschluckte.
Ich brauchte einen Moment. Einen erneuten Blick auf das quadratische Stückchen Blau. Dann machten der Koffer und ich uns auf den Weg.
Gläserne Schiebetüren spuckten uns in die kleine Flughafenhalle. Wir landeten in einem Strom aus Menschen, der sich gleichzeitig in alle Richtungen zu bewegen schien. Die Hitze roch nach abgestandenem Schweiß. Ein Baby schrie. Vier Teenager machten lautstark Faxen für ein Selfie. Ein grauhaariger Mann mit Schnauzbart pfiff winkend einen uniformierten Busfahrer herbei. Eine Frau im Kostüm rempelte mich an.
»Pardon!« Sie schob sich an mir vorbei, gefolgt von einer vielköpfigen Reisegruppe, die mich an den Rand der Absperrung drängte. Lautes Lachen. Ein Stimmengewirr wie beim Turmbau zu Babel. Ich klammerte mich an den Koffer. Türen öffneten sich. Menschen flossen in die niedrige Halle mit einer Decke aus weißen Platten. Türen schlossen sich. Alle schubsten und hetzten in Richtung eines undefinierbaren Ziels. Niemand schien sich etwas dabei zu denken. Alles lief ganz normal.
Aber in meinen Ohren rauschte es.
Ich fühlte mich – gehäutet. Wie eine geschälte Frucht. Roh. Schutzlos. Nackt. Etwas in mir hatte sich durch die Panikattacke verschoben. Die Welt drehte sich ganz normal weiter, die Menschen strebten und fühlten wie immer. Nur ich gehörte auf einmal nicht mehr dazu. Ich schwang nicht mehr im Rhythmus.
Da stürmte der Gedanke zurück in meinen Kopf: Ich muss hier raus! Und ich reagierte augenblicklich. Christophers Koffer wie einen Rammbock vor mir herstoßend, bahnte ich mir einen Fluchtweg aus der Halle. Mein Herz schlug hart, ich kämpfte mich gegen den Strom, durch Reisegruppen, Familien, Paare hindurch. Raus aus dem Gebäude. Hinaus auf den Vorplatz. Mitten durch die Massen. Bis vor eine fast vier Meter hohe Buchstaben-Skulptur: #IloveNice. Was für eine Farce!
Ich trat einen Schritt zurück und atmete tief durch. Die Sonne sandte gleißende Strahlen vom Côte-d’Azur-blauen Himmel. Aber wenigstens komprimierte der offene Platz den Schweiß nicht mehr zu einer ranzigen Dauerschleife. Ich beruhigte mich ein wenig. Zwischen mir und dem Inneren des Flughafens lagen Dutzende von Metern. Ich hatte es nach draußen geschafft!
Erleichtert hockte ich mich auf den Sockel der Plastik, die in den französischen Nationalfarben erstrahlte. Ich sollte versuchen, mich zu sammeln und irgendwie ruhiger zu werden. Ein Plan musste her. Ich brauchte eine Idee, wie es jetzt weitergehen sollte.
Am Rand des Platzes teilten sich zwei kleine Foodtruck-Cafés die Kundschaft. Ich bat die Frau, die am roten N lehnte, kurz auf meinen Koffer aufzupassen, und kaufte eine Cola. Wieder zurück spülte ich das eiskalte Zuckerwasser in einem Rutsch herunter. Die Nerven in meinem Körper schrien Hallo wach!, und ich fühlte mich zum ersten Mal seit Stunden wie ich selbst. Ein Anfang.
Ich zog mein Handy aus dem Rucksack. Es war 13:17 Uhr. Eine Stunde seit mein Leben implodiert war. Unfassbar. Von allen schrecklichen Dingen, die passieren könnten, wäre mir eine Panikattacke im Flugzeug niemals in den Sinn gekommen. Und doch fiel mir im Moment nichts ein, was schlimmer hätte sein können.
Ich versuchte, mich zu konzentrieren, und googelte nach Flügen. Nizza – Hamburg. Um 15 Uhr würde Scandinavian Airlines starten. Mit einem Stopp in Kopenhagen wäre ich um 22:35 Uhr zurück in Deutschland, und Christopher könnte mich vom Flughafen abholen. Die nächsten Direktflüge gingen erst morgen Vormittag und waren bereits beide ausgebucht. Ich starrte auf den Bildschirm.
»Ich kann nicht fliegen.«
Die Frau neben mir sah mich fragend an. Ich schüttelte den Kopf.
»Ich kann nicht fliegen«, flüsterte ich meinem Handy zu und schloss die Augen. Tränen tropften auf den Bildschirm. Allein die Vorstellung, mich auf einen Platz im engen Flugzeug zu quetschen, zu beobachten, wie die Flugbegleiterinnen die Türen schlossen, zu wissen, dass wir hoch in den Himmel abheben würden, dass es keinen Weg für mich geben würde, irgendwie zu entkommen … Ich schnappte nach Luft. Was für ein Albtraum! Fliegen war keine Option. Aber wie um alles in der Welt sollte ich nach Hause kommen?
Ich lehnte mich gegen den warmen Kunststoff des #-Zeichens. Die Menschen um mich herum zogen, zerrten, schoben und schleppten ihr Reisegepäck über den Platz. Ein kleines Mädchen in gelben Clogs fuhr auf einem knallroten Rollkoffer wie mit einem Bobbycar im Kreis herum. Eine junge Frau im Cosplay-Kostüm mit hellblauen Zöpfen skatete elegant auf in ihren Sneaker eingelassenen Rollen durch die pulsierende Masse. Ein Typ in Jeans und T-Shirt trottete barfuß über die heißen Steinplatten. Seine Füße wirkten seltsam voluminös, wie die Modelle von Hobbit-Füßen, die ich mal in einem Making-of gesehen hatte. Ich schüttelte erneut den Kopf. Wie grotesk! Zumal nur wenige Meter neben dem einen Foodtruck jetzt ein älteres Paar begann, Foxtrott zu tanzen. Das gab es doch gar nicht! War ich verrückt geworden? Oder traf das eher auf den Rest der Welt zu? Ich wollte nach Hause! Ich wollte zu Christopher! Zu meinem Vater! In unsere Wohnung! Aufs Sofa! Unter meine Bettdecke! S-o-f-o-r-t!
»Nein, das ist es nicht.« Harm schob das Paket mit dem unleserlichen Etikett zurück über den Tresen. »Dubaiische Briefmarken.«
Der missmutige Zollbeamte runzelte die Stirn. Seine Mundwinkel zogen die Spitzen des braunen Schnauzbarts derart nach unten, dass es schien, als trüge er ein Hufeisen im Gesicht. Kein Wunder, dass er schlecht gelaunt war, wo das Glück ihm doch stets entglitt.
»Monsieur, wir haben kein anderes Paket.« Der Zollbeamte streckte Harm seinen Ausweis entgegen.
»Bitte. Schauen Sie noch einmal nach. Es muss da sein. Etwa fünfzig Zentimeter breit und dreißig Zentimeter hoch. Vielleicht summt es.«
»Pardon?«
»Bienen. Es sind Bienen drin.«
»Lebende Bienen?«
»Das hoffe ich sehr.«
Der Zollbeamte rollte mit den Augen. »Warum sagen Sie das nicht gleich? Tiere lagern in einem anderen Raum.«
Er schnappte sich Harms Ausweis und verschwand hinter der rechten Seitentür. Harm seufzte. Er zog sein Handy aus der Jeanstasche.
Und?
Ich warte noch. Mach dir keine Sorgen.
Es muss da sein!
Ja, Uwe, wird es auch.
Harm steckte das Handy zurück in die Hose und kratzte sich am rechten Fuß. Er hatte in der Tat zweiundvierzig Bienenstiche abbekommen. Einige wenige an Händen und Armen, die restlichen hatten seine Beine und vor allem die Füße in eine Kraterlandschaft verwandelt. Das Schlimmste aber war: Es juckte! Trotz der Salben, die Gérard ihm zentimeterdick auf die Haut gekleistert hatte, trotz des Antihistaminikums, das er jetzt schon zweimal geschluckt hatte, und obwohl sie mühevoll alle Stacheln mit Lupe und Pinzette herausgezogen hatten. Es juckte. Die ganze Zeit. Ohne Unterlass. Ein Gefühl zum Durchdrehen.
Harm schlug mit der flachen Hand auf seine Fußrücken, um die wunde Haut durch das Kratzen nicht noch mehr zu reizen.
»Monsieur?« Der unglückliche Zollbeamte beäugte Harm misstrauisch. »Sie tragen keine Schuhe.«
»Das stimmt. Haben Sie mein Paket gefunden?«
»Einen Moment bitte.« Der Zollbeamte stellte den Karton neben seinen PC und hämmerte in die Tasten. Zwischendurch warf er Harm undurchschaubare Blicke aus zusammengekniffenen Augen zu. Harm rieb einen Fuß am Hosenbein.
Die Tür öffnete sich, und ein Soldat in voller Montur erschien, das Sturmgewehr im Anschlag über der schusssicheren Weste. Harm musterte ihn skeptisch. Kommentarlos untersuchte der Soldat das Paket. Nach einigen Minuten hob er es hoch und schob es Harm über den Tresen zu.
»Aufmachen.«
»Es sind nur Bienen.«
»Aufmachen.«
»Haben Sie ein Messer?«
»Was?«
Der Soldat hob das Gewehr.
»Bitte!« Harm hob die Hände. »Ich weiß nicht, wie ich die Klebestreifen sonst öffnen soll.«
Auf ein Kopfnicken des Soldaten hin, eilte der unglückliche Zollbeamte herbei und arbeitete sich mit einem Taschenmesser am Deckel des Kartons ab. Uwe hatte es gut gemeint mit der Verpackung. Harm hoffte nur, er hatte keine seltsame Überraschung im Inneren versteckt.
»Voilà!« Mit einem stolzen Lächeln schob der Zollbeamte nach einer Weile das Paket vor den Soldaten, der es gleich zu Harm weiterschob.
»Aufmachen.«
Harm hob den Deckel an. Der Soldat richtete seine Waffe auf ihn. Mit zittrigen Fingern zerrte Harm einige zerknäulte Zeitungsseiten heraus. Ein knisterndes Rascheln erfüllte den Raum. Behutsam platzierte er Stück für Stück Verpackungsmüll auf dem Tresen. Dann vernahm er ein zartes Summen. Vorsichtig, nur mit Daumen und Zeigefinger zog Harm eine kleine, vergitterte Holzschachtel heraus und legte sie behutsam neben das Paket. Danach eine weitere. Und noch eine. Schließlich krabbelte es in neun Boxen. Harm blickte den Soldaten an, der jede seiner Bewegungen verfolgt hatte.
»Okay?« Harm trat mit beschwichtigend erhobenen Händen einen Schritt zurück.
»Sie tragen keine Schuhe.«
»Bienenstiche.«
Der Soldat beugte sich ein wenig über den Tresen. Ein Grinsen umspielte seinen linken Mundwinkel. Abrupt wandte er sich ab und verschwand ohne ein weiteres Wort durch die rechte Seitentür.
Ich betrachtete die Sandalen an meinen Füßen und fragte mich, wie weit sie mich tragen würden. Sicher nicht bis zurück nach Hamburg. Wahrscheinlich nicht einmal bis in die Innenstadt von Nizza. Zumindest nicht ohne Blasen. Ich war am Aéroport Nice Côte d’Azur gestrandet.
Fliegen schied definitiv aus. Meinem Gefühl nach nicht nur jetzt, sondern für alle Zeit und jemals. Für Busse und Bahnen galt das Gleiche. Ich konnte mir nicht vorstellen, in ein Fahrzeug einzusteigen und nicht mehr hinauszukönnen. Egal wie nah die nächste Station lag. Was, wenn die Panik zurückkehrte?
Die ersten Schweißtropfen sammelten sich in der Kuhle des BHs zwischen meinen Brüsten. Am Rücken klebte das T-Shirt fleckig an meiner Haut. Die Sonne stand fast senkrecht über uns. Da konnte auch der Schatten des #-Zeichens nichts ausrichten.
Ich musste eine andere Lösung finden – Kutsche oder Schlitten klangen gut. Ich seufzte. Zurzeit traute ich mir nicht einmal zu, einen Mietwagen zu leihen. Man stelle sich vor: Mitten auf der Autobahn überfiel mich die Panik. Was dann? Und überhaupt: Autobahn. Ich müsste Lastwagen überholen, klemmte vielleicht zwischen zwei Wohnmobilen fest, könnte nicht einfach abbiegen, müsste immer auf die nächste Ausfahrt warten. Ich käme genauso wenig raus wie aus dem Flugzeug.
Dennoch schien mir ein Auto die einzig irgendwie denkbare Möglichkeit zu sein. Ich könnte Mautstraßen meiden und gemächlich über kleinere Landstraßen tuckern. Das würde zwar länger dauern, aber letztlich plusterte sich hier nicht die Zeit als mein größter Gegner auf. Ich hatte noch den ganzen Rest des Samstags plus den Sonntag plus die zwei Nächte dazwischen, bevor ich um 8 Uhr am Montagmorgen wieder im Büro sein musste. Das sollte ja wohl machbar sein, wenn, ja, wenn ich denn Auto fahren könnte.
Nachdenklich schaltete ich das Handy ein und rief Christopher an. Seine vertraute Stimme forderte mich auf, eine Nachricht zu hinterlassen. Ich hörte mir auch noch die englische Version an. Es würde noch Stunden dauern, bis er in Hamburg landete. Aber vielleicht meldete er sich beim Umsteigen in Frankfurt. Sicher würde er das tun. Und bis dahin? Ich konnte schlecht auf diesem Sockel hocken bleiben und warten, dass Christopher mich abholte. Nein. Bestimmt nicht. Das nicht. Aber vielleicht … vielleicht holte mich jemand anderes ab. Jemand mit einem Auto. Jemand, der mich mitnehmen konnte.
Ich googelte nach Mitfahrzentralen. Tatsächlich gab es einige. Ich entschied mich für das erste Ergebnis und tippte meine Wunschroute ein. Sofort ploppten mehrere Angebote auf. Giselle bot eine Mitfahrgelegenheit von Nizza nach Antibes an. Ein Blick auf die Landkarte offenbarte, dass ich mich damit keine dreißig Kilometer vom Platz bewegen und zudem in die falsche Richtung reisen würde. Felix offerierte einen Beifahrerplatz nach Freiburg. Immerhin wäre ich dann schon mal in Deutschland. Allerdings – müssten wir dafür nicht die Schweiz durchqueren? Und bestand die Schweiz nicht ausschließlich aus Bergen, ergo aus Tunneln? Neben Flugzeugen schienen mir Fahrstühle, Kreuzfahrtschiffe und Tunnel gerade in derselben Liga zu spielen. Nirgendwo kam ich raus. Eine entsetzliche Vorstellung.
Harm steuerte mit großen Schritten auf die Drehtür zu. Das Bienenpaket unter dem Arm, drückte er mit der freien Hand auf einen breiten Griff in der Mitte der Glasscheibe. Nichts tat sich. Er drückte stärker, und die schwergängigen Flügel machten einen Satz. Harm zwängte sich und die Bienen in ein freies Viertel. Wieder stoppte die Tür. Er hob das Paket über den Kopf, drehte sich um und presste Rücken und Po gegen den vorderen Flügel. Das Bodengitter drückte in seine Fußsohlen. Erst passierte gar nichts. Dann sprang die Tür in eine schnelle Drehung. Harm trippelte, um die Balance zu halten, fasste nach dem Griff, taumelte nach hinten und schrie auf, als der hintere Flügel der Drehtür über seine geschwollenen Zehen schabte. Er stolperte rückwärts aus dem Zollbereich, das Paket mit den Bienen eng an sich gedrückt.
»Verdammt!« Er stellte das Paket auf den Boden und strich vorsichtig über den roten Striemen, der sich quer über alle zehn Zehen zog. »Fuck!« Harm unterdrückte die aufsteigenden Tränen. Aus Trauer zu weinen war okay, nicht aus Wut.
Er klemmte sich die Königinnen unter den Arm und tapste vorsichtig über die heißen Steinplatten auf die kleinen Imbissbuden am Rande des Vorplatzes zu. Neben einem älteren Paar war noch ein Stuhl frei. Harm plumpste auf die Sitzfläche und streckte die Beine aus.
Er konnte so nicht weiterreisen. Ein Blick auf seine monströsen Füße führte ihm das überdeutlich vor Augen. Es ging einfach nicht. Der Schwindel und die Übelkeit, die ihn gleich nach dem Schock über die vielen Stiche überkommen hatten, waren zwar abgeklungen, aber er fühlte sich alles andere als fit. Außerdem hatte die Barfußfahrt entlang der schmalen Serpentinen von Tourrette-Levens über die verstopften Viadukte von Nizza ihm klargemacht, wie gefährlich und schmerzhaft es sein konnte, ohne Schuhe auf – und vor allem zwischen – Gaspedal, Bremse und Kupplung zu treten.
»Würden Sie wohl kurz auf mein Paket achtgeben?« Harm lächelte dem älteren Paar zu. Sie wirkten vertrauenswürdig. Die beiden nickten, und Harm kaufte sich an der Bude eine Cola mit extra Eiswürfeln.
Zurück am Platz rieb er das gefrorene Wasser ganz sacht über seine geschwollenen Füße. Die Kälte betäubte den Juckreiz, und Harm entspannte sich ein wenig. Wenn die Cola jetzt noch gegen die dämmrige Müdigkeit half, die die Antihistaminika verursachten, konnte er sich vielleicht Gedanken darüber machen, wie diese Reise für ihn weitergehen sollte. Denn dass sie weitergehen musste, war klar. Nicht nur wegen der Königinnen. Der Weg bis hierher war heilsam gewesen. Aber er brauchte noch ein wenig mehr Zeit.
Sobald er Nizza hinter sich gelassen hätte, die Mautstationen, engen Häuserschluchten, Einbahnstraßen, den ganzen aufgeregten Trubel, könnte er seine Fahrt gemächlich und in aller Ruhe fortführen. Der nächste Imker wohnte eine gute Stunde entfernt in den südlichen Ausläufern der Voralpen, und von dort ging es durch den Parc Naturel Régional du Verdon direkt weiter nach Valensole. Natur und durchatmen.
Aber vielleicht schadete es nicht, wenn er sich zumindest bis dahin Unterstützung suchte. Jemanden, der fuhr, während er seine Füße schonte und die Schönheit der Landschaft genoss.
Harm zog sein Handy aus der Hosentasche, tippte zu Uwes Beruhigung ein »Königinnen wohlauf!« in den Chat und begann zu googeln.
Da war er! Ich hatte ihn gefunden! Mein Ticket nach Hause! Zumindest in die – zugegebenermaßen grobe – Richtung meines Zuhauses: Ein Deutscher namens Harm bot eine Fahrt nach Valensole an, ins Königreich des Lavendels (ich erinnerte mich an die Beschreibung im Reiseführer), etwa drei Stunden in nordwestlicher Richtung. Und das Beste: Er wollte von hier aus starten, vom Aéroport Nice Côte d’Azur. Gesamtpreis für 1 Mitfahrer: 35 Euro. Mitfahrer: max. 2 auf Beifahrersitz und Rückbank. Haustiere nicht erlaubt. Auto: blauer Volvo 940, keine AC. Text: Hallo, ich fahre auf Nebenstraßen von Nizza nach Valensole. Es wäre gut, wenn wir uns beim Fahren abwechseln könnten.
Ich klickte auf Weiter und meldete mich bei der Mitfahrzentrale an. Kurz darauf konnte ich Harm persönlich kontaktieren.
Hallo, ich würde gerne bei dir mitfahren. Wollen wir uns bei der #IloveNice-Skulptur am Flughafen treffen?
Die Antwort kam prompt.
Da bin ich gerade.
Ich blickte irritiert zur Seite. Neben mir saß nach wie vor die Frau vor dem blauen N und tippte mit beiden Daumen auf ihrem Smartphone herum. Konnte ja wohl kaum sein. Harm war ein Männername. Ich stand auf. Der Vorplatz wimmelte noch immer von Menschen. Das kleine Mädchen mit dem roten Rollkoffer konnte ich nicht mehr sehen. Auch die skatende Blauhaarige war verschwunden. Dafür saß der seltsame Barfüßige mit den beiden Tänzern am Monsieur-Albert-Foodtruck. Ich ließ meinen Blick schweifen. Niemand sah auch nur annähernd so suchend aus wie ich. Als ich meine Blickrunde zum zweiten Mal beim Foodtruck begann, lehnte der schuhlose Hippie mit einem Paket am Blumenzaun vor den Café-Stühlen. Er fing meinen Blick ein. Durch Dutzende Köpfe, Rücken, Rucksäcke, Pferdeschwänze sahen wir einander an. Einen Moment lang blieb die Welt stehen. Dann hob der Mann die Hand, versetzte der Welt einen Schubs und winkte mir zu.
Sie schob sich Haarsträhnen hinter das Ohr. Schon zum vierten Mal. Dabei dauerte der Weg, den Harm vom Café der Imbissbude zur #IloveNice-Skulptur zurücklegte, kaum zehn Sekunden.
»Anna?«
Ihre Augen huschten unaufhörlich durch die Menge. Sie schaffte es nicht, ihn anzusehen. Das machte einen ganz nervös. Und: Sie trug Perlenohrringe! Welche Frau in ihren Dreißigern tat das?
»Du bist Harm.«
Er streckte ihr die Hand entgegen. Ihr Griff fühlte sich fest und weich an. Doch trotz der Hitze waren ihre Finger kalt.
»Schön, dich kennenzulernen, Anna.«
Sie lächelte nicht. »Was meinst du, wann wir in Valensole ankommen?«
Harm wuschelte durch die kürzeren Haare in seinem Nacken. »Puh, keine Ahnung. Das kann ich dir nicht so genau sagen. Ich hatte ja geschrieben, dass ich auf kleineren …«
»Ja, sicher, habe ich gelesen. Und das finde ich auch wirklich großartig! Ich muss nur am Montagmorgen wieder bei der Arbeit in Hamburg sein.«
»Flug verpasst?«
Anna zögerte. »Sozusagen.«
»Vielleicht suchst du dir dann lieber jemanden, der direkt durchfährt oder wenigstens bis nach Paris. Valensole ist ja wirklich nur ein kleines Stück vom …«
»Nein! Nein, schon gut. Ich … es ist prima so. Ich möchte wirklich gerne mit dir fahren.«
Anna schulterte ihren Rucksack, drückte einen Knopf auf einem luxuriösen Rollkoffer, und ein langer Teleskopgriff fuhr heraus. Sie wirkte angestrengt patent.
»Okay …« Harm räusperte sich und schob das Bienenpaket unter den anderen Arm. Das hier war eine Schnapsidee! »Kannst du Auto fahren?«
Ihr Blick huschte suchend von einer Seite zur anderen, als müsse sie die Antwort erst einfangen.
»Sicher.«
»Sicher?«
»Sicher!«
Harm schob die Bienen zurück unter den rechten Arm. Worauf ließ er sich da ein? In seiner Vorstellung nutzten Studenten, ökologisch Verantwortungsbewusste und Langstreckenfahrer wie Truckies die Vorteile einer Mitfahrzentrale. Schnöselige Karrierefrauen mit Perlenohrringen und einem Koffer so teuer wie ein Gebrauchtwagen sprengten diese Statistik.
Er nickte Anna zu. »Dann lass uns gehen.«
Harm steuerte um die #IloveNice-Skulptur herum, vorbei an Bus- und Bahnhaltestellen für den Flughafentransfer, überquerte die Straße und erreichte schließlich den langen Zaun, der das dreistöckige Parkhaus einfasste. Schon diese knapp zweihundert Meter Betonwüste führten ihm deutlich vor Augen, warum er die provenzalischen Küstenstädte mied. Grauer Staub, der sich heiß in die Haut brannte. Noch nicht mal zwischen den Plattenritzen wagte sich ein grünes Blatt ins Freie. Was fanden Menschen nur an einem Urlaub an den Steinstränden Nizzas?
Harm trippelte mit seinen nackten Füßen über den glühenden Asphalt. Vielleicht hätte er doch ein Paar Badelatschen einpacken sollen, aber er trug auf Reisen immer Wanderschuhe, was bislang auch immer eine gute Entscheidung gewesen war. Die Stiche juckten. Und zu allem Überfluss schmerzten die Zehen bei jedem Abrollen. Der rote Striemen würde sich in den kommenden Tagen grün und blau verfärben.
Als er sich zu Anna umdrehte, wuchtete sie den klobigen Koffer auf den schmalen Bürgersteig. Sie winkte ihm zu. Noch immer unlächelnd. Ein Glück, dass er auf der Plattform nur die erste Teilstrecke zum Mitfahren angeboten hatte. Das ergab einen lausigen Tag, nicht gleich mehrere. Am späten Nachmittag in Valensole würden sich ihre Wege trennen, und Anna könnte bei einem potenten Cabriofahrer einsteigen und mit vielen Pferdestärken nach Hause brausen. Warum hatte sie sich nicht gleich für eine Zugfahrt entschieden? Oder einen schicken Mietwagen?
Am Eingang zum Parkhaus stellte Harm die Bienen vorsichtig auf den Boden und zerrte das Ticket aus dem Portemonnaie in seiner Jeanstasche. 9 Euro 40. Noch ein Grund, der gegen Tourihochburgen sprach.
Anna erreichte das Parkhaus. »Geh ruhig schon mal das Auto holen.« Ihre Haare klebten nass an den Schläfen. Sie ächzte, als sie den Koffer über die unebenen Pflastersteine auf die Seite des Ticketautomaten rumpelte. Harm schloss kurz die Augen. Ja, er hätte ihr mit dem Koffer helfen sollen. Es war kompliziert, noch bevor es richtig angefangen hatte.
»Ich warte hier auf dich«, sagte Anna jetzt. »Dann muss ich dieses Ungetüm nicht noch weiter durch die Gegend zerren.«
»Ehrlich gesagt dachte ich, du würdest fahren. Das hatte ich ja auch geschrieben.«
»Ja! Ich meine … na klar, mache ich, kein Problem. Wir können ja hier unten tauschen.«
»Es gibt einen Fahrstuhl.« Harm deutete auf die Tür zum Treppenhaus.
Anna riss die Augen auf. »Ich … schon gut. Kein Ding. Ich warte einfach hier.«
Harm musterte sie skeptisch. Irgendetwas stimmte nicht. Ihre Augen standen nie still, blieben nie lang genug an seinem Blick haften, als dass er auch nur hätte erahnen können, welche Farbe sie haben. Worauf hatte er sich hier eingelassen? Anna wirkte fahrig, unkonzentriert, irgendwie abwesend. Dabei redete sie normal, na ja, vielleicht ein bisschen hektisch. Nein. Nicht hektisch. Gehetzt. Als wäre jemand hinter ihr her.
»Dann bis gleich.« Harm schnappte sich die Bienen und fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Er verstaute die Königinnen auf dem Boden des Kofferraums und klemmte sie zwischen zwei Taschen an die Rückbank, damit sie während der Fahrt nicht hin und her rutschten. Auf dem Weg zur Fahrertür trat er auf die Zacken eines Kronkorkens.
»Au!« Harm hüpfte zum Sitz und ließ sich in den Wagen plumpsen. Er tastete seine Fußsohle ab. Aus winzigen Löchern tropfte Blut auf seine Finger.
»Verflucht!« Er schloss die Augen. Tränen sammelten sich ganz unvermittelt unter seinen Lidern. Scheiße, so sah es aus! Perforierte Füße. Perforiertes Herz. Perforierte Seele. Es grenzte an ein Wunder, dass das, was ihn als Mensch zusammenhielt, nicht aus ihm herauspulsierte.