Ai Weiwei spricht - Ai Weiwei - E-Book

Ai Weiwei spricht E-Book

Ai Weiwei

3,8

Beschreibung

Ai Weiwei verkörperte schon vor seiner Verhaftung den Traum von einem anderen China. Im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist entwickelt er seine künstlerischen und politischen Überzeugungen, vor denen sich das Regime in Peking so sehr fürchtet. In fünf Interviews erzählt er von seinem Weg aus der chinesischen Isolation nach New York, von seinen ersten Begegnungen mit der westlichen Kunst und wie er im Laufe der Jahre sein Repertoire von der Zeichnung über die Skulptur und das Design bis hin zur Architektur erweitert hat. Ai Weiweis Kunst ist politisch. Dieses Buch gibt einem großen Künstler, den die chinesische Regierung zum Schweigen bringen will, die Stimme zurück.

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Ai Weiwei / Hans Ulrich Obrist

Ai Weiwei spricht

Interviews mit

Hans Ulrich Obrist

Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn

Mit einem Vorwort von Hans Ulrich Obrist

Carl Hanser Verlag

Titel der Originalausgabe:

Ai Weiwei Speaks with Hans Ulrich Obrist

This collection first published 2011

First published in Great Britain in the English language by the Penguin Group

The acknowledgements on pp. 140 ff. constitute an extension of this copyright page

All rights reserved

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

ISBN 978-3-446-23847-3

This collection copyright © Hans Ulrich Obrist, 2011

Alle Rechte der deutschen Übersetzung: © Carl Hanser Verlag München 2011

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos von © imago/UPI Photo

Layout und Satz: Iris Kochinka, München

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Inhalt

7Vorwort

Gespräche

13Digitale Architektur – analoge Architektur

41Nachhaltigkeit – Ein postolympisches Gespräch

59Die vielen Dimensionen des Ai Weiwei

95Die Retrospektive

131Kartographie

Anhang

140Danksagung

141Bildnachweis

| Bildnachweis |

Vorwort

Mit den Arbeiten von Ai Weiwei kam ich erstmals in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in Berührung. Als ich zusammen mit Hou Hanru unsere Ausstellung Cities on the Move vorbereitete, hielten wir uns in der Schweizer Botschaft in Peking auf, zusammen mit dem damaligen Botschafter Uli Sigg. Uli Sigg ist ein großer Förderer und Sammler zeitgenössischer Kunst, und überall im Botschaftsgebäude fanden sich chinesische Kunstwerke. Seitdem habe ich Ai Weiwei viele Male getroffen, und wir haben über zehn Jahre hinweg immer wieder Interviews geführt. Ai Weiwei arbeitet unablässig daran, den Kunstbegriff zu erweitern: Er ist Künstler, Dichter, Architekt, Kurator, Fachmann für altchinesisches Kunsthandwerk, Verleger, Stadtplaner, Sammler, Blogger und so weiter. Die parallelen Wirklichkeiten in seinem Werk sind höchst vielschichtig, und das macht ihn so einzigartig.

Geboren wurde Ai Weiwei 1957, als Sohn des Dichters Ai Qing, der als einer der bedeutendsten Lyriker des modernen China gilt. 1958 wurde Ai Qing antikommunistischer Umtriebe beschuldigt, erhielt Schreibverbot und wurde in die Provinz Xinjiang verbannt, wo Ai Weiwei seine Jugend verbrachte. Später ging Ai Weiwei dann nach Peking und lernte bei verbotenen Künstlern – Freunden seines Vaters – das Zeichnen. Diese Kunstform wurde für ihn zu einer alltäglichen Praxis, und noch heute hält er viele seiner Ideen mit ein paar schnellen Strichen fest. Ende der 1970er Jahre gehörte er einer Gruppe junger Künstler in Peking an und war bestrebt, seine persönliche und künstlerische Freiheit zu erweitern. 1981 beschloss er, China zu verlassen und nach New York zu gehen. Ai freundete sich mit dem Beatpoeten Allen Ginsberg an und tauchte in die lokale Kunstszene ein. Damals gab er die Malerei auf, weil er erkannte, dass sich ein Künstler jedes Objekts und jedes Mediums bedienen konnte. Er wandte sich der Fotografie zu und bearbeitete mit ihrer Hilfe politische Themen wie die Diaspora chinesischer Künstler in New York. In Amerika schuf er zudem seine ersten Installationen.

1993 erkrankte sein Vater schwer, und Ai Weiwei kehrte nach China zurück; Ai Qing starb 1996. Ai Weiwei begann nun damit, in seinen Kunstwerken über das Spannungsverhältnis zwischen traditioneller Kultur und der sich rasant wandelnden Moderne nachzudenken. Und da es keine Institutionen für zeitgenössische Kunst gab, bemühte er sich auch um die Konstituierung einer lokalen Kunstszene: Er veröffentlichte drei Bücher – The Black Cover Book (1994), The White Cover Book (1995) und The Grey Cover Book (1997) –, die Interviews mit zeitgenössischen chinesischen Künstlern enthielten und ihre Werke vorstellten. Diese Bücher bildeten eine Art Manifest der chinesischen Avantgardekunst. Darüber hinaus arbeitete er als Ausstellungskurator und gründete 1997/98 den alternativen Ausstellungsraum der China Art Archives and Warehouse, das »China Kunstarchiv und Warenhaus«. Davor war Kunst vorwiegend in Hotels, Wohnungen und Rahmengeschäften präsentiert worden.

1999 baute sich Ai Weiwei im Norden Pekings sein eigenes Atelier. Inspirieren ließ er sich dabei unter anderem von einem Buch über das Haus, das der Philosoph Ludwig Wittgenstein 1926–1928 für seine Schwester in Wien entworfen und errichtet hatte. Ai Weiwei entwarf das Atelier selbst, und zwar allein aus praktischen Gründen, doch als es wegen seiner einfachen Strukturen und Materialien große Beachtung und Zustimmung fand, ergab sich daraus für ihn schon bald ein weiteres Tätigkeitsfeld als Architekt; inzwischen hat er über fünfzig Projekte realisiert. Seitdem er zusammen mit dem Schweizer Büro Herzog & de Meuron das Olympiastadion in Peking (2008) entworfen hat, gehört er sogar zu den bekanntesten Architekten Chinas. In seiner Kunst und seiner Architektur verwendet er oftmals ganz einfache Objekte und gibt ihnen dann eine ganz neue Perspektive. Ai Weiweis breitgefächertes Interesse an Kunst, Architektur und Literatur erinnert mich an die großen Künstler der Renaissance.

Im Jahr 2006 begab sich Ai Weiwei auf ein weiteres neues Feld und begann mit seinem Internetblog; die nachfolgenden Gespräche zeigen, wie bedeutsam dieser Schritt war. Ein großes Internetunternehmen bot ihm an, einen Blog zu verfassen, und unterstützte ihn in technischen Fragen. Der Blog entwickelte sich schon bald zu einem täglichen Notizbuch, in dem er auch Tausende von Fotos »postete«, um seinen künstlerischen und privaten Alltag zu dokumentieren – ganz ähnlich seiner Zeichenpraxis in den 1970er Jahren. Jeden Tag besuchten über 100 000 Menschen seinen Blog, bis ihn die Regierung im Mai 2009 sperrte. Anfang 2011 veröffentlichte MIT Press die englische Übersetzung des Blogs; eine deutsche Ausgabe erschien im gleichen Jahr. Es ist ein Buch über Leben und Kultur in China. Es geht darin um Liebe, Sex, Identität, Interviews, Essen, die Spannung zwischen Geschichte und Moderne, die Olympischen Spiele, Musik, Fernsehen, Shoppen, den Tod, die Regierung, Religion und so weiter. Ai Weiwei hat ein schier unglaubliches Netz aus Gedanken und Worten gewoben. Das Bloggen schafft Wirklichkeit, statt sie einfach nur abzubilden. Ai Weiwei gehört zu den kundigsten Führern auf diesem neuen Terrain. Im Lauf der Jahre sind all diese verschiedenen Aktivitäten Teil von Ai Weiweis erweitertem Kunstbegriff geworden. Sein ganzheitlicher Ansatz lässt sich mit dem von Joseph Beuys vergleichen und in dessen Sinne als »Soziale Plastik« betrachten.

In unseren Interviews sprachen wir über all diese Dimensionen seiner Arbeit, aber auch über das, was sie miteinander verbindet. In gesammelter Form bieten diese Gespräche eine Einführung in die bemerkenswerte Vielschichtigkeit des künstlerischen Denkens und Schaffens von Ai Weiwei. In einem dieser Gespräche beschrieb er seinen Ansatz so: »Tatsächlich sind wir ein Teil der Wirklichkeit, und wenn wir das nicht erkennen, sind wir völlig verantwortungslos. Wir sind produktive Wirklichkeit. Wir sind die Wirklichkeit, aber dieser Teil der Wirklichkeit bedeutet, dass wir eine andere Wirklichkeit erzeugen müssen.« Das ist nicht nur ein künstlerisches Statement, sondern auch ein politisches. Es erinnert uns daran, wie essentiell wichtig kulturelles und politisches Handeln in der gegenwärtigen Situation sind.

Als er noch ein Kind war, so hat Ai Weiwei mir einmal erzählt, musste sein Vater sämtliche Bücher, die er besaß, verbrennen. Und als Ai Weiwei 1993 nach China zurückkehrte, begann er sofort Bücher wie das Schwarzbuch, das Weißbuch und das Graubuch zu produzieren. Er besitzt eine Affinität zu Büchern. Das hier vorliegende Buch soll ihm Unterstützung sein und die zahlreichen Dimensionen seines Tuns sichtbar werden lassen.

Hans Ulrich Obrist

London, im Mai 2011

Gespräche

| Bildnachweis |

Digitale Architektur – analoge Architektur

Den Künstler Ai Weiwei kannte ich seit den 1990er Jahren, doch besonders interessant fand ich die Tatsache, dass er auch mit seiner Architektur Erfolg hatte, wo er doch stets für sein künstlerisches Schaffen bekannt gewesen war. Mich interessierte dieser Moment, wenn Künstler sich auf neue Felder begeben. Vor allem eine Frage trieb mich besonders um: Wie funktioniert das, wie geht das vor sich? Inwiefern verfügt ein Künstler über die Fähigkeit und die Möglichkeit, außerhalb der Kunst zu arbeiten?

Als ich – zusammen mit Phil Tinari – Ai Weiwei häufiger traf, merkte ich ziemlich schnell, dass es fast unmöglich ist, ihn in einem einzigen Interview so richtig zu erfassen, denn er besitzt verschiedene Ateliers für unterschiedliche Wirklichkeiten: Kunst, Architektur und Design. Teil I des folgenden Gesprächs fand im September 2006 in Ai Weiweis Studio bei ihm zu Hause in Peking statt. Teil II fand im Mai 2006 statt und wurde erstmals in der Zeitschrift Domus veröffentlicht (Ausgabe Juli/August 2006), anlässlich der Fertigstellung des Jinhua Architecture Park, eines Gemeinschaftsprojekts, das von Ai Weiwei und seinem Architekturbüro organisiert wurde.

Teil I

HANS ULRICH OBRIST:

Das ist eine Digitalkamera.

AI WEIWEI:

Ja, genau.

Benutzen Sie diese Kamera für Ihren Blog?

Ja, der Blog ist ein ziemlich neues Feld für mich. Das ist etwas ganz Großartiges. Man kann unmittelbar zu Menschen sprechen, die man nicht kennt. Man kennt ihren Hintergrund nicht, und sie kennen deinen Hintergrund nicht. Es ist, wie wenn man auf die Straße geht und an der Ecke eine Frau trifft. Man spricht sie direkt an. Und dann fängt man vielleicht an zu streiten oder sich zu lieben.

Wann haben Sie mit dem Blog angefangen?

Eine Firma, ein großes Internetunternehmen, hat mich quasi gezwungen, mit dem Bloggen anzufangen.1 Sie haben zu mir gesagt: »Oh, Sie sind ja ziemlich bekannt, wir richten Ihnen einen Blog ein.« Ich hatte keinen Computer und so etwas noch nie gemacht. Sie sagten mir: »Kein Problem, Sie lernen das schon. Wir schicken Ihnen jemanden vorbei, der Ihnen zeigt, wie’s geht.« Am Anfang habe ich meine alten Veröffentlichungen und meine Arbeiten reingestellt, dann habe ich damit begonnen, Texte zu tippen. Das hat mir totalen Spaß gemacht. Als ich gestern nach Hause kam, habe ich noch circa zwölf Blogeinträge geschrieben.

Letzte Nacht?

Genau, zwölf Posts. Man kann hundert Fotos in einen Blogeintrag stellen. Die Leute sagen oft zu mir: »Sie haben so viele Fotos von einem einzigen Tag!« Fotos können alles sein, von allem. Das ist meiner Ansicht nach wirkliche Information, ein freier Austausch – eine sorglose, verantwortungsfreie Lösung, die meinen Zustand sehr gut widerspiegelt.

Wie viele Leute besuchen Ihren Blog?

Inzwischen sind es 1 Million und einige 100 000, irgendwo um den Dreh. Pro Tag wird die Seite rund hunderttausendmal aufgerufen.

Das sind mehr, als je in einer Ausstellung waren.

In der Tat. Wenn ich will, kann ich jederzeit meine Ausstellungseröffnung haben. Und gerade das ist mir sehr wichtig. Wenn ich Kunst mache, mache ich einen Plan, und Menschen besuchen den Ort und kommen vielleicht für eine halbe Stunde noch einmal zurück. Wenn ich Glück habe, gelingt mir eine sehr gute Installation für jemanden, den ich nicht kenne, an einem Ort, den ich nicht kenne, sagen wir in den Niederlanden, in Amsterdam. Anders mit dem Blog: Im selben Augenblick, da ich die Tastatur berühre, kann ein junges Mädchen, ein alter Mann oder ein Bauer meinen Eintrag lesen und sagen: »Schau dir das an, das ist was völlig anderes, der Typ ist verrückt.«

Das Ganze hat etwas Sofortiges, Augenblickliches?

Ja.

Und mit dieser Kamera machen Sie also jeden Tag Fotos, wo immer Sie sind?

Ja, ganz gleich, in welcher Situation. Ich denke, ich war überwältigt, denn als wir aufwuchsen, hatten wir keinerlei Möglichkeit, uns frei auszudrücken und unsere Meinung zu sagen. Im schlimmsten Fall konnte man sogar den eigenen Vater und die eigene Mutter den Behörden melden, wenn sie etwas Falsches gesagt hatten. Das war wirklich extrem. Selbst heute sagen noch immer viele Leute, ich solle auf mich aufpassen, ich solle nicht so viel sagen in meinem Blog. Aber ich bin der Meinung, jeder soll die Dinge so machen, wie er es für richtig hält. Bislang war es okay. Ich spreche in meinem Blog häufig über die Situation der Menschen und über gesellschaftliche Probleme. Ich glaube, ich bin der Einzige.

Können wir einen Blick in Ihren Blog werfen?

Gerne, ich kann Ihnen ein paar Einträge zeigen. Das Leben in Blogs ist real, denn es ist das eigene Leben, und Leben heißt Zeit zu verbrauchen. Nichts anderes ist es. Es kommt darauf an, wie man sie gebraucht. Wenn ich meine Zeit nutze, dann werfen auch diese 100 000 Menschen einen Blick in meinen Blog. Sie alle verbringen eine kleine Menge Zeit genauso wie ich. Viele Leute haben zu mir gesagt: »Oh, Sie dürfen nicht mit dem Bloggen aufhören. Sie müssen vorsichtig sein. Denn wenn man Sie einsperrt, was sollen wir dann tun?« Es hat fast etwas Rührendes an sich: »Wir brauchen Sie; Ihren Blog zu besuchen ist ein Teil unseres Lebens geworden.« Das ist seltsam.

Die Leute machen sich also Sorgen.

Die Leute werden warten. Wenn ich meinen Blog nicht aktualisiere, werden sie die ganze Nacht warten, um dann den neuen Inhalt als Erste zu sehen. Sie wollen unbedingt als Erste einen shafa-Kommentar abgeben.2 Das heißt, es sind wirklich deine Fans und es ist ihnen wirklich wichtig, worüber du sprichst. Insofern ist es ganz egal, wann ich heimkomme – ich stelle immer noch ein paar Worte ins Netz.

Sie machen das also jeden Tag?

Ich kann im Moment nicht einschätzen, wann man dem Ganzen Einhalt gebieten wird. Vielleicht wird die Sache irgendwann von den Behörden unterbunden. Einmal kamen sie und sagten: »Hören Sie, wir werden Ihren Blog melden. Er ist heikel. Warum nehmen Sie nicht einige Seiten raus?«

Das ist tatsächlich passiert?

Sie haben mit mir verhandelt, waren dabei aber sehr höflich. Ich sagte: »Schauen Sie, das Ganze ist doch ein Spiel. Ich spiele meine Rolle, Sie spielen Ihre Rolle. Sie können den Blog sperren, wenn es sein muss, denn das ist technisch für Sie ja kein Problem. Aber ich kann mich nicht selbst zensieren, denn das ist ja gerade der Grund, warum ich den Blog habe.« Sie ließen sich die Sache durch den Kopf gehen, dann riefen sie mich wieder an und sagten: »Angesichts der politischen Situation haben wir wirklich Respekt vor dem, was Sie da tun.«

Ich glaube, China befindet sich gerade an einem sehr interessanten Punkt. Die Macht und das Zentrum im allgemeinen Sinne sind aufgrund des Internets, der Weltpolitik und der Ökonomie urplötzlich verschwunden. Die Internettechnologie ist zu einer wichtigen Möglichkeit geworden, um die Menschen aus alten Werten und Systemen zu befreien, etwas, das bisher noch niemals möglich war.

Ich bin definitiv der Ansicht, dass die Technik eine neue Welt geschaffen hat, denn unser Gehirn basiert seit jeher darauf, Informationen zu verarbeiten und aufzunehmen. So funktionieren wir, aber tatsächlich beginnen sich die Verhältnisse zu ändern, und wir merken es nicht einmal. Die Theorie kommt immer erst danach. Das sind wirklich phantastische Zeiten.

Gerade jetzt im Moment?

Ich glaube, jetzt ist genau der Moment. Das ist der Anfang. Wir wissen nicht, wovon das der Moment ist, und vielleicht passiert ja noch etwas viel Verrückteres. Aber wir erleben wirklich, wie die Sonne hereinzuscheinen beginnt. Hundert Jahre lang war es bewölkt. Unsere ganze Situation war ziemlich traurig, aber wir spüren noch immer Wärme, und das Leben in unseren Körpern kann noch immer davon künden, dass innen drin Erregung herrscht, auch wenn der Tod wartet. Wir sollten den Augenblick lieber nicht genießen, sondern ihn schaffen.

Sie erzeugen den Moment?

Genau. Tatsächlich sind wir ein Teil der Wirklichkeit, und wenn wir das nicht erkennen, sind wir völlig verantwortungslos. Wir sind produktive Wirklichkeit. Wir sind die Wirklichkeit, aber dieser Teil der Wirklichkeit bedeutet, dass wir eine andere Wirklichkeit erzeugen müssen.

Der Blog bildet also die Wirklichkeit möglicherweise nicht ab, sondern erzeugt sie?

So ist es. Er ist wie ein Ungeheuer, er wächst. Ich bin mir sicher: Sobald jemand einen Blick in meinen Blog wirft, beginnt er, die Welt anders zu sehen, ohne es überhaupt zu merken. Das ist auch der Grund, warum die Kommunisten von Anfang an alles zensiert haben. Sie sind die einzige Propagandaquelle und hatten damit in den letzten fünfzig Jahren auch großen Erfolg. Aber aufgrund der Öffnung Chinas und der Weltwirtschaft werden sie nicht überleben. Sie können nicht überleben, also müssen sie ein gewisses Maß an Freiheit zulassen, aber einmal erlaubt, lässt sich das nicht mehr kontrollieren.

Geht man auf die Hauptseite des Blogs, findet sich dort das Bild eines Ochsen. Vielleicht haben Sie das Foto ja in Xinjiang aufgenommen. Es ist immer das erste Bild, das man sieht, eine Art Logo des Blogs.

Ich habe es gerade eben geändert. Es war übrigens nur ein Wildschwein, das am Boden dahinläuft.

Aber für die Menschen könnte es so etwas wie das Symbol oder das Markenzeichen des Blogs sein.

Die Menschen haben ein blutrotes Schwein gesehen, ziellos unterwegs gen Westen. Das Bild war ein Jahr lang drauf, also habe ich es ausgetauscht.

Heute?

Ja, letzte Nacht.

Am 12. September 2006, dem Tag, an dem wir das Gespräch hier aufzeichnen.

Ja, ich habe es gegen ein anderes Bild ausgetauscht, das einer Katze. Denn in unserem Architekturbüro verbringen meine Leute den ganzen Tag damit, wunderschöne Modelle zu basteln, und nachts sind dann da acht Katzen, die alles kaputt machen.

| Bildnachweis |

Die Katzen attackieren also nachts die Architekturmodelle.