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Der Revolution beim Wachsen zusehen.Ai Weiweis verbotener Blog erstmals auf Deutsch: einer der spannendsten Texte über das moderne China – und das ergreifende Dokument wachsender Wut und wachsenden Widerstands. Nicht erst seit seiner Verhaftung wurde Ai Weiwei zur Ikone des Kampfes für Meinungsfreiheit, Menschenwürde und das Recht des Einzelnen auf individuelle Selbstentfaltung. Fast vier Jahre lang dokumentierte er im Internet, was er in seiner Heimat erlebte und was er sich dazu dachte – ein Glücksfall allein schon dies, liest man doch endlich einmal nicht die Analyse eines westlichen Experten, sondern den Bericht eines Chinesen, der sein Land liebt, viele Entwicklungen aber mit immer größerer Skepsis beobachtet: SARS, Milchpulverskandal, Olympische Spiele, Korruption, Organhandel, der Umgang mit dem Gedenken an das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens – zuviel stößt ihm auf. Nach einem großen Erdbeben, bei dem 20.000 Menschen zum Teil deshalb starben, weil aus minderwertigem Material gebaute öffentliche Gebäude zusammenfielen wie Kartenhäuser, beginnt er – öffentlich und mit der Kamera in der Hand – nach den Verantwortlichen zu fragen. Und die Bevölkerung dazu aufzurufen, sich zu organisieren. Zweimal wird er bei seinen Recherchen zusammengeschlagen. Sein Blog gewinnt an Wut – 2009 schreiten die Behörden ein, die Seite wird gesperrt, alle Einträge werden gelöscht. Eine in Vorbereitung befindliche chinesische Buchausgabe wird zurückgezogen. Ai Weiwei twittert weiter, mit je 120 chinesischen Zeichen pro Nachricht. 2011 verhaftet man ihn unter fadenscheinigen Gründen. Ein amerikanischer Verlag erarbeitete mit Ai Weiwei eine Buchausgabe, jetzt gibt es sie erstmals auf Deutsch. Der Kampf um Ai Weiweis Blog steht beispielhaft für den Kampf ums Internet in China. In seinen Texten sieht man einer Revolution beim Wachsen zu. Sie sind spannende persönliche Zeugnisse und haben das Zeug zum Klassiker der engagierten Literatur.
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Seitenzahl: 605
Veröffentlichungsjahr: 2011
Inhalt
CoverTitelWidmungVorwort zur deutschen AusgabeVorwort zur englischen AusgabeEinleitungTexte aus dem Jahr 2006Probleme ausländischer Architekten, die in China bauenArchitektur und RaumFotografieÜber ArchitekturDie chinesische zeitgenössische Kunst im WandelÜber FotografieWer bist du?Dieser lange WegIhre StadtN-StadtS-Village in der Stadt PZur rechten Zeit, am falschen OrtKonfuse Gedanken in luftiger HöheEin klarer Standpunkt: Liu XiaodongStaub, der sich stumm auf alles legtFragmenteEine Welt ohne EhreGestern Abend war ich beim FriseurHier und JetztIdeale Städte und Architektur gibt es nichtWenn man einmal nicht aufpasst … eine Begegnung mit der Dummheit an einem sonnigen TagEin Weg zu einem unbekannten OrtEin Fluch auf ZuzhouGewöhnliche BautenA Changs BeharrlichkeitDer Computer im Wert von »mehreren hundert Millionen« und ein wertloses GehirnWeg ohne EndeIgnoranz und Heuchelei siegen immerWarum ich ein Heuchler binDas Volk, der Mond, Zidane und vieles mehrEinige Gedanken über die Städte der ZukunftUns von unseren Fehlern klein halten lassenNachbebenSpirituelle Orientierung und die Möglichkeiten des DaseinsSuperleicht: Yan Lei und sein WerkStoffschuhe mit flachen SohlenVertraute SchimpfwörterAbscheuliche DingeGalle von lebenden BärenAndere Welten, andere TräumeHypnose und fragmentierte Realität: Li SongsongDokumentation des unbekannten Selbst und des Nicht-Selbst: Rongrong & inriWeitverbreitete MeinungenDie ethischen Grundlagen der GerechtigkeitTexte aus dem Jahr 2007Leben, Verbrechen und TodStandards und ScherzeRowing on the Bund: Wang XingweiAuf ewig verlorenes VertrauenHundemassaker in Wan Chuan»Fairytale« als AusstellungswerkNationalfeiertagAndy WarholRichtungEinige unnormale ZahlenTexte aus dem Jahr 2008Halluzinationen und die »Einnahme von Gift«Wir haben nichtsLeinwandflimmernEin Wort des DankesFederleichtDer Riss zwischen Wirklichkeit und Ideal: Zhao ZhaoOrakel und DemokratieTrauerEin stummer FeiertagOpferDie Vergeltung des Karmas für das KarmaDie Art von Lehrer Fan und die Moral des ErziehungsministeriumsHört aufPapiertiger und PapierjägerGewalt und BrandschatzungYang Jia, der Ungesellige und SeltsameÜber das VogelnestNicht zu fassenWunschträumeLiegestütze machenÖffentlicher ProzessDer ProzessDer olympische VirusHat das Land eine Liste?Abschließend zur EröffnungszeremonieDas Olympische KomiteeObamaDiese Liu YalingWarum Gewalt?Tötet, aber nicht im Namen der GerechtigkeitSchwachsinn ist gratisBlick nach innenTexte aus dem Jahr 2009Shanzhai-IdealeAbstruse Anklagen, maßlose StrafenDie BockmiststeuerZwei WitzeÜberzeugung, Kühnheit, ein SchuhDas Staatsfernsehen steht in FlammenHerzlosDas staatliche Fernsehen inspiriert ChinaWas ist eigentlich das Zentralfernsehen?Beste Grüße an eure MutterBürgeruntersuchungBrief einer Mutter aus BeichuanGäste aus allen Winkeln der WeltDer Tag der wahren nationalen WiedergeburtIn diesen Tagen glaube ich nichts mehr, was ihr sagtDer paranoide Bürger12.5. GedenktagWie konnten wir so tief sinken?»Innere-Sicherheits-Reiskocher«Macht euch keine Illusionen über michIch bin bereitLasst uns vergessenIst man noch ein Mensch, wenn man nicht antichinesisch ist?Boykott des Internets am 1. Juli, keine Erklärung, keine Berechnung140 ZeichenIch kann es wirklich nicht glaubenEpilogZeittafelAi Weiweis BiografieChronologie wichtiger politischer EreignisseChinesische NamenAbbildungenBuchAutorImpressum[Menü]
Dass man die amerikanische Buchausgabe eines chinesischen Blogs aus den Jahren 2006 bis 2009 im Jahre 2011 ins Deutsche übersetzt, könnte unter normalen Umständen berechtigtes Stirnrunzeln oder verwundertes Nachfragen hervorrufen. Wenn man allerdings weiß, dass es sich um den Blog von Ai Weiwei handelt, und spätestens nachdem man ihn gelesen hat, wird man keine Fragen mehr stellen.
Den Blog selbst gibt es nicht mehr – nach der in diesem Buch nachzuerlebenden Eskalation mit der Staatsmacht wurde der Blog am 28. Mai 2009 von der chinesischen Regierung geschlossen und sein Inhalt gelöscht.
Im Jahre 2008, also lange vor der Schließung und dem Verbot des Blogs, hatte Ai Weiwei allerdings gemeinsam mit der Kunstwissenschaftlerin und Übersetzerin Lee Ambrozy die Arbeit an einer Buchausgabe und der Übersetzung ins amerikanische Englisch begonnen. Als diese Ausgabe dann im Frühjahr 2011 – angereichert mit für den westlichen Leser unschätzbaren Hintergrunderläuterungen, Kommentaren und Lesehilfen von Lee Ambrozys Hand – in Amerika erschien, gab keine Website mehr, auf der man das chinesische Original hätte nachlesen können. Damals war Ai Weiwei noch ein freier Mensch – am 3. April allerdings wurde er auf dem Pekinger Flughafen verhaftet und an einen unbekannten Ort verschleppt, wo er zweieinhalb Monate ohne offizielle Anklage gefangen gehalten wurde, – ohne dass er einen Anwalt kontaktieren durfte oder die Öffentlichkeit etwas über seinen Verbleib erfuhr. Seine Frau durfte ihn ein einziges Mal besuchen.
Ai Weiwei ist kein Einzelfall. In China ergeht es vielen anderen kritischen Geistern genau wie ihm. Am 23.6. ließ die Polizei ihn ziehen – nachdem er angebliche Steuerhinterziehung gestanden hatte. Seither steht er unter Hausarrest und darf Peking nicht verlassen, nicht twittern und sich weder über die Umstände seiner Verschleppung noch über die Zustände in seinem Heimatland äußern. Ihn erwartet ein Prozess, dessen Rechtsstaatlichkeit im Lichte des bisher Vorgefallenen (und auch der im Blog beschriebenen Vorgängerfälle) stark angezweifelt werden darf.
Unmittelbar nach Ai Weiweis Gefangennahme wurde mit der Übersetzung des amerikanischen Buchs ins Deutsche begonnen. Ais Büro war durchsucht und geschlossen worden, seine Mitarbeiter wurden teilweise ebenfalls verhaftet, sind abgetaucht oder nach Hongkong bzw. ins Ausland geflohen. Die chinesischen Originale der meisten von Ai Weiweis Texten waren nicht greifbar. Aber auf keinen Fall sollte Ai Weiwei das Schicksal anderer Regimekritiker teilen, das er selbst schon im Dezember 2008 in seinem Blog »Schwachsinn ist gratis« vorausgesagt hatte:
»Sobald ein Einzelkämpfer festgenommen wird, endet sein Kampf auf den Ehrenlisten diverser ausländischer Menschenrechtsorganisationen, und früher oder später wird man ihn in seinem eigenen Land vollständig vergessen.«
Schnelligkeit war ein Gebot der Stunde, und es wurde beschlossen, aus der amerikanischen Ausgabe ins Deutsche zu übersetzen. Glücklicherweise konnte nach längerer Suche in China doch noch ein Inhaber einer chinesischen Manuskriptversion gefunden werden, die er uns zur Verfügung stellte. Uneindeutige oder missverständliche Stellen (insbesondere die Texte am Anfang des Blogs, die ästhetische und philosophische Positionen beschreiben) konnten so anhand des Chinesischen verifiziert, präzisiert bzw. geändert werden.
Sucht man in Ai Weiweis Blog lediglich eine regierungskritische Kampfschrift, greift man erheblich zu kurz. Der Blog begann als eine Art modernes Notizheft, eine Mischung aus geistigem Tagebuch und Autobiografie, in der einer der spannendsten Künstler der Gegenwart seine künstlerischen, ästhetischen, philosophischen und gesellschaftspolitischen Positionen darstellte und entwickelte. Dabei bediente er sich verschiedenster literarischer Formen.
Spätestens aber seit dem Erdbeben von Wenchuan, am 12. Mai 2008, gewinnen seine Einträge an Direktheit und Schärfe, man trifft dort auf einen immer lauter werdender Zorn auf unhaltbare politische Zustände. Als der Künstler beginnt, die Bevölkerung gegen korrupte Politiker aufzuwiegeln, reagiert der Staat. Ai Weiwei wird überwacht, schikaniert, bedroht. Die Konfrontation mit der Obrigkeit wird immer direkter und die politische Brisanz seines Blogs nimmt zu, – bis dessen Schließung vorerst eine noch weitere Eskalation verhindert. Aber Ai Weiwei gibt nicht auf, jetzt twittert er – bis man ihn schließlich im April 2011 verhaftet. In diesem Buch sieht man gewissermaßen der Revolution beim Wachsen zu.
Wie durch seine Kunstwerke macht sich Ai auch durch dieses Buch unvergesslich, es ist ein Teil seines Gesamtwerkes. Wir hoffen, dass er möglichst bald seine Arbeit unbehelligt fortsetzen kann.
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Dieses Buch ist eine Sammlung von Texten, welche die Online-Präsenz des Künstlers / Architekten / Aktivisten Ai Weiwei dokumentieren. Ai wollte nie, dass man ihn als Dissidenten bezeichnet, und deshalb wurde auf diesen Begriff hier verzichtet. Die Texte sind ein Auszug aus seinem Blog (gehostet auf sina.com.cn) aus dem Zeitraum von 2006 bis zum 28. Mai 2009. An diesem Tag wurde der Blog der Zensur unterworfen und der gesamte Inhalt aus dem Cyberspace getilgt. Die letzten fünf hier abgedruckten Texte stammen deshalb von anderen Blogging-Plattformen, und der Beitrag »140 Zeichen« ist eine Sammlung von Microblogs, von Tweets, die im Juli 2009 verfasst wurden, nachdem die Nachrichten über die Unruhen in der Provinz Xinjiang an die Öffentlichkeit gelangten.
Die mehr als einhundert kurzen Essays, die in dieses Buch aufgenommen wurden, sind nur ein kleiner Teil der geposteten Texte. Einige davon wurden bereits früher in Katalogen oder Pressebeiträgen abgedruckt, doch der größte Teil lag bisher weder auf Deutsch noch auf Englisch vor. Ai Weiwei hat vier Jahre lang jeden Tag Texte auf seinem Blog gepostet. Aus der großen Menge von Texten, die sich hier angesammelt hatte, eine Auswahl zu treffen, war ein gewaltiges Unterfangen. Und es war eine ebenso unglaubliche Herausforderung, das Ganze zu übersetzen. Sehr lange waren zahlreiche Hände und Augen im Büro von Ais Firma FAKE Design in Caochangdi mit der mühsamen und zeitraubenden Aufgabe beschäftigt, Hunderte von Dateien – sowohl Texte als auch Bilder – herunterzuladen, zu organisieren, redaktionell zu bearbeiten und zu archivieren.
Wir haben es Philip Tinari und Jeff Kelly, die den Anstoß zu diesem Buch gaben, zu verdanken, dass bereits Ende 2008 mit der Übersetzung ins Englische begonnen wurde, während der Blog noch jeden Tag weiterwuchs. Das Projekt hatte bereits gute Fortschritte gemacht, als ein Verlag vom chinesischen Festland Interesse an einer Buchausgabe auf Chinesisch bekundete. Daraufhin wurden alle ursprünglichen Texte einem Redaktionsprozess in Hinblick auf die chinesische Ausgabe unterzogen. Ein ganzes Redaktionsteam, darunter auch Ai Weiweis Bruder Ai Dan, entfernte Druckfehler und andere Unstimmigkeiten, überarbeitete die Texte sprachlich und fügte an etlichen Stellen längere Passagen hinzu oder strich Passagen, um die Lesbarkeit und Verständlichkeit zu verbessern. Alle der bereits vorliegenden englischen Übersetzungen wurden in Hinblick auf die vorgenommenen Veränderungen noch einmal überarbeitet. Doch diese chinesische Ausgabe sollte leider nicht erscheinen. Ais »politisch unkorrekter« Standpunkt und die heikle Thematik, der er sich annimmt, erwiesen sich schließlich doch als abschreckend und als zu riskant für einen Verlag oder eine sonstige Vertriebsgesellschaft auf dem chinesischen Festland.Hinweis Mit diesem Buch liegt nun die bislang umfangreichste Dokumentation von Ais Blog vor.
Alle in diesem Buch artikulierten Standpunkte sind die Meinung des Autors. Häufig stellen sie eine direkte Reaktion auf tagesaktuelle Ereignisse dar und enthalten zahlreiche soziokulturelle Anspielungen, die kommentierungsbedürftig sind. Das Internet stellt heute die wichtigste Quelle für diese Anmerkungen dar, und weil dieses Buch in China ediert wurde, war es zur Prüfung von Hintergründen und Fakten notwendig, immer wieder die »Große Firewall zu überschreiten«. Diese virtuelle Mauer wurde in den Jahren 2008 und 2009 in puncto Softwaretechnik und bei den Methoden zur Überwachung des Internets stetig weiterentwickelt. Doch die Verwendung eines Virtual Private Network (VPN) ermöglichte es schließlich, auf die meisten der für einen gewöhnlichen Browser vom chinesischen Festland sonst unerreichbaren Websites zuzugreifen (darunter auch Twitter, YouTube, Facebook, Vimeo und gelegentlich Flickr). Doch hatte man die Firewall einmal überwunden, stand man vor einer noch größeren Herausforderung: Die nicht selten enorm differierenden westlichen und chinesischen Quellen mussten miteinander abgeglichen werden. Diese Diskrepanzen mögen wohl die letzten noch verbleibenden Spuren des Kalten Krieges sein. Hoffentlich wird es unseren beiden Kulturen eines Tages gelingen, ihre jeweiligen »Fakten« miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Dazu müssen freilich in Zukunft noch erheblich mehr Übersetzungen wie die vorliegende gemacht werden. Die Tatsache, dass es einem Künstler gelungen ist, so große Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, weckt Begeisterung. Endlich wird nun einem westlichen Publikum die Chance geboten, in Übersetzung zu lesen, was die Chinesen untereinander erörtern, anstatt bloß zu erfahren, was westliche China-»Experten« über sie berichten.
Die Texte des vorliegenden Buchs kommentieren Ereignisse von ebenso heikler wie politischer Natur, und sind damit für viele Fachgebiete relevant. Die in den Anmerkungen enthaltenen Informationen wurden deshalb anhand von zahlreichen Quellen überprüft. Folgenden Online-Medien und unermüdlichen Beobachtern Chinas gebührt besonderer Dank: Asianews.it,China Elections and Governance online, China Digital Times,danwei.com, dem Blog EastSouthWestNorth,Global Voices online, dem Guardian online, dem »China Real Time Report« des Wall Street Journal ebenso wie der chinesischen und englischen Wikipedia. Auch die chinesische Suchmaschine Baidu zusammen mit ihrer Enzyklopädie Baidu Baike sowie die Seite Hudong, Chinas größtes Wiki, waren unschätzbar wichtige chinesische Quellen. Zuletzt müssen – wegen der unbestreitbaren »Korrektheit« ihrer Sichtweise – auch Xinhuanet.com sowie diverse andere Online-Sprachrohre der Kommunistischen Partei Chinas erwähnt werden.
Ai Weiwei möchte an dieser Stelle einen besonderen Dank gegenüber Lu Qing aussprechen, weil sie es erträgt, dass er so viel Zeit am Computer verbringt. Ebenso dankt er den Redakteuren für ihre exzellente Arbeit an den chinesischen Originaltexten: Ai Dan, Luo Li und Xiao Xi. Und auf Wunsch und im Namen von Ai Weiwei dankt Lee Ambrozy sich selbst. Ai Weiwei dankt auch dem Büro von FAKE, insbesondere Zhang Yiyan für die Hilfe bei der Vorbereitung der chinesischen Texte für die Hinweise zur Zitation; besondere Anerkennung gilt auch Nadine Stenke und Ragna van Doorn für ihre Arbeit in Archiven, Gao Yuan, dem Fotografen Zhao Zhao sowie Xu Ye, dem Meister der Technik, bei allem, was den Blog angeht. Roger Conover hat immer fest daran geglaubt, dass aus diesem Blog ein Buch wird, und hat diesen Prozess geduldig begleitet. Abschließend sei noch den Bürgerinnen und Bürgern gedankt, die beim Sammeln von Informationen in Sichuan mitgeholfen haben. Ihre Beharrlichkeit verdient hohe Anerkennung. Erwähnen müssen wir aber auch die Cyber-Aktivisten und Untergrundkämpfer, die weiter für die Redefreiheit und für die Freiheit der Kommunikation kämpfen. Viele von ihnen sind standhafte Online-Unterstützer von Ai Weiwei. Alle, die den Mut hatten, ihre Stimme zu erheben, und nun hinter Gitter sitzen, werden wir niemals vergessen. Ein allgemeiner Dank gilt auch der schier unerschöpflichen Begeisterung von Ais Lesern, Abonnenten und seinen Twitter-Partnern. Last, and least, als Letzten und als Geringsten (jedenfalls was die Größe angeht), möchte Ai Weiwei noch ganz besonders seinen Sohn, Ai Lao, herausheben: Er gibt ihm jeden Tag neuen Mut.
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Für manche Menschen ist das Internet eine Quelle der Zerstreuung, für Ai Weiwei ist es ein leistungsfähiges Medium der gesellschaftlichen Veränderung. In einer Art täglichem Ritual sitzt er stundenlang vor dem Computer, sichtet Nachrichten, formuliert Tweets und sendet seine Gedanken in den Cyberspace. »Ich verbrauche neunzig Prozent meiner Kraft für das Bloggen«, sagte er in einem Interview, kurz bevor sein Blog geschlossen wurde. Mit der Schließung des Blogs durch die Behörden verschwanden über 2700 Einträge, darunter Tausende Fotos und Millionen Leserkommentare. Die Adresse blog.sina.com.cn/aiweiwei, unter der Ai Weiwei beißende Gesellschaftskritik, heftige Vorwürfe an die Politiker Chinas und zuletzt eine Namensliste von bei dem Erdbeben in Wenchuan vermissten oder getöteten Schülern veröffentlicht hatte, wurde auf unbestimmte Zeit gesperrt. Stattdessen war folgende Mitteilung lange zu lesen: »Dieser Blog ist bereits geschlossen. Bei Fragen wählen Sie bitte 95105670. Wenn Sie andere hervorragende Blogs kennenlernen wollen, klicken Sie auf das Symbol ›Auge‹ in der linken Seitenleiste.«
Die ungewöhnliche Tatsache, dass ein chinesischer Blog ins Englische und Deutsche übersetzt und als Buch veröffentlicht wird, verdankt sich der weitgefassten Definition zeitgenössischer Kunst. Walter Benjamin schrieb 1921 im Vorwort seiner Baudelaire-Übersetzung: »Übersetzungen, die mehr als Vermittlungen sind, entstehen, wenn im Fortleben ein Werk das Zeitalter seines Ruhmes erreicht hat.«Hinweis Ais Blog ist schon heute eine legendäre Fundgrube der Gedanken und Ideen des Künstlers und aufgrund der digitalen Revolution berühmter und häufiger reproduziert, als Benjamin sich das je hätte träumen lassen. Für chinesische Leser war er provozierend und umstritten. Nichtchinesische Leser können die inhaltliche Tiefe dieser Texte bis heute nur teilweise ermessen. Trotzdem nannte Hans Ulrich Obrist den Blog »eine der größten gesellschaftlichen Skulpturen unserer Zeit«.Hinweis
In Gesprächen über Ai Weiwei fällt immer häufiger der Begriff »Künstleraktivist« und zu seinem Unbehagen auch »Dissident«. Sein Aktivismus ist nicht neu. Ai steht am Rand der politischen Avantgarde Chinas, seit es Ende der Siebzigerjahre möglich wurde, für Redefreiheit und Demokratie einzutreten. Das Internet hat ihn nicht zu einem Aktivisten gemacht, seinem Aktivismus aber eine ins Riesenhafte gesteigerte Plattform gegeben. Er hat Vasen aus der Zeit der Han-Dynastie zerschlagen, prähistorische Steinäxte mit Farbe bemalt, antike Tische und Tempel zerlegt, einen Urinstrahl in feinem Porzellan verewigt und 1001 Menschen aus entlegenen Gegenden Chinas nach Kassel gebracht. Man hat ihn einen Taoisten und einen Anarchisten genannt und könnte seinen Eifer sogar als Erbe des revolutionär-zerstörerischen Geistes der Roten Garden beschreiben. In welchen Zusammenhang man ihn auch stellt, er gefällt sich stets in der Rolle des subversiven, furchtlosen Rebellen gegen kulturelle und politische Autoritäten.
Stark beeinflusst durch das Erbe seines Vaters, liegt der Mut ihm gleichsam im Blut. Die Geschichte seines von den Medien bereits zum Mythos erhobenen Lebens sei hier kurz wiedergegeben. Sein Vater, der Dichter und Intellektuelle Ai Qing, hatte sich kritisch gegenüber dem Regime geäußert. Kurz nach Ai Weiweis Geburt 1957 wurde er im Verlauf der ersten Kampagne gegen Rechtsabweichler als einer der ersten Intellektuellen politisch diskreditiert und als »Volksfeind« verurteilt. Die fünfköpfige Familie mit dem kleinen Weiwei wurde zu Zwangsarbeit und Umerziehung in die Provinz verbannt. Zuerst arbeitete der Vater in einem holzverarbeitenden Betrieb in den eisigen Wäldern von Beidahuang in der Provinz Heilongjiang. Zwei Jahre später musste er mit Eltern und Geschwistern in den Westen der Provinz Xinjiang umziehen, Chinas »Kleinsibirien«, wo sie ihr Dasein ganz buchstäblich in einem Erdloch fristeten. Wie im Maßnahmenkatalog für »Rechtsabweichler« im politischen Exil vorgesehen, wurde Ai Qing mit täglicher politischer Demütigung, körperlicher Arbeit und zwangsweiser Umerziehung bestraft. Wegen seiner Bekanntheit und seines Einflusses wurden ihm besonders erniedrigende Arbeiten zugewiesen. Ai Weiwei war noch zu klein, um zu helfen, er erinnert sich aber lebhaft daran, seinem Vater dabei zugesehen zu haben, wie dieser öffentliche Toiletten putzte, bis diese vor Sauberkeit glänzten.
Seine bereits von Politik gesättigte Kindheit wurde weiter beeinflusst durch die Auswüchse der Kulturrevolution, genauer der, wie sie damals genannt wurde, Großen Proletarischen Kulturrevolution. Statt Chinesisch, Mathematik oder Naturwissenschaften zu studieren, teilten die Schüler ihre Zeit auf zwischen Feldarbeit und der Lektüre von Mao Zedongs »kleinem roten Buch«. Die »Diktatur des Proletariats« mochte ihnen unverständlich bleiben, aber sie empfanden eine tiefe Sympathie für das Volk und für soziale Utopien, wie sie in Ai Weiweis künstlerischer Praxis bis heute spürbar ist. Nach dem Ende der Kulturrevolution und der Verhaftung der in höchsten Parteirängen verantwortlichen »Viererbande« (Jiang Qing, Zhang Chunqiao, Yao Wenyuan und Wang Hongwen) wurde Ai Qing rehabilitiert, und die Familie kehrte 1976 nach Peking zurück. Dort hatte sich inzwischen eine liberalere Stimmung ausgebreitet. Man bezeichnet diese Zeit manchmal als Frühling von Peking. Freunde von Ai Qing brachten Ai Weiwei Grundkenntnisse im Malen und Zeichnen bei, und er erwies sich als gelehriger Schüler. 1978 wurde er von der Filmakademie Peking aufgenommen. Er sagte später dazu, ausschlaggebend sei weniger sein Interesse am Film gewesen als vielmehr die Möglichkeit der »Flucht vor der Gesellschaft«.Hinweis
Mit der im Dezember 1978 errichteten Mauer der Demokratie in der Xidan Street in Peking, vom neuen Regime anfangs unterstützt als Plattform der Kritik an der Viererbande, nimmt der politische Aktivismus in China seinen Anfang. Bürger und Studenten konnten auf von Hand geschriebenen Wandzeitungen öffentlich ihre Meinung kundtun. Am 5. Dezember veröffentlichte das frühere Mitglied der Roten Garden Wei Jingsheng seinen berühmt gewordenen Aufsatz »Die fünfte Modernisierung«. Darin bezeichnete er die Demokratie als einzige »Modernisierung«, die China wirklich brauche. Seine verdeckte Kritik an Deng Xiaopings »Vier Modernisierungen« (in den Bereichen Landwirtschaft, Industrie, Verteidigung und zusammengefasst zu einem Bereich in Wissenschaft und Technik) und die öffentliche Forderung nach politischer Veränderung stellten für das noch ungefestigte Regime Dengs eine zu große Bedrohung dar. Im Frühjahr 1979 wurde Wei Jingsheng verhaftet und zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Weitere Anhänger und Aktivisten aus dem Umkreis der Mauer der Demokratie wurden gleichfalls hart bestraft. Ai Weiwei, der ebenfalls mitgemacht hatte, war daraufhin »von der Politik sehr enttäuscht«.Hinweis
Zur selben Zeit wurde Ai Mitglied der »Sterne«, einer losen Künstlergruppe in Peking. Die »Sterne« forderten nach über zehn Jahren des staatlich verordneten Realismus, der »Kunst für das Volk«, der kollektiven Gemälde und Propagandaposter endlich das Recht auf einen eigenständigen künstlerischen Ausdruck. Am 27. September 1979 hängten die Rebellen in einer ersten Ausstellung Bilder an den Zaun vor dem Nationalen Kunstmuseum. Die Zuschauer strömten in Scharen herbei, um die frischen, neuartigen Kunststile zu bewundern, zwei Tage später wurde die Ausstellung dann geschlossen. Ai Weiwei stellte unter dem Einfluss des damals bei chinesischen Künstlern beliebten Postimpressionismus ein Landschaftsaquarell mit dem Titel LandscapeIV auf. Ungefähr um dieselbe Zeit, in der es noch kaum Gedrucktes über die Kunst außerhalb Chinas zu lesen gab, bekam Ai von einem Freund der Familie drei Kunstbände geschenkt: einen über den Impressionismus und zwei Monografien über van Gogh und Jasper Johns. Über die Johns-Monografie sagte er: »Ich habe nicht verstanden, was daran Kunst sein sollte.«Hinweis Das Buch landete auf dem Müll.
Jahre später äußerte Ai sich enttäuscht darüber, dass damals nicht genug Menschen die traumatischen Ereignisse der unmittelbaren Vergangenheit kritisch hinterfragt hätten. Auch die Verurteilung der an der Mauer der Demokratie mitwirkenden Studenten erschütterte ihn tief. Im Jahr 1981, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, verließ er das Land in Richtung Vereinigte Staaten. Er wusste, dass er ein berühmter Künstler werden wollte. Zu Freunden sagte er im Scherz, er werde als neuer Picasso zurückkehren. Er hatte allerdings seiner eigenen Aussage nach gar nicht die Absicht, zurückzukehren.
Mit dreißig Dollar in der Tasche kam er in den Staaten an und ließ sich schließlich dort nieder, wo er, wie er wusste, hingehörte – in New York City. 1982 schrieb er sich an der Parsons School of Design ein, an der er inmitten einer ganz anderen Kunst mit seinen perfekten handwerklichen Fertigkeiten auffiel wie ein bunter Hund. Er lernte die Werke Marcel Duchamps und Andy Warhols kennen, der beiden Künstler, die ihn am meisten beeinflussen sollten. Er machte allerdings keinen Abschluss, sondern schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten als Zimmermann und Anstreicher durch. Seine Wohnung im East Village wurde in dieser Zeit zu einem Wallfahrtsort bedeutender Kulturschaffender aus der Volksrepublik, die sich im New Yorker Raum aufhielten. Ai sagt über sich selbst, er habe in der Kunstszene verkehrt, ihr jedoch nicht angehört. Er habe aber in den Achtzigern jede Ausstellung in New York gesehen. Im Stock über ihm wohnte Allen Ginsberg. Beherrscht wurde die Kunstszene damals vom deutschen Expressionismus und von Jeff Koons und Basquiat, doch Ai war besonders vom Dadaismus fasziniert. In seiner ersten Einzelausstellung 1988 mit dem Titel »Old Shoes, Safe Sex« zeigte er seine frühen Objektmanipulationen: einen Kleiderbügel aus Draht, den er zum Profil Duchamps verbogen hatte, einen Regenmantel mit an passender Stelle angeklebtem Kondom und ein an den Fersen zusammengenähtes Paar Schuhe. Ein vorausblickender Kritiker lobte ihn als »respektloses Talent« und »Kraft, mit der in der internationalen Avantgarde noch gerechnet werden muss«.Hinweis
Doch nicht einmal New York gab Ai so viel Distanz zu seiner Heimat, dass ihn die traumatischen Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz am 4. Juni 1989 nicht zutiefst erschüttert hätten. Kurz danach trat er mit einer Gruppe, die sich »Solidarität für China« nannte, in einen achttägigen Hungerstreik. Die New York Times zitierte ihn damals mit Gedanken, die vorwegnehmen, was er Jahre später in seinem Blog entwickelte: »Wir wollen Zeugnis ablegen für das, was geschehen ist, und wir wollen, dass die chinesische Regierung weniger brutal vorgeht.«Hinweis Trotzdem behauptet Ai heute, er habe in New York »seine Zeit verschwendet«. (Er schloss die Designschule nicht ab und hatte weder Haus noch Staatsbürgerschaft noch Frau.) Doch er begann damals mit seiner an Warhol erinnernden Neigung zur Dokumentation. Nachdem er das Zeichnen zugunsten der Fotografie aufgegeben hatte, hielt er sein Leben im selbst gewählten Exil auf Hunderten von Filmrollen fest, die erst in jüngerer Zeit entwickelt und archiviert wurden.Hinweis Als dann 1993 sein Vater erkrankte, musste Ai eine Entscheidung treffen. Nie ein Freund langen Zögerns, packte er und zog nach Peking zurück. Es war nach zwölf Jahren sein erster Besuch. Er hatte keinen einzigen Brief geschrieben.
Bei seiner Ankunft fand er am Rand der Hauptstadt eine im Entstehen begriffene Kunstszene vor. Experimentelle Künstler versammelten sich an einem Ort, den sie das East Village von Peking nannten. Zusammen mit Feng Boyi, einem unabhängigen Kurator und Kunstkritiker, nahm er die Arbeit an einer Reihe von Untergrundpublikationen auf, den ab 1994 erscheinenden sogenannten »Red Flag Books«. Unter den Titeln Black Cover Book, Grey Cover Book und White Cover Book hatten sie einen ungeheuren Einfluss auf die Künstler in China. Die in diese Bücher aufgenommenen Künstler hatten die Aufgabe, ihre künstlerische Arbeitsweise zu erklären. Dabei entstand ein für die zeitgenössische chinesische Kunst neuer Ton der kritischen Selbstanalyse. Die Serie stellt auch Verfahren der internationalen Kunst vor, darunter die von Duchamp, Warhol und Koons. Die »Cover Books« erreichten regelrechten Kultstatus und kommen einem Manifest der entstehenden chinesischen Avantgarde vielleicht am nächsten.
In der ansteckenden künstlerischen Atmosphäre des Künstlerviertels von Peking bildete sich Ais experimentelle Konzeptkunst heraus, und einige für ihn bezeichnende Werke entstanden: die Coca-Cola-Urne, die Bilderfolge Dropping a Han Dynasty Vase und das Foto von Lu Qing, wie sie vor dem Tiananmen-Platz den Rock lüpft. Bereits 1997 beschäftigte Ai sich damit, Möbel auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen. 1998 intensivierte er seine avantgardistischen Aktivitäten. Er begründete das China Art Archives and Warehouse (CAAW) mit, Chinas erstes Archiv für zeitgenössische Kunst und zugleich Experimentalgalerie. In den Neunzigerjahren und zu Anfang des neuen Jahrtausends führte Ai zahlreiche Projekte als Kurator und Künstler durch. Durch seine vielen Verbindungen und die Bereitschaft, sich an neuen Projekten zu beteiligen, erwarb er sich den Ruf eines Wegbereiters der neuen Kunst.
Den aus seiner künstlerischen Praxis erwachsenen architektonischen Formen verlieh er 1999 mit der Fertigstellung des inzwischen berühmten »Studio House« Ausdruck, seines Wohnateliers in Peking. Angeregt durch Fotos von Haus Wittgenstein in Wien, beschloss er, sich selbst ein Atelierhaus zu bauen. Die Pläne dazu entwarf er an einem einzigen Nachmittag. Der Bau dauerte nur hundert Tage und begründete Ai Weiweis Karriere als Architekt. Sein zweites Architekturprojekt war im Jahr 2000 ein Erweiterungsbau für das CAAW. Begrenzte Budgets und die einfache Bauweise seiner Häuser steigerten die Nachfrage nach den preiswerten und eleganten grauen Ziegelgebäuden, und 2003 gründete er die FAKE Design (die chinesische Aussprache erinnert absichtlich an das englische »fuck«). Vor ihrer drastischen Verkleinerung 2006 verwirklichte FAKE über siebzig Bau- und Landschaftsprojekte in ganz China, darunter ORDOS 100, eine in der Inneren Mongolei in den Wüstensand gesetzte Wohnsiedlung. Ais revolutionärer Beitrag zur chinesischen Architektur besteht in der schlichten Eleganz seiner Häuser, die sachlich-nüchtern mit dem von den Stadtplanern von Peking bevorzugten überladenen chinesischen Barock kontrastieren. Einziger Schmuck der unverputzten Gebäude sind die Materialien. Dadurch entsteht eine geradezu dramatische Kargheit, und der Raum bekommt eine, wie Ai es beschreibt, »Freiheit«, innerhalb der alles Mögliche entstehen kann.
Die inzwischen berühmt-berüchtigte Ausstellung, die Ai gemeinsam mit Feng Boyi veranstaltete, eine Begleitausstellung zur Biennale von Shanghai 2000, wurde zu einem Meilenstein seiner internationalen Karriere. Gezeigt wurden unter dem Titel »Fuck off« (der chinesische Untertitel lautete »Wege der Verweigerung«) Werke von über vierzig Avantgardekünstlern. Die Behörden wurden provoziert, einige Werke enthielten angeblich Giftgas oder zeigten Akte von Kannibalismus. Die Ausstellung wurde vorzeitig geschlossen, allerdings erst, nachdem alle sie gesehen hatten, für die sie gedacht gewesen war, darunter Scharen von Kuratoren aus Übersee, die zur Biennale nach Shanghai gekommen waren. Einige Betrachter sahen in der Ausstellung nur die Gier nach Aufmerksamkeit, und Ai wurde auch sogleich zu einem gefragten Interviewpartner. Doch hatte sie zugleich unbestritten eine herausragende Bedeutung für die zeitgenössische chinesische Kunst, und Ai Weiwei wurde immer mehr zu einem einflussreichen Ansprechpartner in der sich globalisierenden Kunstwelt von Peking. Aus der Freundschaft mit dem Sammler Uli Sigg, dem früheren Schweizer Botschafter in China, ergab sich die Möglichkeit der Mitwirkung an »Mahjong«, einer wichtigen Ausstellung, die Europa mit der zeitgenössischen Kunst Chinas bekannt machte, und 2003 stand Ai Weiwei Jacques Herzog und Pierre de Meuron als künstlerischer Berater beim Bau des neuen Nationalstadions von Peking (dem sogenannten »Vogelnest«) zur Seite. Er war insgesamt auf umfassende und prägende Weise an der Entwicklung der zeitgenössischen Kunst Chinas beteiligt. Als er 2005 das unspektakulär klingende Angebot bekam, an Sina.com mitzuwirken, konnte trotzdem niemand ahnen, dass seine bereits erfolgreiche Karriere kurz davor stand, in die Blogosphäre abzuheben.
Sina.com hatte zu Werbezwecken für den Start seiner neuen Blog-Plattform verschiedene »Prominenten-Blogger« zur Teilnahme eingeladen, darunter Ai Weiwei. Auf deren Blogs sollte auf der Homepage verwiesen werden. Ai war vor seinem ersten Blog-Eintrag im Oktober 2005 noch kaum mit dem Internet in Berührung gekommen. Er hatte sogar im Scherz gesagt, er könne nicht einmal richtig tippen. Doch reizte ihn daran von Anfang an die Möglichkeit, sein literarisches Talent zu erproben, auf das er wegen des Erfolgs seines Vaters als Dichter immer neugierig gewesen war. Er begann, täglich Stunden mit Bloggen zu verbringen, und entdeckte in der digitalen Plattform auch die Bühne, auf der er sein Leben durch Fotos darstellte. Mit seiner Ricoh R8 dokumentierte er es mit Hunderten von Fotos, von denen er jeden Tag eine Auswahl in seinem Blog postete.
Die über 70000 Fotos seines Archivs zeigen unter anderem den Fortgang seiner Projekte, Besuche in Jingdezhen und auf Märkten oder in Fabriken für Werkstoffe und Rohmaterialien, Besuche von Sammlern und Reisegruppen, die aufgeschlagenen Notizbücher von Kuratoren und Interviewern, gemeinsame Essen in seinem inzwischen geschlossenen Restaurant »Go Where?«, Reisen nach Europa und nackte Selbstporträts in Hotelbadezimmern. Auch Fotoserien sind darunter: etwa von Frisuren, die er seinen Assistenten geschnitten hatte, oder von den Vorbereitungen für Fairytale. Viele am frühen Morgen aufgenommene Serien zeigen seine ständigen Begleiter und Türhüter im Wohnatelier, das runde Dutzend dort lebende Katzen. Sie sonnen sich im Garten, sitzen auf Bauplänen und Büchern, in Urnen und auf Tempelfragmenten, oder sie zerstören gerade Architekturmodelle – Katzen sind in seinem Atelier zweifellos die kreativen Musen.
Ai beschäftigte sich ausgiebig mit den kommunikativen Möglichkeiten des Internets und experimentierte damit, welche Mengen an digitaler Information er in Umlauf bringen und welche Entfernungen er überbrücken konnte. Er erkannte, wie nahe er in kürzester Zeit Tausenden von anonymen Lesern kommen konnte. Diese Fähigkeit zum Knüpfen von Verbindungen sollte er bald auch für künstlerische Zwecke nützen. Sie regte Fairytale an, ein Kunstwerk von epischen Dimensionen, das durch das Internet erst möglich wurde. Über seinen Blog lud Ai zur Teilnahme an einer »Massen«-Performance ein, die 1001 Chinesen aus allen Gesellschaftsschichten zur documenta 12 nach Kassel bringen sollte. Fairytale sollte die größte je veranstaltete Performance sein, ein gedankliches Labyrinth sozialer und kultureller Wechselbeziehungen, die sich in ihrer Wirkung exponentiell vervielfachten und die ganze Gesellschaft erfassten. Ai Weiwei ließ darin alle herkömmlichen Rahmenbedingungen lokaler und internationaler Kunsthierarchie hinter sich und machte sich sozusagen direkt die Kraft der »Massen« (qunzhong) zunutze, ein Wort, das nach der Kulturrevolution außer Mode gekommen war. Sein Konzept war so einfach, dass es die Menschen über alle geografischen, sprachlichen und soziokulturellen Grenzen hinweg ansprach. Es war in gewisser Hinsicht eine Manifestation der Macht des Internets.
Im Jahr 2008 bereitete sich die chinesische Hauptstadt auf die 29. Olympischen Sommerspiele vor. Ai gehörte zu den ersten chinesischen Bürgern, welche die Spiele öffentlich boykottierten – obwohl sein Name mit dem neuen Nationalstadion, einem einprägsamen Symbol des olympischen Peking, verbunden war. Genauso gut hätte er sich für seinen Designbeitrag als Nationalheld feiern lassen können, zumal sein Vater inzwischen rehabilitiert war und das dichterische Werk des Vaters als wichtiges Kulturerbe galt. Doch die in seinem Boykott impliziten Widersprüche scheinen Ai nicht im Geringsten anzufechten. Zum Ärger vieler Beobachter der chinesischen Blogosphäre erging er sich im Internet in Schmähungen, bedachte die feierlichen Zeremonien mit äußerster Verachtung und beschimpfte das Regime.
Für Peking schien mit der ehrenvollen Rolle als Gastgeber der Olympischen Spiele der kollektive chinesische Traum der Gleichberechtigung mit dem Rest der Welt in Erfüllung zu gehen. Doch während der Nationalstolz auf einem Höhepunkt angekommen war, drohten soziale Unruhen und Naturkatastophen die Stimmung zu kippen. Die riesige Uhr auf dem Tiananmen-Platz zählte die Tage, Stunden und Sekunden bis zur Eröffnung der Spiele, doch das Jahr des Triumphs begann damit, dass Hunderttausende von Urlaubern auf dem Heimweg zum Frühlingsfest (dem chinesischen Neujahr) auf Bahnhöfen eingeschneit wurden. Die ethnischen Unruhen in Lhasa, das Erdbeben von Wenchuan und der »Amoklauf« Yang Jias in einem Shanghaier Polizeirevier schockierten das ganze Land. Ais kritische Reaktionen auf diese Ereignisse unterschieden sich deutlich von der in Medien und Onlineforen vorherrschenden Mehrheitsmeinung. Er forderte soziale Verantwortung, Rechenschaftspflicht der Behörden und Transparenz. Freilich war er nicht die einzige kritische Stimme im Internet, dafür aber oft die schärfste. »Viele Menschen finden, dass von allen politischen Beiträgen im Internet meine am klarsten formuliert sind«, sagte er. »Und das beeinflusst sie stark.«Hinweis
Ai Weiwei wurde nach und nach zu einem der gefragtesten Kommentatoren Chinas zu gesellschaftlichen Fragen, und seine Bekanntheit ermöglichte es ihm, sich zunehmend offen und kritisch zu äußern. Er gab oft über ein Dutzend Interviews in der Woche. Seine Gesprächspartner waren internationale und nationale Journalisten, Studenten und Kuratoren, die ihn zu Themen aus Kunst, Kultur, Politik, dem Sammeln von Kunst und allen möglichen anderen Bereichen fragten. Seine Online-Präsenz wurde immer stärker, sein Blog begann sich mit seiner künstlerischen Tätigkeit zu vermischen, und sein länger werdender digitaler Schatten nahm zunehmend konkret aktivistische Züge an. In gleichem Maße wuchs die Bedrohung durch die Zensur.
Am 20. März 2009 rief Ai Weiwei im Internet zu einer gemeinsamen Aktion auf, mit der die Regierung der Provinz Sichuan unter Druck gesetzt werden sollte. Die Regierung sollte die Verantwortung für den Pfusch beim Bau der Schulen übernehmen, die im Erdbeben von Wenchuan eingestürzt waren. Tausende von Schulkindern waren getötet worden. Er nannte das Projekt Citizen Investigation und versprach: »Wir werden den Namen jeden einzelnen Kindes, das gestorben ist, herausfinden und in Erinnerung rufen.« An dem Projekt wirkte ein loses Team von rund hundert Freiwilligen mit, die in die Erdbebengebiete reisten, mit Familien, offiziellen Stellen und Arbeitern sprachen und von Ai Weiweis Büro aus telefonierten und von den Behörden die Herausgabe der genauen Zahl der Erdbebenopfer forderten. Sie bekamen zwar immer wieder zu hören, eine solche Zahl und die Namen der Toten seien bereits bekannt, doch niemand wusste, woher die Zahl kam oder wo eine entsprechende Liste veröffentlicht worden war. Die Gesprächsprotokolle wurden im Blog veröffentlicht, vom Betreiber allerdings – höchstwahrscheinlich auf Druck der Behörden – bereits Minuten später wieder gelöscht.
Ergebnis des Projekts war eine Liste von über fünftausend Kindern (im August 2010 waren es 5210) mit Namen, Geburtsdatum, Schule, Klasse und der Kontaktnummer eines Elternteils oder Erziehungsberechtigten. Die Freiwilligen trafen sich mit trauernden Eltern und ließen sich von ihnen erzählen, wie man sie in Haft genommen oder zur Annahme von Geld genötigt hatte, um ihr Schweigen zu erkaufen. Die Befragungen erbrachten eine Fülle heikler Daten und mehrere Stunden Filmmaterial. Daraus entstand später ein Dokumentarfilm, der von Ai Weiweis Büro aus kostenlos und landesweit verteilt wurde. Fast jeder konnte ihn über Twitter anfordern. Infolge des Projekts nahm die Löschung von Blog-Einträgen zu. Die Spannung stieg, als die Polizei Ais Telefon abhörte, Textnachrichten abfing und sein Haus mit zwei auffälligen, auf die Eingangstür gerichteten Kameras und gelegentlich von einem Minivan aus überwachen ließ. In Sichuan nahm die Polizei Freiwillige fest und ließ Ai durch sie Nachrichten zukommen: »Grüßt Ai Weiwei von uns, aber er ist hier nicht willkommen, wir wollen ihn hier nicht sehen.«Hinweis Am 26. Mai belästigten Polizisten in Zivil seine Mutter in ihrem Haus. Bei Ais Eintreffen wollten sie ihn verhören. Unter Berufung auf seine gesetzlichen Rechte verweigerte Ai die Aussage, solange die Männer sich nicht auswiesen. Als sie das nicht konnten, schleppte er sie auf die Wache und erstattete Anzeige. Es folgten weitere Begegnungen mit der Polizei. Weitere Blog-Einträge wurden gelöscht. Der durch das Citizen Investigation Project verursachte steigende Druck und der bevorstehende 20. Jahrestag des Tiananmen-Massakers führten am 28. Mai 2009 schließlich zur Schließung von Ai Weiweis Blog.
Während Freiwillige auf ausländischen Plattformen neue Blogs eröffneten, entdeckte Ai ein neues Forum: das Mikroblogging. Er meinte zwar, zu mehr als den 140 Zeichen von Twitter sei er derzeit ohnehin nicht fähig. Doch kann man mit 140 chinesischen Zeichen wesentlich mehr sagen als mit entsprechend vielen lateinischen Buchstaben, und das macht das Mikroblogging im Chinesischen viel interessanter. Überdies meint Ai, Mikroblogging passe besser zu ihm, weil es schneller und spontaner sei. Er meinte auch einmal, die Zitate Maos seien alle kürzer als 140 Zeichen.
Ai Weiweis künstlerische Arbeitsweise wurde vom Internet nachhaltig beeinflusst. Nach Fairytale, seiner ersten großen Arbeit in Wechselwirkung mit dem Blog, wurden der Einfluss des Citizen Investigation Project und die Auseinandersetzung mit den Folgen des Erdbebens von Wenchuan in seinen Ausstellungen von 2009 sichtbar. In großen Einzelausstellungen im Mori Art Museum von Tokyo und im Münchner Haus der Kunst klang nach, was für Ai das unvergesslichste Bild seines Besuchs im Erdbebengebiet war – zwischen den Trümmern liegende Kinderrucksäcke. Im Mori Art Museum zog sich eine Schlange aus eigens angefertigten schwarzen und weißen Rucksäcken über die Decke. Im Münchner Haus der Kunst waren Rucksäcke in leuchtenden Primärfarben an der Fassade des Museums zu chinesischen Schriftzeichen angeordnet. Zitiert wurde die Mutter eines Erdbebenopfers: »Sieben Jahre lang lebte sie glücklich in dieser Welt.« Die Mutter, deren Tochter der »Tofu-Architektur« der Schulen zum Opfer gefallen war, hatte Ai einen Brief geschrieben, und er hatte ihn in seinem Blog gepostet.Hinweis Die anonymen Rucksäcke waren wie Namen der auf bloße Zahlen reduzierten Kinder. Mithilfe seiner Liste will Ai diese Zahlen durch etwas ersetzen, das den sinnlosen Verlust von Leben symbolisiert und diesen Kindern das Einzige zurückgibt, das ihnen auf dieser Welt gehört hat: ihre Namen.
Das Citizen Investigation Project kam nur schleppend voran, weil immer wieder Freiwillige verhaftet wurden. Die meisten wurden nach einem kurzen Verhör (»Arbeiten Sie für Ai Weiwei?«) freigelassen. Der Intellektuelle und Aktivist Tan Zuoren war eine aufsehenerregende Ausnahme. Er hatte kurz nach dem Erdbeben bereits aus eigener Initiative dazu aufgefordert, die Namen von Opfern zu sammeln. Als er verhaftet und subversiver Machenschaften beschuldigt wurde, war klar, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe Reaktionen auf dieses Engagement waren. Im August 2009 reiste Ai zusammen mit Assistenten und einigen anderen Aktivisten nach Sichuan, um bei Tan Zuorens erstem Prozess auszusagen. Kurz nach der Ankunft im Hotel in Chengdu am 12. August wurde offensichtlich, dass die örtliche Polizei über die Reise informiert war. Wie immer, wenn Ai und sein Tross unterwegs waren, wurde alles auf Video festgehalten. Ai wurde gegen 3.00 Uhr durch Schläge an die Tür seines Hotelzimmers geweckt. Beim Eintreten der Polizisten kam es zu einem Handgemenge, von dem nur eine Tonaufnahme existiert. Ai bekam einen Schlag auf den Kopf und trug Kopfverletzungen davon, die erst im September bei seinem Eintreffen in München zur Vorbereitung seiner Ausstellung im Haus der Kunst richtig diagnostiziert wurden. Am 14. September stellten Ärzte in München eine Hirnblutung fest und leiteten sofort eine lebensrettende Operation ein. Die Blutung gilt als Folge des Schlages, den Ai in Chengdu abbekommen hatte. Nach der Operation ließen die heftigen Kopfschmerzen nach, die ihn seit der Misshandlung gequält hatten, doch unter Konzentrationsstörungen leidet er weiterhin.
Ai Weiweis Ruf eines Weisen in der chinesischen Kunstwelt und später seine Bekanntheit als Blogger machten ihn nahezu unantastbar für die chinesischen Behörden, die ihn sonst womöglich früher gestoppt hätten. Doch ist er nicht über Kritik erhaben. In China selbst ist die Stimmung geteilt zwischen Bewunderung und Kritik. Auf Reaktionen der Blogosphäre erwidert Ai mit teils gelehrten, teils aber auch geharnischten Formulierungen.Hinweis Als Kritiker ihm vorwarfen, er sei mit seiner Kritik nur deshalb so mutig, weil er einen ausländischen Pass habe, stellte er seinen chinesischen Pass online. Zu den beliebtesten Vorwürfen gehören »Schamlosigkeit«, »mangelnde Vaterlandsliebe« und »Lakai der amerikanischen Imperialisten«. Andere Zeitgenossen halten den Eifer, mit dem er Behörden angreift, und seine auf Konfrontation angelegten Gesprächsgewohnheiten für die Folge eines durch die Kulturelle Revolution verursachten »Stress-Syndroms«. Vielleicht ist seine Persönlichkeit am besten mit seinen eigenen Worten beschrieben: »In mir spiegeln sich alle Fehler meiner Zeit.«Hinweis
Von den Fehlern seiner Generation abgesehen, übte sein Vater einen enormen Einfluss auf seinen Extremismus aus. Ai Qing hatte eigentlich Malerei studiert, war aber ein bekannter Dichter des vorrevolutionären China, und Dichter waren damals unweigerlich auch politische Revolutionäre. Nach den »Gesprächen auf dem Yan’an-Forum über Literatur und Kunst« von 1942, bei denen die kommunistischen Intellektuellen und Künstler der Direktive der Partei unterstellt wurden, wurden Ai Qings Gedichte zu Instrumenten, welche die Massen »erwecken« und zu Revolutionären und Gefolgsleuten des Kommunismus machen sollten. Die Leistungen seines Vaters als eines anerkannten Dichters ermutigten Weiwei dazu, sich selbst im Schreiben zu versuchen. Vielleicht fühlt er eine gewisse Verpflichtung, sich mit dem Unrecht der politischen Partei zu befassen, die sein Vater einst unterstützt hatte.
Es gibt in China geschätzte fünfzig Millionen Blogs, und angesichts des steigenden Einflusses des Bloggens, Mikrobloggens und verschiedener Mailboxen in der computerkundigen Generation der Nachachtziger kann niemand die wachsende Bedeutung des Internets für die öffentliche Meinung und die Herausbildung einer Bürgergesellschaft bestreiten – am allerwenigsten der Staat. Die über Blogs verbreiteten Informationen genießen in China eine einmalig hohe Glaubwürdigkeit, denn im Unterschied zu Ländern, deren öffentliche Berichterstattung auf genauen und freien Nachrichtenquellen beruht, werden die antiquierten Medien der Volksrepublik straff von oben nach unten geführt und sind hochgradig anfällig für Informationssperren. Das bereits weitverbreitete Misstrauen gegenüber den Medien wurde durch Vorfälle wie den SARS – Skandal 2003 zusätzlich verstärkt. Das Internet bedroht zum Ingrimm vieler das Informationsmonopol der staatlich gebilligten Nachrichtenagenturen wie der Xinhua News Agency, der Antwort der Partei auf die Associated Press. Nachrichten von sozialen Unruhen, Arbeiterstreiks oder anderen Skandalen werden zuerst über das Internet verbreitet. Blog und Mailbox sind als unersetzliche Nachrichtenkanäle anerkannt, als einzige Plattform Chinas für kritische oder abweichende Ansichten.
Die enorme Beliebtheit von Blogs hat eine ganz neue Art von Blogger-Prominenz hervorgebracht, darunter den ebenso charmanten wie provokanten Han Han, den gegenwärtig beliebtesten Blogger Chinas und damit meistgelesenen Blogger der Welt, dessen Blog täglich fast 100000 Mal aufgerufen wird. Han Han hat die Schule abgebrochen, aber im selben Jahr einen renommierten Literaturpreis gewonnen. Anschließend hat er einen Roman geschrieben, der zum größten Bestseller Chinas der letzten zwanzig Jahre wurde, gefolgt von vier weiteren Romanen. Aufgrund der frechen, unabhängigen Ansichten, die er in seinem Blog verbreitet, wurde er »Stimme der Generation der Nachachtziger« genannt. Mit seinen beißenden Kommentaren zur Gesellschaft löst er heftige Debatten aus, und seine Bereitschaft, heikle Themen anzusprechen, bringt ihn gelegentlich auch in Konflikt mit der Zensur. Wie seine Beliebtheit zeigt, ist seine Generation zu mehr imstande als zu egoistischem Konsumdenken und übernimmt gelegentlich auch soziale Verantwortung. Aufgrund seiner »vernünftigen Kommentare« zu politischen und kulturellen Themen hat man in ihm sogar schon den »nächsten Lu Xun« sehen wollen.
Die offene Meinungsäußerung der chinesischen Blogger stellt die chinesische Regierung, die beständig zwischen Beschwichtigung der Bevölkerung und Überwachung und Unterdrückung von »den gesellschaftlichen Frieden gefährdenden« Informationen taktiert, vor eine ernste Herausforderung. Wie Google Inc. sehr gut weiß, sind zensierte Suchergebnisse und gesperrte Webseiten innerhalb der »Great Firewall of China« eine ärgerliche Realität, doch wird es im Zeitalter der globalen Kommunikation angesichts verschiedener »Leitern«, mit denen man »über die Mauer steigen« kann (fanqiang), zunehmend schwerer, Fakten zu vertuschen. Außerdem sind die chinesischen Hacker den Zensoren immer einen Schritt voraus. Der unterschiedliche Zugang zu Informationen hat zu einer ganz neuen Ära gespannter internationaler Beziehungen geführt. Verschiedene offizielle Versuche in Ländern wie Iran, Tunesien, Usbekistan und Vietnam, das Surfen im Internet zu verhindern, haben im Januar 2010 die US – Außenministerin Hillary Clinton zu ihrer Rede über die Freiheit im Internet veranlasst.
Zahllose Blogger mussten wie Ai Weiwei erfahren, dass heikle Posts gelöscht wurden. Einige Cyber-Dissidenten wurden sogar verhaftet. Die Behörden arbeiten an einer Zensur, die so feinmaschig ist, dass die Great Firewall überflüssig wäre. Ein auf über 280000 Mitglieder geschätztesHinweis Netz einer »Geheimpolizei« engagiert sich für die Informationskontrolle, durchstöbert ständig das Internet und löscht politisch missliebige Einträge unverzüglich. Zusätzlich manipuliert die »Fünf-Cent-Armee« von staatlich ausgebildeten und bezahlten Kommentatoren die öffentliche Meinung in Chatrooms und Blog-Kommentaren. Sogar unter den Blog-Kommentaren englischsprachiger Berichterstatter tauchen seit einiger Zeit Beiträge auf, in denen die offizielle Meinung verfochten wird. Nach den Unruhen in Ürümqi im Juli 2009 war das Internet in der gesamten Provinz Xinjiang monatelang gesperrt, und es konnten keine SMS – Nachrichten verschickt werden. Doch der Guerillakrieg um die Freiheit des Internets ist bereits entbrannt, und die immer heftigeren Reaktionen von offizieller Seite machen deutlich, wie nervös man angesichts der Bedrohung des Regimes durch Vernetzung und Datenaustausch ist.Hinweis
Ai Weiweis Schreiben ist von seinem Engagement als Aktivist geprägt, doch sind die in diesem Buch publizierten Texte nicht ausschließlich politischer Natur. Es handelt sich vielmehr um die besten seiner Posts zwischen 2006 und 2009. Sie zeigen das Profil des Künstlers und seiner unverwechselbaren Weltanschauung, die gleichermaßen durch Erfahrungen in Maos terroristischer Kulturrevolution wie den New Yorker Untergrund geprägt ist. Die Übersetzung macht endlich Ai Weiweis fortschrittliche, humanitäre Ansichten in seiner eigenen Stimme zugänglich. Die Themen reichen von der Evolution bis zu den Rechten der Tiere. Zur Sprache kommen auch Erinnerungen sowie immer wiederkehrende, für seine persönliche Weltanschauung wichtige Ideen und Themen wie etwa das Ideal der Einfachheit, die Verantwortlichkeit der Behörden, die Versöhnung der »Wahrheit« mit den Tatsachen und das Eintreten für wichtige Grundrechte wie die Redefreiheit.
Die chronologische Ordnung des Materials macht den geschickten Dialog des Künstlers mit seinem Publikum spürbar und spiegelt zugleich den gesellschaftspolitischen Zusammenhang und die sich überschlagenden Ereignisse der Zeit. Der größte Teil der hier publizierten Texte wurde 2006 gepostet. Zu ihnen gehören für den Blog verfasste Originalbeiträge sowie ins Internet gestellte frühere Text Ai Weiweis. Im Jahr 2007 war Ai Weiwei vor allem mit Fairytale beschäftigt und postete mehr Fotos als Wortbeiträge. Im Jahr 2008, im Laufe der letzten Monate vor der Olympiade, steigt die politische Ironie der Texte dramatisch an. Dasselbe gilt auch noch für 2009, das Jahr des Citizen Investigation Project, in dem Ai ein besonderes politisches Bewusstsein und Engagement entwickelt. Viele der letzten Posts vor Schließung des Blogs enthalten Tagebucheinträge und Notizen der in Sichuan arbeitenden Freiwilligen und Namenslisten von Schülern; sie wurden in dieses Buch nicht aufgenommen.
Ai Weiweis eigentümlicher Schreibstil mit seinen programmatischen Erklärungen, fortlaufenden Sätzen und seiner Neigung, vulgäre Flüche mit höchst raffiniert formulierten Beleidigungen zu verschmelzen, ruft oft extreme Reaktionen der Begeisterung oder heftigen Ablehnung hervor. Aufgrund der vielen literarischen Anspielungen und der versteckten Bezüge zur maoistischen Sprache oder zu zeitgenössischen Ereignissen kann die verborgene Bedeutung von Ais Prosa sogar chinesischen Lesern Schwierigkeiten bereiten. Durch die Übersetzung in andere Sprachen wächst der Bedarf von Anmerkungen noch. Die Anmerkungen des Buches sollen die gemeinten kulturellen Anspielungen und Bezüge erklären.
Die Internetliteratur spiegelt die Dynamisierung der Sprache in einem globalen Zeitalter und schafft sich entsprechend neue Regeln. In den vorliegenden Texten wurden einige chinesische Wörter direkt transkribiert in der Hoffnung, dass die deutschen und englischen Leser sich eines Tages an die Pinyin-Umschrift gewöhnen werden. Außerdem enthalten die Texte einige »Weiwei-ismen«. So verwendet Ai den Begriff »C-Nation« (C guo) als offensichtliche indirekte Anspielung auf China, die mit guo ein zweideutiges Element enthält, da guo auf das klassische Schriftzeichen für »Großes Reich« verweist. In »Beste Grüße an eure Mutter« dagegen (siehe die Texte aus dem Jahr 2009) wird die wörtliche Übersetzung von wenhou ni de muqin, einem Euphemismus des Internets für eine schlimme Beleidigung, den meisten Lesern unverständlich bleiben. Bei einigen wenigen Gelegenheiten spielt Ai metaphorisch auf China als ramponiertes altes Schiff an, mitunter nennt er es allerdings auch verächtlich einen »Flecken Land«.
Er verwendet ein klassisches Chinesisch, wenn er die Partei und ihre Politik mit einer herrschenden Dynastie vergleicht und etwa von Anwälten »für den kaiserlichen Gebrauch« oder »Palasteunuchen« spricht. Die Nuance des klassischen Chinesisch geht in der Übersetzung verloren, doch das Gemeinte dürfte auch so klar werden.
Außerdem wurde von der direkten Übersetzung Gebrauch gemacht: »Menschheit« (renlei) spiegelt das sächliche Geschlecht des chinesischen Begriffs. Wiederholte Kürzel der Netzsprache wie »P-Bürger« (pimin) und SB(shabi) werden durch entsprechende Anmerkungen erklärt. Populäre Meme des chinesischen Internets wie »der Katze entkommen« (duo maomao) und »Liegestütze machen« (fuwocheng) sind soziologische Besonderheiten der chinesischen Internetwelt und werden ausführlich erklärt. Auch Anspielungen auf die Agitprop aus der Zeit der Kulturrevolution oder die Deng-Xiaoping-Theorie werden kommentiert. Bei asiatischen Namen wird wie im Chinesischen gebräuchlich der Nachname vorangestellt. Durchgehend verwendet wurde das Hanyu Pinyin, die phonetische Umschrift des Chinesischen auf der Basis des lateinischen Alphabets.
In einigen Jahren werden Redewendungen wie »Liegestütze machen« altmodisch klingen, aber sie werden an die seltsamen Ereignisse dieser Zeit erinnern, stumme schriftliche Zeugen von Vorfällen, die gewisse Parteien gern aus den Annalen der Geschichte löschen würden. Vor zehn Jahren wäre ihnen das noch gelungen – doch das Internet hat sich in einem Land, das mit Gedächtnisverlust bereits zu viele böse Erfahrungen gemacht hat, als unschätzbares Instrument zur Bewahrung des Gedächtnisses erwiesen. Ai Weiwei weiß das nur zu gut, und er steht in dem im Cyberspace ausgefochtenen Kampf um die Bürgerrechte in China an vorderster Front. Die Grenze zwischen seiner Tätigkeit als Künstler und seinem Engagement als Aktivist verschwimmt dabei.
Das Urteil über Ai Weiweis Aktivismus und das künstlerische Erbe, das er einer ganzen Generation hinterlässt, kann nicht einstimmig ausfallen. Von wenigen abgelehnt, bei anderen umstritten, hat ihm sein unbeirrtes Eintreten für freie Meinungsäußerung gleichwohl weltweite Anerkennung eingebracht. Die Redefreiheit sollte jeder authentischen künstlerischen Betätigung zugrunde liegen, und in seinem Kampf, dieses Grundrecht einer breiteren Bevölkerung zugänglich zu machen, dient Ai Weiweis Kunst wahrhaftig dem Volk.
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China hat sich rasant zur zweitgrößten und am schnellsten wachsenden Volkswirtschaft der Welt entwickelt. Dieser Prozess hat dem chinesischen Markt für Architektur eine so kraftvolle Dynamik gegeben, dass er von der ganzen Welt aufmerksam beobachtet wird. Im Laufe der fast 30 Jahre währenden Konversion in ein kapitalistisches System sind in China bei der Bevölkerung große Hoffnungen und Ansprüche entstanden: Tausende und Abertausende von Dörfern ähneln inzwischen eher Städten; mehr als 100 Millionen Bauern wohnen jetzt in Städten und arbeiten in der Industrie; mehr als 100 Millionen Haushalte müssen umgesiedelt werden. Die Menschen gieren nach schnellem Reichtum, und sie sind überwiegend bereit, sich neu zu orientieren und in neuen Häusern, neuen Wohnvierteln und neuen Städten zu leben.
Eine uralte Zivilisation ist wieder ins Leben zurückgerufen worden, und mit ihr die Möglichkeit einer neuen Revolution in Bezug auf das Leben der Menschen.
In fast 100 Jahren gesellschaftspolitischer Praxis in China sind unzählige ethische und soziale Werte und ästhetische Formen, denen traditionelle Formen zugrunde lagen, verfälscht oder vernichtet worden – nichts ist übrig geblieben. An ihre Stelle sind das marxistische Konzept einer Utopie (die grausame Ideologie des »Klassenkampfes«) und eine unmenschliche gesellschaftliche Realität getreten. Die wirtschaftliche Reform und Öffnung vor fast 30 Jahren war eine unvermeidliche Weichenstellung für dieses geplagte Volk, das in eine historische Sackgasse geraten war. Binnen weniger Jahrzehnte hat diese Weichenstellung bewirkt, dass dieses Land mit 1,4 Milliarden Menschen zu einem wichtigen Faktor der globalen wirtschaftlichen und politischen Systeme wurde. China und die Welt waren beide gleichermaßen erstaunt, als sie sich kennenlernten, und das hat beide Parteien gezwungen, sich neu zu entdecken und die globale Hierarchie ebenso wie die Struktur aller globalen Systeme neu zu gestalten.Hinweis
In jeder Einflusssphäre tritt diese Nation (deren Bautätigkeit unlängst die Summe der gesamten Bautätigkeit ihrer tausendjährigen Geschichte übertraf) heute mit dem beunruhigenden Charme eines hungrigen Raubtiers auf. China verschlingt allein die Hälfte des weltweit produzierten Betons und ein Drittel des weltweit produzierten Stahls, und es produziert fast die Hälfte aller Textilien auf der Erde. In Anbetracht dieser aktuellen Fakten gerät die ganze Welt ins Staunen und schnappt mit aufgerissenen Augen und offenem Mund nach Luft.
In diesem leidvollen Prozess müssen die Chinesen lernen, mit immer neuen, unangenehmen Realitäten fertigzuwerden. Nach einem hundertjährigen Kampf sind wir zu jenen unvermeidlichen ausländischen Denkmustern von »Wissenschaft und Demokratie«Hinweis zurückgekehrt, und während wir die Früchte der menschlichen Kultur ernten, entdecken wir gleichzeitig, dass wir noch weitere bittere Pillen schlucken müssen.
Die Bautätigkeit in China hat, einmal abgesehen davon, dass sie mit Müh und Not das Grundbedürfnis eines Dachs über dem Kopf zu befriedigen vermag, weder spirituellen Gehalt noch einen Bezug zum kulturellen Vermächtnis des Landes. Angesichts der Geschwindigkeit und des Ausmaßes der gegenwärtigen Entwicklung sind eine aus dem Ausland übernommene, fortschrittliche Kultur und ausgereifte, technologische Systeme die einzigen Möglichkeiten, um den Anforderungen für Chinas Entwicklung zu begegnen. Es ist eine Frage von Leben und Tod, und nicht eine Geschmacksfrage. Gleichwohl treffen diese einleuchtenden Grundsätze in der Praxis auf den Widerstand der alten Mächte und Interessengruppen. Mit nationalistischen Sprüchen wie: »Zum Wohl der Nation« und »im Interesse des Staates« lenken sie von ihrer Kulturlosigkeit und ihrer Inkompetenz in Fragen der Wissenschaft ab.
Ein »China im Wandel« hat weltweites Interesse auf sich gezogen. In den letzten Jahren haben sich viele ausländische Architekten und Bauingenieure an großen und kleinen Projekten in ganz China beteiligt. Unter diesen Firmen finden sich sowohl die Elite der weltweiten Baukunst als auch gigantische Unternehmen, Baumaschinerien mit rein ökonomischen Zielen. Unter ihnen sind ferner idealistische, junge Architekten, die Neues entdecken und ihre Ideen in die Praxis umsetzen wollen, sowie viele Hochschulstudenten. Sie bringen ihr ganzes Wissen und ihre Erfahrung in dieses unbekannte Land und diese unbekannte Zivilisation mit.
Diese Männer der Praxis haben erstaunlichen Mut. Sie gehen ein echtes Abenteuer ein; meist sprechen sie kein Chinesisch, und sie müssen mit der Konfusion zurechtkommen, die entsteht, wenn verschiedene Sprachen, Konventionen, kulturelle Werte und gesellschaftliche Strukturen zusammenstoßen. Darüber hinaus sind sie mit Projekten von gigantischen Ausmaßen konfrontiert, die in absurder Geschwindigkeit mit geringsten Kosten gebaut werden sollen. Dazu kommen unklare Regeln und Vorschriften und absurde, komplizierte Arbeitsabläufe. Es mangelt an überprüfbaren Konzeptionen und klaren Regeln.
Die rätselhafte Zivilisation, die den Konfuzianismus und den Taoismus hervorbrachte, übernahm den Buddhismus und glaubt wie dieser an ein System zur Verwirklichung sozialistischer Ideale. Diese kulturelle Tradition wird von einem umfassenden und systematischen Ehrenkodex geprägt, und zugleich von einem extremen Materialismus. Diese Gesellschaft ist von politischem Dogmatismus überfrachtet und zugleich von der Laissez-faire-Praxis durchdrungen. Dieses Land strotzt vor Tatendrang, und ist geprägt von Ungerechtigkeit, es birgt Mögliches und Unmögliches, Chancen und Risiken, Überraschendes, Aufregendes, Enttäuschungen und Verzweiflung.
China ist Teil der Menschheitsgeschichte, viele kommen, um es kennenzulernen. Sei es wegen seiner philosophischen Bedeutung oder seiner gesellschaftlichen Entwicklung, China wird zu einem echten, unauslöschlichen Teil der globalen Zivilisation. In dem Maße, wie der Westen China begegnet, akzeptiert das Land allmählich auch die restliche Welt als eine potenzielle Form der Zivilisation und Ausdruck der menschlichen Natur. Dabei erkennt China womöglich auch die Grenzen und Unzulänglichkeiten von Vernunft und Ordnung, und es erfährt das Glück, das man aus dieser Erkenntnis gewinnen kann.
Geschrieben am 16. Dezember 2004
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Der wichtigste Faktor in der Architektur ist der Raum: die Beziehung zwischen Raum und Subjekt, das Verhältnis von einem Raum zu einem anderen Raum, der Anfang, die Fortsetzung, die Veränderung und das Verschwinden von Raum …
Licht definiert Gegenstände und verleiht Räumen ihre einzigartigen Merkmale. Die Intensität, Richtung und die wechselnde Natur von Licht und Schatten erregen anziehende wie auch abstoßende Emotionen bei Menschen. Emotionen sind das Fundament des Sinns für Ästhetik.
Das Volumen des Lichts, die Proportionen, Struktur und Materialien legen fest, wie wir Raum erleben. Raum kann auch auf psychischer Ebene wirken, er ist imstande, die Fantasie anzuregen.
Unser Verständnis für einen Raum und unsere Beschreibung dieses bestimmten Raums entspringen unserem Verständnis für die Ereignisse, die eines Tages in diesem Raum geschehen werden, die Gründe für die Geschehnisse und die Reaktionen auf die Geschehnisse eingeschlossen.
Den Raum zu erfassen, heißt Mensch zu sein. Wenn man das Potenzial des Raums und der damit zusammenhängenden Ereignisse besser verstehen möchte, dann sollte man einmal eine Katze beim Sprung oder das Hissen einer Flagge beobachten.
Das Gefühl eines Bauherrn für Raum und für die Möglichkeiten, den Raum zu formen, offenbart das Selbstverständnis eines Bauherrn und seine Interpretation dessen, was außerhalb der eigenen Person liegt. Es ist die Akzeptanz der Beschränktheit und der Sinn für das richtige Maß.
1.1 Maurer bei der Arbeit an den Red Brick Galleries in der Künstlerkolonie Caochangdi, 19. März 2007.
Wenn Menschen das Dasein jenseits der menschlichen Natur verstehen wollen, entsteht Verwirrung. Diese Verwirrung und der Versuch, sie zu deuten, sind ein Traum, dem wir nicht entrinnen können – die Realität des Daseins ist die Realität der Verwirrung. Sie ist allgegenwärtig, und unsere ewige Suche nach Wahrheit geht auf unsere immerwährende Befangenheit in Verwirrung zurück.
Der Mensch steht sich fortwährend selbst im Weg, und die Unfähigkeit, dieses Sich-im-Weg-Stehen zu überwinden, ist das Schicksal der Menschheit. Niemand kann das Außermenschliche erreichen.
Bauen ist keine natürliche Handlung. Menschen bauen, um ihr Wohlbefinden zu erhöhen. In der zweckmäßigen Funktion drückt sich aus, wie man etwas nutzt, und wie man es nutzt, drückt wiederum aus, wer man ist.
Das Bauen regt Menschen dazu an, Gedanken und Emotionen Form werden zu lassen. Der Charakter und die Neigungen des Bauherrn treten dabei deutlich zutage. Der Geist wird durch das Gebaute erhoben, und das Material überwindet seine materielle Beschränktheit, die Bauten bekommen dadurch eine geistige Ebene.
1.2 Bauarbeiter bei der Arbeit an den Red Brick Galleries in der Künstlerkolonie Caochangdi, 19. März 2007.
Gegenstände sind, was sie sind: Gegenstände. Aber die Gegenstände, die wir sehen, sind niemals die Gegenstände selbst; wir sehen lediglich das, was wir sehen.
Trachte beim Bauen stets nach Klarheit, Einfachheit, Geradlinigkeit und Exaktheit. Neben »ist« und »ist nicht« existieren gleichzeitig »ob oder ob nicht«, »oder«, »anders« und »auch«. Die Baukunst steht derzeit oft vor dem Problem, wirkungsvolle Mittel finden zu müssen. Macht manifestiert sich als die Zerstörung der psychischen Ordnung der Menschen. Unsicherheit entspricht ewiger Verwirrung – ein Zustand, der sich in Worten nicht ausdrücken lässt. Wenn ein gebautes Objekt nicht von der Ehrfurcht des Bauherrn für das Unbekannte durchdrungen ist oder keinen höheren intellektuellen Anspruch in sich trägt, dann ist es lediglich eine Müllhalde für Materialien.
Die Probleme der Baukunst gehen darauf zurück, dass der unerfahrene und der erfahrene Architekt mit ähnlichen Problemen konfrontiert werden: Der Unerfahrene trachtet danach, Erfahrungen zu sammeln, und der Erfahrene trachtet danach, Erfahrung abzulegen. Diese Versuche sind vergebens, wie das Warten auf einen Windstoß, der uns gute Laune bringt, so ein Wind wird niemals kommen.
Gleichsam als spiele man ein Spiel, das auf den ersten Blick einfach scheint, aber dann bleibt es doch unmöglich, die naheliegende Antwort zu finden. Also kommen wir nicht umhin, alle unsere bisherigen Bemühungen zu verwerfen und von vorn zu beginnen. Die Probleme der Baukunst sind in Wirklichkeit philosophischer Natur; Bauen ist ein Spiel, bei dem wir nie aufhören dürfen, zum Anfang zurückzukehren. Jeder Versuch, etwas zu bauen, markiert einen Versuch, eine Frage zu stellen, aber die Antwort ist nicht fassbar, wir jagen vergeblich wie eine schwarze Katze, die ihren eigenen Schatten erbeuten will. Wenn wir neu anfangen, dann bleibt nur ein Durst nach authentischen Objekten und Ideen, zusammen mit der Intention, dem eigentlichen Ziel näher zu kommen. Sobald ein Spiel, das niemals hätte beginnen dürfen, begonnen hat, hört es nie wieder auf.
Künstler sind keine Kosmetiker. Sie sind keine Dienstleister, sind nicht verpflichtet, dekorative Kulissen zu schaffen. Kunst ist eine Art Spiel – entweder man spielt mit oder man setzt aus. Es liegt an einem selbst. Zwischen der Kunst und dem Menschen besteht eine ganz normale Beziehung, in der keine Seite der anderen dient, und der einzige Unterschied zwischen öffentlicher Kunst und gewöhnlicher Kunst liegt darin, dass öffentliche Kunst in einem nicht privaten Raum ausgestellt wird.Hinweis Gewisse intime Handlungen werden unterlassen, solange man sich in der Nähe des Kunstwerks aufhält, aber nachts kann man dort unbemerkt seine Notdurft verrichten.
Das Adjektiv »öffentlich« im Zusammenhang mit einem öffentlichen Kunstwerk bezieht sich im Grunde nur auf einen persönlichen Raum. Es beinhaltet kein künstlerisches Werturteil. Das Kunstwerk dient nicht der Öffentlichkeit. Es wurde auch nicht für die Öffentlichkeit geschaffen. Man kann es in der Öffentlichkeit ausstellen, aber das Kunstwerk könnte auch die Existenz einer Allgemeinheit völlig ignorieren. Hier hat sich die Kunst einfach wirkungsvoll eine öffentliche Umgebung zunutze gemacht. Sie ist nicht verpflichtet, etwas zu verschönern oder zu zieren.
Wer an den Geschmack der breiten Masse glauben möchte, muss auch ausreichendes Vertrauen zu den Menschen haben. Wenn die Allgemeinheit über ein Stück Stoff, das mit chemischen Pigmenten rot gefärbt wurde, ins Schwärmen gerät, dann kann sie auch ein Betonfass lieben – oder zumindest verstehen.Hinweis