1000 Jahre Freud und Leid - Ai Weiwei - E-Book
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1000 Jahre Freud und Leid E-Book

Ai Weiwei

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Beschreibung

Einer der größten Künstler unserer Zeit erzählt sein Leben vor dem Hintergrund der Geschichte Chinas

Ai Weiwei gehört zu den bekanntesten Künstlern unserer Zeit. In »1000 Jahre Freud und Leid« schildert er erstmals seinen außerordentlichen künstlerischen Werdegang vor dem Hintergrund der Geschichte seiner Familie in China. Schon als Junge erlebte er die Verbannung und Demütigung seines Vaters Ai Qing, einst ein Vertrauter Maos und Chinas einflussreichster Dichter, der im Zuge der Kulturrevolution als »Rechtsabweichler« gebrandmarkt wurde. Diese Erfahrungen prägten Ai Weiweis Schaffen und seine politischen Überzeugungen. Er beschreibt die schwierige Entscheidung, seine Familie zu verlassen, um für ein Kunststudium in die USA zu gehen, wo er sich u. a. mit Allen Ginsberg anfreundete und künstlerische Inspiration fand. Offen erzählt er von seinem Aufstieg zu einem Star der internationalen Kunstwelt, der aufgrund seiner Menschenrechtsaktivitäten jedoch immer stärker ins Visier des chinesischen Regimes geriet, das ihn schließlich 2011 mehrere Monate inhaftierte. Die sehr persönlichen und vom Künstler selbst reich illustrierten Erinnerungen geben nicht nur einen fesselnden Einblick in Ai Weiweis Leben und Arbeiten, sie sind zugleich Mahnung, die Meinungsfreiheit immer wieder neu zu verteidigen.

Zeitgleich erscheint eine deutsche Ausgabe von Gedichten seines Vaters Ai Qing, »Schnee fällt auf Chinas Erde«, ISBN 978-3-328-60242-2.

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EPUB

Seitenzahl: 635

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Über das Buch

Einer der größten Künstler unserer Zeit erzählt sein Leben vor dem Hintergrund der Geschichte Chinas

Es ist, als ballten sich tausend Jahre Freud und Leid in hundert Jahren: Eindrucksvoll schildert Ai Weiwei die Geschichte seiner Familie und seine eigene außerordentliche künstlerische Entwicklung unter den Bedingungen eines autoritären Regimes. Als Junge erlebte er die Verbannung und Demütigung seines Vaters Ai Qing, einst ein Vertrauter Maos und Chinas einflussreichster Dichter, der im Zuge der Kulturrevolution als »Rechtsabweichler« gebrandmarkt wurde. Diese Erfahrungen prägten Ai Weiweis Schaffen und seine politischen Überzeugungen, und er selbst geriet in Konflikt mit den chinesischen Behörden. Die sehr persönlichen und vom Künstler selbst reich illustrierten Erinnerungen geben nicht nur einen fesselnden Einblick in Ai Weiweis Leben und Arbeiten, sie sind zugleich Mahnung, die Meinungsfreiheit immer wieder neu zu verteidigen.

Zeitgleich erscheint eine deutsche Ausgabe von Gedichten seines Vaters Ai Qing, »Schnee fällt auf Chinas Erde«, ISBN 978-3-328-60242-2.

Ai Weiwei, geboren 1957 in Peking, gehört zu den bekanntesten und bedeutendsten Künstlern der Gegenwart. Seinen internationalen Durchbruch erlebte er 2007 mit seiner Teilnahme an der Documenta 12. Der Menschenrechtsaktivist und Regimekritiker nahm 2015 nach der Aufhebung eines Reiseverborts eine Gastprofessur an der Berliner Akademie der Künste an, wo er seither auch lebte. 2019 zog er mit seiner Familie nach Cambridge in England.

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DIERUINENSTADTJIAOHE

Mir ist, als zögen Karawanen durch die Stadt,

Kamelglöckchen im Stimmenlärm der Menge,

wie einst belebt ein Markt die Straßen,

Wagen wie strömendes Wasser, Pferde wie Drachen.

Doch nein, der prächtige Palast

ist längst in Trümmern;

von tausend Jahren Freud und Leid

blieb keine Spur zurück.

Ihr, die ihr lebt, lebt in der Fülle,

hofft nicht, dass die Erde Erinnerung bewahrt.

Ai Qing, 1980

AIWEIWEI

1000 JAHREFREUDUNDLEID

ERINNERUNGEN

Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Elke LinkÜbertragung der Gedichte aus dem Chinesischen von Susanne Hornfeck

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel 1000 Years of Joys and Sorrows: A Memoir bei Crown, einem Imprint von Random House, einem Teil von Penguin Random House LLC, New York.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Copyright © der Originalausgabe 2021 by Ai WeiweiCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenRedaktion: Wu Hung-YuBildbearbeitung: Helio Repro GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München, auf der Grundlage des Entwurfs von Christopher BrandUmschlagabbildung: Ai WeiweiAutorenfoto: © Ai Weiwei StudioSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN978-3-641-16735-6V001www.penguin-verlag.de

Dieses Buch ist meinen Eltern und meinem Sohn gewidmet.

Inhalt

kapitel 1:Durchsichtige Nacht

kapitel 2:Die Herzen brennen

kapitel 3:Schnee fällt auf Chinas Erde

kapitel 4:Der Sonne entgegen

kapitel 5:Die neue Epoche

kapitel 6:Der Traum des Blumenzüchters

kapitel 7:Von Fern-Nordost nach Fern-Nordwest

kapitel 8:Die Welt ist euer

kapitel 9:Freier als der Wind

kapitel 10:Demokratie oder Diktatur?

kapitel 11:»New York, New York«

kapitel 12:Perspektive

kapitel 13:FAKE Design

kapitel 14:Fairytale

kapitel 15:Die Bürgerermittlung

kapitel 16:Disturbing the Peace

kapitel 17:Das Krabbenessen

kapitel 18:Einundachtzig Tage

kapitel 19:Lebt in der Fülle

Nachwort

Dank

Anhang

Zur Übertragung der Gedichte

Zitatnachweis

Bildnachweis

Über den Autor

Bildteil

kapitel 1 Durchsichtige Nacht

Gelächter steigt auf aus den Feldern.

Ein Trupp von Trinkern verlässt

das schlafende Dorf, hinein

in die verschlafene Steppe

gehen sie lärmend.

Nacht, durchsichtige Nacht!

Aus: »Durchsichtige Nacht«, geschrieben von meinem Vater 1932 in einem Shanghaier Gefängnis

Ich wurde im Jahr 1957 geboren, acht Jahre nach der Gründung des »neuen Chinas«. Mein Vater war damals siebenundvierzig. Als ich noch klein war, sprach mein Vater selten über die Vergangenheit, weil alles in den dichten Nebel der vorherrschenden, politischen Darstellung gehüllt war und jede Erkundigung nach den Fakten das Risiko barg, einen so furchtbaren Rückschlag auszulösen, wie man ihn sich gar nicht ausmalen wollte. Um den Anforderungen der neuen Ordnung nachzukommen, erlitt das chinesische Volk ein Austrocknen des geistigen Lebens und den Verlust der Fähigkeit, Ereignisse so zu erzählen, wie sie wirklich geschehen waren.

Ein halbes Jahrhundert sollte vergehen, ehe ich anfing, darüber nachzudenken. Am 3. April 2011, als ich im Begriff war, vom Flughafen Beijing-Hauptstadt abzufliegen, fiel ein Schwarm Polizisten in Zivil über mich her, und für die nächsten einundachtzig Tage verschwand ich in einem schwarzen Loch. Während meiner Inhaftierung fing ich an, über die Vergangenheit nachzudenken: Ich dachte insbesondere an meinen Vater und versuchte mir vorzustellen, wie achtzig Jahre zuvor das Leben für ihn hinter den Gittern eines Gefängnisses der Nationalisten wohl gewesen sein mochte. Mir wurde klar, dass ich kaum etwas über seine Strapazen wusste, und ich hatte mich nie aktiv für seine Erlebnisse interessiert. In der Ära, in der ich aufwuchs, setzte uns die ideologische Indoktrinierung einem intensiven, alles durchdringenden Licht aus, das unsere Erinnerungen wie Schatten verschwinden ließ. Erinnerungen waren eine Last, und es war am besten, sich ihrer zu entledigen; schon bald verloren die Menschen nicht nur den Willen, sondern auch die Kraft, sich zu erinnern. Wenn gestern, heute und morgen zu einem ununterscheidbaren, trüben Fleck verschwimmen, dann ist Erinnerung – abgesehen davon, dass sie potenziell gefährlich ist – so gut wie bedeutungslos.

Viele meiner ersten Erinnerungen sind bruchstückhaft. Als ich ein kleiner Junge war, glich die Welt in meinen Augen einem geteilten Bildschirm. Auf der einen Hälfte stolzierten US-Imperialisten mit Smoking und Zylinder umher, liefen mit dem Stock in der Hand, gefolgt von ihren Jagdhunden: den Briten, Franzosen, Deutschen, Italienern und Japanern, zusammen mit den Reaktionären der Kuomintang, die sich auf Taiwan verschanzt hatten. Auf der anderen Hälfte standen Mao Zedong und die Sonnenblumen an seiner Seite – das heißt: die Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, die sich nach Unabhängigkeit und Befreiung von Kolonialismus und Imperialismus sehnten; wir waren diejenigen, die für Licht und Zukunft standen. Auf Propagandafotos wurde der vietnamesische Führer »Großvater« Ho Chi Minh von furchtlosen jungen Vietnamesen mit Bambushüten begleitet – ihre Gewehre waren auf US-Kriegsflugzeuge am Himmel gerichtet. Tag für Tag wurden uns die heldenhaften Geschichten ihrer Siege über die Yankee-Schurken eingebläut. Zwischen den beiden Hälften lag eine unüberbrückbare Kluft.

In jener Ära, die man der Information beraubt hatte, kamen persönliche Entscheidungen treibenden Wasserlinsen gleich, wurzellos und substanzlos. Die Erinnerung, die man zum Trocknen ausgewrungen hatte, bekam Risse und zerbrach, weil ihr die Nahrung individueller Interessen und Bindungen verweigert wurde: »Das Proletariat muss zuerst die ganze Menschheit befreien, bevor es sich selbst befreien kann«, hieß es. Nach den Erschütterungen, die China durchgemacht hatte, waren echte Emotionen und persönliche Erinnerungen auf winzige Scherben reduziert worden und konnten ohne Weiteres durch den Diskurs des Kampfes und der endlosen Revolution ersetzt werden.

Das Gute ist, dass mein Vater Schriftsteller war. In Gedichten hielt er Gefühle fest, die tief in seinem Herzen geschlummert hatten, auch wenn diese kleinen Ströme der Ehrlichkeit und der Aufrichtigkeit kein natürliches Ventil bei diesen unzähligen Veranstaltungen fanden, als politische Wellen alles mit sich rissen, was ihnen in die Quere kam. Heute vermag ich lediglich, die verstreuten Bruchstücke nach dem Sturm aufzusammeln und zu versuchen, ein Bild daraus zusammenzustellen, so unvollständig es auch sein mag.

In dem Jahr, in dem ich zur Welt kam, entfesselte Mao Zedong einen politischen Sturm: die Kampagne gegen Rechtsabweichler, die zum Ziel hatte, »rechte« Intellektuelle auszumerzen, die die Regierung kritisiert hatten. Der Strudel, der meinen Vater mit sich verschlang, stellte auch mein Leben auf den Kopf, indem er einen Makel auf mir zurückließ, den ich bis heute mit mir herumtrage. Als führender »Rechtsabweichler« unter den chinesischen Schriftstellern wurde mein Vater verbannt und gezwungen, sich der »Besserung durch Arbeit« zu unterziehen. Das vergleichsweise angenehme Leben, das er nach der Gründung des neuen Regimes 1949 genossen hatte, nahm damit ein jähes Ende. Anfangs in die eisige Wildnis im fernen Nordosten vertrieben, wurden wir später in die Stadt Shihezi am Fuß des Tian-Shan-Gebirges in der Provinz Xinjiang verlegt. Wie ein kleines Boot, das in einem Taifun Zuflucht sucht, fanden wir dort einen Unterschlupf, bis sich die politischen Winde erneut drehten.

Im Jahr 1967 trat dann Maos »Kulturrevolution« in eine neue Phase ein, und mein Vater, der inzwischen als Urheber bourgeoiser Literatur und Kunst galt, wurde erneut auf die schwarze Liste ideologischer Zielobjekte gesetzt, zusammen mit den Trotzkisten, Abtrünnigen und Anti-Partei-Elementen. Das war kurz vor meinem zehnten Geburtstag, und die darauffolgenden Ereignisse werde ich nie vergessen.

Im Mai dieses Jahres besuchte uns ein führender radikaler Revolutionär aus Shihezi in unserem Haus. Mein Vater habe ein viel zu angenehmes Leben geführt, sagte er, und jetzt würden sie ihn zur »Umerziehung« an eine abgelegene, paramilitärische Produktionseinheit schicken.

Mein Vater gab keine Antwort.

»Erwartest du etwa von uns, dass wir für dich eine Abschiedsfeier veranstalten?«, höhnte der Mann.

Nicht lange danach fuhr ein »Befreiungs«-Lastwagen vor der Eingangstür unseres Hauses vor. Wir beluden ihn mit ein paar schlichten Möbelstücken und etwas Kohlen und warfen unser Bettzeug zusammengerollt obendrauf – viel mehr hatten wir nicht zum Mitnehmen. Es fing an zu nieseln, als Vater sich in die Fahrerkabine setzte; mein Stiefbruder Gao Jian und ich kletterten auf die Ladefläche des Lastwagens und kauerten uns unter die Plane. Der Ort, an den wir fuhren, lag am Rand der Wüste Gurbantünggüt; unter den Einheimischen hieß er nur »Klein-Sibirien«.

Statt mit uns zu fahren, beschloss meine Mutter, meinen kleinen Bruder Ai Dan nach Beijing zurückzubringen. Nach zehn Jahren in der Verbannung war sie nicht mehr jung und konnte die Aussicht, unter noch primitiveren Bedingungen zu leben, nicht ertragen. Shihezi war der am weitesten abgelegene Ort gewesen, an den sie noch mitgehen wollte. Es gab keine Möglichkeit, die Familie zusammenzuhalten. Ich bat meine Mutter nicht, mit uns zu fahren, noch flehte ich sie an, meinen kleinen Bruder zurückzulassen. Ich blieb stumm, weder verabschiedete ich mich, noch fragte ich, ob sie zurückkehren würde. Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, bis sie aus dem Blick verschwanden, als wir aufbrachen. Für mich war bleiben nicht anders als gehen; wie auch immer, es war nicht an uns, das zu entscheiden.

Der Lastwagen ruckelte heftig, während er über eine scheinbar endlose, schmutzige Straße voller Schlaglöcher und Rinnen kroch, und ich musste mich am Rahmen festhalten, damit ich nicht in die Luft geschleudert wurde. Eine Matte neben uns wurde von einem Windstoß erfasst und wirbelte binnen weniger Sekunden davon, sie verschwand in der Staubwolke hinter uns.

Nach etlichen, schmerzhaften Stunden blieb der Lastwagen endlich am Rand der Wüste stehen. Wir waren an unserem Ziel angelangt: dem Produktions- und Baukorps des Militärbezirks Xinjiang, Agrardivision 8, Regiment 23, Zweig 3, Kompanie 2. Es war eine von vielen Einheiten dieser Art, die in den 1950er-Jahren in den Grenzregionen Chinas mit zwei Zielen gegründet worden waren. In Friedenszeiten würden die Arbeiter des Produktions- und Baukorps das Land für die Bebauung erschließen und Ackerbau betreiben, um die Volkswirtschaft des Landes zu fördern. Sollte mit einem Nachbarstaat Chinas ein Krieg ausbrechen oder sollte es zu Unruhen unter der Bevölkerung der ethnischen Minderheit kommen, würden die Arbeiter ihre militärische Funktion erfüllen und die nationalen Verteidigungsanstrengungen unterstützen. Wie wir am eigenen Leib erfahren sollten, hatten solche Einheiten bisweilen eine zusätzliche Funktion: die Unterbringung von Straftätern, die man aus ihrer Heimat anderswo in China verbannt hatte.

Die Dämmerung war angebrochen, und der Klang einer Flöte drang von einer Reihe niedriger Hütten an unser Ohr; mehrere junge Arbeiter standen draußen und beobachteten uns neugierig. Uns wurde ein Raum zugeteilt, in dem nur ein Doppelbett stand, sonst nichts. Mein Vater und ich trugen den kleinen Tisch und vier Stühle hinein, die wir aus Shihezi mitgebracht hatten. Der Fußboden war aus gestampfter Erde und die Wände waren Lehmziegel, aus denen Strohhalme herausragten. Ich stellte eine simple Öllampe her, indem ich Petroleum in eine leere Arzneiflasche goss, in den Verschluss ein Loch stach und ein Stück Schnürsenkel hindurchfädelte.

Mein Vater brauchte im Leben wenig, abgesehen von der Zeit zum Lesen und Schreiben. Und er hatte kaum Aufgaben gehabt. Stets hatte sich meine Mutter um die Hausarbeit gekümmert, und sie hatte nie von uns erwartet, dass wir ihr zur Hand gingen. Aber jetzt waren nur noch mein Vater, Gao Jian und ich da, und unsere Lebensumstände erregten die Neugier der anderen Arbeiter, ungehobelter »Krieger der Militärfarm«, die bei ihren Erkundigungen keine Scheu kannten. »Ist das dein Opa?«, fragten sie mich, oder: »Vermisst du deine Mama?« Mit der Zeit lernte ich, mich selbst um alles zu kümmern.

Ich versuchte, uns einen Ofen zu bauen, damit wir uns Wärme verschaffen und Wasser kochen konnten. Aber aus dem Ofen trat überall Rauch aus, außer aus dem Schornstein, und wenn ich das Feuer schürte, brannten mir die Augen, und ich musste husten, bis ich erkannte, dass die Luft ungehindert in die Kammer strömen musste. Und dann gab es noch die anderen Hausarbeiten wie Wasser holen aus dem Brunnen, die Mahlzeiten aus der Kantine abholen, den Ofen mit Brennholz füttern und die Asche zusammenfegen. Jemand musste diese Arbeiten erledigen, und meistens war ich derjenige.

Für uns war die Vergangenheit etwas, das von unserem neuen Dasein getrennt war – die beiden hatten nichts miteinander gemeinsam, abgesehen davon, dass die Sonne morgens auf- und abends unterging. Unser Leben glich jetzt einem endlosen Überlebenstraining in der Wildnis, sofern wir das Glück hatten zu überleben. Die Militärfarm blickte nach Norden, auf eine Wüste so groß wie die Schweiz. Als ich sie das erste Mal sah, war ich so aufgeregt, dass ich über den nackten Sand rannte, bis ich außer Atem war. Dann lag ich flach auf dem Boden und starrte in den endlosen blauen Himmel. Doch die Aufregung verpuffte schon bald. Unter dem grellen Licht der Sonne gab es keinen Schatten auf dem Wüstenboden, eine Salzebene so weiß, dass es aussah, als wäre sie von einem dicken Schneeteppich bedeckt. Jedes Mal wenn eine Bö des heißen Windes vorbeiwehte, rollten Kameldornbüsche in unsere Richtung und diese sowie die Sandkörner trafen mein Gesicht, stachen mich wie Nadeln in die Haut.

Die Arbeiter kamen aus völlig verschiedenen Hintergründen, mit ominösen, unsäglichen Vergangenheiten, die sie mithilfe dieser Grenzregion hinter sich lassen konnten. Von den Gemeinschaften, denen sie einst angehört hatten, vergessen, lebten sie nur im Hier und Jetzt. Viele waren Mitglieder der stigmatisierten »fünf schwarzen Kategorien«: Grundbesitzer, reiche Bauern, Konterrevolutionäre, schlechte Elemente und Rechtsabweichler. Oder sie waren, wie ich, Kinder von Mitgliedern der schwarzen Kategorien. Einige waren ehemalige Soldaten, und andere waren junge Menschen, die in ihren Heimatstädten unerwünscht waren, oder Flüchtlinge aus verarmten Regionen im Hinterland Chinas. Hier mussten sie zumindest nicht Hunger leiden, indem sie Ödland bebauten und genügend Produkte ernteten, um sich zu ernähren.

Anfangs wurde mein Vater dem Team der Forstverwaltung zugeteilt. Um ihn zu isolieren und seinen schädlichen Einfluss zu begrenzen, befahlen sie ihm, allein Bäume zu beschneiden, und schickten ihn mit einer Schere und einer kleinen Säge los. Die Ulmen und russischen Olivenbäume der Farm waren, seit man sie gepflanzt hatte, nie beschnitten worden; und inzwischen wuchsen sie so willkürlich, dass sie eher Büschen als Bäumen glichen. Ihre Stämme waren von Schafen verbissen und angenagt worden, und überall sprossen Seitenäste. Aber Vater fand schon bald Gefallen an seinem neuen Job, weil er Bäume mochte und froh war, einen gewissen Abstand zur Menge zu halten.

Unterdessen ging ich morgens zum Unterricht, den der einzige Lehrer der Schule im einzigen Klassenzimmer zusammen mit sechs oder sieben anderen Zweit- und Drittklässlern hielt. Die Militärfarm bot keinen Unterricht für ältere Kinder an, also musste mein Bruder Gao Jian, der fünf Jahre älter als ich war, die weiterführende Schule an einer anderen Produktionseinheit besuchen, wo er als Internatsschüler lebte.

Wenn die Schule aus war, nahm ich eine Thermosflasche und ging den langen, langen Weg zu meinem Vater. Aus der Ferne beobachtete ich, wie er einen Baum umkreiste, hier und da Zweige beschnitt, dann ein paar Schritte zurücktrat, um zu prüfen, ob die beiden Seiten im Gleichgewicht waren. Als er schließlich mein Kommen bemerkte, brauchte er ein paar Sekunden, um sich zu entspannen. Einmal, ich erinnere mich gut, wischte er die Stirn ab, als er gierig das Wasser trank, das ich gebracht hatte, dann reichte er mir einen Zweig Ulmenholz, den er abgesägt hatte. Sorgfältig rieb er die Knoten und Flecken ab, und dann war der Zweig so glatt und glänzend wie ein altes Zepter.

Im Zentrum des Hauptquartiers befand sich eine Aula, die Fassade verziert mit einem fünfzackigen Stern, dessen leuchtendes Rot zu einer fahlen Rostfarbe verblasst war. Hier im Baukorps nahm die Aula den gleichen Status wie früher ein Ahnenschrein ein. Solche Säle traf man mittlerweile in ganz China an, in Fabriken und Kommunen, in Regierungsorganisationen, Schulen und Armeeeinheiten. Über der Bühne hing ein Porträt Maos, mit Marx und Engels zur Linken und Lenin und Stalin zur Rechten, alle gegenüber der Saalmitte, den Blick in die Ferne gerichtet.

Egal wie anstrengend der Arbeitstag auch gewesen sein mochte, der Betrieb veranstaltete jeden Abend eine Versammlung. Unter dem grellen Licht einer Quecksilberdampflampe stellten 240 Arbeiter und deren Familien ihre Stühle auf dem Fußboden auf und hörten zu, während der politische Ausbilder einen ideologischen Bericht vortrug, in dem er die politischen Ereignisse auf nationaler Ebene analysierte. In jener Zeit, als »Politik« alle Aspekte des Lebens durchdrang, musste man jeden Tag bei Morgengrauen um die Anweisungen des Vorsitzenden Mao bitten, ehe man seine Arbeit oder Studien antrat, und am Ende des Tages wurde ein vergleichbares Ritual vollzogen: Man berichtete dem Vorsitzenden über den Fortschritt der eigenen Arbeit oder Studien an diesem Tag. Der politische Ausbilder musste Anleitung für die Umsetzung der Parteilinie, die Durchführung der Maßnahmen der Partei und die Ausübung der Entscheidungen und Direktiven höherer Behörden sowie für das Studium des Marxismus-Leninismus und der Mao-Zedong-Gedanken, sprich: des Maoismus geben. Danach bewertete der Kommandant die Tagesarbeit und listete die Aufgaben für den folgenden Tag auf.

In der Regel wurden diejenigen, die den fünf schwarzen Kategorien angehörten, nach vorn auf die Bühne gerufen, wo sie reuevoll den Kopf vor dem Publikum unter ihnen senken mussten. Auch wenn mein Vater eindeutig anwesend war, schrie der Beamte mit dem Vorsitz immer: »Ist der große Rechtsabweichler Ai Qing hier?« Es war Standard, das Adjektiv »groß« vor »Rechtsabweichler« einzuschieben, wenn von meinem Vater die Rede war, in Anbetracht seines Ansehens und Einflusses als Schriftsteller. Einmal wurde er sogar als »bürgerlicher Romanschreiber« verunglimpft – eine merkwürdige Bezeichnung, weil ihn seine Gedichte berühmt gemacht hatten. Doch das Publikum hatte eigentlich gar kein Interesse daran, wer er war oder was er in seinem Leben getan hatte. Alles, was auf der Versammlung gesagt wurde, wurde als Standardverfahren und absolut vernünftig angesehen, denn die Revolution brauchte Feinde – ohne sie würden die Menschen ein tiefes Unbehagen empfinden.

Wenn mein Vater aufgerufen wurde, erhob er sich von seinem Stuhl, bahnte sich einen Weg durch die Menge und nahm seinen Platz auf der Bühne ein; sein Haar fiel ihm immer über die Stirn, wenn er den Kopf zur Anerkennung seiner Verbrechen senkte. Einen Moment lang verstummte das Publikum, ehe es wieder in die übliche Sorglosigkeit verfiel, die Kinder wild umherrannten, während die Männer derbe Witze rissen und die Frauen ihre Babys stillten oder strickten oder beim Plaudern Sonnenblumenkörner zwischen den Zähnen knackten.

Wenn der Machthaber auf der Bühne sagte: »Jetzt lassen wir den großen rechten Ai Qing gehen«, verließ mein Vater sofort den Saal. Er wusste nie im Voraus, ob er überhaupt entlassen wurde. Das hing stets davon ab, ob es eine »neueste Weisung« des Vorsitzenden Mao gab oder nicht, die man dem Publikum mitzuteilen hatte. Wenn das der Fall war, durften Leute wie mein Vater nicht anwesend sein.

In den Jahren der Kulturrevolution gab es so gut wie jeden Tag – oder jede Nacht – Weisungen des Vorsitzenden Mao, die weitergegeben werden mussten. Der Schreiber der Militärfarm schrieb sie immer Wort für Wort und Zeile für Zeile mit, während sie am Telefon vorgelesen wurden, bevor sie auf den abendlichen Versammlungen öffentlich bekannt gegeben wurden. Diese Botschaften hatten eine ähnliche Funktion wie Donald Trumps spätabendliche Tweets, als er noch im Amt war. Sie waren die direkte Vermittlung der Gedanken eines Führers an seine ergebenen Anhänger und förderten so die Heiligkeit seiner Autorität. Im Fall der Chinesen gingen diese Äußerungen noch weiter, da sie absoluten Gehorsam einforderten. Kaum waren sie verkündet, da feierte eine Kakophonie aus Becken- und Trommelschlägen die Vermittlung der Weisheit Maos, und die Zuhörer wurden mit neuer Energie erfüllt. Hier und im ganzen Land wurden solche Szenen Tag für Tag aufgeführt, und es sollte Jahre dauern, ehe die Bekanntgabe der »neuesten Weisungen« aufgegeben wurde.

Die Kulturrevolution sei, wurde uns mitgeteilt, »eine tiefere, allgemeinere neue Phase im Aufbau der sozialistischen Revolution«, die eine Revolution sei, »welche die Menschen im Innern ihrer Seele berührt«. Das Ziel sei es, »die Machthaber abzusetzen, die den kapitalistischen Weg einschlugen, die bürgerlichen, akademischen ›Autoritäten‹ zu kritisieren, die Ideologie der Bourgeoisie und aller ausbeuterischen Klassen zu kritisieren, und Bildung, Kultur und alles im Überbau zu reformieren, das nicht der sozialistischen ökonomischen Basis entspricht, um das sozialistische System zu konsolidieren und auszubauen«. Als ich aufwuchs, war das Alltagsleben durchdrungen von dieser aufgeblähten Sprache, und auch wenn es schwerfiel, den Sinn zu erfassen, schien sie geradezu hypnotische oder narkotische Eigenschaften zu haben. Alle waren von ihr ganz eingenommen.

Die Aula fungierte auch als Speisesaal. Bei den Mahlzeiten musste mein Vater immer am Eingang stehen, auf eine alte Waschschüssel aus Emaille schlagen und allen verkünden, dass er ein Rechter und Krimineller sei. Er wurde schon bald ein vertrauter Anblick, und die Arbeiter gingen, ohne ihn sonderlich zu beachten, an ihm vorüber und bildeten eine lange Schlange vor der Essensausgabe. Dort mussten sie ihr Geschirr und die Essenscoupons abgeben und ein Zitat des Vorsitzenden Mao aufsagen, ehe der Koch eine Portion austeilte. Gleichzeitig würde der Koch ebenfalls ein Zitat aufsagen und damit seinen Eifer für die Revolution bekräftigen. Unser Leben war eine Bühne, auf der alle automatisch die ihnen zugewiesenen Rollen spielten: Tauchte Vater einmal nicht an seinem üblichen Platz am Saaleingang auf, so könnte das heißen, dass sich ein größeres Unheil anbahnte, und die Leute wurden nervös.

In dieser Ära der öden Routine und des materiellen Mangels diente die Küche als Brennpunkt für die Vorstellungskraft der Menschen, auch wenn sich von einem Tag zum anderen kaum etwas veränderte. Jeden Morgen vermischte der Koch Maismehl mit warmem Wasser und legte den Teig in eine Art Schublade aus Blech von einem Quadratmeter Größe, dann stapelte er fünf solche Schubladen in einer eisernen Dampfkammer und dämpfte sie dreißig Minuten lang. Wenn der Deckel abgenommen wurde, füllte sich die ganze Küche mit Dampf, und der Koch schnitt das Maisbrot senkrecht und waagrecht in Stücke, wobei jedes Quadrat zweihundert Gramm wog. Um seine Unparteilichkeit zu beweisen, wog er die Quadrate öffentlich. Dieses Maisbrot gab es vom ersten bis zum letzten Tag des Jahres, außer am 1. Mai (Internationaler Tag der Arbeit) und am 1. Oktober (Nationalfeiertag), wenn das Maisbrot eine dünne rote Beschichtung aus Zucker und vielleicht chinesischen Datteln bekam. Wenn jemand das Glück hatte, eine Dattel in seinem Maisbrot zu finden, sorgte das immer für großes Aufsehen. Der Betrieb besaß weite Maisfelder, aber wir bekamen kein einziges Mal frisches Maismehl zu essen, nur »Getreide zur Kriegsversorgung«, das man Gott weiß wie lang bereits aufbewahrt hatte: Es kratzte rau an der Kehle, wenn man es schluckte, und roch nach Schimmel und Benzin.

Jeder von uns dreien – Vater, Gao Jian und ich – erhielt eine Zuwendung von nur 15 Yuan monatlich, was damals knapp mehr als 5 Dollar waren. Somit betrug unser gemeinsames Einkommen lediglich 45 Yuan im Monat, während ein einfacher Arbeiter 38,92 Yuan als Lohn bekam. Vater rauchte eine billige Zigarettenmarke, die 5 Fen die Schachtel kostete und einen ätzenden Geruch verbreitete, wie verbrannte Wolle. Oft ging eine Zigarette schon nach wenigen Zügen einfach aus. Wegen dieser Zigaretten bekam Vaters wattierte Militärjacke mehrere Löcher. Streichhölzer wurden als »kriegsnotwendiges Material« eingestuft, und jede Familie bekam im Monat nur eine einzige Schachtel zugeteilt. Häufig gingen uns die Streichhölzer aus, und um im Ofen Feuer zu machen, musste ich mir dann von den Nachbarn eine Lampe borgen.

Um Geld zu sparen, wechselte mein Vater zu dem Tabak, den der Betrieb selbst anbaute, und rauchte diesen. Mit alten Quittungen rollten wir kleine Zylinder aus Papier, in die wir die zerkleinerten Tabakblätter leerten, bis sie bis oben vollgestopft waren. Jeden Abend half ich Vater, rund zwanzig Zigaretten zu rollen, und bewahrte sie dann sorgfältig in einem blau-weißen Porzellangefäß auf, das auf unerfindliche Weise während der Überfälle der Roten Garden auf unser ehemaliges Haus nicht zerstört worden war. Der Griff und der Deckel waren reines Silber, und auf den Korpus des Gefäßes waren eine kleine Brücke über einen Strom und ein Page mit einer Zither gemalt, neben einem Felsvorsprung, tief hängenden Trauerweiden und einer strohgedeckten Hütte, das Fenster im Holzrahmen stand halb offen. Das Gefäß erhellte selbst den trübsten Winkel mit dem Glanz des weißen Porzellans und des Kobaltblaus.

Wenn die Nacht anbrach und sich eine undurchdringliche Dunkelheit über die Weizenfelder draußen senkte, ließen die Insekten ein unaufhörliches Surren ertönen. Vater und ich saßen für gewöhnlich gegenüber an unserem kleinen Tisch, die Öllampe warf unsere Schatten – einen großen, einen kleinen – an die Wand hinter uns. Mein Kopf war häufig ebenso leer wie der Raum selbst, bar jeglicher Fantasie und bar jeglicher Erinnerung, und mein Vater und ich glichen Fremden, die sich nichts zu sagen hatten. Häufig starrte ich einfach nur in die flackernde Flamme der Lampe.

Manchmal, wenn ich gerade einnicken wollte, fing Vater jedoch an, in seinem Gedächtnis zu stöbern und in den Erinnerungen an die Vergangenheit zu schwelgen. Nach und nach wurde ich dann an die Orte versetzt, an denen er gewesen war, lernte die Männer und Frauen kennen, die er gekannt hatte, und bekam einen gewissen Eindruck von seinen Liebschaften und Ehen. Wenn er sprach, war es, als wäre ich gar nicht da. Seine Erzählung schien keinen anderen Sinn zu haben, als dafür zu sorgen, dass der Strom an Erinnerungen nicht austrocknete. In »Klein-Sibirien« entstand durch die Abgeschiedenheit eine Nähe zwischen uns, und die materielle Entbehrung brachte eine andere Art von Fülle mit sich, welche die Umrisse meines künftigen Lebens prägen sollte.

kapitel 2 Die Herzen brennen

Mein Vater hatte eine schwere Geburt. Während der Schwangerschaft hatte meine Großmutter einen seltsamen Traum, in dem ihr Baby auf einer kleinen Insel mitten in einem tosenden Meer gestrandet war. Das sei ein böses Omen, waren sich Familienangehörige und Freunde einig, und meine Großmutter, damals gerade zwanzig und noch den buddhistischen Riten verhaftet – später konvertierte sie zum katholischen Glauben – , verbrannte Weihrauch und betete jeden Tag um einen guten Ausgang, doch die Angst blieb. Die Wehen dauerten zwei Tage und zwei Nächte, und Großmutter wurde bis an die Grenze ihrer Ausdauer gefordert. Aber endlich ertönte hinter den seidenen Vorhängen eines rot lackierten, mit Gold bemalten Himmelbetts der durchdringende Schrei eines neugeborenen Kindes.

Großvater wusste bereits einen Namen, der nicht nur ausgewählt worden war, um den Platz des Jungen in der Generationenfolge wiederzugeben, sondern auch um das moralische Ansehen und gesellschaftliche Prestige der Familie aufrechtzuerhalten. Wie eine in eine lackierte Schachtel eingelassene Verzierung aus Perlmutt sollte der Name sorgfältig in den Stammbaum eingefügt werden und die Zukunft seines Trägers auf unsichtbare Weise prägen. Vaters Name war Haicheng, wobei hâi () »Meer« und chéng () »klar« bedeutete.

Vater wurde am siebzehnten Tag des zweiten Monats im zweiten Jahr der Xuantong-Herrschaft geboren (27. März 1910). Nach dem traditionellen chinesischen Kalender fiel dieser Tag mit der Tagundnachtgleiche im Frühling zusammen, wenn Tag und Nacht gleich lang sind und die ganze Natur eine Wiedergeburt erfährt.

In den Augen der Landbevölkerung erblickten die in diesem Jahr geborenen Kinder »auf dem Schwanz des Drachens reitend« das Licht der Welt. Und tatsächlich inszenierten, keine achtzehn Monate später, knapp fünfhundert Kilometer entfernt in der Stadt Wuchang fortschrittliche Elemente im Militär einen Putsch und lösten damit die Revolution von 1911 aus. Wenig später sagten sich die südlichen Provinzen Chinas nacheinander vom Qing-Reich los. Im Jahr 1912 wurde die Dynastie der Qing offiziell beendet und damit über zweitausend Jahre der Feudalherrschaft.

In den Augen der Abergläubischen war eine schwere Geburt ein unheilvolles Vorzeichen. Zwölf Tage später, als Großmutter sich so weit erholt hatte, dass sie Besucher empfangen konnte, rief Großvater, wie es in solchen Fällen üblich war, einen Wahrsager. Der Besucher erkundigte sich zuerst nach dem genauen Zeitpunkt der Geburt und fragte dann nach Jahr, Monat, Tag und Stunde der Geburt der Eltern. Dann fing er an, Auslegungen aus dem großen Kompass zu holen, den er mitgebracht hatte.

Nach einem langen und spannungsgeladenen Prozess der Datensammlung präsentierte der Wahrsager eine erschreckende Prophezeiung: Das neugeborene Kind stehe »im Widerspruch« zum Schicksal seiner Eltern, und wenn sie ihn zu Hause aufzögen, wäre der Junge »der Tod seiner Eltern«. Sie begriffen, dass das hieß, dass sich jemand außerhalb der Familie um das Baby kümmern müsse. An die Freude über ihr erstgeborenes Kind trat ein Gefühl des Grauens, dass das Kind ein Vorbote für das Unglück der Familie sei. Selbst wenn der Knabe zu einem jungen Mann heranwüchse, verkündete der Wahrsager, wäre es am besten, wenn er sie niemals »Vater« und »Mutter«, sondern »Onkel« und »Tante« nennte.

Der Ernst und die Vorahnung des Wahrsagers trafen meine Großeltern zutiefst. Seine Deutung der Situation schien so fest und unanfechtbar wie der ganze Hausrat um sie, und seine düstere Prophezeiung wurde wie ein Geburtsmal dem Los meines Vaters aufgeprägt.

Mein Vater wusste natürlich nichts von dem Besuch des Wahrsagers. Ein wenig abseits lag er, ohne etwas von seinem schrecklichen Schicksal zu ahnen, bequem in einer Bambuswiege, eng in eine Schmusedecke gewickelt, die mit den Worten »Zehntausend Freuden« bestickt war, und nur eine Schwellung am Kopf zeugte von dem Kampf während seiner langwierigen Geburt.

Mein Vater wurde in eine Grundbesitzerfamilie im Dorf Fantianjiang im nordöstlichen Winkel der damaligen Präfektur Jinhua geboren, ein Teil der Küstenprovinz Zhejiang. Meine Großeltern starben lange vor meiner Geburt, aber nach zwei Fotos, die noch erhalten sind, hat es den Anschein, als bestünde eine große Ähnlichkeit zwischen den beiden. Ohne den Bart meines Großvaters wären Mann und Frau kaum zu unterscheiden gewesen, beide mit runden Gesichtern, hoher Stirn, das Haar zurückgekämmt und vorstehenden, in den Winkeln leicht nach unten gebogenen Augen. In ihren hübschen Gewändern hatten sie einen freundlichen Gesichtsausdruck.

In seinem Dorf mit rund hundert Haushalten war mein Großvater Jiang Zhongzun bekannt als Mann der Kultur. Er nannte sein eigenes Zimmer »Studio des Strebens nach Verbesserung«, und darin hingen Rollen seiner eigenen Kalligrafie, die Zeugnis von seinem Engagement für Selbstkultivierung ablegten. Im Empfangszimmer hing eine Holztafel mit den eingeschnitzten Worten »Glück wohnt in Familienbanden«, die seine Anschauung allgemeiner zusammenfassten.

Großvater hatte einen Laden für Sojasoße und einen Gemischtwarenladen, der Importwaren verkaufte, und neben der Leitung dieser Betriebe verbrachte er einen großen Teil seiner Zeit damit, dass er die aktuellen Ereignisse verfolgte und neue Bücher las. Er hatte Shen bao abonniert, eine chinesischsprachige Zeitung, die ein in Shanghai wohnender Londoner gegründet hatte. Wenn ein Dorfbewohner wissen wollte, was in der Welt vor sich ging – beispielsweise der aktuelle Stand von Chinas Krieg gegen Japan – , konnte er eine gewisse Vorstellung bekommen, indem er einfach nur Großvaters Gesicht genau betrachtete. Er genoss es auch, sich über den Weltatlas zu beugen, verfolgte eifrig neue Entwicklungen bei den Wettervorhersagen und las Thomas Huxleys Evolution und Ethik.

In dem Dorf galt er als Reformer und zählte zu den ersten Männern, die ihren Zopf abschnitten, die lange Haartracht, die während der Qing-Ära die Unterwerfung der Han-Chinesen unter die Vorherrschaft der Mandschu symbolisierte. Er erlaubte es den Frauen in der Familie, ihre Füße nicht zu binden, und schickte seine beiden Töchter zum Unterricht an eine von Stella Relyea gegründete christliche Schule, einer amerikanischen Missionarin, die mit der American Baptist Foreign Mission Society in Verbindung stand, die zu der Zeit bereits eine Viertelmillion Anhänger in China hatte. Großvater war auch Mitglied der Internationalen Sparkassengesellschaft, einer französischen Bank in Shanghai. Damals galt es als ziemlich wagemutig, die eigenen Ersparnisse einer Bank anzuvertrauen.

Meine Großmutter Lou Xianchou kam aus einer prominenten Familie im Nachbarbezirk Yiwu. Nach Vater brachte sie sieben weitere Kinder zur Welt, von denen drei früh starben, sodass mein Vater am Ende zwei Brüder und zwei Schwestern hatte. Großmutter war herzlich und großzügig und steckte der angestellten Hilfskraft häufig eine Handvoll Melonensamen oder Erdnüsse zu. Schüler an der weiterführenden Schule, die in der Nähe wohnten, kamen häufig vorbei, um die Zeitungen und Magazine der Familie zu lesen und mit ihr zu plaudern. Auch wenn sie weder lesen noch schreiben konnte, so konnte sie doch einige Tang-Gedichte aufsagen und Volkslieder singen und hatte einen skurrilen Sinn für Humor.

Im Jahr 1910, als mein Vater geboren wurde, war mein Großvater erst einundzwanzig geworden. Die Qing-Dynastie näherte sich dem Ende ihrer 266-jährigen Herrschaft, während in Russland nur noch sieben Jahre bis zum Sturz der Zaren und Aufstieg des Sowjetregimes vergehen sollten. Es war das Jahr, in dem Leo Tolstoi und Mark Twain starben, das Jahr, in dem Edison im fernen New Jersey den Tonfilm erfand. In Xiangtan, in der Provinz Hunan, ging der siebzehnjährige Mao Zedong noch zur Schule; seine erste Frau, die seine Eltern in einer arrangierten Ehe für ihn auserwählt hatten, starb einen Monat vor der Geburt meines Vaters. Aber Fantianjiang schlief, wie so viele andere chinesische Dörfer, weiter, unscheinbar und unbekannt.

Nicht lange nach der Prophezeiung des Wahrsagers bekam eine Bauernfamilie in Fantianjiang ein kleines Mädchen, das aber, zumindest laut einer Darstellung, sofort von seiner Mutter ertränkt wurde. Die Mutter hielt es für vorteilhafter, Amme für den neugeborenen Sohn der Familie Jiang zu werden, als eine Tochter von begrenztem langfristigem Wert aufzuziehen. Das klingt herzlos, ich weiß, aber solche Dinge passierten damals – und man hört noch heute von ähnlichen Fällen.

Die Mutter des neugeborenen Mädchens gehörte einer Familie namens Cao an, die im Nachbardorf Dayehe wohnte (ein Name, der so viel wie Lotus mit großen Blättern heißt). Sie war als Kinderbraut für einen entfernten und verarmten Angehörigen der erweiterten Familie meines Großvaters nach Fantianjiang gekommen. Niemand in Fantianjiang machte sich die Mühe, ihren richtigen Namen zu lernen; sie nannten sie einfach nach ihrem Dorf Großblatt-Lotus. Die damals zweiunddreißigjährige Großblatt-Lotus fing an, meinen Vater mit ihrer Muttermilch zu stillen, und besserte so ihr Familieneinkommen auf, um ihren trinkenden Mann und ihre fünf Kinder zu ernähren. Die Einheimischen meinten, es sei ein Glück für sie, dass sie diese Chance bekommen habe.

Das Haus von Großblatt lag nur wenige Schritte vom Haus der Familie Jiang entfernt. Es bestand aus zwei niedrigen Zimmern, die Wände vom Küchenrauch geschwärzt, mit einem hölzernen Bett in einer Ecke und einem wackeligen, quadratischen Tisch in der Nähe. Lücken zwischen den Dachziegeln gaben den Blick auf dünne Streifen des Himmels frei, und vor der Tür bot eine Steinplatte einen Sitzplatz für Großblatt, wenn sie ihren Säugling stillte.

In dieser winzigen Hütte verbrachte mein Vater Tag und Nacht, außer am Neujahrsfest und anderen großen Feiertagen, wenn meine Großeltern ihn für ein paar Tage nach Hause holten.

Das Anwesen der Familie Jiang hatte ein Hauptgebäude mit fünf Zimmern und zwei Seitengebäude, die jeweils zweistöckig angelegt waren, gebaut aus Holz, mit Fenstern, Balken und Dachvorsprüngen, in die auffällige Muster und historische Szenen geschnitzt waren. Der bei jedem Wetter angenehme und ruhige Hof war mit dunklen Steinen gepflastert, und Orchideen und Spargelfarn wuchsen in einem Steintopf nicht weit von dem Regenwasserreservoir. Großvaters Anwesen und die benachbarten Gebäude waren im gleichen Stil und mit den gleichen Materialien gebaut worden. Keine zwei Bauten waren völlig identisch, aber sie waren alle eng miteinander verbunden, wie gewebter Brokatstoff, dessen Kette und Schuss von den Lehren des Konfuzius getränkt waren. Ihr Entwurf wies die Kreativität und das akribische Geschick aus, die traditionellen Muster zu zeigen, die über viele Jahrhunderte hinweg von Generation zu Generation weitergegeben worden waren.

Im Haus von Großblatt-Lotus aß mein Vater damals süßen Reiskuchen, gepökeltes Schweinefleisch und knusprige, mit klein geschnittenen Senf-Blättern gefüllte Teigbällchen, die er liebte. Dann saß er vor dem Kamin auf ihrem Schoß, und sie erzählte ihm Geschichten. Sie war ganz vernarrt in ihn, und jedes Mal, wenn er nach ihr rief, ließ sie alles stehen und liegen und nahm ihn in den Arm, drückte sanft ihr von der Sonne verbranntes Gesicht gegen sein blasses. Großblatt-Lotus erfüllte seine frühe Kindheit mit liebevoller Zärtlichkeit.

Jinhua, der größte Ort in der Region, lag in einem Becken, rundum von Hügeln umgeben, geteilt von zwei Flüssen, die sich irgendwann miteinander vereinten und nach Norden flossen. Fantianjiang lag vierzig Kilometer nordöstlich von Jinhua, am Rand des Bezirks Yiwu. Im Norden des Dorfes erhob sich der Berg der Zwillingsgipfel, der bei entsprechendem Sonnenlicht in einer warmen Farbe glänzte. Eine Quelle sprudelte unter mit Dornbüschen bedeckten Felsblöcken hervor, während weiter unten der von Eisenoxiden rot gefärbte Lehmboden einer Vielzahl von Pflanzen Nahrung bot, darunter Bambus, Kampfer, Tannen und Walnussbäume. Kamelien, Azaleen, Granatapfelbäume und Osmanthus sind ebenfalls über die Landschaft verstreut.

Zwei uralte Kampferbäume standen auf einer Anhöhe, unmittelbar bevor man das Dorf betrat. Man hätte mehrere Menschen benötigt, um ihre Arme um einen der gewaltigen Stämme herum zu verbinden, und im Lauf der Jahrhunderte hatten ihre weitläufigen Zweige einen breiten Baldachin aus Blättern gewoben. Ein Baum hatte im Stamm einen Hohlraum, der so groß war, dass Kinder darin spielen konnten, sowie eine Nische, in die man ein Bild Buddhas eingefügt hatte. Die Dorfbewohner nannten diesen Baum die »Alte Dame« und pflegten dorthin zu gehen, um Segen für ihre Kinder zu erflehen.

Mein Vater fing erst spät mit dem Sprechen an und kam erst mit drei richtig in Fahrt; manche Dorfbewohner hielten ihn anfangs für einen Idioten. Mit vier kam er allmählich ins Schulalter, also nahm Großvater ihn von Großblatt-Lotus wieder zu sich ins Haus, und Vater lebte von da an bei seinen Eltern. Im Jahr 1915, als er fünf wurde, wurde eine privat finanzierte Grundschule im Dorf eröffnet, die Kunstunterricht anbot, gehalten von einem Lehrer, der Malen und Kunsthandwerk gelernt hatte. Das regte Vaters Interesse für das Herstellen von Dingen mit eigenen Händen an. Aus Holz fertigte er ein Miniaturhaus mit Türen und Fenstern an, die man öffnen konnte, und er bastelte eine Laterna magica, die ebenso faszinierend wie ein Kaleidoskop war. An einem Wintertag, als seine Mutter ihm eine Kohlenschale reichte, um seine Hände zu wärmen, nahm er sie in die Hand und schwenkte sie von einer Seite auf die andere, sodass die Holzkohle zur Überraschung und Freude seiner jüngeren Geschwister zischte und prasselte. Als Großvater sah, wie sehr sich Vater auf das Anfertigen von Gegenständen konzentrierte, sagte er spöttisch: »Wie wäre es, wenn ich dich in das Arbeitshaus für Arme schicken würde?« Damals hatte man kaum Achtung vor dem Handwerk.

Großvater fand weitere Gründe, mit seinem ältesten Sohn unzufrieden zu sein. Einmal ließ ein Spatz Kötel direkt auf Großvaters Kopf fallen. Da er das für ein böses Omen hielt, gab er Vater eine Holzschüssel und wies ihn an, bei den Nachbarn einen besonderen Kräutertee zu holen, um »das Unheil auszutreiben«. Vater machte jedoch keine Anstalten, zur Tür zu gehen, weil er meinte, der Auftrag sei unter seiner Würde. Erbost über diesen Akt des Trotzes packte Großvater die Schüssel und schlug sie meinem Vater so hart auf den Kopf, dass ihr Rand die Kopfhaut ritzte und Blut austrat.

Seine Tante (die Frau des älteren Bruders von Großvater) war schockiert, nahm ihn zur Seite und briet ihm zum Trost ein paar Eier. »Wenn er dich wieder schlägt«, sagte sie, »dann brate ich dir noch ein Ei, wie wär’ das?« Vater nickte zur Zustimmung. Später schrieb er eine Notiz mit folgenden Worten: »Papa hat mich geschlagen – was für ein Rohling!« Großvater fand diese Notiz in einer Schublade, und danach hat er seinen Sohn nie wieder geschlagen.

Vater hatte nie eine glückliche Kindheit, und mit der Zeit wurde die Beziehung zu seinen Eltern nur noch angespannter. Einmal sagte Vater zu seiner kleinen Schwester: »Nach dem Tod von Mama und Papa bringe ich dich nach Hangzhou« – die Provinzhauptstadt von Zhejiang, mehr als hundertvierzig Kilometer entfernt. Großmutter hörte das und rief ihn in den Flur. Sie nahm zwei Schnüre mit Münzen aus der Geldkiste und hängte sie ihm um den Hals, mit den Worten: »Wenn du gehen willst, dann geh jetzt gleich – du brauchst nicht zu warten, bis wir tot sind.« Vater stand schweigend da, während sie schimpfte. Inzwischen trug er bereits ein Geheimnis mit sich herum: Eines Tages würde er weit, weit weggehen; er würde viel mehr von der Welt sehen als diese Dorfbewohner und würde Orte aufsuchen, von denen sie nicht einmal geträumt hatten.

Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, im Frühling 1919, kamen die alliierten Mächte im Schloss von Versailles, in der Nähe von Paris, zu einer Konferenz zusammen, um die Friedensbedingungen festzulegen, und China nahm als eine der Siegermächte teil. Doch die Friedenskonferenz schenkte den Forderungen der chinesischen Delegierten nach territorialer Integrität keine Beachtung, sondern teilten den deutschen Kolonialbesitz auf der Halbinsel Shandong mit Qingdao [deutsch: Tsingtau] Japan zu. Als die Nachricht nach China gelangte, löste sie landesweite Proteste aus.

Am 4. Mai versammelten sich rund dreitausend Studenten aus Beijings Universitäten aus Protest vor dem Tiananmen, dem eindrucksvollen Tor, das den südlichen Eingang zur Verbotenen Stadt markierte. Sie forderten die Verteidigung der nationalen Souveränität und die Absetzung chinesischer Beamter, denen Kollaboration mit den Japanern vorgeworfen wurde. Dieses Anschwellen des Nationalstolzes, das als die »Bewegung des 4. Mai« bekannt wurde, breitete sich rasch über das ganze Land aus. In der Überzeugung, dass ein dramatischer Kulturwandel unerlässlich sei, wenn das Land seine Rückständigkeit ablegen und weitere Demütigungen vermeiden wollte, fingen Chinas Intellektuelle gleichzeitig an, für den »Herrn Demokratie« und »Herrn Wissenschaft« (das Beiwort »Herr« vermittelte dabei die Ehrerbietung für einen Lehrer) zu agitieren und den Konfuzianismus und die traditionelle moralische Ordnung zu kritisieren, auf die sich die kaiserliche Herrschaft gestützt hatte. Unter dem Slogan »Nieder mit Kongs Familienladen!« (ein abwertender Verweis auf die konfuzianische Ideologie) riefen sie junge Leute auf, sich die Krise Chinas vor Augen zu führen, und priesen Freiheit, Fortschritt und Wissenschaft an. Diese Ideen beeinflussten bereits die lokale Bildung in Jinhua, und die Schulbücher von Vaters Grundschule vermittelten nunmehr erste Ansätze von Demokratie und Wissenschaft.

Von der Russischen Revolution inspiriert, fing eine Gruppe chinesischer Intellektueller, angeführt von Chen Duxiu und Li Dazhao, an, den Marxismus-Leninismus zu propagieren. Im Juni 1921 schickte Lenin einen Delegierten der Komintern, der unter dem Decknamen Maring agierte, nach Shanghai, um den ersten Kongress der Kommunistischen Partei Chinas zu leiten. Die Vorbereitungen für die Versammlung wurden in einer Atmosphäre der Angst und Anspannung durchgeführt, und um den neugierigen Augen der Kuomintang-Regierung zu entgehen, wurde der Veranstaltungsort auf ein Boot auf dem Südsee in Jiaxing verlegt, einer rund hundert Kilometer entfernten Stadt.

Im Parteiprogramm tauchten zum ersten Mal Begriffe wie »Arbeiterklasse«, »Klassenkampf«, »Diktatur des Proletariats«, »Abschaffung des Systems des kapitalistischen Eigentums« und »Koalition mit der Dritten Internationalen« auf. Die Dokumente des Kongresses wurden auf Russisch gedruckt, möglicherweise weil man noch keine chinesischen Entsprechungen für diese Begriffe gefunden hatte. Neben Maring (ein holländischer Kommunist, dessen richtiger Name Hendricus Sneevliet lautete) nahm ein weiterer ausländischer Delegierter teil: ein sowjetischer Bürger namens »Nikolski«, dessen wahre Identität fast ein halbes Jahrhundert lang ein Geheimnis bleiben sollte, bis ein russisches Archiv mit Gorbatschows Unterstützung enthüllte, dass sein Name Wladimir Abramowitsch Neiman-Nikolski war. Auf Stalins Befehl hin wurde er im Jahr 1938 unter der Anklage der Spionage erschossen. So begann die Kommunistische Partei Chinas ihre lange und wechselhafte Geschichte.

Im Jahr 1925, mit fünfzehn Jahren, wurde mein Vater als Internatsschüler an der Siebten Hochschule von Jinhua aufgenommen, die im Herrenhaus eines ehemaligen Taiping-Fürsten untergebracht war, einem eindrucksvollen Gebäude mit einem hohen zentralen Saal. Es war eine Knabenschule, und die meisten Schüler waren Söhne des wohlhabenden Adels auf den umliegenden Dörfern. Unter dem Einfluss der fortschrittlichen Tendenzen, die das ganze Land erfassten, identifizierte sich Vater mit westlichen demokratischen und republikanischen Werten und bewunderte die sogenannte Neue Literatur, eine Form des Schreibens auf der Basis der gesprochenen Landessprache. In einer Prüfung wurde die Klasse einmal aufgefordert, einen Aufsatz in der klassischen Sprache zu verfassen, und Vater schrieb stattdessen trotzig einen in der gesprochenen Sprache, mit dem Titel: »Jede Ära hat ihre eigene Literatur«. Sein Lehrer war nicht beeindruckt. »Halb ausgegorene Ideen!«, höhnte er. Noch heute hätte Vaters naives Eintreten für eine Literatur, die ihrer Zeit entspricht, in China kaum Chancen.

Während Vater in der Schule war, starb Großblatt-Lotus im Alter von sechsundvierzig Jahren. Ihre fünf Söhne weinten bitterlich, und sogar ihr Mann, der jedes Mal, wenn er zu viel getrunken hatte, dazu neigte, zu fluchen und sie zu schlagen, vergoss etliche Tränen. Sie hatte ihr ganzes Leben in Armut gelebt, und beim Ausscheiden aus dieser Welt bekam sie lediglich einen klapprigen Sarg. Ihr früher Tod bedeutete jedoch, dass sie nicht länger darüber grübeln musste, was passieren würde, wenn ihr Mann starb, oder sich Sorgen machen musste, weil ihr ältester Sohn ein Bandit geworden war, geschweige denn um ihren zweiten Sohn trauern, der in einem Kampf umkam, noch sich fragen musste, wie ihr dritter, vierter und fünfter Sohn einmal ihren Lebensunterhalt verdienen wollten. In einem Gedicht, das Vater Jahre später zum Andenken an ihr Leben aus Kampf und Elend schrieb, stellte er sich vor, wie seine Amme davon träumte, zu seiner Hochzeit zu kommen und von seiner liebevollen Braut herzlich als »Schwiegermutter« begrüßt zu werden – eine schwermütige Anerkennung der maßgeblichen Rolle, die sie in seinen ersten Jahren gespielt hatte.

In der Schule begeisterte sich Vater nunmehr desto stärker für die Kunst. In den Mathe-Stunden pflegte er unter dem Vorwand, er müsse auf die Toilette, davonzulaufen und nach der Natur zu malen; erst kurz vor Ende der Stunde schlüpfte er wieder ins Klassenzimmer. Als er in den Sommerferien nach Hause kam, bat Großvater ihn, auf die Reisfelder aufzupassen, doch er führte seine Geschwister stattdessen zu einem buddhistischen Tempel, der eine halbe Meile entfernt lag, um Skizzen anzufertigen. Der Tempel war im frühen Mittelalter gebaut worden, mit alten Zypressen im Hof, die hoch in den Himmel ragten. Im Hauptsaal stand eine Statue von Maitreya mit einem dicken Bauch unter einem Couplet mit den Worten: »Großer Bauch kann alles aufnehmen, das nicht aufgenommen werden darf / Lachender Mund lacht über alle, die lachhaft sind.« Im Einklang mit dem rebellischen Geist jener Zeit ließ Vater munter neben dem Buddha Wasser, um seine Verachtung für Religion zur Schau zu stellen.

Im Mai 1925, während sich Vater auf seine mittlere Reifeprüfung vorbereitete, strömten in Shanghai Tausende von Studenten auf die Straßen, um gegen die Misshandlung chinesischer Arbeiter durch japanische Unternehmen zu protestieren. Bewaffnete Polizei wurde ausgeschickt, um die Demonstranten zu verhaften, und am Nachmittag des 30. Mai, als Studenten und Bewohner demonstrierten und die Freilassung der Verhafteten forderten, eröffneten britische Polizisten das Feuer. Über zwanzig Menschen wurden verwundet oder getötet. Nach dem Blutbad kam es im ganzen Land zu Streiks und Boykotten, um die Regierung zu drängen, die kolonialen Vorposten abzuschaffen, die ausländische Mächte einst in China gegründet hatten. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten westliche Mächte in Chinas Vertragshäfen Zonen geschaffen, die unter Missachtung der Souveränität Chinas von Ausländern verwaltet wurden. In Enklaven wie der »International Settlement Shanghai« und der Französischen Konzession in Shanghai kontrollierten solche Verwaltungen zivile Angelegenheiten, Steuereintreibung, Justiz, Strafverfolgung, Bildung, Verkehr, Post- und Telekommunikationsdienste, öffentlichen Wohnungsbau und Versorgungswerke und sanitäre Anlagen; sie stationierten sogar Truppen dort – und agierten, im Grunde, wie ein Staat im Staat.

In Jinhua startete Vaters weiterführende Schule eine Bewegung, um ihre Solidarität mit den Demonstranten in Shanghai zu zeigen. Schüler marschierten durch die Straßen der Stadt, schwenkten Fahnen, riefen antijapanische Parolen und drängten Arbeiter zum Streik und Kaufleute, ihre Läden zu schließen. Sie zerschlugen Ladenschilder und Schaufenster, plünderten Kaufhäuser auf der Suche nach Importwaren und steckten Stapel britischer und japanischer Produkte am Flussufer in Brand. Von diesem revolutionären Eifer gepackt, war Vater entschlossen, nach Guangzhou zu gehen und sich in die Militärakademie der Republik China einzuschreiben. Als Großvater erfuhr, dass sein ältester Sohn sein Studium aufgeben wollte, war er so wütend, dass er sich weigerte, mit ihm zu reden. In Anbetracht des hartnäckigen Widerstands von Großvater gegen diese Idee musste mein Vater sie aufgeben.

Im Jahr 1927 endete jäh das unbehagliche Bündnis, das die Nationalisten und die Kommunisten miteinander eingegangen waren. Nachdem nationalistische Truppen in Shanghai eingetroffen waren, gab am 12. April dieses Jahres Chiang Kai-shek, ihr oberster Befehlshaber, den Befehl, Kommunisten zu verhaften und zu töten, weil er deren Erfolg bei der Mobilisierung der Arbeiter als eine Gefahr für seine Autorität ansah. Die Auswirkungen des harten Vorgehens waren schon bald auch in Provinzstädten wie Jinhua zu spüren. Eines Morgens wies der Schuldirektor alle Schüler an, sich auf dem Sportplatz zu versammeln. Vorgeblich sollten sie sich eine Rede anhören, aber in Wirklichkeit wollten die Schulbehörden freien Zugang zu den Schlafsälen, damit sie nach verbotenen Sachen suchen konnten. Vater schlich sich davon und kletterte durch das Fenster an der Rückwand seines Schlafsaals, wo er ein Pamphlet hervorzog, das er gelesen hatte: Plechanows Schrift Über materialistische Geschichtsauffassung. Es gelang ihm, sie in einen Entwässerungsgraben zu werfen, bevor er gefasst wurde. Dieses vervielfältigte Pamphlet hatte ihn dazu inspiriert, den Marxismus zu studieren, eine Weltanschauung, die sich massiv auf sein Leben auswirken sollte.

Im Herbst 1928 wurde Vater nach seinem Abschluss an der weiterführenden Schule in die Malabteilung der neu gegründeten Nationalen Kunstakademie von Hangzhou aufgenommen. In seinem ersten Jahrgang waren rund achtzig Studierende, und der größte Teil seiner Lehrer hatte im Ausland eine Kunstausbildung bekommen. In der Kunstakademie fand Vater Zuflucht vor den politischen Unruhen.

Hangzhou war für die Schönheit des nahe gelegenen Westsees berühmt, und wann immer Vater die Gelegenheit hatte, packte er seine Ausrüstung in einen Rucksack und begab sich dorthin, um zu malen. In den Hainen am Ufer oder unter den umliegenden Hügeln und Feldern dokumentierte er sorgfältig in den gedämpften Grautönen, die er bevorzugte, Szenen, die ihm ins Auge fielen. Er war ein fleißiger Student, mit der Liebe zur Natur eines Jungen vom Land. Im Umgang wahrte er eine ungeschickte Zurückhaltung, aber er empfand eine tiefe Sympathie für die Armen und Leidenden. Hausierer, Fährmänner und Karrenzieher sowie die verarmten Besitzer von Strohhütten und deren Kinder mit einem finsteren Gesichtsausdruck waren alle regelmäßig Gegenstand seiner Kunst.

Die nebelverhangenen Morgen und ständig wechselnden Stimmungen des Westsees weckten in Vater ein unbestimmtes Gefühl der Einsamkeit und Melancholie, und er fühlte sich in Hangzhou nie richtig heimisch. Sein Leben nahm eine neue Richtung, als eins seiner Bilder Lin Fengmian ins Auge fiel, dem damals achtundzwanzigjährigen Rektor der Kunstakademie, der Anfang der 1920er-Jahre mehrere Jahre in Frankreich verbracht hatte. »Sie werden hier nichts lernen«, sagte Lin zu meinem Vater. »Sie sollten im Ausland studieren.«

Der Trend zu Auslandsstudien hatte mit der Bewegung zur Selbststärkung (1861–1895) angefangen, als die Qing-Regierung, unter dem Druck sowohl innerer als auch äußerer Bedrohungen, danach trachtete, Industrien, Kommunikationsmittel und Finanzdienstleistungen nach westlichem Vorbild zu entwickeln. Regierungsvertreter erkannten, dass die Entsendung von Studenten in den Westen maßgeblich dazu beitragen konnte, die Beherrschung der westlichen Wissenschaft und Technologie zu erlernen. Im Vorfeld des Ersten Weltkrieges brauchte Frankreich dringend Arbeitskräfte und fing an, chinesische Studenten für Arbeits- und Studienprogramme aufzunehmen. Einige davon – allen voran Zhou Enlai und Deng Xiaoping – sollten zu prominenten Figuren in der Kommunistischen Partei Chinas aufsteigen. Von dem Glauben an den Kommunismus inspiriert fing die chinesische Jugend an, in Europa, der Quelle des Marxismus, nach neuen Ideen und neuen Theorien zu suchen, die unter Umständen Chinas Übel heilen konnten.

Lin Fengmians Rat machte auf meinen Vater tiefen Eindruck. Aber wenn er im Ausland studieren wollte, musste er Großvater überreden. Als er in den Winterferien nach Hause fuhr, brachte er einen seiner Lehrer mit, um sein Anliegen zu unterstützen. »Wenn er ins Ausland geht«, sagte der Lehrer, »kann er viel Geld verdienen, wenn er zurückkommt.«

Großvater war skeptisch, gab aber schließlich nach. Er hebelte ein Bodenbrett hoch und holte einen großen Topf voller Silberdollar hervor. Ein Silberdollar hatte in China damals einen hohen Wert: Man konnte damit sechzehn Pfund Reis, sechs Pfund Schweinefleisch, sechs Fuß Stoff oder an manchen Orten sogar ein kleines Grundstück kaufen. Mit einem ernsten Gesichtsausdruck und zitternden Händen zählte Großvater achthundert dieser Münzen ab – ausreichende Mittel, um die Kosten für die Schifffahrt meines Vaters und die Unterhaltskosten für die ersten Monate in Frankreich zu decken – , wobei er ihm gleichzeitig die Pflicht auferlegte, am Ende seiner Zeit im Ausland auch wirklich zurückzukehren. »Vergnüge dich nicht so sehr, dass du dein Zuhause vergisst.«

Am Tag der Abreise ergossen sich die Strahlen der Morgensonne über das Pflaster, als Großvater Vater bis zum Rand des Dorfes begleitete. Vater verbannte schon bald die großen Hoffnungen, die Großvater in ihn gesetzt hatte, aus seinem Kopf: Seine Gedanken waren auf den Weg vor ihm gerichtet, und er konnte es kaum erwarten, den Abstand zwischen sich und den verschlafenen Feldern und dem öden kleinen Dorf zu vergrößern, seine einsamen Wanderungen anzutreten, ungehindert durch die Gegend zu ziehen.

André LebonLängsschnitt des Dampfers André Lebon,CCI Aix Marseille Provence Collection, Foto © Marie Caroll. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Marseille Cultural Review.

Im Hafen von Shanghai sicherten dicke Taue das französische Passagierschiff André Lebon an den schwarzen Eisenpollern am Kai Shiliupu. Der olivgrüne Bug des Dampfers ragte hoch aus dem Wasser, und Dampf quoll aus den beiden ziegelroten Kaminen, sodass er das Ufer und die westlichen Unternehmen, die das Flussufer säumten, in graue Wolken hüllte. Vom Bug bis zum Heck maß das Dampfschiff über 158 Meter, größer als ein kleines Dorf und fast zu lang, um vom einen Ende zum anderen zu sehen. Ein ständiger Lärm ertönte von Händlern, die ihre Waren anpriesen, von Rikschaziehern, barfüßigen Hafenarbeitern, Trägern mit schweren Überseekoffern auf den Schultern und Reisenden aller Art, die ihre persönliche Habe schleppten.

Mit einer Bevölkerung von drei Millionen war Shanghai Ende der 1920er-Jahre fast so groß wie London, New York, Tokio oder Berlin. Der Kai Shiliupu (Bezirk 16), den man in den 1860er-Jahren in der Anfangszeit Shanghais als Vertragshafen angelegt hatte, war mittlerweile der geschäftigste und hektischste Ort in der Stadt. Die chinesischen Arbeiter, die im Ersten Weltkrieg in Scharen nach Europa geschickt wurden, und die jungen Leute, die in den Nachkriegsjahren zum Studium dorthin fuhren, traten allesamt von hier aus ihre Reise an.

Vater zählte zu den Hunderten von Passagieren, die über die Landungsbrücke an Bord der André Lebon gingen. Sobald er in der dritten Klasse eine Koje gefunden hatte, legte er sein Gepäck und die Malutensilien ab und kam sich wie ein winziger Reiskäfer im Innern des riesigen Frachtraums vor. Seine Kabine war eng und überfüllt, die Kojen lagen dicht nebeneinander. Wenig später fingen die Turbinen an zu dröhnen, und die Hitze aus dem Maschinenraum, vermischt mit dem Geruch nach Fracht, erfüllte den Korridor mit einem reichhaltigen Duft. Das Horn des Schiffes hallte nach, als Vater zusah, wie der Kai allmählich in der Ferne verschwand.

Das Schiff legte am 9. März 1929 aus Shanghai ab. Zwei Tage und drei Nächte dauerte es bis nach Hong Kong, und nach der Durchquerung des Südchinesischen Meers legte der Dampfer in Saigon vier Tage an, um Fracht aufzunehmen. Laut Frachtbrief, der Teil des von Kapitän Auguste le Flahec geführten Schiffslogbuchs war, umfasste die Fracht 20 220 Sack Reis, 2958 Sack Mehl, 3941 Kisten Kautschuk, 562 Sack Kaffeebohnen, 1951 Kisten Tee, 477 Sack Zinnerz, 899 Ballen Seidenstoff, 408 Ballen Rohseide, 470 Sack Pfefferkörner, 300 Sack Gallnüsse und verschiedene andere Produkte, mit einem Gesamtgewicht von 3121 Tonnen. Während Vater zusah, wie die Drehkräne die Reichtümer der Kolonialhäfen in den Frachtraum des Schiffes abließen, spürte er eine innere Erregung, eine Erregung, die während seiner Zeit im Ausland nie ganz nachlassen sollte.

Am 27. März hatte das Schiff das Maliku-Atoll vor der Südspitze Indiens erreicht. Vertieft in seine französische Grammatik vergaß Vater völlig, dass es sein Geburtstag war. Vier Tage später erreichten sie den Hafen Aden, und von dort ging es weiter nach Djibouti am Horn von Afrika. Nach einer geruhsamen Fahrt durch das Rote Meer durchquerten sie den Suezkanal, und mein Vater erblickte zum ersten Mal das Mittelmeer. Die letzte stürmische Etappe der Reise brachte sie über Sizilien am 12. April 1929, einem Freitag, nach Marseille. Dort stieg mein Vater in einen Zug nach Lyon, und von dort war es noch eine einfache Fahrt nach Paris.

In den 1920er-Jahren beeindruckteParis die Besucher mit einem geschäftigen Verkehr aus Automobilen und Straßenbahnen und einem sich ausdehnenden Metro-Netz. Ein junger chinesischer Student wie Vater dürfte nur so gestaunt haben, wenn er die Freiheiten sah, die Pariser Frauen genossen, die – ohne allzu viel Aufsehen zu erregen – in der Öffentlichkeit rauchen durften, sich das Haar kurz schnitten, sich gewagt anzogen und Sport trieben. Ernest Hemingway nannte das Paris der Zwanzigerjahre bekanntlich ein »Fest fürs Leben«, George Orwells Beschreibung des Lebens in einem Pariser Slum zeichnet ein nicht ganz so glanzvolles Bild: »Sie war eine schmale Straße – eine tiefe Schlucht voller großer lepröser Häuser, die sich in sonderbaren Höhen aneinanderlehnen, gerade so, als wären sie in dem Moment erstarrt, als sie im Begriff waren, umzustürzen. Alle Häuser hier waren Hotels und bis unter das Dach vollgepackt mit Mietern, meistens Polen, Arabern und Italienern. Neben den Eingängen zu den Hotels befanden sich winzige bistros, wo man sich für den Gegenwert eines Schillings total betrinken konnte. Regelmäßig samstagnachts war etwa ein Drittel der männlichen Bevölkerung dieses Viertels betrunken.« Mein Vater hätte wohl das Paris, das Hemingway und Orwell beschrieben, wiedererkannt, aber seine eigenen Erinnerungen nahmen eine andere Gestalt an.

Um die Mietkosten möglichst niedrig zu halten, beschlossen Vater und ein paar Freunde zunächst, nicht im Zentrum von Paris zu wohnen. Stattdessen fanden sie in Fontenay-aux-Roses eine Unterkunft, das rund zehn Kilometer südwestlich vom Stadtzentrum lag, aber über eine Straßenbahn mit Paris verbunden war. Vater zog dort in das Haus eines Franzosen namens Grimm, eines ungehobelten Klotzes, der Unmengen trank und Vater seinen ersten Job in einem Fahrradladen gab. Später zog Vater in eine Herberge an der Rue de Vaugirard im Sechsten Stadtbezirk, in das Hôtel de Lisbonne. Sein Zimmer war winzig, und ein lautes Rohr verlief durch es, aber die Miete war billig. Die portugiesische Vermieterin war eine nette alte Dame, die keinen großen Wirbel machte, wenn er einmal mit der Miete im Rückstand war.

Eifrig erkundete Vater Museen und Galerien, und jeden Nachmittag ging er, um Modelle im Atelier Libre in Montparnasse zu zeichnen, wo die niedrige Eintrittsgebühr aufstrebende Künstler wie ihn anlockte. Er war geschickt darin, mit einfachen Linien Bewegungen einzufangen. Er liebte die Farben und Lyrik der Figuren und Landschaften Marc Chagalls und war ganz gefesselt von den gewagten Innovationen der impressionistischen Maler.

Dieses Eintauchens in die französische Kunstszene hatte nicht zuletzt die glückliche Folge, dass eins seiner eigenen Bilder zu einer Frühlingsausstellung in dem gefeierten, trendsetzenden Salon des Indépendants auserwählt wurde. Es war ein kleines Ölgemälde eines arbeitslosen Arbeiters, das weniger von seinen politischen Ansichten als von seinen Gefühlen als Außenseiter inspiriert war. Doch die Zulassung zu der Ausstellung hob sein Selbstwertgefühl.

Werke von Ai Qing, 1929

Eine einzige Schwarz-Weiß-Fotografie ist als visuelle Dokumentation des Aufenthalts meines Vaters in Paris erhalten. Vier junge Männer drängen sich auf einer Wiese aneinander; unter ihnen, links von einer Staffelei, steht mein Vater, das Haar zurückgekämmt, Pinsel und Palette in der Hand – ganz der junge asiatische Künstler. Sein Körper wirkt unter dem großen Kopf desto leichter, und seine Augen sind mit einem konzentrierten und selbstsicheren Blick direkt auf die Kamera gerichtet.

Nach wenigen Monaten hatte Vater sein ganzes Geld ausgegeben. Großvater hatte ihm zwei weitere Raten geschickt, weigerte sich danach aber, noch mehr Almosen zu verteilen. Also musste Vater anfangen, Teilzeit zu arbeiten, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Jeden Morgen dekorierte er, in einer von einem Amerikaner namens Douglass betrieben Werkstatt, Zigarettenetuis, indem er auf jede einzelne die Namen von Kunden schrieb. An einem Vormittag konnte mein Vater 20 Zigarettenetuis bemalen und verdiente 20 Francs. Auf diese Weise verdiente er im Monat 600 Francs, und nach Abzug von 50 Francs für die Miete und rund 10 Francs jeden Tag für Essen und Trinken benutzte er den Rest, um sich Bücher und Malutensilien zu kaufen und seine täglichen Ausgaben zu decken. Nur wenige Monate nach dem Börsenkrach von 1929 musste die Werkstatt jedoch schließen.