Akute Depression - Martin Hautzinger - E-Book

Akute Depression E-Book

Martin Hautzinger

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Beschreibung

Niedergeschlagenheit, emotionale Leere, Antriebslosigkeit, Interessenverlust und zahlreiche körperliche Beschwerden sind wesentliche Merkmale von akuten Depressionen. Sie gehören zu den häufigsten psychischen Beeinträchtigungen und können in allen Lebensphasen auftreten. Akute Depressionen zählen mit zu den häufigsten Gründen für Krankschreibung, Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung und haben damit gesamtgesellschaftliche Auswirkungen. Inzwischen liegen erfolgreiche psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten vor, die u.a. Eingang in die Nationale Versorgungsleitlinie unipolare Depression gefunden haben und über die in der Neubearbeitung dieses Bandes berichtet wird. Der Band beschreibt die Symptomatik akuter Depressionen und geht dabei auch auf die neuen Diagnosekriterien und -kategorien nach ICD-11 ein. Zudem wird aktuelles Wissen zur Ätiologie, zu diagnostischen Verfahren, zur Psychotherapieforschung sowie zur Wirksamkeit von Behandlungen vermittelt. Ausführlich wird anschließend die Behandlung akuter depressiver Episoden und dysphorischer Zustände vorgestellt. Hierbei werden insbesondere die Behandlungsphasen und -elemente der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) und Interpersonellen Psychotherapie (IPT) aufgezeigt, da sich diese empirisch bewährt haben. Ziel ist es, die depressive Spirale zu stoppen und umzukehren, die depressive Symptomatik zu lindern und die zwischenmenschlichen Beziehungen zu verbessern. Der Band vermittelt die Standards erfolgreicher Therapie akuter Depressionen.

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Martin Hautzinger

Akute Depression

2., überarbeitete Auflage

Fortschritte der Psychotherapie

Band 40

Akute Depression

Prof. Dr. Martin Hautzinger

Die Reihe wird herausgegeben von:

Prof. Dr. Martin Hautzinger, Prof. Dr. Tania Lincoln, Prof. Dr. Jürgen Margraf, Prof. Dr. Winfried Rief, Prof. Dr. Brunna Tuschen-Caffier

Die Reihe wurde begründet von:

Dietmar Schulte, Klaus Grawe, Kurt Hahlweg, Dieter Vaitl

Prof. Dr. Martin Hautzinger, geb. 1950. 1971 – 1976 Studium der Psychologie in Bochum und Berlin. 1976 – 1984 Wissenschaftlicher Mitarbeiter/Assistent am Institut für Psychologie der Freien Universität Berlin. 1980 Promotion. 1981 – 1983 Gastwissenschaftler an der University of Oregon, Eugene. 1984 – 1990 Wissenschaftlicher Assistent und Hochschuldozent an der Fachgruppe Psychologie der Universität Konstanz. 1987 Habilitation. 1990 – 1996 Professor für Klinische Psychologie an der Johann-Gutenberg-Universität Mainz. 1996 – 2019 Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Seit 2019 Seniorprofessor an der Universität in Tübingen.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autor:innen bzw. den Herausgeber:innen große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autor:innen bzw. Herausgeber:innen und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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www.hogrefe.de

Satz: Michael Kleine, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

Format: EPUB

2., überarbeitete Auflage 2023

© 2010 und 2023 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3167-3; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3167-4)

ISBN 978-3-8017-3167-0

https://doi.org/10.1026/03167-000

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Inhaltsverzeichnis

Einführung

1  Beschreibung der Störung

1.1  Definitionskriterien und Diagnostik

1.2  Differenzialdiagnose

1.3  Epidemiologie und Risikofaktoren

1.3.1  Prävalenz, Inzidenz und Morbiditätsrisiko

1.3.2  Risikofaktoren

1.4  Verlauf und Prognose

1.5  Komorbidität

1.6  Diagnostische Verfahren und Dokumentationshilfen

1.6.1  Interviews und Diagnose-Checklisten

1.6.2  Selbst- und Fremdbeurteilungsbögen

1.6.3  Problemanalyse

2  Störungswissen und Erklärungsmodelle

2.1  Lebensereignisse und soziale Einflussfaktoren

2.2  Aspekte der Persönlichkeit

2.3  Mangel an positiver Verstärkung und negative Interaktionen

2.4  Nichtkontrolle und erlernte Hilflosigkeit

2.5  Dysfunktionale kognitive Schemata

2.6  Genetische Faktoren

2.7  Gestörte Neurotransmission

2.8  Neuroendokrinologische Störungen

2.9  Schlaf und zirkadiane Rhythmik

2.10  Neuroanatomie

2.11  Psychobiologisches Erklärungsmodell

3  Diagnostische Entscheidungen und Indikationen

3.1  Eingangs-, Verlaufs- und Abschlussdiagnostik

3.2  Behandlungsentscheidungen und Indikation

4  Behandlung akuter Depressionen

4.1  Pharmakologische Behandlungen

4.2  Wachtherapie

4.3  Lichttherapie

4.4  Elektrokrampftherapie

4.5  Psychologische Interventionen

4.5.1  Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)

4.5.1.1  Therapeutische Grundelemente und professionelle Rahmenbedingungen

4.5.1.2  Verhaltensänderung und Kompetenzerweiterung

4.5.1.3  Kognitive Methoden

4.5.1.4  Vorbereitung auf Krisen, Notfallplanung, Erfolgssicherung

4.5.1.5  Gruppentherapie bei akuter Depression

4.5.1.6  Kognitive Verhaltenstherapie bei akuten Depressionen im höheren Lebensalter

4.5.1.7  Kognitive Verhaltenstherapie mit depressiven Jugendlichen

4.5.2  Interpersonelle Psychotherapie (IPT)

4.5.3  Prävention depressiver Entwicklungen

4.6  Krisenintervention und Umgang mit Suizidalität

5  Evaluation der Psychotherapie bei akuter Depression

5.1  Ergebnisse der Psychotherapieforschung

5.2  Grundelemente für wirksames therapeutisches Handeln

6  Fallbeispiel

7  Folgerungen, Empfehlungen, offene Fragen

8  Weiterführende Literatur

9  Literatur

10  Kompetenzziele und Lernkontrollfragen

11  Anhang

Differenzialdiagnose für affektive Störungen

Quick – Inventar Depressiver Symptome (QIDS-C)

Entscheidungsfindung für eine Behandlung entsprechend der Nationalen Versorgungsleitlinie Depression (2022)

Zielerreichungsskalierung

Ursachen und Einflussfaktoren einer Depression

Wochenplan zur Alltagsgestaltung und zum Aufbau angenehmer Tätigkeiten

Tagesprotokoll für negative Gedanken

Karten

Interview zur Diagnose einer akuten Depression

Indikatoren für akute Suizidalität

Hinweise zu den Karten

|1|Einführung

Fallbeispiel: 29-jährige Patientin mit der Diagnose „Depressive Episode, schwergradig, ohne psychotische Symptome (ICD-11: 6A70.3)“

Die 29-jährige Patientin wurde nach einem Suizidversuch mit Tabletten an den Weihnachtstagen von einer Nachbarin in die psychiatrische Klinik gebracht und dort notfallmäßig aufgenommen. Die Suizidhandlung war die Folge des Endes einer Beziehung zum „Mann ihres Lebens“. Die Trennung lag über sechs Monate zurück. Trotz antidepressiver Medikamente, die ihr vom Hausarzt verschrieben worden waren, war die Patientin sehr antriebslos und depressiv verstimmt. Sie hielt sich am liebsten im Bett auf, war seit mehreren Wochen krankgeschrieben. Auf Befragen, wie es ihr gehe, sagt sie, sie wisse nicht, wie es mit ihrem Leben weitergehen könne. Sie sei gescheitert und kann ihrer Familie nicht mehr unter die Augen treten. Alles sei ohne Sinn. Sie war hoffnungslos, voller Selbstzweifel, hatte keinen Appetit und bereits stark abgenommen.

Die Patientin wurde als zweites Kind einer mittelständischen Familie geboren und wuchs in einer Kleinstadt auf. Der Vater ist Elektroingenieur, die Mutter Hausfrau. Sie hat einen älteren Bruder, der mit seiner Familie in der Nähe der Eltern lebt. Sie beschreibt die Herkunftsfamilie als äußerst harmonisch. Nachbarn hätten die Eltern gefragt, „wie diese es denn geschafft hätten, solch brave Kinder aufzuziehen“. Auch während der Pubertät sei sie ein „gutes Kind“ gewesen. Zu familiären Spannungen sei es nie gekommen. Die Patientin besuchte die Grundschule, danach das Gymnasium. Zwischen dem 14. und 16. Lebensjahr habe sie extreme Schwierigkeiten mit ihren Klassenkameradinnen gehabt. Sie sei zwar nur einmal von einer Klassenkameradin verprügelt worden, das Schlimmste sei jedoch gewesen, dass die Mitschüler sie als Streberin verachtet hätten und eifersüchtig gewesen seien, weil die Lehrer sie wegen ihrer guten schulischen Leistungen gemocht hätten. Sie sei Außenseiterin gewesen und habe auch im Gegensatz zu anderen Mitschülerinnen keinen Freund gehabt. Ohne den Rückhalt der Familie hätte sie diese Zeit nicht überstanden. Sie habe sich nach dem Abitur für ein Stipendium an einer Universität in den USA qualifiziert. Sie habe dort den Abschluss zum „Bachelor of Business Administration“ gemacht und danach angefangen, bei einer Fluggesellschaft zu arbeiten. Vor zwei Jahren habe sie |2|sich bei der Lufthansa beworben und ist dort bis heute tätig. Ihr Lebensziel sei es jedoch, eine Familie zu haben, die ähnlich harmonisch sei wie ihre Herkunftsfamilie. Die gescheiterte Beziehung habe vor ca. zwei Jahren begonnen. Der Mann hat sie wegen einer anderen Frau verlassen.

Die aktuellen Problembereiche sind die akute depressive Verstimmung mit Antriebs- und Perspektivlosigkeit vor dem Hintergrund der sozialen Isolation, der hoffnungslosen Kognitionen und der Entwurzelung aus dem sozialen Umfeld. Es dominieren Gedanken wie „Ich weiß nicht, wie ich ohne ihn leben soll“, „Ich kann niemandem mehr trauen“, „Ich kann meiner Familie nicht mehr unter die Augen treten“, „Alles ist mein Fehler“, „Ich werde nie eine Familie, Kinder haben“. Sie zieht sich völlig zurück, pflegt nicht mal mehr Kontakt zur eigenen Familie, isst nichts mehr, raucht nur noch, isoliert sich völlig, ist permanent angespannt, verzweifelt und hoffnungslos.

Eine akute Depression ist gekennzeichnet durch die Beeinträchtigung der Stimmung, Gefühle der Niedergeschlagenheit, Ängste, Verlust der Freude, emotionale Leere, Antriebslosigkeit, Interesseverlust und zahlreiche körperliche Beschwerden. Depressionen gehen mit Beeinträchtigungen der gesamten Lebensführung und hohem Leidensdruck einher, da von Depressionen in zentraler Weise das Wohlbefinden und das Selbstwertgefühl berührt wird. Rechnet man mildere Formen depressiver Beeinträchtigungen sowie resignativ-depressive Reaktionen bei anderen psychischen und körperlichen Erkrankungen mit, dann sind Depressionen vermutlich die häufigsten und in allen Lebensabschnitten vorkommenden psychischen Beeinträchtigungen.

Viele der genannten Gefühlszustände und Beschwerden kennen jedoch alle Menschen. Sie sind, wenn sie eine bestimmte Dauer und/oder Intensität nicht überschreiten, normale, gesunde Reaktionen auf die Erfahrungen von beispielsweise Verlusten, Misserfolgen, Enttäuschungen, Belastungen, Zeiten der Ziellosigkeit, der Einsamkeit oder der Erschöpfung. Wann und wodurch die Grenze zwischen diesen normalen Reaktionen und den als klinisch auffällig betrachteten Symptomen überschritten wird, gehört unverändert zu den ungelösten Fragen im Zusammenhang mit depressiven Störungen.

In diesem Buch geht es um die akute Depression. Eine akute Depression kann diagnostisch als einzelne oder wiederholt auftretende „depressive Episode“ (6A70, 6A71), als Dysthyme Störung (6A72), als Prämenstruelle dysphorische Störung (GA34.41), als Sonstige näher bezeichnete depressive Störung (6A7Y) oder als Nicht näher bezeichnete depressive Störung (6A7Z) diagnostisch nach ICD-11 verschlüsselt werden (vgl. Kasten).

|3|Diagnostische Kategorien depressiver Störungen nach ICD-11 (6A7)1

Einzelne depressive Episode (6A70)

Einzelne depressive Episode, leichtgradig (6A70.0)

Einzelne depressive Episode, mittelgradig, ohne psychotische Symptome (6A70.1)

Einzelne depressive Episode, mittelgradig, mit psychotischen Symptomen (6A70.2)

Einzelne depressive Episode, schwergradig, ohne psychotische Symptome (6A70.3)

Einzelne depressive Episode, schwergradig, mit psychotischen Symptomen (6A70.4)

Einzelne depressive Episode, Schweregrad nicht näher bezeichnet (6A70.5)

Einzelne depressive Episode, gegenwärtig in Teilremission (6A70.6)

Einzelne depressive Episode, gegenwärtig in Vollremission (6A70.7)

Rezidivierende Depressive Störung (6A71)

Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichtgradige Episode (6A71.0)

Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, ohne psychotische Symptome (6A71.1)

Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, mit psychotischen Symptomen (6A71.2)

Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwergradige Episode, ohne psychotische Symptome (6A71.3)

Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwergradige Episode, mit psychotischen Symptomen (6A71.4)

Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtige Episode, Schweregrad nicht näher bezeichnet (6A71.5)

Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig in Teilremission (6A71.6)

Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig in Vollremission (6A71.7)

Dysthyme Störung (6A72)

Zusatzcodierungen für Symptomatik und Verlauf

Depressive Episode mit ausgeprägten Angstsymptomen (6A80.0)

Depressive Episode mit Panikattacken (6A80.1)

Persistierende (chronische) depressive Episode (6A80.2)

Depressive Episode mit Melancholie (6A80.3)

Depressive Episode mit saisonalem Muster (6A80.4)

|4|Prämenstruelle dysphorische Störung (GA34.41)

Postpartum Depression (6E20/21)

Gemischte depressive Störung und Angststörung (6A73)

Sonstige näher bezeichnete depressive Störung (6A7Y)

Nicht näher bezeichnete depressive Störung (6A7Z)

Akute Depressionen kommen auch in Zusammenhang mit Schwangerschaft, Entbindung und in der Postpartalphase (Wolkenstein, 2023) sowie im Verlauf sogenannter „Bipolarer und verwandter Störungen“ (6A6) vor. Auf diese besondere Form einer Depression soll jedoch hier nicht eingegangen werden. Diesem Störungsbild ist ein eigener Band in dieser Buchreihe gewidmet (Hautzinger & Meyer, 2011). Ferner kann eine akute Depression nach mehreren Erkrankungsepisoden oder auch von Anfang an chronifizieren (z. B. als Dysthymie oder als Vollbild einer Depression über mehr als zwei Jahre anhalten). Akute Depressionen können auch auf Behandlungen unzureichend ansprechen. Diese chronisch verlaufenden bzw. therapierefraktären Depressionen sollen hier auch nicht das Thema sein. Hierzu ist ein eigener Band in dieser Buchreihe verfügbar (Brakemeier, Schramm & Hautzinger, 2012).

Die erste Auflage dieses Bandes ist 2010 erschienen. Seitdem hat sich das Feld der „Mood Disorders“ durch Erkenntnisfortschritte und neue Behandlungsmöglichkeiten weiter ausdifferenziert. Das psychologische und neurobiologische Verständnis sowie die psychiatrischen und psychologischen Behandlungsoptionen rechtfertigen nicht nur die Unterscheidung in unipolare bzw. bipolare affektive Störungen, sondern auch in akute, chronische, rezidivierende und postpartale (unipolare) Depressionen. Insbesondere im Rahmen der Psychotherapie bipolarer Störungen und rezidivierender depressiver Störungen stehen die Rückfallprophylaxe, die Vermeidung von Hospitalisierung und der Erhalt eines möglichst hohen sozialen Funktionsniveaus im Mittelpunkt. Auch dieser rückfallprophylaktische Fokus rechtfertigt eigenständige Konzepte (z. B. Meyer & Hautzinger, 2013; Risch, Stangier, Heidenreich & Hautzinger, 2012) und damit verbundene Untersuchungen. Eine weitere Ausdifferenzierung unseres Wissens über affektive Störungen erlaubt heute auch die „universelle bzw. selektive Prävention“ depressiver Entwicklungen bei Kindern und Jugendlichen (Pössel & Hautzinger, 2022).

Der Schwerpunkt dieses Buches liegt auf dem psychologischen Verständnis und der Psychotherapie akuter depressiver Episoden. Damit verbunden ist das Ziel der Symptomreduktion und der Überwindung aktueller depressiver Beeinträchtigungen. Dies wird vom Schweregrad der depressiven Symptomatik und von der vorhandenen Komorbidität beeinflusst. Da der Schwerpunkt der ersten Auflage bereits auf dem Verständnis und der Therapie akuter depressiver Zustände lag und dabei wissenschaftlich gut begründete Konzepte zur Anwendung kamen, liegt mit diesem Buch kein vollständig neues Werk |5|vor. Es werden die bewährten und erfolgreichen, auf wissenschaftlichen Evidenzen begründeten Erklärungen und Behandlungen übernommen, doch um aktuelle Entwicklungen und Interventionen ergänzt.

Tübingen, März 2023

Martin Hautzinger

1

International Classification of Diseases 11th Revision. Verfügbar unter: https://icd.who.int sowie ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung: Verfügbar unter: https://www.bfarm.de/DE/Ko​diersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/_node.html

|6|1  Beschreibung der Störung

Merke

Niedergeschlagenheit, traurige Verstimmung, Gefühllosigkeit, Angst, Antriebsminderung, Selbstzweifel, Wertlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit, häufig begleitet von Ängstlichkeit und Unruhe, Energielosigkeit, Appetitstörungen, Gewichtsverlust, Libidoverlust, Schlafstörungen, Schmerzen, Konzentrationsproblemen und Suizidideen sind typische Beschwerden und Auffälligkeiten einer akuten Depression.

Neben der umgangssprachlichen Verwendung des Begriffs „Depression“ auf Verstimmtheitszustände im Bereich normalen Erlebens wird von Depressionen im Bereich psychischer Störungen auf drei Ebenen gesprochen: (a) auf der symptomatologischen Ebene, wenn es um Einzelsymptome wie z. B. Traurigkeit oder Niedergeschlagenheit geht; (b) auf der syndromalen Ebene als ein als zusammenhängend angenommener Merkmalskomplex mit emotionalen, kognitiven, motorischen, motivationalen, physiologischen, endokrinologischen Komponenten; und schließlich (c) als Oberbegriff für möglicherweise verschiedene Erkrankungen und dem zugehörigen (hypothetischen) Ursachen-, Verlaufs- und Behandlungswissen.

Akute depressive Syndrome sind durch eine Vielzahl heterogener Symptome gekennzeichnet. Charakteristisch ist, dass körperliche und psychische Symptome gemeinsam vorkommen. In Tabelle 1 sind die wesentlichen Symptome einer Depression nach psychologischen Gesichtspunkten geordnet. Hilfreich ist die Unterscheidung in Symptome auf emotionaler, motivationaler, kognitiver, vegetativ-somatischer, motorisch-behavioraler und interaktioneller Ebene.

Da keines der in der Tabelle 1 aufgeführten Symptome vorkommen muss, keines nur bei depressiven Störungen vorkommt und außerdem Patienten in unterschiedlicher Ausprägung ein unterschiedlich zusammengesetztes Muster von Symptomen haben können, erfordert das Erkennen einer akuten depressiven Störung eine sorgfältige Diagnostik.

|7|Tabelle 1:  Symptomatik akuter Depressionen

Verhalten, Motorik, Erscheinungsbild

Emotional

Physiologisch-vegetativ

Imaginativ-kognitiv

Motivational

Körperhaltung: kraftlos, gebeugt, spannungsleer; Verlangsamung der Bewegungen; Agitiertheit, nervöse, zappelige Unruhe, Händereiben o. Ä.

Gesichtsausdruck: traurig, weinerlich, besorgt; herabgezogene Mundwinkel, vertiefte Falten, maskenhaft erstarrte, manchmal auch nervöse, wechselnd angespannte Mimik

Gefühle von Niedergeschlagenheit und Hilflosigkeit, Trauer, Hoffnungslosigkeit, Verlust, Verlassenheit, Einsamkeit und innerer Leere, Unzufriedenheit, Feindseligkeit, Angst und Sorgen, Gefühl der Gefühllosigkeit und Distanz zur Umwelt

Innere Unruhe, Erregung, Spannung, Reizbarkeit, Weinen, Ermüdung, Schwäche, Schlafstörungen, tageszeitliche und jahreszeitliche Schwankungen im Befinden, Wetterfühligkeit, Appetit- und Gewichtsverlust, Libidoverlust, allgemeine vegetative Beschwerden (u. a. Kopfdruck, Magenbeschwerden, Verdauungsbeschwerden)

Negative Einstellung gegenüber sich selbst (als Person, den eigenen Fähigkeiten und dem eigenen Erscheinungsbild) und der Zukunft (z. B. imaginierte Vorstellung von Sackgasse, schwarzem Loch); Pessimismus, permanente Selbstkritik, Schuld, Selbst­unsicherheit, Hypochondrie, Einfalls­armut, mühsames Denken,

Misserfolgsorientierung, Rückzugs- bzw. Vermeidungshaltung, Flucht und Vermeidung von Verantwortung, Erleben von Nichtkontrolle und Hilflosigkeit, Interessenverlust, Verstärkerverlust, Antriebslosigkeit, Entschlussunfähigkeit, Gefühl des Überfordertseins, Rückzug bis zum Suizid oder Zunahme der Abhängigkeit von anderen

Sprache: leise, monoton, langsam

Allgemeine Aktivitätsverminderung bis zum Stupor, wenig Abwechslung, eingeschränkter Bewegungsradius, Probleme bei der praktischen Bewältigung alltäglicher Anforderungen

Bei der Diagnose ist auf Folgendes zu achten: Blutdruck, Blutzuckerspiegel, Kalziummangel, Eisenwerte, Serotonin-/Adrenalinmangel, Cortisolüberschuss, Schilddrüsenfunktion, Zink, Vitamin D

Konzentrationsprobleme, zirkuläres Grübeln, Erwartung von Strafen oder Katastrophen, Wahnvorstellungen, z. B. Versündigungs-, Insuffizienz- und Verarmungsvorstellungen; rigides Anspruchsniveau, nihilistische Ideen der Ausweglosigkeit und Zweck­losigkeit des eigenen Lebens, Suizidideen

|8|1.1  Definitionskriterien und Diagnostik

Akute Depressionen werden heute durch eine gewisse Anzahl gleichzeitig vorhandener Symptome, die über eine gewisse Zeit andauern müssen und nicht durch andere Erkrankungen bzw. Umstände erklärbar sind, definiert (vgl. Kasten). Der Verlauf, die Schwere (leicht, mittelgradig, schwer) und die besondere Ausprägung der Symptomatik (z. B. mit psychotischen Symptomen, mit Melancholie, mit saisonalem Muster, mit ausgeprägten Angstsymptomen, mit Panikattacken, persistierend, in der Peripartalzeit) werden zur Definition von weiteren Untergruppen herangezogen.

Gemäß ICD-11 müssen für die Diagnose einer depressiven Episode mindestens fünf von zehn Symptomen über mindestens zwei Wochen fast den ganzen Tag und fast jeden Tag vorhanden sein (vgl. Kasten). Unter den fünf Symptomen muss mindestens eines der Leitsymptome sein. Die zehn Symptome lassen sich einem affektiven Cluster (depressive Verstimmung, Verlust von Interesse und Freude, Libidoverlust), einem kognitiv-behavioralen Cluster (Konzentrationsprobleme, Entscheidungsunfähigkeit, Verlust von Selbstwertgefühl, Schuldgefühle, Hoffnungslosigkeit, Gedanken an Tod) und einem neuro-vegetativen Cluster (Schlafstörungen, Appetitstörungen, Gewichtsveränderungen, psychomotorische Hemmung bzw. Agitiertheit, Energieverlust, Erschöpfung) zuordnen.

Akute depressive Störung

Die meiste Zeit des Tages, fast jeden Tag, weitgehend unbeeinflusst durch äußere Umstände über mindestens zwei Wochen anhaltend mindestens ein Leitsymptom plus vier Begleitsymptome:

Leitsymptome

 1.

Depressive (niedergedrückte) Stimmung in einem für den Betroffenen deutlich abnormen Ausmaß.

oder

 2.

Deutlicher Verlust an Freude und/oder Verlust von Interesse an Aktivitäten, die normalerweise angenehm sind, bzw. Alltagsaktivitäten.

Begleitsymptome

Bezogen auf den kodierten mindestens zweiwöchigen Zeitraum zusätzlich vier weitere Symptome:

 3.

Verminderter Antrieb, erhöhte Ermüdbarkeit, reduzierte Energie, Erschöpfung.

 4.

Verlust von Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl, unbegründete Selbstvorwürfe oder ausgeprägte, unangemessene Schuldgefühle.

 5.

|9|Wiederkehrende Gedanken an den Tod oder Suizid oder suizidales Verhalten.

 6.

Klagen über oder Anzeichen für vermindertes Denk- oder Konzentrationsvermögen wie Unentschlossenheit, Unschlüssigkeit oder Entscheidungsunfähigkeit.

 7.

Änderung der psychomotorischen Aktivität mit Agitiertheit oder Hemmung.

 8.

Schlafstörungen jeder Art.

 9.

Appetitverlust oder gesteigerter Appetit mit entsprechender Gewichtsveränderung.

10.

Hoffnungslosigkeit gegenüber der Zukunft.