Aléas Ich - Aléa Torik - E-Book

Aléas Ich E-Book

Aléa Torik

4,8

Beschreibung

"Die Wahrheit existiert nur, solange niemand von ihr erzählt." Aléa Torik, 1983 in Rumänien geboren, promoviert in Literaturwissenschaft zum Thema Fiktionalität. Sie schreibt an ihrem zweiten Roman, führt ein Blog im Netz, wohnt mit der schönen und melancholischen Olga in einer WG und ist mit der Schauspielerin Luise und dem Unternehmensberater Lauritz befreundet. Die Vergangenheit in Siebenbürgen und Bukarest, die große Liebe in Berlin, ein obsessiver Verehrer Olgas und ein penetranter Verfolger, der Aléa, was sie sehr spät erst bemerkt, offenbar nie von der Seite weicht: Das sind die biografischen Daten und Ereignisse. Oder sind es die Erzählfäden aus dem Roman, an dem sie arbeitet? `Aléas Ich´ ist ein ausgeklügeltes Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion, das dem Namen der Autorin alle Ehre macht.

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Aléa Torik

Aléas Ich

Roman

Aléa Torik

Aléas Ich

Roman

Osburg Verlag

Die Arbeit wurde mit einem Stipendium

der Stiftung Preußische Seehandlung Berlin gefördert.

Erste Auflage 2013

© Osburg Verlag Hamburg 2013

www.osburgverlag.de

Alle Rechte vorbehalten,

insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung

elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Ulrich Steinmetzger, Halle

Satz und ePub: G&U Language & Publishing Services GmbH,

Flensburg (www.GundU.de)

ISBN-Buch: 978-3-95510-004-9

ISBN-ePub: 978-3-95510-017-9

Inhalt

Vorwort

Anfang, vor allem Anfang

Der Maler

Geschichten aus einer untergegangenen Welt

Im Paradies der verstorbenen Worte

Eine Erfindung Tolstois

Der Herzog von Charost

Der Traum eines Schmetterlings

Der Wels im Schollenpelz

Die Geschichte vom Vergessen des Betens

Glück und Unglück

Kunst und Leben

Anfang und Ende

Anmerkungen

Danksagung

Alle Personen dieses Romans sind frei erfunden und nichts anderes als das Produkt meiner überspannten Einbildung. Jedwede Ähnlichkeit mit natürlichen Personen ist zufällig. Das gilt auch für die beschriebenen Umstände. Jede Ähnlichkeit mit real existierenden Umständen ist zufällig. Die Wohnung im Prenzlauer Berg, das Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum, die Humboldt-Universität in Berlin, Deutschland und Rumänien, dieser Planet in einer abseitigen und bedauerlicherweise recht ereignisarmen Spiralgalaxie, das Universum mit Raum und Zeit, das alles sind einzig Produkte meiner Einbildung. Jede Ähnlichkeit mit anderen Galaxien in möglicherweise existierenden Paralleluniversen ist Zufall. Auch der Zufall ist nichts als das Produkt meiner Einbildung. Ein künstlicher Zufall, der möglicherweise dem natürlichen Zufall ähnlich sieht. Aber jedwede Ähnlichkeit von natürlichem und künstlichem Zufall ist Zufall. Künstlicher Zufall natürlich.

»Merkur: Halt dort! Wer geht dort?

Sosias: Ich.

Merkur: Was für ein Ich?

Sosias: Meins mit Verlaub.«

Heinrich von Kleist, Amphitryon

»Das moderne Denken aber entspricht dem Scheitern der Repräsentation wie dem Verlust der Identitäten und der Entdeckung all der Kräfte, die unter der Repräsentation des Identischen wirken. Die moderne Welt ist die der Trugbilder (simulacres). Hier überlebt der Mensch nicht Gott, überlebt die Identität des Subjekts nicht die der Substanz. Alle Identitäten sind nur simuliert und wie ein optischer ›Effekt‹ durch ein tieferliegendes Spiel erzeugt, durch das Spiel von Differenz und Wiederholung.«

Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung (Übersetzung Joseph Vogl)

»Der postmoderne Mensch glaubt an keine andere Wirklichkeit als die von ihm selbst erschaffene. […] Phantasie und ›Wirklichkeit‹ befinden sich auf ein und derselben Ebene und überschreiben einander unaufhörlich.«

Mircea Cartarescu, Postmodernismul romanesc(Übersetzung Aléa Torik)

Es ist September, der frühe Morgen des 11. September 2011, und ich sitze im Lesesaal der Zentralbibliothek der Humboldt-Universität, dem Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum, es ist der frühe Morgen eines strahlend schönen Septembertages, den ich durch die Oberlichter sehen kann, ich sitze vor dem aufgeklappten Laptop und schaue auf den Bildschirm, auf die erste Seite meines Manuskripts; ich schaue über den Bildschirm hinweg in den riesigen, terrassenförmig angelegten Lesesaal, in dem ich, auch wenn das in einer Stadt mit mehr als drei Millionen Einwohnern, einer Universitätsstadt mit 150 000 Studenten ausgesprochen un-wahrscheinlich ist, ganz alleine bin, ich bin vollkommen allein.

Ich lebe seit fünf Jahren in Berlin. Ich habe in den ersten beiden Jahren einen Roman geschrieben und mein Studium beendet. Seither promoviere ich in Literaturwissenschaft und führe ein Blog im Netz. Ich wohne mit der exzentrischen Olga und dem kaum minder exzentrischen Amer Amira Al Amour im Prenzlauer Berg. Ich bin achtundzwanzig Jahre alt und habe an meinem letzten Geburtstag öffentlich verkündet, dass ich es dabei belassen werde, da ich das Altern für keine adäquate Weise des Reifeprozesses halte. Ich bin einen Meter achtundsiebzig groß, schlank und sehe, wie man mir zu verstehen gibt, recht manierlich aus und bisweilen lerne ich Männer kennen, die sich noch zu ganz anderen Beschreibungen versteigen. Ich bekomme ein Stipendium und mein Professor hält große Stücke auf mich. Ich bin lernwillig, fleißig und zielstrebig. All das macht einen guten, einen hervorragenden Eindruck. Es sieht aus, als könnte im Leben noch etwas aus mir werden. Aber in Wirklichkeit bin ich geradezu verzweifelt.

Es war der frühe Morgen dieses 11. September und ich wollte am liebsten aus dem Fenster springen. Aber es gab keine Fenster. Es gab nur die Oberlichter weit über mir. Die gesamte Decke bestand aus etwa einhundert Glasquadraten. Ich saß an meinem Schreibtisch im großen Lesesaal, einer zwanzig Meter hohen Halle, in die zu beiden Seiten ansteigende Ebenen eingelassen waren, die acht Leseterrassen mit etwa zweihundertfünfzig Arbeitsplätzen, und stellte mir vor, wie ich durch ein Oberlicht sprang. Ich schaute nach oben und in genau diesem Moment explodierte eines dieser gläsernen Quadrate und mit rasender Geschwindigkeit fiel ein menschlicher Körper durch die Halle, verschwand aus meinem Blickfeld und schlug mit einem entsetzlichen Geräusch auf der untersten Ebene auf. Einen erschreckenden Moment lang dachte ich, dass es mein eigener Körper gewesen wäre, aber es war ein Frauenkörper, den ich nicht kannte. Obwohl ich ihn von hier oben nicht dort liegen sehen konnte, obwohl der visuelle Eindruck vorüber war, blieben der Schrei und das Geräusch, mit dem dieser Körper unten aufgeschlagen war, deutlich spürbar. Das befand sich noch in dieser Halle, das lief die Wände hoch und runter, auch wenn ich es, weil es ja Geräusche waren, nicht sehen konnte. Seltsamerweise konnte ich sie aber auch nicht hören.

Ich saß im Lesesaal der Bibliothek und hatte die erste Seite meines zweiten Romans vor mir auf dem Bildschirm. Ich würde von nun an jeden Tag hier sitzen und arbeiten. In einem Jahr wolle ich fertig sein. Ich säße dann noch immer hier und hätte die letzte Seite des Textes vor mir. Diese beiden weit auseinanderliegenden Tage sehen einander ähnlich. An jenem jetzt noch fernen Tag werde ich mich an den heutigen erinnern, ich werde mich erinnern, dass ich genau dies ein Jahr zuvor bereits gedacht hatte, und ich werde dann nicht mehr wissen, ob der vergangene oder der gegenwärtige Moment intensiver ist. Übereinandergelegt werden sie zu einem einzigen Eindruck verschmolzen sein.

Am Tag zuvor hatte ich ein Gespräch mit meinem Professor über diesen Text, in dem er mir vor Augen geführt hat, dass ich noch einige Arbeit würde investieren müssen, da meine Auffassung von der Wirklichkeit unzureichend war. Jedenfalls habe ich ihn so verstanden und eine andere Möglichkeit als mein eigenes Verstehen habe ich nicht. Die hat niemand. Kein Mensch erkennt etwas, das er nicht selbst erkennt. Angenommen, es gäbe etwas in der Welt, das man nicht sieht, nicht riecht und nicht versteht, dann ist es auch nicht Teil der eigenen Wirklichkeit. Oder angenommen, es wäre genau umgekehrt, man sieht, riecht oder versteht etwas, das es gar nicht gibt, dann ist es dennoch Wirklichkeit für die erlebende Person. In beiden Fällen gibt es keine Möglichkeit zur Korrektur. Alle Menschen haben nur eine ihnen natürlich erscheinende Sichtweise, die Ich-Perspektive. Dieser Umstand war verantwortlich für meine Verzweiflung, denn er war zentral für meinen Roman. Ich hatte ein Problem, das größer war als alles, was ich mir sonst noch vorstellen konnte: mich selbst. Ich war das größte Problem, das ich hatte, und gleichzeitig die einzige Lösung. Denn dieser Roman war meine Welt. Ich existierte nur, wenn er es tat. Ich existierte in ihm und mit ihm und durch ihn.

Ich stamme aus einem kleinen rumänischen Bergdorf in den Karpaten. In den tiefen Tälern dieses urtümlichen Gebirges ist die Zeit ein gemächliches Fließen, gleichförmig, freundlich, wohlgesonnen. Eines Tages liegt das Verflossene hinter einem. Man sitzt mit seinen Enkelkindern auf dem Schoß auf einem Holzstapel oder einem Stein und erzählt ihnen von früher, als man noch jung war und die Zeit ein gemächlicher Fluss. Während des Erzählens, vermischen sich diese beiden Zustände, es ist ein Aufwärts- und ein Abwärtsfließen, sodass man nicht mehr unterscheiden kann, welche der beiden Zeiten die wirkliche und welche die erzählte ist. Bilder ein und derselben Sache, ein und desselben Lebens, die nicht nacheinander, sondern übereinander liegen. In den Gebirgstälern gab es nur diese eine Zeit, deren Abschnitte ineinanderflossen. Das Leben in der Stadt war ganz anders organisiert. Die einzelnen Abschnitte waren streng voneinander getrennt, die übereinanderliegenden Bilder werden auseinandergerissen, weil die Menschen Wert darauf legen, dass sie sich nicht miteinander vermischen, und dass, was klar und deutlich geschieden werden konnte, auch voneinander geschieden wurde.

Ich bin in Marginime aufgewachsen. Dort habe ich gelebt, bis ich zum Studium nach Bukarest gegangen bin, das auf der anderen Seite der Berge in der Walachei liegt. Von da an verbrachte ich nur noch einen Teil der Sommermonate und die Weihnachtsferien zu Hause. Als ich dann von Bukarest nach Berlin umgezogen war, fuhr ich noch seltener dorthin. Es war teuer und es wurde, wenn man öfter fuhr, auch nicht billiger. Außerdem war es weit weg. In deutschen Ohren klingt Rumänien nach ›Am Arsch der Welt‹. Das liegt am Schwarzen Meer, wo immer das nun wieder liegen mochte. Konnte dieses Meer keine ansprechendere Farbe haben, konnte es nicht wenigstes blau oder grün sein? Bukarest klingt nicht nach der Hauptstadt Rumäniens, weil es leicht mit Budapest verwechselt wird. Transsilvanien klingt nach Blut und Dracula, Siebenbürgen nach ›Hinter den sieben Bergen mit den sieben Zwergen‹ und Sibiu, die nächstgrößere Stadt, in der ich geboren wurde und zur Schule gegangen bin, klingt nach Sibirien. Nichts klingt so, wie es wirklich ist.

Rumänien bestand lange Zeit lediglich aus zwei unbedeutenden Fürstentümern an der Donau – die Moldau und die Walachei –, die zusammen die Tara Romaneasca* bildeten. In seiner heutigen Form existiert das Land erst seit dem Ende des Ersten Weltkrieges. Mit den Verträgen von Trianon und Neuilly, mit der geografischen und geopolitischen Neuordnung Europas, wurde Siebenbürgen, das jahrhundertelang zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehört hatte, am Ende des Ersten Weltkrieges dem neu entstandenen Rumänien zugesprochen. Was im besten Sinne Zentraleuropa gewesen war und kulturell unter dem prägenden Einfluss von Deutschen, Österreichern und Ungarn gestanden hatte, rutschte aus der Mitte Europas an den unteren Rand und lag von einem auf den anderen Tag überraschenderweise in Osteuropa. Nach Ceausescus Machtübernahme in den 60er-Jahren verschwand das Land nahezu von der Landkarte und es ist bis heute, mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende der Diktatur, trotz der Mitgliedschaften in der EU und der NATO, auch nicht wieder aufgetaucht. Rumänien blieb auch nach der Wende in einem diffusen Nebel verschwunden, einem Vorhang aus Vorurteilen, der dichter ist, als es Mauern und Betonabsperrungen, sprachliche und ideologische Barrieren jemals gewesen waren. Nachrichten aus Rumänien hören sich noch heute an, als stammten sie aus einer anderen Welt.

* Kursiv gesetzte, rumänische Worte und Begriffe ziehen eine Anmerkung am Ende des Textes nach sich.

Inzwischen, da ich schon mehr als fünf Jahre in Berlin lebe, hatte ich selbst den Eindruck, dass es weit weg war. In diesen Jahren hatte sich in meinem Leben nahezu alles verändert und was sich nicht verändert hatte, machte gerade aufgrund seiner Unwandelbarkeit den Eindruck großer Ferne. War das noch meine Heimat? Neben ›Schnaps‹, ›Autobahn‹, ›Kindergarten‹ und ›Angst‹, neben ›das ist eine große Katastrophe‹ war ›Heimat‹ das deutscheste Wort, das ich kannte. Bedeutete mir das etwas? Ist Siebenbürgen, ist Transsilvanien mein Zuhause? Bin ich Rumänin? Ich hatte noch ein Zimmer im Haus meiner Eltern, aber da stand nur noch Krempel aus der Kindheit. War das mein Zuhause oder war Deutschland seit jeher mehr als eine abstrakte Option? War dieses Land meine eigentliche Heimat, weil ich seit langer Zeit wusste oder ahnte, dass ich eines Tages hierher kommen würde?

Ich hatte Angst, als ich nach Berlin gekommen bin. Angst, dass ich hier nicht klarkäme. Deutsch war zwar meine Muttersprache, mein Vater war Deutscher und ich war auf eine scoala germana gegangen, aber ansonsten war mir das Land fremd. Ich befürchtete, dass ich am Studium, an den Menschen in Deutschland oder an mir selbst scheitern würde und mir das Leben hier fremd und unzugänglich bliebe. Diese Angst hat sich als mehr oder weniger unbegründet herausgestellt. Ich spürte sie nicht mehr oder ich konnte sie in eine kleine Ecke meines Lebens drängen: Ich habe eine ausgeprägte Flugangst. Mein erster Freund war bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Ich kann kein Flugzeug betreten, ohne in Panik zu geraten. Außerdem habe ich eine überaus lebhafte Fantasie und bei solchen Menschen ist es einerlei, ob sie wirklich abstürzen oder nur in ihrer Einbildung: Tot sind sie in jedem Fall. Sie sind nach einem eingebildeten Absturz toter, als sie es nach einem wirklichen je sein könnten.

Weil ich auch nicht gerne mit dem Auto unterwegs bin, kommt, wenn ich nach Rumänien fahre, nur die Fahrt mit dem Zug in Frage. Ich breche in der Regel frühmorgens in Berlin auf und bin dann 24 Stunden unterwegs, eine ganze Erdumdrehung lang. Die Fahrt geht durch Tschechien, die Slowakei und Ungarn. In Budapest habe ich den ersten Aufenthalt. Ich muss in den Zug nach Bukarest umsteigen, der meist gegen acht Uhr abends abfährt. In Alba Iulia steige ich mitten in der Nacht ein weiteres Mal um. Ich muss stundenlang auf den Anschluss warten, weil diese Züge erst gegen sechs Uhr morgens fahren. Sie bringen die Pendler nach Sibiu, das neben dem weit größeren Brasov eines der beiden kulturellen und wirtschaftlichen Zentren Siebenbürgens ist.

Ich sitze mitten in der Nacht in der Wartehalle dieses Bahnhofs. Es lungern seltsame Gestalten dort herum. An einer Wand hängt eine Uhr, der ein Zeiger fehlt. Ein Spaßvogel hat ›Rolex‹ darunter geschrieben. Auf der Bank neben mir schläft jemand. An der Decke flackert ein Licht. Irgendwo grölt ein Betrunkener. Die Zeit, die Stunden des Wartens und die Jahre, die zwischen meinen Aufenthalten in dieser Wartehalle liegen, hängen unsichtbar, aber spürbar im Raum. Nach einer kurzen Melodie, die kaum mehr als eine lose Aneinanderreihung von Tönen ist, wird mit einer aufdringlich plärrenden Lautsprecherdurchsage der Zug angekündigt. Ich trotte mit den anderen auf den Bahnsteig. Im Zug riecht es, wie es in diesen Zügen immer schon gerochen hat, nicht sehr angenehm, aber auf sehr angenehme Weise vertraut. Ich setze mich und schlafe beinahe ein, mein Kopf sinkt langsam gegen die Scheibe. In Sibiu steige ich aus. Ich gehe wie alle anderen über die Gleise, da es weder eine Unterführung noch eine Brücke gibt. In Rumänien geht man quer über die Gleise, weil es sonst keine Möglichkeit gibt, auf die andere Seite zu gelangen. Oder man bleibt zeitlebens auf der Seite, auf der man geboren wurde.

Dann ist da, in all diesen Jahren immer gleich, eine Hand, die mein Gepäck nimmt. Ich muss gar nicht erst hinsehen, es ist mein Vater, der mich abholt. Er nimmt mein Gepäck und er nimmt mich dabei in den Arm. Das geschieht im Gehen, ohne dass wir unsere Schritte verlangsamen. Ohne viele Worte heißt mein Vater mich bei der Ankunft auf seine warmherzige Weise willkommen. Ich lehne meinen Kopf kurz an seine Schulter.

»Da bist du ja endlich«, sagt er jedes Mal.

Er sagt das in einem Tonfall, als habe er das ganze Jahr hier auf dem Bahnsteig verbracht und auf seine Tochter gewartet, die von der Welt verschlungen worden war.

»Ja«, antworte ich dann, »da bin ich.«

Nach der letzten Grenze haben die Gleise nicht mehr diese nahtlosen Übergänge und das typische Klackklack Klackklack Klackklack beginnt. Ich weiß nicht, ob mich das am Schlafen hindert oder es befördert. Ich schlafe und träume, dass ich nicht einschlafen kann. Die Züge werden immer langsamer, je näher ich meinem Ziel komme. Auf dem letzten Teilstück könnte ich gut zu Fuß nebenher laufen. Ich habe den Eindruck, dass diese letzten Kilometer am längsten dauern. Ich weiß nicht, ob das wirklich so ist oder ob ich es nur träume. Ich weiß nicht, ob ich wirklich nebenher gehe. Ich gehe nebenher und sehe mich durch die Scheibe im Zug sitzen, der Kopf zur Seite gerutscht, beinahe schlafend und träumend. Langsam fahrend, gehend, schlafend und träumend komme ich wieder in der unendlichen Gegenwart meiner Kindheit an.

Ich beklage mich nicht über die Dauer dieser Zugfahrt. Nicht die Fahrzeit ist Zeitverschwendung, denn die ist nicht zu vermeiden, sondern die Klage darüber. Wo ich herkomme, ist man im Einklang mit den Dingen. Zumindest ist man im Einklang mit ihrer Dauer.

Anfang, vor allem Anfang

Der Anfang ist nicht das Erste. Es gibt etwas, das vor jedem Anfang liegt. Die Frage: wie anfangen? Wie hat das Universum, wie hat Gott angefangen?

Am besten fängt man einfach an, ohne lange nachzudenken. Irgendwie haut es dann schon hin. Das Universum hat mit dem Urknall angefangen und die Menschheit mit Adam und Eva. Meine Hochachtung an die Kollegen vom physikalischen und theologischen Institut, beides sind gelungene Anfänge. Irgendwie muss jede Geschichte losgehen. Es muss losgetreten werden: das Vergehen von Zeit. Denn nur wenn Zeit vergeht, geschieht etwas. Oder umgekehrt.

Die Vertreibung aus dem Paradies ist zu verstehen als das erste Vergehen, im doppelten Sinne des Wortes, im temporären wie im moralischen. Das Erkennen der Sündigkeit, das Erkennen der eigenen Nacktheit, aber auch jenes Erkennen, dass das Elysium, der Garten Eden, das Unreflektierte und das Nichtwissen bereits hinter einem liegen, sind Vergehen. In dem Moment, da man erkennt, dass etwas hinter einem liegt, entsteht Vergangenheit. Erkenntnis und Reflektion: Das sind die eigentlichen Vergehen des modernen Menschen.

Auch die erste Geschichte musste irgendwie anfangen. Vielmehr die Geschichte vom Ersten. Die Geschichte vom Anfang ist schon nicht mehr der Anfang selbst. Das Erste ist bereits vorüber, wenn es erzählt werden kann. Das ist unser Schicksal und das unseres Bewusstseins: Die Würfel sind bereits gefallen, wenn wir hinzukommen. Aber das ist nicht weiter schlimm. Weil wir erneut anfangen müssen. Immer wieder müssen wir den Würfel in die Hand nehmen.

Meine Webpräsenz besteht aus sechs einzelnen Seiten, den sechs Seiten oder Möglichkeiten eines Würfels. ›Gott würfelt nicht‹, hat Einstein behauptet. Ein schönes Bild dafür, dass im Universum nichts zufällig geschieht. Die Sentenz Einsteins sagt jedoch nichts darüber aus, warum Gott nicht würfelt: weil er nämlich lieber Karten spielt. Die Aleatorik – das Zufällige und Willkürliche – scheint keine Methode von Gottes Gnaden zu sein. Und schon gar keine divinatorische. Die Aleatorik, die sich des klassischen Kubus bedient, also ein regelmäßiges Hexaeder ist, hat nämlich nur sechs Flächen. Da ist kein Platz für einen Sonntag.

Bekanntlich brauchte Gott am siebten Tag vor allem Ruhe. Obwohl man ihn durchaus im Verdacht haben könnte, schon an den Tagen zuvor in Pausenlaune gewesen zu sein: Wenn man sich die Welt anschaut, dann muss man zugestehen, dass ein genialer Plan anders aussieht. Was manche hochtrabend ›Die Schöpfung‹ nennen, macht doch einen recht zusammengewürfelten Eindruck. Vielleicht kommt die Aleatorik ja doch noch zu ihrem Recht.

Der erste Eintrag in diesem Blog: mein Anfang. Ein geradezu göttliches Gefühl. Mir wird’s, zugegeben, ein wenig schwindelig. Gott hat wahrscheinlich auch geschwindelt an seinem Anfang. Warum sollte ich also die Wahrheit sagen?

»Was ist das Wirkliche an der Wirklichkeit?«, fragte Joseph Vogl.

Ich saß in der Sprechstunde meines Professors. Ich hatte ihm das erste Kapitel meines Romans und ein Exposé gegeben und ihn um einen Rat gebeten – vielmehr um dieses Gespräch, und mir dann wohl einen Rat erhofft. Er aber stellte eine Frage. Vielleicht erkannte er nicht, dass ich einen Rat erhofft hatte, oder ich erkannte nicht, dass diese Frage ein Rat war. Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte. Er wollte mir wohl, indem er fragte, die Möglichkeit zur Antwort geben. Davon war ich allerdings weit entfernt. Ich war, wenn ich einen Termin hatte, etwas angespannt. Mein Professor war die wichtigste Autorität in meinem Leben. Ich konnte nicht antworten, indem ich schwieg.

»Wirklichkeit ist, dass Sie und ich uns in diesem Zimmer gegenübersitzen«, sagte ich zögernd.

»Das ist recht sensualistisch gesagt. Mit solchen Annahmen beginnen nur alle Zweifel. Und bald haben Sie nichts mehr als Ihr kleines Denkich, an dem Sie sich festhalten können. Und müssen noch einmal von vorne anfangen. Nein, das ist für einen dermaßen exponierten Begriff zu wenig!«

Ich fand’s auch zu wenig. Hätte ich mehr Zeit zum Nachdenken gehabt, wäre meine Antwort sicherlich ausführlicher ausgefallen.

»Außerdem könnten Sie sich dieses Gespräch ausdenken. Sie könnten das erfinden. Sie könnten einen Roman schreiben mit einem Kapitel, in dem Sie behaupten, wir hätten einander gegenübergesessen, Sie hätten mich um einen Rat gebeten und ich hätte Ihnen stattdessen einen kleinen Vortrag über den Wandel des Wirklichkeitsbegriffes gehalten.«

Ich wusste nicht, ob er einen Scherz machte. Er lächelte mich immerhin an.

»Das würde ich nie tun«, antwortete ich.

»In Wirklichkeit würden Sie das nicht tun«, antwortete er lächelnd. »Und in Wirklichkeit würde ich Ihnen auch einen solchen Vortrag nicht halten. Aber angenommen, rein hypothetisch, Sie täten es doch? Angenommen, Sie schrieben einen Roman, in dem wir einander gegenübersitzen, so wie hier, wir sitzen in einer Art Nebenzimmer der Wirklichkeit, wir sitzen im Nebenzimmer Ihres Romans. Was würde ich dann sagen, wenn ich Sie nach der Wirklichkeit fragte, Sie mir eine Antwort gäben, die ich als allzu kurz, allzu schnell, allzu sensualistisch zurückwiese?«

»Ich weiß nicht, was Sie sagen würden.«

»Das können Sie auch nicht wissen, weil es ja meine Worte sind. Und doch müssen Sie es wissen, da es Ihr Roman ist. Sie sehen, dass die Frage nach der Wirklichkeit nicht einfach zu beantworten ist. Aber Ihr Roman muss ja irgendwie beginnen. Anfänge sind heikle Angelegenheiten. Fangen wir dennoch an, also ich, vielmehr Sie in Ihrem Text, in dem ich Ihnen einen Vortrag über den Wandel des Wirklichkeitsbegriffes halte und mir den Umschlag vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild herausgreife und damit den Wechsel von bewegten und unbewegten Teilen des Himmels. Hatte sich bis dahin noch die Sonne um die Erde gedreht, änderte sich mit Nikolaus Kopernikus und Galileo Galilei unser Verständnis der Welt, ihres Aussehens sowie der Stellung des Menschen in ihr. Bis dahin glaubte sich der Mensch im Mittelpunkt einer göttlichen Schöpfung, den unwandelbaren bestirnten Himmel über sich, dann musste er zugeben, dass er als abgesprengtes Partikel nur an ihren Rändern herumirrte. Von einem privilegierten Wesen konnte keine Rede sein. Und das war nur die erste in einer langen Reihe der Kränkungen und Desillusionierungen, die man x-mal aufgezählt hat und die ihre Fortsetzung in den Forschungen Darwins oder Freuds fanden. Gibt es keine Möglichkeit, eine Annahme zu falsifizieren, ist sie unsere Wirklichkeit. Wirklichkeit ist, was wir dafür halten, was wir konstruieren. Und konstruieren müssen wir, weil es schlechterdings unmöglich ist, einfach nur wahrzunehmen, zu messen, ohne einen Maßstab anzulegen. Womöglich hat das gesamte Universum eine andere Form als die, die wir heute unterstellen. Wir aber wissen nichts davon, weil wir die Instrumente nicht haben, um es zu messen, und den Verstand nicht, um es zu begreifen. Wir können alles begreifen, jedoch nur in den Grenzen unserer Begriffe. Aber das wird jetzt ja nicht von mir gesagt, sondern von Ihnen geschrieben. Wir sind ja hier, auch wenn wir in meinem Zimmer sitzen, im Nebenzimmer Ihres Roman.«

»Ich vermute«, sagte ich, weil ich etwas sagen musste oder zumindest das Gefühl hatte, ich müsse, »es geht nicht um die Entwicklung der Astronomie, der Arten oder der Architektur?«

»Es geht um Grenzen, um Übergänge zwischen Erscheinungen und kulturellen Stufen und Ebenen, auch des Bewusstseins. Die Frage ist nicht, wie die Welt außerhalb unseres Bewusstseins ist, weil es für uns kein Außerhalb gibt. Wir haben nur den Schein, nicht der schlechteste Begriff übrigens, denn der Schein war doch immerhin einmal der Schein der Wahrheit. Die Vermutung, die Annahme oder Unterstellung, dass dahinter die Wahrheit läge, ist ebenfalls scheinbar. Wenn aber hinter den Dingen, hinter der Natur nämlich, oder sagen wir hinter ihrer natürlichen Erscheinungsform, nichts ist, also nichts anderes als das, was vor den Dingen auch ist, dann ist es möglicherweise sinnvoller, nicht die Natur, sondern die Kunst als die Referenzebene der Wirklichkeit zu verstehen. Weil wir die Natur nicht auf natürliche Weise wahrnehmen können, sondern nur so, wie unsere Künstler es uns lehren. Was also ist Wirklichkeit? Caspar David Friedrich, Paul Cézanne, William Turner, Mark Rothko, Kasimir Malewitsch oder M. C. Escher? Wenn alle Wirklichkeit aber nur Konstruktion ist, können wir dann mutwillig alles konstruieren? Gottgleich oder automatengleich kann der Mensch seine multiplen Wirklichkeiten so wählen und strukturieren, wie er das braucht und will? Wir wissen heute, dass der Beobachter durch seine Beobachtung Einfluss auf das Beobachtete nimmt. Denken Sie an die Heisenbergsche Unschärferelation, in der Wirklichkeit als Widerspruch zweier einander ausschließender Zustände verstanden wird. Wir haben womöglich heute keinen homogenen Wirklichkeitsbegriff mehr. Oder denken Sie an die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts, das Netz, an die Radikalität des Virtuellen, wo sich alles in Projektionen auflöst. Es gibt kein Innen und kein Außen mehr, alles wird zur Oberfläche, sagt man. Tiefe ist eine Täuschung, eine Art Hologramm. Im Netz wird der Schein zu etwas, in dem nichts mehr zu erkennen ist. Er zeigt nichts, er spiegelt nichts, er ist nichts. Dem Verlust der Gegenständlichkeit in der Kunst des 20. Jahrhunderts folgt der der Personalität im 21. Jahrhundert. Obwohl alle heutzutage im Netz sind, nahezu ein jeder hat inzwischen eine virtuelle Seite seiner Persönlichkeit, die mit der tatsächlichen kaum noch in Korrelation zu bringen ist, ist doch eigentlich keiner im Netz, denn gerade die Subjektivität fällt dort aus. Jede Veränderung unseres Wirklichkeitsbegriffs reagiert auf die Wirklichkeit. Letztlich kommt es für das Individuum darauf an, in der Lebenswelt zurechtzukommen. Man kann das sogar positiv wenden: Wenn diese Welt so ist, dass die Individuen sich weiter ausspreizen müssen, um die multiple Wirklichkeit zu begreifen, zu beschreiben und zurechtzukommen, dann werden sie das auch tun. So oder ähnlich würden Sie das wohl schreiben, oder?«

Ich erkannte, dass er verstanden hatte, dass ich einen Rat wollte. Aber er wollte mir keinen geben. Er wollte wahrscheinlich, dass ich selbst herausfand, was für mich wichtig war und was nicht. Dafür schuf er eine Art Rahmen. Malen musste ich das Bild dann schon selbst, er hatte ja genügend Namen genannt. Oder wollte er das alles nicht? Wollte er vielmehr, dass ich dieses Romanschreiben an den Nagel hängte und mich, wie man so schön sagt, auf den Hosenboden setzte und meine Dissertation fertig machte?

»Lassen Sie es doch zu einer Kollision von darstellender und dargestellter Person, erzählendem und erzähltem Ich kommen. So könnte Ihr Roman also beginnen. So beginnt er tatsächlich, wenn Sie tun sollten, was Sie von sich weisen und ein Gespräch zwischen uns imaginieren, in welchem ich Ihnen Möglichkeiten von Wirklichkeit aufzeige und Sie erkennen, dass genau dieser Begriff zentral für Ihren gesamten Text ist. Das ist allerdings auch ein schmerzhafter Prozess.«

»Welche Schmerzen denn?«

»Die Schmerzen der Differenz. Jede Differenz zieht einen Schmerz nach sich. Die Differenz, um die es hier geht, ist die denkbar schmerzvollste, die der Wirklichkeit und der Fantasie.«

»Ich spüre keine Schmerzen, ich spüre nur meine unendliche Lust.«

»Diese unendliche Lust, das sind die Schmerzen, von denen ich gesprochen habe, von der anderen Seite betrachtet. Ich beneide Sie um das Abenteuer, das Ihnen bevorsteht. Ich wollte, ich könnte mit Ihnen tauschen.«

»Was haben Sie im Tausch denn anzubieten?«, fragte ich.

»Ich mag Ihre Schlagfertigkeit«, sagte Joseph Vogl.

»Bei solchen Abenteuern kann man auch zu Tode kommen«, antwortete ich.

»In unserer Gesellschaft ist ein aufregender Tod eine Auszeichnung.«

»›Tod mit Auszeichnung‹, das ist nicht unbedingt das, was ich vom Leben erwarte.«

»Was erwarten Sie denn?«, fragte er und sah mich neugierig an.

»Ich mag Ihre Schlagfertigkeit auch«, entgegnete ich.

Wir lächelten uns an.

»Ich darf nur nicht durcheinanderkommen mit meinen beiden Disziplinen«, sagte ich.

»Mit der Literatur und ihrer Erforschung? Die liegen nicht so weit auseinander, das wissen Sie doch.«

»Ich dachte, ich wüsste das Gegenteil.«

Joseph Vogl lachte.

»Denken Sie an David Foster Wallace. Sie haben sich doch mit ihm beschäftigt und dazu publiziert. Wallace hat ebenfalls promoviert, doppelt sogar, und gleichzeitig war er literarisch tätig.«

»Wenn ich an Wallace denke, dann denke ich an seine Depressionen und sein Ende. Suizid ist ein furchtbarer Tod. Die Freiwilligkeit, mit der jemand diesen Tod wählt, ist ja nur eine scheinbare. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich ein anderes Ende wählen. Wenn man den Tod auch nicht vermeiden kann, so sollte man doch manche Todesarten vermeiden.«

»Kennen Sie das ›Todesarten-Projekt‹ von Ingeborg Bachmann?«

»Nicht so genau, mir macht alles, was mit dem Tod zu tun hat, eher Angst.«

»Das ist bei allen Menschen so, aber man kann sich seinen Ängsten stellen. Indem man sie beispielsweise darstellt. Indem man sie formt, sie aus dem Unförmigen herausholt und in eine Gestalt bringt.«

Bei diesen Worten stand er auf. Meine Zeit in der Sprechstunde war vorüber.

»Lesen Sie Bachmann«, sagte er.

»Lesen Sie alles, was Sie kriegen können«, antwortete ich.

»Wie meinen Sie das?«

»Das hat einer meiner Dozenten, der Schriftsteller Mircea Cartarescu, in Bukarest gesagt: ›Lesen Sie, meine Damen und Herren, lesen Sie alles, was Sie kriegen können. Und wenn Sie es nicht kriegen können, dann besorgen Sie es sich. Lesen Sie alles, was Sie sich besorgen können.‹«

Wir gaben uns die Hand, ich stand in der Tür, auf dem Flur wartete bereits der Nächste.

»Sie haben doch diese Webpräsenz, Ihr Blog. Machen Sie etwas damit!«

Damit war ich entlassen. Die Tür schloss sich und ich stand auf dem Flur. Was meinte er damit? Was sollte ich machen? Ich machte doch dauernd. Alle paar Tage stellte ich etwas ein. Wieso kritisierte er einerseits das Netz und ermunterte mich andererseits, etwas mit meinem Blog zu machen? Oder hatte er das nicht getan, hatte er das Netz nicht kritisiert und mich auch nicht ermuntert? Ich ging zum Aufzug, entschied mich dann aber für das Treppenhaus.

»Frau Torik?«

Ich drehte mich noch einmal um.

»Ja?«

»Das machen Sie doch nicht, oder?«

»Sie in meinem zweiten Roman darstellen? Das würde ich doch nie tun!«

»Ja, in Wirklichkeit würden Sie das nicht tun. Sollten Sie es aber doch tun, dann vergessen Sie bitte nicht, dass wir die Welt entsprechend unserer eigenen neurotischen Befindlichkeit zusammendichten: damit wir uns orientieren können. Wir würden die Wirklichkeit dieser Welt nie verstehen, wenn wir sie so nähmen, wie sie ist. Einmal abgesehen davon, dass sie so nicht ist, wie sie ist. Wirklichkeit ist, was nicht sein kann, wie es ist. Wir müssen sie so nehmen, dass wir meinen, sie wäre genauso, wie wir meinen, dass sie sein müsste. Das ist der Punkt, den Sie treffen sollten.«

Ich studierte seit dem Wintersemester 2006 an der Humboldt-Universität in Berlin Literaturwissenschaft. Im Frühjahr 2007 begann ich mit der Arbeit an einem Roman, den ich im Herbst 2008 abschloss. Dann musste ich das Studium beenden. Von Januar bis März 2009 schrieb ich das Exposé für die Dissertation. Anfang April fand die Besprechung dazu statt. Nach diesem Gespräch ging ich spazieren. Ich versuchte zu begreifen, dass ich mindestens noch drei Jahre in Berlin bleiben würde. Normalerweise bewegt sich das Leben in kleineren Schritten, man lebt an einem Tag dort weiter, wo man am Tag zuvor aufgehört hatte. Man lebt kontinuierlich, ohne große Sprünge, aber auch ohne Auslassungen und Lücken. Manchmal trifft man jedoch Entscheidungen, die für viele Jahre bestimmend sind. Ich würde, begriff ich nach dem Gespräch mit meinem Professor, für die Dauer der Dissertation in Berlin bleiben und nicht nach New York gehen.

Ich wohnte, seit ich hier angekommen war, zur Untermiete in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Kreuzberg. Die Hauptmieterin lebte in New York. Ich träumte manchmal davon, nach New York zu gehen, das hatte ich schon als Kind getan.

»Was man als Kind träumt, das wird wahr«, hatte meine Mutter damals gesagt.

Ich träumte davon, Fotomodell zu werden. Später wollte ich dann Präsidentin von Rumänien und schließlich Schriftstellerin werden. Und ich wollte nach New York. Seltsamerweise begegnete mir diese Sehnsucht nach diesem Ort, den ich nicht kannte, sehr häufig. Die Mieterin der Wohnung, die ich übernehmen konnte, hätte auch in jede andere Stadt der Welt gehen können, aber sie war ausgerechnet nach New York gegangen.

Als ich an dem Tag der Besprechung des Exposés nach Hause kam, hatte ich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, mit der mir diese Frau mitteilte, dass sie früher als geplant wieder zurückkäme. Ich saß auf dem Boden und hörte die Nachricht drei- oder viermal ab. Eine Stunde nachdem ich begriffen hatte, dass ich nicht nach New York ginge, begriff ich, dass diese Frau von dort zurückkam. Dadurch schien mir, rückte diese Stadt noch weiter in die Ferne. Dabei war sie sowieso unerreichbar, weil ich dorthin hätte fliegen müssen. Womöglich war die Unerreichbarkeit dieses Ortes gerade das, was seinen Reiz ausmachte.

Ich musste mir also eine andere Wohnung suchen. Weil ich noch beinahe zwei Monate Zeit hatte, wollte ich nichts überstürzen. Am folgenden Tag war ich zum Mittagessen in der Mensa verabredet. Danach ging ich ins Institut, um am Schwarzen Brett nach Wohnungen zu schauen. Dort stand jemand und als ich hinzutrat, drehte sie sich zu mir um. Vor mir stand der mit Abstand schönste Mensch, den ich in meinem Leben gesehen habe. Ich war geradezu geblendet. Sie lächelte mich an.

»Schaust du für eine Wohnung?«, fragte sie mich.

Sie hatte einen Akzent. Den haben an einer internationalen Universität viele. Mindestens ein Drittel, eher die Hälfte der Studenten an der Humboldt-Universität kommt nicht aus Deutschland.

»Ja, ich muss, wo ich gerade wohne, bald raus«, sagte ich. »Ich will mich mal informieren, was hier angeboten wird. Und du?«

»Ich schaue auch«, antwortete sie.

»Warum schaust du gerade hier?«

»Was meinst du?«

»Ich meine, wenn man so aussieht wie du, dann verdient man doch sicher Geld damit?«

Ich war plötzlich verlegen. Aber sie strahlte mich an.

»Die oben verdienen fast alles.«

»Und wo stehst du?«

»Ich? Unten. Da verdient man fast nichts.«

»Du siehst aber aus, als stündest du oben.«

»Es geht nicht ums Aussehen.«

»Nein?«, fragte ich überrascht.

Sie schüttelte den Kopf, beinahe ein wenig unwillig. Als wollte sie sagen, dass es gerade darum nicht ging.

»Es geht um Kontakte.«

»Und du hast keine Kontakte?«

»Wollen wir uns zusammenziehen?«, fragte sie, statt meine Frage zu beantworten.

»Uns?«

»Wir!«

»Ah, man sagt: ›Wollen wir zusammenziehen‹.«

»Woher kannst du so gut Deutsch?«

»Deutsch ist meine Muttersprache. Mein Vater ist Deutscher.«

»Was ist deine Mutter?«

»Rumänin.«

»Dann ist Deutsch deine Vatersprache.«

»Du hast recht, aber das kann man nicht sagen. Das Wort gibt es nicht.«

»Irgendwelche Worte gibt’s immer nicht.«

»Auch da hast du womöglich recht. Allerdings kann man nicht sagen, welche das sind, weil es sie dann ja doch gäbe. Und wenn es sie gäbe, könnte man ihr Fehlen nicht beklagen. Eigentlich kann man nur nach den Dingen fragen, die man kennt. Und man kann es auch nur in bekannten Worten tun. Das vollkommen Fremde ist nicht erfragbar, nicht begreifbar und auch sonst in keiner Weise zu erfahren.«

»Was?«, fragte sie lachend.

»Woher kommst du eigentlich?«, fragte ich zurück.

»Moskau.«

»Ja.«

»Was meinst du?«

»Wir ziehen uns zusammen«, antwortete ich.

Wir lachten. Mein Großvater sprach Russisch. Ich mag diese Sprache, ich mag das Geräusch, das sie in meinen Ohren hinterlässt. Das reizt mich zum Lachen.

»Ist was Interessantes dabei?«, fragte ich.

Ich wies mit dem Kopf in Richtung der Tafel. Aber sie missverstand das und dachte, ich meinte eine Gruppe Männer, die einige Meter von uns entfernt standen, sich unterhielten, dabei aber sehr interessiert zu uns herüberschauten.

»Uninteressant«, sagte sie und schüttelte den Kopf.

»Ich meine die Wohnungsanzeigen.«

»Ich habe noch nicht geguckt.«

»Was hast du dann gemacht?«

»Ich habe die Männer angeschaut.«

»Ich dachte, die sind uninteressant.«

»Sind sie auch.«

»Trotzdem hast du geguckt?«

»Na klar«, sagte sie strahlend, »Männer sind gut für meine Haut.«

Wir lachten erneut.

»Ich bin Aléa«, sagte ich.

»Das ist ein schöner Name.«

»Ja, ich bin auch sehr zufrieden!«

»Ich bin Olga«, sagte sie.

»Freut mich. Wollen wir einen Kaffee trinken? Ohne die da drüben.«

Wir gingen in die Cafeteria gegenüber der Mensa und setzten uns an einen freien Tisch. Olga war außergewöhnlich attraktiv. Auffallend viele Menschen schauten zu uns herüber. Also zu ihr.

»Wovon lebst du?«, fragte sie mich.

»Ich habe ein Stipendium. Mein Prof schreibt mir ein Gutachten für ein zweites, weil das eine ausläuft.«

»Ich möchte auch ein Gutachten und ein Stipendium haben.«

»Brauchst du eins? Du hast doch bestimmt mehr Geld als mit so einem Stipendium.«

»Wie kommst du darauf?«

»Deine Klamotten sehen teuer aus.«

»Aber ich möchte lieber ein Stipendium.«

»Warum?«

»Weil ich dann anders wäre.«

»Wie willst du anders sein?«, fragte ich sie.

»Einfach anders«, antwortete sie lapidar.

Konnte man anders sein wollen, ohne zu sagen, worin man sich unterscheiden wollte?

»Warum bist du nicht zufrieden?«

»Ich bin jetzt sechsundzwanzig.«

Sie war also genauso alt wie ich.

»Und?«

»Eines Tages muss ich mich auf einen hässlichen Mann einlassen.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»So enden alle Models. Wir bezahlen eines Tages.«

»Wofür bezahlen?«, fragte ich.

»Wir bezahlen für das Leben, das wir hatten. Ich will nicht auf den Strich gehen.«

»Strich? Sex meinst du? Keiner kann dich dazu zwingen!«, sagte ich.

Olga sah mich an, als zweifle sie an meinem Verstand. Das Gespräch hatte urplötzlich einen anderen Ton. Sie sah mit einem Mal trübsinnig aus. Ihre riesigen Augen schauten mich traurig an.

»Wir ziehen uns zusammen!«, sagte Olga noch einmal und lächelte plötzlich wieder.

»Ja, das machen wir«, antwortete ich, »wann musst du aus deiner Wohnung raus?«

»Ich wohne bei einem Freund, aber das geht nicht mehr. Ich brauche schnell etwas anderes. So schnell wie möglich. Und du?«

»Ich muss Ende nächsten Monats raus. Das sind jetzt noch beinahe acht Wochen. Warum geht’s bei dir nicht mehr?«

»Wir haben nicht nur zusammen gewohnt.«

»Was dann?«

»Geschlafen«, sagte sie lächelnd.

»Ah«, sagte ich und kam mir reichlich begriffsstutzig vor.

»Du kannst bei mir wohnen, wenn du willst«, bot ich an.

»Du bist nett.«

Sie sagte nicht, ob sie das Angebot annehmen wollte. Daran musste ich mich noch gewöhnen, dass sie selten verbindliche Äußerungen machte. Sie ließ die Dinge gerne im Unbestimmten. Dementsprechend war ich überrascht, als Olga wenige Tage später mit ihren Klamotten bei mir vor der Tür stand. Das war mehr, als ich insgesamt besaß.

»Klamotten«, sagte sie und beantwortete meinen fragenden Blick auf die Koffer.

Sie sagte das mit einer wegwerfenden Geste und einer Spur Verachtung im Ton. Damit hätte ich rechnen müssen, dass jemand mit ihrem Job einen beachtlichen Berg davon besaß. Ich ließ sie herein. Die Wohnung bestand nur aus einem großen Zimmer, Küche und Bad. Ich bot ihr die Gästematratze an, aber Olga sagte ganz ungeniert, dass sie lieber mit mir im Bett schlafen wollte. Mich störte das nicht, ich hatte in Bukarest vier Jahre in einem kleinen Studentenzimmer gelebt, wo immer mal jemand kam, der für eine Nacht oder länger nicht wusste, wo er schlafen sollte, und den man vorübergehend einquartieren musste. Ich war in solchen Dingen recht unkonventionell.

Am nächsten Morgen setzten wir uns in die Küche und machten Pläne, wie wir die Wohnungssuche gestalten wollten. Ich wollte nicht zu viel Zeit investieren. Zwar besuchte ich neben dem Doktorandenkolloquium kaum Veranstaltungen an der Uni, aber ich steckte inzwischen in den Vorarbeiten zur Dissertation. Außerdem sollte mein Blog in einigen Wochen an den Start gehen. Auf meiner letzten Fahrt von Rumänien nach Berlin Anfang Januar war ich auf die Idee gekommen, mir eine Webpräsenz einzurichten. Dazu musste ich Texte schreiben und mir Gedanken machen, wie ich das aufziehen wollte, und damit tat ich mich schwerer als erwartet. Als Starttermin hatte ich meinen Geburtstag, den 1. Mai 2009, avisiert. Außerdem spukte in meinem Kopf schon die Idee zu einem weiteren Roman herum. Weil Olga offenbar nicht so viel zu tun hatte, war sie verantwortlich für die Wohnungssuche. Sie nahm die Angelegenheit sehr ernst und kam jeden Abend mit ihrem Laptop oder ihrem Handy und zeigte mir allerlei Angebote. Jedenfalls bezeichnete sie das so.

»Ich habe hier ein Angebot«, sagte sie und zeigte auf das Display eines ihrer elektronischen Geräte.

Sie nahm diese Angebote sehr persönlich, als seien sie einzig auf ihrem Display zu sehen, als gelten sie nur für sie und als hätten die Vermieter es nur veröffentlicht, weil sie sie allein damit erreichen wollten.

In den folgenden Wochen schauten wir uns einige dieser Angebote an, bis wir eine Wohnung fanden, die uns gefiel und deren Raumaufteilung und Preisgestaltung so waren, wie wir uns das vorstellten und wie ich es mir leisten konnte. An einem Samstag schauten wir uns diese Wohnung im Prenzlauer Berg an, gegen elf Uhr klingelten wir. Der Vermieter erwartete uns in der Tür. Olga strahlte ihn an. Eine halbe Stunde später standen wir wieder auf der Straße. Die Angelegenheit war mit Olgas Lächeln und ihrem Augenaufschlag geklärt worden, nicht mit ihrem Bankauszug oder meinem Stipendium.

Prenzlauer Berg war nicht das, was Olga sich vorgestellt hatte. Sie hatte sich bisher immer nur in Mitte aufgehalten und allzu weit weg vom Zentrum des Geschehens wollte sie nicht. Aber die Kopenhagener Straße ließ sie sich dann doch gefallen. Wir waren in der Hauptstadt von Dänemark gelandet und in der Straße wohnten auch vor allem Dänen und Däninnen. Nachdem wir den Mietvertrag unterschrieben hatten, setzten wir uns ins nächste Café gleich im Nachbarhaus und bestellten Sekt. Wir wollten feiern, dass wir bald zusammenwohnen würden, obwohl wir das ja bereits taten.

Es war warm und die Sonne schien, sie brannte richtig. Olga zog ihr Oberteil aus, als wäre das nur das Erste. Sie räkelte sich aus dem Trikot heraus und zeigte ihre schönen Arme.

»Seit wann ist es eigentlich so warm?«, fragte ich.

Olga sah mich milde, fast ein wenig mitleidig an und erklärte mir, dass seit Wochen schon sommerliche Temperaturen herrschten.

»Warum sitzt du so viel am Schreibtisch?«, fragte sie.

»Gute Frage. Ich glaube, weil ich Angst habe, dass aus mir nichts wird. Ich will Schriftstellerin werden, aber ich befürchte, dass die Welt die nicht braucht.«

»Warum willst du das dann?«

»Ich weiß es nicht genau. Ich schreibe, um das herauszufinden. Es ist das Einzige, was ich kann. Vielleicht kann ich es nicht einmal. Es ist das Einzige, von dem ich mir vorstellen kann, es zu können. Ich wollte das schon als Kind. Die anderen Träume aus dieser Zeit sind alle passé, geplatzt, wie es nur Träume können. Wie ein zerplatzender Luftballon in Zeitlupe, bei dem man nicht weiß, ob die Luft von draußen nach drinnen oder von drinnen nach draußen strömt.«

Sie ging nicht auf diesen Vergleich ein.

»Liebe?«

Olga, so hatte ich inzwischen festgestellt, musste nicht in ganzen Sätzen reden. Sie konnte einzelne Worte so modulieren, dass sie wie vollständige Sätze klangen, wie ganze Kapitel aus langen Abhandlungen.

»Liebe ist nicht die perfekte, aber die beliebteste Weise des Realitätsverlusts. Sie geht allerdings schnell vorbei und hinterlässt tiefe Wunden.«

»Du machst es falsch«, konstatierte sie beinahe streng.

»Ja, ich glaube auch. Aber kann man es richtig machen? Und vor allem wie?«

Olga antwortete nicht. Wahrscheinlich wusste sie das auch nicht. Sie stellte nicht in Frage, was sie tat. Sie tat es einfach und weil sie es tat, war es das Richtige. Ich wollte darüber reden, aber es schien nicht, als wolle Olga das ebenfalls. Reden, das Verwandeln von Dingen in Worte, machte die Angelegenheiten nicht unbedingt einfacher, weil man die Worte ja irgendwann wieder zurückverwandeln muss und bei solchen Transformationsprozessen kann einiges verlorengehen. Allerdings kann auch etwas dazukommen. Nur bleiben wie es ist, das kann es nicht. Das ist der Reiz beim Erzählen, dass man etwas aus dem Nichts heraus schafft. Man benötigt allerdings sehr viele Worte dazu, sehr viele Vorzeichnungen, bis man einen einzigen Hahn aufs Papier bekommt.

Der Maler

Dies ist die Geschichte eines Malers, der im Kundenauftrag einen Hahn zeichnen soll. Künstler und Auftraggeber einigen sich im Voraus auf einen festgelegten Betrag für die Arbeit. Viele Wochen später, am vereinbarten Tag, kommt der Kunde, um seine Zeichnung abzuholen.

Der Maler scheint viel zu tun zu haben und lässt den Kunden warten. Der macht bald auf sich aufmerksam. Der Maler scheint ihn nicht zu erkennen. Bis der Kunde deutlich sagt, dass er am heutigen Tag seine Zeichnung abholen sollte. Der Künstler scheint sich widerwillig zu erinnern. Er greift nach einem Blatt und malt mit schnellen Strichen einen Hahn auf’s Papier. Das Ganze dauert keine zwei Minuten. Der Kunde ist erst erstaunt und dann erbost. Wie könne er, fragt er den Maler, ihm einen dermaßen hohen Betrag für diese zwei Minuten abverlangen? Wie könne er, der das da, er weist verächtlich auf den Hahn, aus dem Handgelenk geschüttelt habe, so viel Geld dafür verlangen? Der Maler schweigt. Der Kunde ereifert sich, er wird wütend, er versteigt sich immer weiter. Bis der Maler, ohne ein Wort zu sagen, unter den Tisch greift und einen dicken Stapel Blätter hervorholt: Hähne in allen Stellungen und Varianten, in allen Techniken, mit und ohne Farbgebung, mit und ohne Hintergrund, realistische Perspektive, skurrile Varianten, dutzende Blätter und Studien. Beschämt wendet sich der Kunde ab, zahlt und verlässt, seinerseits nun ohne Worte, das Atelier.

Als kleines Mädchen wollte ich Fotomodell werden. Ich hatte eine schöne Frau in einer Zeitschrift gesehen, die Fotomodell war. Genauso wollte ich auch werden. Mit ›werden‹ meinte ich ›aussehen‹. Als ich sechs Jahre alt war, wollte ich dann Präsidentin von Rumänien werden. Meine Eltern redeten zu dieser Zeit häufig über Dinge, von denen sie sagten, das sei Politik.

Im Dezember 1989 hörte ich zum ersten Mal den Namen Ceausescu. Mein Papa kam in die Küche, wo ich mit Mama saß. Ich bastelte etwas oder malte und Mama stopfte Socken.

»Sie haben Ceausescu erschossen«, sagte Papa.

Er blieb unschlüssig in der Tür stehen, als wisse er nicht recht, ob er das glauben sollte. Oder als wisse er nicht, ob wir es ihm glaubten. Er schaute Mama an. Ich kannte die Bedeutung von ›erschossen‹ nicht. Ich schaute Mama ebenfalls an. Sie machte ein Gesicht, als ob sie die Bedeutung auch nicht kannte. Sie hielt ihren Kopf erhoben, sah aber weder Papa noch mich an.

»Gut«, sagte sie ohne Betonung.

Papa verließ die Küche. Mama sah auf die Socken, stopfe aber keine Löcher mehr. Ihre Hände bewegten sich nicht. Ich malte weiter. Als ich erneut zu ihr hinübersah, liefen Tränen über ihr Gesicht. Aber es weinten nur ihre Augen, ihr Gesicht veränderte sich nicht. Sie hatte doch ›gut‹ gesagt, warum weinte sie dann?

Wir hörten den ganzen Tag Radio und später am Abend schauten wir Fernsehen. Der Ton der Geräte war lauter als gewöhnlich. Als könne man mehr hören oder andere Dinge sehen, wenn man lauter drehte. Die Veränderungen in dieser Welt ließen sich vielleicht mit dem Lautstärkeknopf regeln. Man drehte vor und zurück, man drehte so lange, bis Ceausescu erschossen wurde. Man drehte, bis geschah, was geschehen sollte oder musste, und dann drehte man weiter.

Mama und Papa redeten über die Armee, die Demons-tranten, die Bevölkerung und die Politiker. An diesem Abend fiel immer wieder dieses Wort, das eine andere Betonung hatte als alle andern, das leiser ausgesprochen wurde, während die übrigen Worte immer lauter wurden. Vielleicht war es gerade deswegen beunruhigender als alle anderen: das Wort ›Securitate‹. Es kamen Nachbarn zu Besuch und weil der Ton lauter war als gewöhnlich, sprachen sie auch lauter, um die Stimmen aus dem Fernseher zu übertönen. Nur dieses eine Wort wurde leiser und eindringlicher und mit ihm die nur noch geflüsterte Frage: »Was macht jetzt die Securitate?«

Mit diesem Wort und mit dieser Frage war etwas in meine Welt gekommen. Ich wusste nicht, was es war, aber es war da. Es machte mir Angst. Es machte mir Angst, weil es den anderen Angst machte. Als mein Vater mich zu Bett brachte, fragte ich, warum alle so aufgeregt waren.

»Heute ist Rumänien gerettet worden«, sagte Papa. »Vielleicht«, fügte er nach einer Pause hinzu.

Er ging aus dem Zimmer und knipste das Licht aus. Ich dachte an die Bilder aus dem Fernseher, die Nachbarn, die Demonstranten, den lauten Ton und die ganze ungewohnte Stimmung. Vor allem aber dachte ich an die Frage: Was macht jetzt die Securitate? Ich wusste nicht, was sie hätte machen können. Ich wusste die Antwort auf die Frage nicht. Ich wusste nicht einmal, dass diese Frage eine Antwort brauchte oder dass man Fragen überhaupt nur um der Antwort willen stellt. Aber ich wusste, dass ich Rumänien retten wollte.

Ein oder zwei Jahre später kam im Fernsehen eine Sendung über die UNO in New York. Das war ein sehr hohes Gebäude. Dort wollte ich hin. New York war die erste fremde Stadt, die ich im Leben entdeckte, mit einem ähnlichen Gefühl wahrscheinlich, wie Kolumbus Amerika entdeckt hatte. Das waren vor allem sehr hohe Häuser, die mich an die Berge erinnerten, die bei uns vor der Tür lagen. Später entdeckte ich, dass die Amerikaner Architektur wie Natur empfanden und wahrscheinlich, wenn sie durch die Straßen New Yorks liefen, dieselben Dinge sahen wie ich, wenn ich bei uns herumlief. Damals wollte ich zuerst Rumänien retten, dann Amerika und schließlich von dort aus die ganze Welt. Als mir jedoch mein Vater sagte, dass die Welt nicht zu retten sei, wollte ich nicht wieder zurück. Da wollte ich noch eine Stufe weiter. Ich wollte Schriftstellerin werden.

Dass dieser Wunsch sich auch in späteren Jahren nicht mehr änderte, lag sicher auch an meinem Vater, der als Deutscher in Rumänien zu einem leidenschaftlichen Leser geworden war. Er liebte seine Muttersprache. Er liebte das Lesen und mehr noch liebte er das Halten von Büchern. Er hatte eine ganz bestimmte Art, ein Buch zu halten, und vielleicht war das sogar ein wesentlicher Teil seiner Liebe zur Literatur, das Halten der Bücher und das Umblättern der Seiten.

Als Kind malte ich gerne. Ich malte alles, was sich malen ließ, und an die meisten Dinge malte ich zum Schluss noch zwei Hände und zwei Füße dran. Als ich die Buchstaben lernte, malte ich auch die aufs Papier. Das wurde allerdings bald eintönig und so wandte ich mich wieder den konkreten Gegenständen zu. Etwa mit zehn Jahren begann ich in ein spezielles Heft mit einem dunkelbraunen Umschlag zu schreiben. Ich hatte das Malen wieder zugunsten des Schreibens aufgegeben. Zu Beginn waren mir die Buchstaben zu abstrakt gewesen. Sie schienen keinen Sinn zu haben und waren mit meiner Welt nicht in Einklang zu bringen. Aber auf eine mir später nicht begreifliche Weise müssen sie diesen Sinn dann doch bekommen haben. Die Buchstaben, die Worte und Sätze begannen sich auf eine eigentümliche Weise zu bewegen und von da an war das Schreiben wohl interessanter als das Malen, das trotz Händen und Füßen starr und unbeweglich blieb.

Ich verstand intuitiv, dass man fast alles aufschreiben konnte. Man konnte die Welt, wie man sie abmalen konnte, auch abschreiben. Das tat ich dann auch einige Zeit. Bis ich erkannte, dass man noch etwas anderes aufschreiben konnte. Etwas, das hinter der eigentlichen, der sichtbaren Welt verborgen war. Ich entdeckte, dass hinter der Welt noch eine andere lag und dass ich nicht nur alles aufschreiben konnte, was ich sah und erlebte: Ich konnte mehr als alles aufschreiben.

Eines Tages musste ich mit meiner Mutter einen Besuch bei einer Nachbarin machen. Ich mochte die Frau nicht. Sie roch nicht gut. Ich wollte nicht mitgehen, aber Mama bestand darauf, dass ich sie begleitete.

»Sie riecht nicht gut«, sagte ich protestierend.

»Sie riecht nicht anders als andere«, antwortete meine Mutter. »Das sagst du bloß, um nicht mitgehen zu müssen.«

»Sie stinkt«, sagte ich und schüttelte energisch den Kopf.

Ich musste dennoch mitgehen. Ich war wütend. Als wir bei ihr waren, saßen wir in der Küche und Mama und die Nachbarin tranken eine Tasse Kaffee nach der anderen. Ich saß auf einem Stuhl gegenüber und hielt mir die Nase zu. Jetzt war Mama wütend. Sie sah mich ermahnend an. Ich tat so, als bemerkte ich ihren Blick nicht.

Auf dem Nachhauseweg schimpfte sie mit mir.

»Das ist kein gutes Benehmen«, sagte sie.

»Sie stinkt zum Himmel«, antwortete ich.

Mama musste lachen. Gleichzeitig schimpfte sie. Ich hielt mir die Ohren zu.

An diesem Nachmittag schrieb ich in mein Heft, dass ich die Nachbarin nicht mochte, weil sie nicht gut roch. Sie stank! Ich weiß nicht mehr, warum ich das tat: Ich schrieb es mehrfach auf und mit jedem Mal wurde es schlimmer. Ich steigerte mich in diesen Gestank hinein und stieß dabei auf einen Umstand, für den ich damals noch keine Worte hatte: die Darstellung. Ich entdeckte, dass man Dinge, die nicht sind, so darstellen konnte, als seien sie doch. Oder als würden sie zum Himmel stinken.

Wie ich eines Tages aufhörte, Kopffüßler zu malen, und zu Menschen überging, die einen Körper hatten, so hörte ich Jahre später auf, Dinge einfach so aufzuschreiben, wie ich Buchstaben abgemalt hatte. Durch diese Darstellung hörten die Dinge auf, nur Dinge zu sein. Sie verwandelten sich. Sie gewannen eine Dimension hinzu. Aber das war kein reiner Gewinn. Sie verloren auch etwas. Es dauerte, bis ich verstand, dass Gewinn und Verlust dieselbe Sache waren, je nachdem, von welcher Seite man es betrachtete. Ich konnte die Dinge nicht mehr nur noch abbilden. Ich musste sie darstellen. Ich stieß in diesem Alter, ohne dass ich die geringste Ahnung davon hatte, auf das Thema meiner Dissertation: auf eine erste, grundlegende Ebene von Fiktionalität, den Umstand, dass man Dinge erfinden konnte. Dinge, die nicht wahr waren und die es dennoch, indem man sie aufschrieb, auf eine seltsame Weise wurden.

Nachdem ich aus der Welt der einfachen Abbildung, nachdem ich aus dem Paradies vertrieben worden war, war ich verurteilt, sie darzustellen. Ich konnte von nun an nicht mehr bloß aufschreiben, was ich erlebte, ich konnte nicht mehr einfach von dieser Vorlage abschreiben. Weil die Welt außerhalb der Darstellung aufgehört hatte zu existieren. Mit der Darstellung aber veränderte ich sie. Ich veränderte sie selbst dann, wenn ich sie gar nicht verändern wollte. Eine lediglich beobachtende und objektive Abbildung war unmöglich. Die Wahrheit existiert nur, solange niemand von ihr erzählt.

Ursächlich verantwortlich für meinen Wunsch, Schriftstellerin zu werden, war jedoch nicht die Leidenschaft meines Vaters für das Lesen und das Halten von Büchern. Verantwortlich war ein Mann, den ich gar nicht kannte. Er hatte Marginime am Tag meiner Geburt, am 1. Mai 1983, verlassen. Manchmal bleiben die Dinge jahrelang unbeachtet. Man sieht sie nicht, man sieht sie selbst dann nicht, wenn sie offen vor einem liegen: Dieser Mann trug einen deutschen Namen, er hieß Adrian. Es dauerte, bis ich Worte und Namen anhand ihres Klangs als von deutscher oder rumänischer Herkunft einzuordnen vermochte. Dieser Mann konnte, was in Marginime nur mein Vater und ich konnten: Deutsch. Das konnten nur drei Leute auf der Welt, auf der Welt, in der ich lebte. Und einer von den dreien war plötzlich verschwunden.

Um ihn und um die Nachbarin, jene Frau, die ich nicht mochte, rankten sich allerlei Gerüchte. Es war seltsam, dass dieser Mann, der deutsch sprach und Deutscher war, nicht in einem der Sachsendörfer wohnte. Warum lebte er in einem rumänischen Dorf? Ich sah die Nachbarin wie alle anderen bei uns im Dorf auf der Straße, aber ihn sah ich nie. Vielleicht verließ er das Haus nicht. Oder er lebte im Keller. Bekam ich ihn deswegen nie zu sehen? Ich schrieb das in mein Heft und schaute die Worte an, als könne ich dadurch herausfinden, ob er wirklich im Keller lebte. Dieser Mann verließ das Haus möglicherweise nur nachts, wenn ihn keiner sehen konnte. Er war Schriftsteller. Ich hatte keine Ahnung, was ein Schriftsteller den ganzen Tag so tat. Schreiben wahrscheinlich. Aber was? Vielleicht schrieb er über mich?

Meine Fantasie probierte mit den Umständen herum, als ob sie ein Puzzle wären. Ich machte mir Gedanken über ihn, aber mir fiel seltsamerweise nicht auf, dass ich ihn noch nie gesehen hatte. Er war ja am Tag meiner Geburt weggegangen und ich war mit Mama erst ein paar Tage später aus dem Krankenhaus zurückgekommen. Dennoch bildete ich mir ein, ihn und sein Gesicht zu kennen. Ich dachte an die Nachbarin. Ich dachte daran, dass sie nicht gut roch. Mir fielen die Gerüchte ein, die sich um diese Frau rankten. Und dann erkannte ich erstaunt, dass ich zwei Worte verwechselt hatte: Es waren nicht ihre Gerüche, die nicht gut waren, sondern die Gerüchte! Sie roch nicht schlecht, wie ich immer angenommen hatte, wie ich es gerochen und unterstellt hatte. Vielmehr waren zwei ähnliche Worte für meine Empfindung verantwortlich gewesen. Sehr viel später verstand ich auch, warum meine Mutter das nicht ebenfalls hatte erkennen können: Ich sprach mit ihr rumänisch, die beiden ähnlichen Worte aber waren deutsche Worte. Und ich schrieb und dachte und hörte offenbar auf Deutsch. Richtig bewusst war mir das damals nicht.

Die beiden waren nicht verheiratet. Das war nicht gut, jedenfalls war es nicht üblich. Und unübliche Dinge können offenbar ausgesprochen beunruhigend sein. Jemand hatte sich wohl abfällig über die beiden geäußert, ich hatte daraufhin meinen Vater gefragt, was das bedeute, und er hatte übersetzt, das stinke zum Himmel.

Diese Frau saß manchmal auf einem Stein am Fuß der Treppe, die von der Straße zum Friedhof hochführte, rohe, in den Fels gehauene Stufen. Eines Tages, als wir vom Wasserholen kamen und sie wieder dort saß, fragte ich Mama nach ihr.

»Sie wartet«, sagte Mama.

»Worauf wartet sie?«, fragte ich.

»Das verstehst du noch nicht.«

Ich konnte solche Antworten nicht leiden.

»Was verstehe ich nicht?«, fragte ich nachdrücklich.

»Dass dieser Mann diese Frau verlassen hat, wie Männer eben manchmal Frauen verlassen, und dass diese Frau auf den Mann wartet, wie Frauen eben manchmal auf Männer warten.«

Ich verstand das wirklich nicht. Warum wartete sie gerade dort auf dem Stein an der Treppe? Sie konnte ja auch zu Hause warten. Da konnte sie warten und Kaffee trinken und aus dem Fenster schauen. Sie konnte stundenlang auf der Stelle sitzen und Kaffee trinken, bis er ihr aus den Ohren wieder herauskam. Warum hatte dieser Mann seine Frau verlassen?

»Ist er meinetwegen gegangen?«, fragte ich.

Wir waren inzwischen längst zu Hause angekommen, wir hatten uns die Schuhe ausgezogen und waren in die Küche gegangen. Mama stand am Ofen und bereitete das Mittagessen vor. Ich saß am Tisch und schrieb in mein Heft. Aber in Gedanken war ich noch bei der Nachbarin auf dem Stein, die von ihrem Mann verlassen worden war, der im Keller lebte und von dem ich wusste, wie er aussah, auch wenn ich ihn noch nie gesehen hatte.

»Wer?«, fragte Mama zurück.

»Dieser Adrian!«

»Deinetwegen? Wie kommst du denn darauf?«, fragte sie und schüttelte den Kopf. »Was du dir alles so ausdenkst.«

Zwei Wochen nach dem Besichtigungstermin am 1. Juni 2009 sind Olga und ich in die Kopenhagener Straße gezogen. Ich besaß nicht so unübersichtlich viele Dinge, dass ich tagelang hätte packen müssen. Ich hing nicht an Gegenständen oder an Besitz. Da es eine möblierte Wohnung war, mussten wir keine Schränke auseinanderbauen und keine Waschmaschine transportieren. Neben meiner Kleidung besaß ich fast nur Bücher und einen Schreibtisch, eine lange Platte aus Holz mit daruntergeschraubten Beinen. Ich hatte mir vor dem Umzug einen Futon gekauft, der in die neue Wohnung geliefert worden war. Das Einpacken, Sortieren und Saubermachen nahm kaum einen Tag in Anspruch. Olga hatte am Abend zuvor ihre Koffer und Taschen gepackt, der Rest wurde per Telefon erledigt. Sie musste zwei Umzüge organisieren: die Klamotten, die sich in meiner Wohnung befanden, und die Dinge, die noch in der Wohnung jenes Mannes waren, mit dem sie geschlafen hatte, den sie aber nie wieder erwähnte und dem sie auch nicht nachzutrauern schien. Einmal klingelte nachts das Telefon und Olga zog sich in die Küche zurück. Sie erzählte nichts darüber und sie machte auch nicht den Eindruck, als wünsche sie, dass ich danach fragte.

Sie ging offenbar sehr selten zur Uni. Sie war nur einmal dort gewesen, um nach einer Wohnung zu schauen. Als wir uns kennenlernten, hatte sie bereits entschieden, dass das nicht der richtige Weg für sie war. Sie wollte Geld verdienen und das würde schwieriger werden, je älter sie wurde.

»Mein Aussehen ist meine Arbeit«, sagte sie einmal, als ich sie darauf ansprach.

Sie lächelte dabei.

»Ich arbeite immer«, sagte sie.

Dann schaute sie wieder ernst. Bei Olga wusste man nicht so genau, wann sie etwas lustig und wann sie es traurig fand. Manchmal, wenn sie lächelte, sah man, dass ihr gar nicht danach zumute war. Sie verzog einfach ihr trauriges Gesicht zu einem lächelnden, aber es blieb eine verzogene und verlächelte Trauer.

Der gesamte Umzug wurde von ihr per Telefon dirigiert. Wenn ich jemals einen Menschen kennengelernt habe, der sein Telefon brauchte, dann war das Olga. Das Telefon war ein Teil ihres Körpers und sie würde eher ihren Herzschrittmacher hergeben als dieses Ding. Das hatte einen Touchscreen, über den sie mit der ganzen Welt in Verbindung stand. Sie berührte dort mit ihren Fingerspitzen, was sie in der wirklichen Welt nie berühren könnte.