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Margaret Atwood

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Beschreibung

Toronto, 1843: Das junge Dienstmädchen Grace wird mit sechzehn des Doppelmordes an ihren Arbeitgebern schuldig gesprochen. In letzter Sekunde wandelt das Gericht ihr Todesurteil in eine lebenslange Gefängnisstrafe um. Sie verbringt Jahre hinter Gittern, bis man sie schließlich entlässt. Im Haushalt des Anstaltdirektors begegnet sie dem Nervenarzt Simon, der ihrer Geschichte auf den Grund gehen will: Ist Grace eine gemeingefährliche Verbrecherin oder unschuldig? Margaret Atwood hat einen Roman von hypnotischer Spannung geschrieben, der die Geschichte einer realen Gestalt, einer der berüchtigtsten Frauen Kanadas erzählt.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Übersetzung aus dem kanadischen Englisch von Brigitte Walitzek

ISBN 978-3-492-97743-2

© O. W. Toad Ltd. 1996

Titel der kanadischen Originalausgabe:

»alias Grace«, McClelland & Stewart Inc., Toronto 1996

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 1996

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildung: Boreas (1902) von John William Waterhouse

© Christie’s Images/The Bridgeman Art Library

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Für Graeme und Jess

Was immer in diesen Jahren geschehen sein mag,

Gott weiß, ich spreche die Wahrheit,

wenn ich sage, daß ihr lügt.

William Morris, »Die Verteidigung Gueneveres«

Ich habe kein Tribunal.

Emily Dickinson, Briefe

Welchen Zweck hat das Licht? Was ist es überhaupt?

Ich muß noch einmal gestehen, ich weiß es nicht.

Ich kann dir wohl sagen, was es nicht ist …

Eugène Marais, Die Seele der weißen Ameise

I.

Zackenkante

Zur Zeit meines Besuches gab es im Gefängnis nur vierzig Frauen, was sehr für die überlegene moralische Schulung des schwächeren Geschlechts spricht. Mein wichtigstes Anliegen beim Besuch ihrer Abteilung war es, mir die berühmte Mörderin Grace Marks anzusehen, von der ich viel gehört hatte, nicht nur aus den Zeitungen, sondern auch von dem Gentleman, der sie in ihrem Prozeß vertreten und dessen fähige Verteidigung sie vor dem Galgen gerettet hatte, an dem ihr unglücklicher Komplize seine schuldbeladene Laufbahn beendete.

Susanna Moodie, Life in the Clearings, 1853

Komm und sieh

die wahren Blumen

dieser schmerzerfüllten Welt.

Bashō

1.

Aus dem Kies wachsen Pfingstrosen. Sie zwängen sich durch die losen grauen Steine, ihre Knospen prüfen die Luft wie die Fühler von Schnecken, schwellen dann und öffnen sich, riesige, dunkelrote Blüten, schimmernd und glänzend wie Satin. Dann bersten sie und fallen zu Boden.

In dem einen kurzen Augenblick, bevor sie zerfallen, sind sie wie die Pfingstrosen vor dem Haus von Mr. Kinnear, an jenem ersten Tag, bloß daß diese weiß waren. Nancy schnitt gerade die letzten von ihnen. Sie trug ein helles Kleid mit rosa Rosenknospen und einem Rock mit einem dreifach gekräuselten Volant, und dazu einen Strohhut, der ihr Gesicht verdeckte. Sie hatte einen flachen Korb bei sich, um die Blumen hineinzutun, und beugte sich mit kerzengerader Taille aus der Hüfte vor, wie eine Lady. Als sie uns kommen hörte und sich zu uns umdrehte, hob sie wie im Schreck eine Hand an die Kehle.

Ich halte den Kopf gesenkt, während ich im Gleichschritt mit den anderen, die Augen niedergeschlagen, schweigend, immer zu zweit, um den Hof herumgehe, im Inneren des Vierecks, das von den hohen Steinmauern gebildet wird. Meine Hände sind vor mir gefaltet; sie sind rissig und aufgesprungen, die Knöchel rot. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der sie nicht so ausgesehen hätten. Die Spitzen meiner Schuhe kommen unter dem Saum meines Rocks zum Vorschein und verschwinden wieder darunter, blau und weiß, blau und weiß, sie knirschen auf dem Pfad. Diese Schuhe passen mir besser als alle anderen, die ich je gehabt habe.

Wir haben das Jahr 1851. An meinem nächsten Geburtstag werde ich vierundzwanzig Jahre alt werden. Ich bin hier eingesperrt, seit ich sechzehn war. Ich bin eine vorbildliche Gefangene und mache keine Unannehmlichkeiten. Das jedenfalls sagt die Frau Direktor, ich habe es selbst gehört. Ich höre viele Dinge. Wenn ich gehorsam genug und still genug bin, lassen sie mich vielleicht irgendwann gehen; aber es ist nicht leicht, still und gehorsam zu sein, es ist, als hinge man am Rand einer Brücke, von der man heruntergefallen ist; man scheint sich nicht zu bewegen, man baumelt einfach nur da, und doch raubt es einem alle Kraft.

Ich beobachte die Pfingstrosen aus den Augenwinkeln. Ich weiß, daß sie nicht hier sein sollten: es ist April, und Pfingstrosen blühen nicht im April. Jetzt sind noch drei dazugekommen, genau vor mir, sie wachsen mitten auf dem Pfad. Verstohlen strecke ich die Hand aus, um eine davon zu berühren. Sie fühlt sich trocken an, und ich merke, daß sie aus Stoff ist.

Dann sehe ich Nancy ein Stück vor mir. Sie liegt auf den Knien, die Haare fallen ihr ins Gesicht, und das Blut läuft ihr in die Augen. Um den Hals hat sie ein weißes Baumwolltuch, das mit blauen Blumen bedruckt ist, Jungfer im Grünen, es gehört mir. Sie hebt den Kopf, sie streckt mir flehend die Hände entgegen; sie trägt die kleinen goldenen Ohrringe, um die ich sie früher beneidet habe, aber jetzt mißgönne ich sie ihr nicht mehr, Nancy kann sie behalten, weil dieses Mal alles anders sein wird, dieses Mal werde ich zu ihr laufen und ihr helfen, ich werde sie aufrichten und das Blut mit meinem Rock abtupfen, ich werde einen Streifen Stoff als Verband aus meinem Unterrock reißen, und nichts von allem wird geschehen sein. Mr. Kinnear wird am Nachmittag nach Hause kommen, er wird die Auffahrt heraufreiten, McDermott wird das Pferd nehmen, Mr. Kinnear wird in den Salon gehen, ich werde ihm Kaffee machen, Nancy wird ihn auf einem Tablett zu ihm hineintragen, wie sie es gerne tut, und er wird sagen: »Was für ein guter Kaffee.« Abends werden die Glühwürmchen im Obstgarten zum Vorschein kommen, und beim Schein der Lampe wird es Musik geben. Jamie Walsh. Der Junge mit der Flöte.

Ich bin fast an der Stelle angekommen, wo Nancy kniet. Aber ich falle nicht aus dem Schritt, ich laufe nicht zu ihr, ich gehe in meiner Zweierreihe weiter; und dann lächelt Nancy, nur mit dem Mund, ihre Augen sind hinter dem Blut und den Haaren nicht zu sehen, und dann zerplatzt sie zu farbigen Flecken, einem Wehen roter Stoffblüten über Steinen.

Ich lege die Hände über die Augen, weil es plötzlich dunkel ist, und ein Mann steht mit einer Kerze da, er versperrt die Treppe, die nach oben führt; und die Kellerwände sind überall um mich herum, und ich weiß, daß ich hier nie mehr herauskommen werde.

Das habe ich Dr. Jordan erzählt, als wir zu diesem Teil der Geschichte kamen.

II.

Steinige Straße

Wie sie vor Gericht auftraten.

Angeklagt des Mordes an Mr. Thos.

Kinnear & Nancy Montgomery.

Am Dienstag, gegen 10 Minuten nach 12 Uhr, wurde vor dem neuen Gefängnis dieser Stadt die höchste Strafe des Gesetzes an James McDermot, dem Mörder von Mr. Kinnear, vollzogen. Eine gewaltige Menschenmenge, bestehend aus Männern, Frauen und Kindern, wartete gespannt darauf, Zeuge des letzten Kampfes eines sündigen Mitmenschen zu werden. Welcher Art die Gefühle dieser Frauen waren, die von fern und nah durch Schlamm und Regen herbeiströmten, um dem grausigen Schauspiel beizuwohnen, können wir nicht erahnen, wagen jedoch zu behaupten, daß sie nicht sehr zartfühlend oder kultiviert gewesen sein können. Der unglückliche Missetäter legte in jenem schrecklichen Augenblick dieselbe Kaltblütigkeit und Unerschrockenheit an den Tag, die sein Verhalten seit seiner Verhaftung gekennzeichnet haben.

Toronto Mirror, 23. November 1843

Strafbuch, Gefängnis Kingston, 1843

Vergehen

Bestrafung

Lachen und Reden

6 Hiebe; neunschwänzige Katze

Reden im Waschhaus

6 Hiebe; Peitsche

Anderen Insassen drohen, ihnen den Schädel einzuschlagen

24 Hiebe; neunschwänzige Katze

Mit den Wärtern über Dinge sprechen, die nichts mit der Arbeit zu tun haben

6 Hiebe; neunschwänzige Katze

Klagen über Rationen, wenn von Aufsehern aufgefordert, sich zu setzen

6 Hiebe; Peitsche, und Brot und Wasser

Beim Frühstück herumstarren und unaufmerksam sein

Brot und Wasser

Arbeit verlassen und Abort aufsuchen, wenn ein anderer Insasse dort ist

36 Stunden Dunkelzelle und Brot und Wasser

2.

DAS LIED VON DEN MORDEN AN THOMAS KINNEAR UND SEINER HAUSHÄLTERIN NANCY MONTGOMERY IN RICHMOND HILL UND DER PROZESS VON GRACE MARKS UND JAMES MCDERMOTT UND DIE HINRICHTUNG VON JAMES MCDERMOTT IM NEUEN GEFÄNGNIS VON TORONTO AM 21. NOVEMBER 1843.

Grace Marks war in Stellung,

Wie sechzehn sah sie aus,

McDermott war der Pferdeknecht,

In Thomas Kinnears Haus.

Thomas Kinnear, der war ein Edelmann,

Not und Sorge kannte er nie,

Und er liebte seine Haushälterin,

Die hieß Nancy Montgomery.

Oh Nancy mein, verzweifle nicht,

Zur Stadt nun will ich ziehn,

Zu holen schönes Geld für dich

Zur Bank nach Toronto hin!

Oh Nancy, die ist keine Dame

Oh Nancy, die ist nicht von Stand

Und doch trägt sie Samt und Seide

Die schönsten Kleider im Land.

Oh Nancy, die ist keine Dame

Ich aber plag mich ab,

Sie treibt mich an tagaus, tagein,

Sie treibt mich noch ins Grab.

Und Grace, sie liebte Herrn Kinnear,

McDermott hat Grace so lieb,

Und ich schwör, daß es die Liebe war,

Die sie in die Sünde trieb.

Oh Grace, sei doch mein süßer Schatz,

Oh nein, das kann ich nie,

Es sei denn, du bringst um für mich

Nancy Montgomery.

Es war ein Schlag mit seiner Axt,

Den der schönen Nancy er gab,

Er schleppte sie zur Kellertür

Und warf die Treppe sie hinab.

Erbarmet euch, erbarmet euch,

McDermott, hab Mitleid mit mir,

Erbarme dich auch du, Grace Marks,

Drei Kleider geb ich dir.

Ich bitt euch nicht für mich allein,

Nicht für das Kind, das ich trag,

Es ist die Liebe zu Thomas Kinnear,

Weshalb ich nicht sterben mag.

McDermott packte sie beim Haar,

Die Gurgel zu drückt sie,

Und so erwürgt das böse Paar

Nancy Montgomery.

Was hab ich getan, meine Seele ist hin,

Und wie find ich wieder Ruh.

Um uns zu retten, morden wir nun

Thomas Kinnear dazu.

Oh nein, ich geb ihn nimmer verlorn,

Er darf nicht sterben, nein!

Sterben muß er, denn du hast geschworn,

Nun meine Liebste zu sein.

Als Thomas Kinnear nach Hause kam

Und als er seine Küche betrat,

Schoß James McDermott ihm ins Herz,

In seinem Blute er lag.

Ein fahrender Händler kam heran,

Hat Hemden und Kleider dabei,

Oh, geh fort, geh fort, du Handelsmann,

Kleider hab ich genug für drei.

Der Fleischer kam zum Hause dann,

Jede Woche kam er heraus;

Oh, fahrt nur weiter, guter Mann,

Fleisch ist genug im Haus.

Sie raubten Kinnear das Silber,

Sie raubten Kinnear das Geld,

Sie stahlen Pferd und Wagen

Und fuhren hinaus in die Welt.

Sie fuhren durch die finstere Nacht,

Nach Toronto wollten sie fliehn,

Und dann übern See nach Amerika,

Sich der Strafe zu entziehn.

Sie nahm McDermott bei der Hand,

So furchtlos und kühn war sie,

Und schrieb sich ein in Lewis’ Hotel

Mit dem Namen Mary Whitney.

Indes die Leichen im Keller man fand,

Ganz schwarz war Nancys Gesicht,

Der Wäschezuber über ihr stand,

Thomas Kinnear, der rührte sich nicht.

Bailiff Kingsmill verfolgte sie zäh,

Das schnellste Boot nahm er

Und segelte über den Großen See

Nach Lewiston, hinterher.

Noch nicht sechs Stunden schliefen sie,

Mehr brauchte er nicht dafür,

Dann stand er drüben in Lewis’ Hotel

Und pochte an ihre Tür.

Von drinnen rief Grace: Wer ist da?

Und warum klopft ihr so früh?

Oh, ihr habt gemordet Thomas Kinnear

Und Nancy Montgomery.

Nun kam Grace Marks vor ihr Gericht,

Und leugnete frech alles ab

Und sagte, ich sah sie erdrosselt nicht,

Und ihn nicht fallen hinab.

McDermott zwang mich mitzugehn,

Und drohte mir so schwer,

Wenn ich erzählte, was geschehn,

Mich zu töten mit dem Gewehr.

McDermott stand vor dem Gericht:

Nie hätt ich das getan,

Die schöne Grace hat mich verführt,

Sie trieb mich dazu an.

Und da trat Jamie Walsh nach vorn

Und schwor nach altem Brauch:

Grace hat ja Nancys Kleider an

Und Nancys Haube auch.

Sie hängten McDermott am Halse auf,

Bis er gestorben war.

Und Grace ward ins Gefängnis gesperrt,

Muß seufzen dort viele Jahr.

Zwei Stunden mußte er hängen am Strick,

Auf daß alles Leben entflieh,

Die Leiche schnitt man klitzeklein

In der Anatomie.

Auf Nancys Grab eine Rose wuchs

Und auf Thomas Kinnears Wein,

Sie wuchsen so hoch, sie umschlangen sich,

So sind die beiden vereint.

Ein langes Leben muß Grace Marks

Verbringen bei Wasser und Brot,

Und nie vergißt sie Thomas Kinnear

Und Nancy Montgomerys Tod.

Aber wenn Grace Marks dann einmal bereut,

Die Sünden und Sündenlohn,

Dann tritt sie, wenns ans Sterben geht,

Vor des Erlösers Thron.

Vor des Erlösers Thron sie wird stehn,

Geheilt wird all ihr Weh,

Gewaschen ihre blutige Hand,

Grace Marks wird weiß wie Schnee.

Und sie wird sein so weiß wie Schnee

Und gehn in den Himmel ein,

Und sie wird wohnen im Paradies

Und im Paradiese sein.

III.

Bäumchen, Bäumchen, wechsle dich

Sie ist eine Frau von mittlerer Größe und hat eine zierliche, anmutige Figur. Auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck hoffnungsloser Melancholie, den zu betrachten schmerzlich ist. Ihr Teint ist hell und muß, bevor die Berührung des hoffnungslosen Kummers ihn fahl machte, strahlend gewesen sein. Ihre Augen sind von einem leuchtenden Blau, ihre Haare kastanienrot, und ihr Gesicht könnte recht attraktiv sein, wäre da nicht das lange Kinn, das ihm, wie bei den meisten Personen, die unter dieser Verunstaltung leiden, einen verschlagenen, grausamen Ausdruck verleiht.

Grace Marks betrachtet einen mit verstohlenen Seitenblicken; sie sieht einem nie in die Augen, und nach einer heimlichen Musterung senkt sie den Blick unweigerlich zu Boden. Sie sieht aus wie jemand über ihrem bescheidenen Stand …

Susanna Moodie, Life in the Clearings, 1853

Die Gefangene hob das Gesicht, es war so sanft und lind

Wie ein marmorner Heil’ger oder ein

schlummerndes Kind;

Es war so sanft und lind, es war so lieblich und rein,

Keine Schmerzensfalte grub in dies Antlitz sich ein.

Die Gefangene seufzte und hob die Hände beide:

»Man quält mich«, sagte sie, »und ich leide;

Doch sie sind wenig wert, eure Riegel und Türen dicht;

Und wären sie aus Stahl, sie hielten mich nicht.«

Emily Bronte, »Die Gefangene«, 1845

3.

1859 Ich sitze auf dem dunkelroten Samtsofa im Salon des Herrn Direktor, oder vielmehr im Salon der Frau Direktor; es war immer der Salon der Frau Direktor, obwohl die Frau Direktor nicht immer dieselbe Frau ist, da die Direktoren oft an andere Orte versetzt werden. Meine Hände liegen so wie es sich gehört gefaltet in meinem Schoß, obwohl ich keine Handschuhe habe. Die Handschuhe, die ich gerne hätte, wären weich und weiß und würden passen, ohne auch nur eine Falte zu werfen.

Ich bin oft in diesem Salon, wenn ich das Teegeschirr abräume und die kleinen Tische und den hohen Spiegel abstaube, den mit dem Rahmen aus Weintrauben und Blättern, und das Pianoforte, und die hohe Uhr, die aus Europa stammt, mit der orange-goldenen Sonne und dem silbernen Mond, die herauskommen und wieder verschwinden, je nach Tageszeit und je nachdem, welche Woche im Monat wir haben. Die Uhr gefällt mir am besten von allen Sachen im Salon, obwohl sie die Zeit mißt, und Zeit habe ich sowieso schon zuviel.

Aber ich habe noch nie zuvor auf dem Sofa gesessen, da es nur für Besucher ist. Mrs. Alderman Parkinson sagte immer, eine Dame darf sich nie auf einen Stuhl setzen, von dem ein Herr gerade erst aufgestanden ist, wieso nicht, das wollte sie nicht sagen. Aber Mary Whitney hat gesagt: »Weil er noch warm ist von seinem Hintern, deshalb, du dumme Gans«; was keine sehr feine Bemerkung war. Und deshalb kann ich nicht hier sitzen, ohne an die damenhaften Hinterteile zu denken, die auf ebendiesem Sofa gesessen haben, ganz zart und weiß, wie wabbelige gekochte Eier.

Die Besucherinnen tragen Nachmittagskleider mit Knopfreihen vorne, und darunter steife Krinolinen aus Draht. Es ist ein Wunder, daß sie sich damit überhaupt hinsetzen können, und wenn sie gehen, berührt nichts ihre Beine unter den gebauschten Röcken, bis auf ihre Unterkleider und Strümpfe. Sie sind wie Schwäne, die auf unsichtbaren Füßen dahingleiten; oder wie die Quallen im Wasser des Felsenhafens in der Nähe von unserem Haus, als ich noch klein war, bevor ich die lange und traurige Reise über den Ozean antrat. Sie waren glockenförmig und gekräuselt, diese Quallen, und unter Wasser schwebten sie anmutig dahin und sahen sehr schön aus; aber wenn sie an den Strand gespült wurden und in der Sonne trockneten, blieb nichts von ihnen übrig. Und genauso ist es auch mit den Damen: sie bestehen größtenteils aus Wasser.

Als ich hierher gebracht wurde, gab es keine Krinolinen aus Draht. Sie waren damals aus Pferdehaar, da noch niemand an Draht gedacht hatte. Ich habe mir angesehen, wie sie in den Schränken hängen, wenn ich hineingehe, um aufzuräumen und das Nachtgeschirr auszuleeren. Sie sind wie Vogelkäfige; aber was wird in diesen Käfigen gehalten? Beine, die Beine von Damen; Beine, die eingesperrt werden, damit sie nicht herauskommen und sich an den Hosen der Herren reiben können. Die Frau Direktor sagt niemals Beine, aber die Zeitungen haben Beine gesagt, als sie über Nancy schrieben, deren tote Beine unter dem Waschzuber hervorsahen.

Es sind nicht nur die Quallendamen, die zu Besuch kommen. Dienstags haben wir die Frauenfrage und die Emanzipation von diesem oder jenem, mit reformgesinnten Personen beider Geschlechter; und donnerstags den Spiritisten-Kreis, zum Tee und zu Gesprächen mit den Toten, die ein Trost für die Frau Direktor sind, wegen ihrem dahingeschiedenen kleinen Sohn. Aber größtenteils sind es die Damen, die kommen. Sie sitzen da und nippen an den Tassen aus dünnem Porzellan, und die Frau Direktor läutet eine kleine Porzellanglocke. Sie ist nicht gern eine Frau Direktor, sie hätte es lieber, wenn der Herr Direktor der Direktor von etwas anderem als einem Gefängnis wäre.

Die Freunde des Herrn Direktor waren einflußreich genug, um ihn zum Direktor zu machen, aber nicht zu mehr.

Und so ist sie also hier und muß das Beste aus ihrer gesellschaftlichen Stellung und aus ihren Erfolgen machen, und obwohl ich etwas bin, wovor man Angst hat, ähnlich wie vor einer Spinne, und auch etwas, dem man Barmherzigkeit angedeihen läßt, bin ich auch einer der Erfolge. Ich betrete das Zimmer und knickse und bewege mich hierhin und dahin, mit geschlossenem Mund und gesenktem Kopf, und sammele die Tassen ein oder stelle sie hin, je nachdem; und sie starren mich so unauffällig sie können unter ihren Hauben hervor an.

Der Grund, weshalb sie mich sehen wollen, ist der, daß ich eine berühmte Mörderin bin. Jedenfalls stand das in den Zeitungen. Als ich es das erste Mal sah, war ich sehr überrascht, weil sie Berühmte Sängerin und Berühmte Dichterin und Berühmte Spiritistin und Berühmte Schauspielerin sagen, aber was gibt es an einem Mord schon zu rühmen? Trotzdem ist Mörderin ein mächtiges Wort, wenn es sich an einen selbst hängt. Es hat einen Geruch an sich, dieses Wort – schwer und schwül, wie welke Blumen in einer Vase. Manchmal flüstere ich es nachts vor mich hin: Mörderin, Mörderin. Es ist wie ein Dreiklang.

Mörder ist nur brutal. Mörder ist wie ein Hammer, oder wie ein Stück Metall. Ich bin lieber eine Mörderin als ein Mörder, wenn die beiden die einzige Wahl sind.

Manchmal, wenn ich den Spiegel mit den Weintrauben abstaube, sehe ich mich darin an, obwohl ich weiß, daß es Eitelkeit ist. Im Nachmittagslicht des Salons sieht meine Haut bläulich-violett aus, wie ein verblaßter blauer Fleck, und meine Zähne sind grünlich. Ich denke an all die Dinge, die über mich geschrieben wurden – daß ich ein unmenschlicher weiblicher Dämon bin, daß ich das unschuldige Opfer eines gemeinen Lumpen bin und gegen meinen Willen und unter Lebensgefahr gezwungen wurde, daß ich zu dumm und ahnungslos war, um zu wissen, was ich hätte tun sollen, daß es ein Justizmord wäre, mich zu hängen, daß ich Tiere liebe, daß ich sehr attraktiv bin und einen strahlenden Teint habe, daß ich blaue Augen habe, daß ich grüne Augen habe, daß ich kastanienrotes, aber auch braunes Haar habe, daß ich groß bin und daß ich eine durchschnittliche Größe nicht überschreite, daß ich gut und anständig angezogen bin, daß ich eine tote Frau beraubt habe, um mich besser zu kleiden, daß die Arbeit mir schnell und flink von der Hand geht, daß ich eine mürrische Veranlagung und ein streitsüchtiges Wesen habe, daß ich eher aussehe wie jemand über meinem bescheidenen Stand, daß ich ein gutes Mädchen, aber von leicht zu beeinflussender Natur bin und nichts Nachteiliges über mich bekannt ist, daß ich gerissen und hinterhältig bin, daß ich nicht ganz richtig im Kopf und kaum von einer Idiotin zu unterscheiden bin. Und ich frage mich, wie kann ich all diese verschiedenen Dinge auf einmal sein?

Es war mein eigener Anwalt, der hochwohlgeborene Mr. Kenneth MacKenzie, der ihnen sagte, ich würde mich kaum von einer Idiotin unterscheiden. Ich war deswegen erst böse auf ihn, aber er sagte, es sei bei weitem meine beste Chance, und ich solle mir nur nicht den Anschein geben, zu intelligent zu sein. Er sagte, er würde nach besten Kräften für mich plädieren, weil ich, wie immer die Wahrheit auch aussehen mochte, schließlich kaum mehr als ein Kind sei, und wahrscheinlich würde alles auf die Frage freien Willens hinauslaufen, ob die Geschworenen dieser Meinung seien oder nicht. Er war ein freundlicher Herr, obwohl ich einen großen Teil von dem, was er sagte, um mein Leben nicht verstehen konnte, aber er muß gut plädiert haben. Die Zeitungen schrieben, er habe einen heroischen Kampf gegen eine überwältigende Übermacht geführt. Obwohl ich nicht weiß, wieso man es plädieren nennt, weil er überhaupt nicht plädierte und bat und bettelte, sondern versuchte, die Zeugen als unmoralisch oder boshaft hinzustellen, oder aber als Menschen, die sich täuschten.

Ich frage mich, ob er mir auch nur ein Wort geglaubt hat.

Wenn ich mit dem Teetablett das Zimmer verlassen habe, sehen die Damen sich das Album der Frau Direktor an. »Oh je, mir ist ganz zittrig«, sagen sie, und: »Meine Liebe, wie können Sie diese Person nur frei in Ihrem Haus herumlaufen lassen, Sie müssen Nerven aus Stahl haben, meine eigenen könnten das nie aushalten.«

»Ach, wissen Sie, in unserer Lage muß man sich an diese Dinge gewöhnen, im Grunde genommen sind wir ja selbst Gefangene, und man muß Mitleid mit diesen armen unwissenden Kreaturen haben, und schließlich hat sie Dienstmädchen gelernt, und ohnedies ist es besser, wenn sie eine Beschäftigung haben, sie näht wundervoll, sehr geschickt und schnell, so gesehen ist sie wirklich eine große Hilfe, vor allem bei den Kleidern der Mädchen, sie hat einen Blick für Besätze, und unter glücklicheren Umständen hätte sie eine ausgezeichnete Hilfe für eine Putzmacherin abgegeben.

Aber natürlich darf sie nur tagsüber hier sein, nachts würde ich sie nicht im Haus haben wollen. Wissen Sie, sie war eine Zeitlang in der Irrenanstalt in Toronto, sieben oder acht Jahre ist das jetzt her, aber obwohl sie anscheinend völlig geheilt ist, weiß man bei diesen Leuten ja doch nie, wann es plötzlich wieder über sie kommt, manchmal spricht sie mit sich selbst und singt laut vor sich hin, auf eine höchst eigentümliche Weise. Man darf kein Risiko eingehen, die Wärter bringen sie abends wieder zurück und schließen sie ein, sonst könnte ich die ganze Nacht kein Auge zutun.«

»Oh, das kann ich Ihnen nicht verdenken, auch die christliche Nächstenliebe hat ihre Grenzen, und die Katze läßt das Mausen nicht, und niemand kann sagen, daß Sie Ihre Pflicht nicht erfüllt und kein gebührendes Mitgefühl an den Tag gelegt hätten.«

Das Album der Frau Direktor liegt auf dem runden Tisch mit dem seidenen Tuch, auf dem lauter ineinander verschlungene Ranken zu sehen sind, und Blüten und rote Früchte und blaue Vögel. Eigentlich ist es ein großer Baum, und wenn man lange genug hinsieht, fangen die Zweige an, sich zu bewegen, als gehe der Wind durch sie hindurch. Die älteste Tochter der Frau Direktor hat es aus Indien geschickt, sie ist mit einem Missionar verheiratet, was nichts ist, wonach mir selbst der Sinn stehen würde. Gewiß würde man früh sterben; wenn nicht von der Hand aufständischer Eingeborener, wie in Kanpur – wo schreckliche Greueltaten an den Personen respektabler Damen von Stand verübt wurden, und es war eine Gnade, daß alle abgeschlachtet und von ihrem Elend erlöst wurden, denn die Schande wäre schier unvorstellbar gewesen –, dann an der Malaria, die einen von oben bis unten gelb färbt, und man stirbt in Raserei; und ehe man wüßte, was einem geschieht, wäre man in einem fremden Landstrich unter einer Palme begraben. Ich habe in einem Buch mit fernöstlichen Stichen, das die Frau Direktor hervornimmt, wenn sie eine Träne vergießen will, Bilder davon gesehen.

Auf dem gleichen runden Tisch liegt der Stapel mit den Godey’s Ladies’ Books mit den neuesten Moden, die aus den Staaten zu uns kommen, und auch die Erinnerungsalben der beiden jüngeren Töchter. Miss Lydia sagt, daß ich eine romantische Gestalt bin; aber die beiden sind so jung, daß sie kaum wissen, was sie sagen. Manchmal quälen sie mich mit neugierigen Fragen und hänseln mich und sagen: »Grace, warum lächelst und lachst du eigentlich nie, wir sehen dich nie lächeln.« Und ich sage: »Wahrscheinlich habe ich es verlernt, Miss, mein Gesicht will sich einfach nicht mehr auf die Weise verziehen.« Aber wenn ich einmal anfangen würde zu lachen, könnte ich vielleicht nicht mehr aufhören; und außerdem würde es ihre romantische Vorstellung von mir verderben. Romantische Gestalten lachen nicht, soviel weiß ich von den Bildern, die ich gesehen habe.

Die Töchter kleben alle möglichen Sachen in ihre Alben, kleine Stückchen Stoff von ihren Kleidern, Reste von Bändern, Bilder, die sie aus Zeitschriften ausgeschnitten haben – die Ruinen des alten Rom, die malerischen Klöster der französischen Alpen, die London Bridge, die Niagarafälle im Sommer und im Winter, die ich gerne einmal sehen würde, da alle sagen, daß sie sehr beeindruckend sind, und Porträts von Lady Soundso und Lord Soundso aus England. Und ihre Freundinnen schreiben in ihrer schön geschwungenen Handschrift Sachen hinein. Für die Liebste Lydia von ihrer Ewigen Freundin Clara Richards. Für die Liebste Marianne zur Erinnerung an unser wundervolles Picknick an den Ufern des tiefblauen Ontariosees. Und Gedichte:

Nicht wie Rosen, nicht wie Nelken,

Die heute blühen und morgen welken,

Sondern wie das Immergrün

Soll ewig unsre Freundschaft blühn. Deine Getreue Laura.

Oder aber:

Das festgeknüpfte Freundschaftsband,

Das sich um unsre Herzen wand,

Soll immer fest und immer schön

Bis in die Ewigkeit bestehn. Deine Lucy.

Diese junge Dame ertrank kurz darauf im See, als ihr Schiff in einem Sturm sank, und nichts wurde je von ihr gefunden, bis auf ihren festen Koffer mit den in Silber gehämmerten Initialen; er war noch verschlossen, der Koffer, und deshalb war, obwohl alles naß war, nichts herausgespült, und Miss Lydia bekam zur Erinnerung einen Schal daraus geschenkt.

Sitzt du einst an meinem Leichensteine

auf der Bank im Sonnenscheine,

und die Träne tropfet leise

auf mein sterbliches Gehäuse,

blutet in dem moos’gen Grunde

in mir eine alte Wunde:

meine Liebe lebet fort

auch an diesem stillen Ort.

Dieses Gedicht ist gezeichnet mit Ich werde im Geiste immer bei Dir sein, Deine Dich liebende »Nancy«, Hannah Edmonds, und ich muß sagen, daß es mir, als ich es das erste Mal sah, einen gehörigen Schrecken einjagte, obwohl es natürlich eine andere Nancy war. Trotzdem, das sterbliche Gehäuse. Denn inzwischen kann sie nur noch ein Gehäuse sein. Ihr Gesicht war schon ganz schwarz, als sie gefunden wurde, der Geruch muß schrecklich gewesen sein. Es war so heiß damals, es war Juli, trotzdem ist sie überraschend schnell schlecht geworden. Eigentlich hätte man meinen sollen, daß sie sich im Keller länger gehalten hätte, normalerweise war es immer kühl dort unten. Jedenfalls bin ich gewiß froh, daß ich nicht dabei war, als sie gefunden wurde, es wäre bestimmt sehr unerfreulich gewesen.

Ich weiß nicht, warum sie alle so erpicht darauf sind, in Erinnerung behalten zu werden. Was haben sie davon? Es gibt nun einmal Dinge, die von allen vergessen und nie wieder erwähnt werden sollten.

Das Album der Frau Direktor ist ganz anders. Natürlich ist sie eine erwachsene Frau und kein junges Mädchen mehr, und obwohl sie sich ganz genauso gern erinnert, ist das, woran sie sich erinnern will, etwas anderes als Veilchen oder ein Picknick. Kein Meine Liebste und Liebe und Schönheit, keine Ewigen Freundschaften, das alles ist nichts für sie; statt dessen enthält ihr Album alle berühmten Verbrecher – diejenigen, die gehängt oder aber hierhergebracht wurden, um zu bereuen, weil das hier ein Gefängnis ist und von einem erwartet wird, daß man bereut, während man hier ist, und es ist besser für einen, wenn man sagt, daß man es tut, egal ob man etwas zu bereuen hat oder nicht.

Die Frau Direktor schneidet diese Verbrechen aus den Zeitungen aus und klebt sie in ihr Album; sie schreibt sogar nach alten Zeitungen mit Verbrechen darin, die vor ihrer Zeit begangen wurden. Es ist ihre Sammlung, sie ist eine Lady, und alle Ladies sammeln dieser Tage irgendwelche Sachen, also muß auch sie etwas sammeln, und sie sammelt eben das, statt Farne auszureißen oder Blumen zu pressen, und außerdem macht es ihr Spaß, wenn ihren Bekannten ein bißchen gruselt.

Also habe ich gelesen, was sie über mich geschrieben haben. Sie hat mir das Album selbst gezeigt, wahrscheinlich wollte sie sehen, wie es auf mich wirkt; aber ich habe gelernt, ein unbewegtes Gesicht zu machen, ich habe meine Augen weit und ausdruckslos gemacht wie die von einer Eule im Fackellicht, und ich habe gesagt, ich hätte unter bitteren Tränen bereut und sei jetzt ein anderer Mensch, und möchte sie, daß ich das Teegeschirr abräume? Aber ich habe seitdem in das Album hineingeschaut, viele Male, wenn ich allein im Salon war.

Vieles davon ist gelogen. In den Zeitungen steht geschrieben, ich wäre des Lesens und Schreibens unkundig, dabei konnte ich schon damals ein bißchen lesen. Meine Mutter hatte es mir früh beigebracht, bevor sie zu müde dazu wurde, und ich habe wie alle anderen Kinder mein Stichtuch mit Garnresten bestickt, A für Apfel, B für Biene; und dann hat Mary Whitney oft mit mir gelesen, bei Mrs. Alderman Parkinson, wenn wir über der Flickarbeit saßen; und dann habe ich es noch besser gelernt, seit ich hier bin, da sie es einem mit Absicht beibringen. Sie tun es, damit man die Bibel lesen kann, und auch religiöse Traktate, weil Religion und Prügel die einzigen Mittel gegen eine verderbte Natur sind und man schließlich auch an unsere unsterblichen Seelen denken muß. Es ist schockierend, wie viele Verbrechen in der Bibel stehen. Die Frau Direktor sollte sie alle ausschneiden und in ihr Album kleben.

Sie haben aber auch ein paar wahre Sachen gesagt. Sie haben gesagt, ich hätte einen guten Charakter; das stimmt, und es liegt daran, daß niemand mich je ausgenutzt hat, obwohl manche es versucht haben. Aber sie haben auch gesagt, ich wär die Geliebte von James McDermott gewesen. Sie haben es wirklich und wahrhaftig hingeschrieben, in die Zeitung. Ich finde es ungehörig, solche Dinge zu schreiben.

Aber genau das ist es, was sie wirklich interessiert – die Herren wie auch die Damen. Es kümmert sie nicht wirklich, ob ich jemanden umgebracht habe, ich hätte Dutzende von Kehlen durchschneiden können, schließlich ist es nur das, was sie bei einem Soldaten bewundern, sie würden kaum mit der Wimper zucken. Nein: war ich wirklich seine Geliebte – darauf sind sie ganz begierig, und sie wissen nicht einmal selbst, ob sie wollen, daß die Antwort ja oder nein lautet.

Jetzt sehe ich mir das Album nicht an, weil sie jeden Augenblick hereinkommen können. Ich sitze da, die rissigen Hände gefaltet, den Blick gesenkt, und starre die Blumen auf dem türkischen Teppich an. Oder wenigstens sollen es Blumen sein. Die Blüten haben dieselbe Form wie die Karos auf Spielkarten; wie auf den Spielkarten, die bei Mr. Kinnear auf dem Tisch herumlagen, wenn die Herren am Abend vorher gespielt hatten. Hart und winklig. Aber rot, ein dunkles, dickes Rot. Dicke, erwürgte Zungen.

Heute werden nicht die Damen erwartet, sondern ein Doktor. Er schreibt ein Buch; die Frau Direktor kennt gern Leute, die Bücher schreiben, Bücher mit fortschrittlichen Ansichten, es zeigt, daß sie eine liberal gesinnte Person mit modernen Ansichten ist, und die Wissenschaft macht ja solche Fortschritte, und wer weiß, wo wir angesichts all der modernen Erfindungen und des Kristallpalasts und des ganzen angesammelten Wissens der Welt in hundert Jahren sein werden.

Ein Doktor ist immer ein schlechtes Zeichen. Auch wenn diese Ärzte das Töten nicht selbst besorgen, bedeutet ihre Anwesenheit, daß der Tod nahe ist, und so gesehen sind sie wie Raben oder Krähen. Aber dieser Doktor wird mir nicht wehtun, die Frau Direktor hat es versprochen. Er will nur meinen Kopf messen. Er mißt die Köpfe von allen Verbrechern im Gefängnis, um zu sehen, ob er an den Höckern auf ihren Schädeln erkennen kann, was für eine Sorte Verbrecher sie sind, ob sie Taschendiebe oder Schwindler oder Betrüger oder kriminelle Irre oder Mörder sind – sie hat nicht gesagt »So wie du, Grace«. Dann könnte man nämlich diese Leute einsperren, bevor sie Gelegenheit hätten, irgendwelche Verbrechen zu begehen, und man denke nur, wieviel besser es dann um die Welt bestellt wäre.

Nachdem sie James McDermott gehängt hatten, fertigten sie einen Gipsabdruck von seinem Kopf an. Auch das habe ich im Album gelesen. Wahrscheinlich wollten sie seinen Kopf dafür haben – um dafür zu sorgen, daß es um die Welt besser bestellt ist.

Außerdem wurde seine Leiche seziert. Als ich das Wort das erste Mal sah, wußte ich nicht, was es bedeutet, aber ich habe es sehr schnell herausgefunden. Die Ärzte haben es gemacht. Sie haben ihn in Stücke zerlegt wie ein Schwein, das eingepökelt werden soll, für sie hätte er genausogut eine Speckseite sein können. Sein Körper, den ich atmen hörte, dessen Herz ich schlagen hörte, zerschnitten von einem Messer – ich kann es nicht ertragen, auch nur daran zu denken.

Ich frage mich, was sie mit seinem Hemd gemacht haben. War es eins von den vieren, die Jeremiah der Hausierer ihm verkauft hat? Es hätten drei sein sollen, oder fünf, weil ungerade Zahlen mehr Glück bringen. Jeremiah hat mir immer Glück gewünscht, aber James McDermott hat er keins gewünscht.

Ich habe die Hinrichtung nicht gesehen. Sie haben ihn vor dem Gefängnis von Toronto aufgehängt, und »Du hättest dabei sein sollen, Grace«, sagen die Wärter, »es wäre eine Lehre für dich gewesen.« Ich habe mir viele Male vorgestellt, wie der arme James mit gefesselten Händen und nacktem Hals dasteht, während sie ihm die Kapuze über den Kopf stülpen wie einem Kätzchen, das ertränkt werden soll. Wenigstens hatte er einen Priester bei sich, er war nicht ganz allein. Wenn Grace Marks nicht gewesen wäre, hat er ihnen gesagt, wäre das alles nicht passiert.

Es regnete, und eine riesige Menschenmenge stand im Matsch herum, einige von ihnen waren viele Meilen weit angereist. Wenn mein eigenes Todesurteil nicht in letzter Minute umgewandelt worden wäre, hätten sie mit demselben gierigen Vergnügen zugesehen, wie ich gehängt worden wäre. Es waren viele Frauen und Damen da; alle wollten zusehen, sie wollten den Tod einatmen wie ein feines Parfüm, und als ich das las, dachte ich: Wenn das eine Lehre für mich sein soll, was soll ich daraus lernen?

Jetzt kann ich ihre Schritte hören, und ich stehe hastig auf und streiche meine Schürze glatt. Dann sagt die Stimme eines fremden Mannes: »Überaus freundlich von Ihnen, Ma’am«, und die Frau Direktor sagt: »Ich bin so froh, behilflich sein zu können«, und er sagt noch einmal: »Überaus freundlich.«

Dann kommt er durch die Tür, kräftiger Bauch, schwarzer Rock, enganliegende Weste, silberne Knöpfe, korrekt gebundenes Halstuch, mehr sehe ich nicht, weil ich den Blick nur bis zu seinem Kinn hebe, und er sagt: »Es wird nicht lange dauern, Ma’am, aber ich wüßte es sehr zu schätzen, wenn Sie im Zimmer bleiben könnten, man muß nicht nur tugendhaft sein, man muß auch tugendhaft scheinen.« Und er lacht, als wäre das ein Witz, aber ich kann seiner Stimme anhören, daß er Angst vor mir hat. Eine Frau wie ich ist immer eine Versuchung, wenn man es unbeobachtet machen kann. Denn was immer wir hinterher sagen, niemand würde es glauben.

Und dann sehe ich seine Hand, eine Hand wie ein Handschuh, ein Handschuh ausgestopft mit rohem Fleisch. Die Hand greift in den offenen Schlund seiner Ledertasche und kommt glitzernd wieder zum Vorschein, und ich weiß, daß ich so eine Hand schon einmal gesehen habe; und dann hebe ich den Kopf und sehe ihm in die Augen, und mein Herz krampft sich in mir zusammen und macht einen entsetzten Sprung, und dann fange ich an zu schreien.

Weil es derselbe Doktor ist, derselbe Doktor, genau derselbe Doktor mit seinem schwarzen Rock und seiner Tasche voller blitzender Messer.

4.

Ein Glas kaltes Wasser ins Gesicht brachte mich wieder zu mir, aber ich schrie immer weiter, obwohl der Doktor nicht mehr zu sehen war; ich mußte von zwei Küchenmädchen und dem Gärtnerjungen, der auf meinen Beinen saß, festgehalten werden. Die Frau Direktor hatte nach der Aufseherin aus dem Gefängnis geschickt, die mit zweien von den Wärtern kam und mir eine schallende Ohrfeige gab, worauf ich aufhörte. Überhaupt war es gar nicht derselbe Doktor gewesen, er hatte nur so ausgesehen. Derselbe kalte und gierige Blick, und der Haß.

»Es ist das einzige, was man tun kann, wenn sie hysterisch werden, Ma’am, das können Sie mir glauben«, sagte die Aufseherin. »Wir haben reichlich Erfahrung mit dieser Art von Anfällen, die hier hatte früher einen Hang dazu, aber wir haben ihr nie was durchgehen lassen und haben uns alle Mühe gegeben, es ihr auszutreiben, und haben eigentlich gedacht, sie hätte es sich abgewöhnt. Aber vielleicht kommen ihre alten Schwierigkeiten wieder durch, denn egal was die da oben in Toronto gesagt haben, sie war vor diesen sieben Jahren völlig übergeschnappt, und Sie können von Glück sagen, daß keine Scheren oder spitzen Gegenstände herumgelegen haben.«

Dann schleppten die Wärter mich ins Hauptgebäude des Gefängnisses zurück und sperrten mich in diesen Raum, bis ich wieder ich selbst sei, wie sie sagten, obwohl ich sagte, es gehe mir schon wieder viel besser, jetzt wo der Doktor mit seinen Messern nicht mehr da sei. Ich sagte, ich hätte einfach nur Angst vor Ärzten, und davor, daß sie mich aufschneiden könnten, so wie manche Angst vor Schlangen haben. Aber sie sagten: »Es reicht jetzt mit deinen Tricks, Grace, du wolltest dich nur wichtig machen, der Doktor wollte dich überhaupt nicht aufschneiden, er hatte überhaupt kein Messer dabei, was du gesehen hast, war nur ein Greifzirkel, um Köpfe zu messen. Du hast der Frau Direktor einen gehörigen Schrecken eingejagt, aber geschieht ihr recht, sie hat dich mehr verwöhnt, als gut für dich ist, und hat ein richtiges Hätschelkind aus dir gemacht, ist doch wahr, und wir sind kaum noch gut genug für dich. Aber das wird sich jetzt ändern, du wirst dich damit abfinden müssen, weil du jetzt nämlich eine Zeitlang eine andere Art von Aufmerksamkeit zu spüren kriegen wirst. Bis entschieden ist, was wir mit dir machen sollen.«

In diesem Raum gibt es nur ein kleines Fenster ganz hoch oben in der Wand, mit Gittern an der Innenseite, und eine mit Stroh ausgestopfte Matratze. Es gibt einen Blechteller mit einem Kanten Brot darauf, und einen steinernen Krug mit Wasser, und einen Holzeimer mit nichts drin, und der ist für die Notdurft gedacht. Bevor sie mich in die Irrenanstalt steckten, war ich auch in einem Raum wie diesem. Ich habe ihnen damals gesagt, daß ich nicht verrückt bin, daß sie mich verwechseln, aber sie haben nicht auf mich gehört.

Dabei hatten sie nicht die geringste Ahnung von Verrückten, denn viele von den Frauen in der Anstalt waren nicht verrückter als die Königin von England. Viele waren ganz und gar normal, wenn sie nüchtern waren, und ihre Verrücktheit kam nur aus der Flasche, was eine Art von Verrücktheit ist, die ich sehr gut kenne. Eine von ihnen war da, um nicht bei ihrem Mann sein zu müssen, der sie immer grün und blau schlug, er war derjenige, der verrückt war, aber ihn sperrte natürlich niemand ein; und eine andere sagte, sie würde immer im Herbst verrückt, weil sie nämlich kein Haus hatte und es in der Anstalt warm war, und wenn sie nicht so tun würde, als wäre sie verrückt, müßte sie draußen erfrieren; aber im Frühling wurde sie dann wieder normal, weil das Wetter dann wieder schön war und sie durch die Wälder ziehen und fischen konnte, und weil sie zum Teil Indianerin war, war sie in diesen Dingen sehr geschickt. Ich selbst würde es gern genauso machen, wenn ich wüßte wie und keine Angst vor den Bären hätte.

Aber manche taten nicht nur so, als ob. Eine Frau aus Irland hatte ihre ganze Familie verloren, die Hälfte war in der großen Hungersnot verhungert, und der Rest war auf dem Schiff an der Cholera gestorben; und sie ging dauernd herum und rief ihre Namen. Ich war froh, daß ich schon vor dieser Zeit aus Irland weggekommen war, weil das Elend, von dem sie erzählte, grauenhaft gewesen sein muß, überall lagen Berge von Leichen herum, und niemand da, sie zu beerdigen. Eine andere Frau hatte ihr eigenes Kind umgebracht, und jetzt folgte es ihr überallhin und zupfte sie am Rock; und manchmal nahm sie es in die Arme und herzte und küßte es, und dann wieder kreischte sie und schlug mit den Händen danach. Vor der hatte ich Angst.

Eine andere war sehr religiös, sie betete und sang die ganze Zeit, und als sie erfuhr, was ich angeblich getan haben sollte, ließ sie mir keine Ruhe mehr. »Auf die Knie«, sagte sie. »Du sollst nicht töten, aber für jeden Sünder gibt es die Gnade Gottes, bereue, bereue, solange du kannst, sonst wartet die ewige Verdammnis auf dich.« Sie war genau wie ein Prediger in der Kirche, und einmal versuchte sie, mich mit Suppe zu taufen, sie war dünn, die Suppe, mit Kohl drin, und sie goß einen Löffel voll über meinen Kopf. Aber als ich mich darüber beschwerte, sah die Aufseherin mich nur streng an, die Lippen so fest und so gerade zusammengepreßt wie der Deckel von einer Kiste, und sagte: »Nun, Grace, vielleicht solltest du auf sie hören, ich jedenfalls habe noch nicht gesehen, daß du wirklich und ehrlich bereut hättest, so sehr dein hartes Herz es auch nötig hätte.« Und da wurde ich sehr zornig und schrie: »Ich hab doch nichts gemacht, ich hab doch nichts gemacht! Sie war es! Sie war schuld!«

»Wen meinst du, Grace?« sagte sie. »Beruhige dich, sonst kommst du in die kalte Badewanne und in die Zwangsjacke«, und sie sah die andere Aufseherin an, wie um zu sagen: Siehst du! Was hab ich gesagt? Völlig übergeschnappt!

Die Aufseherinnen in der Anstalt waren alle dick und stark, mit riesigen, kräftigen Armen und einem Kinn, das ohne Übergang in ihren Hälsen und ihren adretten weißen Krägen verschwand, und ihre Haare waren oben auf dem Kopf zusammengedreht wie ein ausgeblichener Strick. Man muß kräftig sein, wenn man als Aufseherin in so einer Anstalt arbeiten will, falls eine von den Verrückten einen von hinten anspringt und einem die Haare ausreißt, aber das alles machte ihre Laune nicht besser. Manchmal reizten sie uns, vor allem kurz bevor die Besucher kommen sollten. Sie wollten damit zeigen, wie gefährlich wir waren, aber auch, wie gut sie uns unter Kontrolle hatten, weil sie dann wertvoller und tüchtiger erschienen.

Also sagte ich ihnen gar nichts mehr. Nicht Dr. Bannerling, der ins Zimmer kam, als ich im Dunkeln festgebunden war, mit dicken Handschuhen an den Händen. »Halt still, ich bin hier, um dich zu untersuchen, es hat keinen Zweck, mich anzulügen.« Und auch nicht den anderen Ärzten, die zu Besichtigungen kamen: »Oh, tatsächlich, was für ein interessanter Fall«, als wäre ich ein Kalb mit zwei Köpfen. Zum Schluß hörte ich ganz auf, etwas zu sagen, außer sehr höflich, wenn ich angesprochen wurde, Ja Ma’am, Nein Ma’am, Ja und Nein Sir zu antworten. Und dann wurde ich ins Gefängnis zurückgeschickt, nachdem sie sich alle in ihren schwarzen Röcken zusammengesetzt hatten. »Ähem, ähem, meiner Ansicht nach«, und »Werter Kollege, Sir, wenn ich Ihnen widersprechen dürfte«. Natürlich konnten sie keinen Augenblick lang zugeben, daß es ein Irrtum gewesen war, mich überhaupt in die Anstalt zu stecken.

Leute, die auf eine bestimmte Weise gekleidet sind, irren sich eben nie. Außerdem furzen sie auch nie. Mary Whitney sagte immer: »Wenn in einem Zimmer, in dem sie sich aufhalten, gefurzt wird, kannst du sicher sein, daß du es selber warst. Und auch wenn du es nicht warst, hältst du besser die Klappe, weil es sonst heißt: ›So eine Unverfrorenheit‹ und dann kriegst du einen Tritt in den Hintern und sitzt auf der Straße.«

Mary drückte sich oft so unfein und grob aus. Man hatte ihr nichts anderes beigebracht. Früher habe ich auch so geredet. Aber im Gefängnis habe ich bessere Manieren gelernt.

Ich setze mich auf die Strohmatratze. Sie gibt ein raschelndes Geräusch von sich. Wie Wasser am Ufer. Ich rutsche ein bißchen hin und her, um es noch einmal zu hören. Ich könnte die Augen zumachen und mir vorstellen, ich wäre am Meer, an einem trockenen Tag ohne viel Wind. Draußen, irgendwo weit weg, hackt jemand Holz, das Niedersausen der Axt, das unsichtbare Aufblitzen, und dann das dumpfe Geräusch, aber woher soll ich wissen, daß es Holz ist?

Es ist kalt in diesem Raum. Ich habe kein Tuch, ich schlinge die Arme um den Oberkörper, weil niemand sonst da ist, der es für mich tun würde. Als ich jünger war, dachte ich immer, wenn ich die Arme fest genug um mich legte, könnte ich mich kleiner machen, weil nie genug Platz für mich da war, nicht zu Hause oder sonst irgendwo, aber wenn ich kleiner wäre, dann würde ich überall hineinpassen.

Meine Haare sind unter meiner Haube hervorgerutscht. Die roten Haare eines Monstrums. Ein wildes Tier, haben die Zeitungen geschrieben. Ein Ungeheuer. Wenn sie das Abendessen bringen, werde ich mir den Unrateimer über den Kopf stülpen und mich hinter der Tür verstecken, und dann werden sie einen Schrecken bekommen. Wenn sie so unbedingt ein Monstrum haben wollen, sollen sie eins bekommen.

Aber natürlich mache ich das nicht wirklich. Ich denke nur daran. Wenn ich es machte, würden sie nur sagen, ich wäre wieder verrückt geworden.

Verrückt werden, sagen sie, so wie ein Stuhl verrückt wird, an eine andere Stelle, an einen anderen Ort. Aber wenn man verrückt wird, wechselt man nicht den Ort, man bleibt, wo man ist. Und jemand anderes kommt herein.

Ich will nicht allein in diesem Raum sein. Die Wände sind zu leer, es gibt keine Bilder an ihnen und keine Vorhänge an dem kleinen Fenster hoch oben, nichts, was man sich ansehen könnte, und deshalb sieht man die Wand an, und wenn man das eine Zeitlang gemacht hat, sind auf einmal doch Bilder darauf zu sehen, und rote Blumen wachsen daran.

Ich glaube, ich schlafe.

Es ist jetzt Morgen, aber welcher? Der zweite oder der dritte. Draußen vor dem Fenster ist neues Licht, das ist es, was mich geweckt hat. Ich setze mich auf, zwicke mich in die Wange, zwinkere mit den Augen und stehe steif von der raschelnden Matratze auf. Dann singe ich ein Lied, einfach nur um eine Stimme zu hören und mir selbst Gesellschaft zu leisten:

O Licht, geboren aus dem Lichte,

O Sonne der Gerechtigkeit:

du schickst uns wieder zu Gesichtes

die angenehme Morgenzeit.

Sie können kaum was dagegen haben, wenn es ein Kirchenlied ist. Ein Lied an den Morgen. Ich habe den Sonnenaufgang immer geliebt.

Dann trinke ich den letzten Rest Wasser; dann gehe ich im Zimmer auf und ab; dann hebe ich meine Unterröcke und mache in den Eimer. In ein paar Stunden wird es hier drin stinken wie in einer Jauchegrube.

In den Kleidern schlafen macht müde. Die Kleider sind zerknittert, und der Körper darunter ist es auch. Ich fühle mich, als wäre ich zu einem Bündel zusammengeknüllt und in eine Ecke geworfen worden.

Ich wollte, ich hätte eine saubere Schürze.

Niemand kommt. Ich bin hier eingesperrt, um über meine Sünden und Missetaten nachzudenken, und das tut man am besten, wenn man allein ist, das jedenfalls ist unsere sachverständige und wohlüberlegte Meinung, Grace, nach langer Erfahrung in diesen Dingen. In einer Einzelzelle, und manchmal im Dunkeln. Es gibt Gefängnisse, wo sie einen jahrelang in so eine Zelle einsperren, ohne einen Blick auf einen Baum oder ein Pferd oder ein menschliches Gesicht. Manche sagen, es ist gut für den Teint.

Ich bin nicht zum ersten Mal allein eingesperrt. Unverbesserlich, sagte Dr. Bannerling, der ein gemeiner Heuchler war. »Halt still, ich bin hier, um die Struktur deines Gehirns zu untersuchen, und als erstes werde ich deinen Herzschlag und deine Atmung messen«, aber ich wußte, auf was er in Wirklichkeit aus war. »Nimm die Hände von meinen Titten, du Drecksack«, hätte Mary Whitney gesagt, aber ich konnte nur »Oh nein, oh nein« sagen, und ich konnte mich nicht drehen und wenden, so wie sie mich zusammengeschnürt und an den Stuhl gebunden hatten, mit vorne überkreuzten und hinten zusammengeknoteten Ärmeln; also blieb mir nichts anderes übrig, als meine Zähne in seine Finger zu schlagen, und dann kippten wir um, hinterrücks auf den Boden, jaulend wie zwei Katzen in einem Sack. Er schmeckte nach rohen Würstchen und klammer wollener Unterwäsche. Es hätte ihm gutgetan, wenn jemand ihn gründlich mit brühheißem Wasser abgeschrubbt und dann zum Bleichen in die Sonne gelegt hätte.

Kein Abendessen gestern oder vorgestern, nichts außer dem Kanten Brot, nicht einmal ein Löffel Kohl; aber das war nicht anders zu erwarten. Hunger beruhigt die Nerven. Heute wird es noch mal Brot und Wasser geben, weil Fleisch auf Verbrecher und Verrückte aufreizend wirkt, sie wittern es wie Wölfe, und dann ist man selbst schuld. Aber das Wasser von gestern ist alle, und ich bin sehr durstig, ich sterbe vor Durst, mein Mund fühlt sich ganz rauh an, meine Zunge wird immer dicker. Genau dasselbe passiert mit Schiffbrüchigen, ich habe in Prozeßberichten gelesen, daß sie auf dem Meer herumtreiben und ihr eigenes Blut trinken. Sie werfen das Los, wer von ihnen als nächster dran ist. Kannibalische Ungeheuerlichkeiten, eingeklebt ins Album. Ich bin sicher, ich würde so was nie tun können, egal wie hungrig ich wäre.

Haben sie vergessen, daß ich hier bin? Sie müssen mir mehr Essen bringen oder wenigstens mehr Wasser, sonst werde ich verhungern, ich werde schrumpfen, meine Haut wird austrocknen und ganz gelb werden wie ein altes Laken; ich werde mich in ein Skelett verwandeln, ich werde erst Monate, Jahre, Jahrhunderte später gefunden werden, und sie werden sagen: »Wer ist denn das, die müssen wir völlig vergessen haben, na, so was!

Aber gut, fegen wir die Knochen und den ganzen Rest in die Ecke, aber die Knöpfe behalten wir, Knöpfe kann man immer brauchen, und es ist nun mal nicht mehr zu ändern.«

Sobald man anfängt, sich selbst leid zu tun, haben sie einen da, wo sie einen haben wollen. Dann schicken sie nach dem Kaplan.

»Oh, komm in meine Arme, du arme, irrende Seele. Im Himmel herrscht mehr Freude über das eine verlorene Schaf. Erleichtere dein sorgenvolles Gemüt. Knie zu meinen Füßen nieder. Ring die Hände in Seelenqual. Beschreib, wie dein Gewissen dich Tag und Nacht quält und wie die Augen deiner Opfer dir überallhin folgen, brennend wie rotglühende Kohlen. Vergieß Tränen der Reue. Beichte, beichte. Laß mich dir verzeihen und Mitleid mit dir haben. Laß mich eine Petition für dich aufsetzen. Erzähl mir alles.

Und was hat er dann getan? Oh, wie schrecklich. Und dann?

Die linke oder die rechte Hand?

Wie hoch genau hat er sie geschoben?

Zeig es mir.«

Ich glaube, ich höre ein Flüstern. Jetzt ist da ein Auge, das mich durch den Schlitz in der Tür anstarrt. Ich kann es nicht sehen, aber ich weiß, daß es da ist. Dann klopft es.

Ich denke, wer könnte das sein? Die Aufseherin? Der Oberaufseher, um mich auszuschimpfen? Nein, von denen kann es keiner sein, weil niemand hier einem die Höflichkeit erweist zu klopfen, sie starren einen nur durch den kleinen Schlitz an und kommen dann einfach herein. »Du mußt immer erst anklopfen«, hat Mary Whitney gesagt. »Und dann wartest du, bis sie Herein sagen. Du kannst schließlich nie wissen, was sie grad treiben, und die Hälfte davon sind Sachen, von denen sie nicht wollen, daß du sie siehst, sie könnten schließlich den Finger in der Nase haben oder Gott weiß wo, weil selbst eine feine Dame das Bedürfnis verspürt, sich zu kratzen, wo es juckt, und falls du zwei Füße unter dem Bett rausgucken siehst, nimmst du am besten keine Notiz davon. Tagsüber mögen sie ja so tun, wie wenn sie was Bessres wären, aber nachts sind alle Katzen grau.«

Mary war eine Person mit demokratischen Ansichten.

Es klopft noch einmal. Als ob ich eine Wahl hätte.

Ich stopfe die Haare unter die Haube, stehe von der Strohmatratze auf und streiche mein Kleid und meine Schürze glatt; dann ziehe ich mich so weit es geht in eine Ecke zurück und sage mit fester Stimme, weil man, falls irgend möglich, immer versuchen sollte, Würde zu wahren:

»Bitte treten Sie ein.«

5.

Die Tür geht auf, und ein Mann kommt herein. Er ist jung, in meinem Alter oder etwas älter, was für einen Mann jung ist, nicht aber für eine Frau, weil eine Frau in meinem Alter eine alte Jungfer ist, aber ein Mann ist erst dann ein alter Hagestolz, wenn er fünfzig ist, und sogar dann gibt es noch Hoffnung für die Damen, wie Mary Whitney immer sagte. Er ist groß, mit langen Beinen und Armen, aber nicht das, was die beiden Töchter des Direktors als gutaussehend bezeichnen würden; sie halten es mehr mit den gelangweilt wirkenden Mannspersonen aus den Zeitschriften, sehr elegant und sehr von oben herab, mit schmalen Füßen in spitzen Stiefeln. Dieser Mann hier hat etwas Energisches an sich, das nicht der Mode entspricht, und außerdem ziemlich große Füße, obwohl er ein Gentleman ist, oder wenigstens so was ähnliches. Ich glaube, er ist kein Engländer, und deshalb ist es schwer zu sagen.

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