All das Ungesagte zwischen uns - Colleen Hoover - E-Book
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All das Ungesagte zwischen uns E-Book

Colleen Hoover

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Beschreibung

»Die Queen hat wieder einen Volltreffer gelandet.« Leserstimme Ein tragischer Unfall verändert von einer Sekunde auf die andere Morgans Leben und entlarvt, dass ihr bisheriges Leben auf Lügen basierte. Gleichzeitig entgleitet ihr ihre Tochter Clara immer mehr: Sie trifft sich heimlich mit einem Jungen, von dem sie weiß, dass ihre Mutter ihn nicht an ihrer Seite sehen möchte. Halt findet Morgan in dieser schweren Zeit ausgerechnet bei dem einen Menschen, bei dem sie keinen Trost suchen sollte ...  

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Seitenzahl: 572

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Über das Buch

Nach einem tragischen Unfall muss Morgan nicht nur den Verlust von zwei geliebten Menschen verkraften, sondern kommt hinter ein albtraumhaftes Geheimnis: Ohne es zu wissen, lebte sie seit Jahren in einem Lügengebäude. Morgans einziges Bestreben ist es nun, zumindest für ihre 16-jährige Tochter Clara die Erinnerung an glückliche Zeiten aufrecht zu erhalten. Doch je mehr sie sich um das Wahren der Fassade bemüht, desto mehr entgleitet ihr die Beziehung zu ihrer eigenen Tochter …

Unglaublich intensiv, absolut mitreißend und schonungslos ehrlich – typisch Colleen Hoover!

COLLEEN HOOVER

ALL DAS UNGESAGTE ZWISCHEN UNS

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Katarina Ganslandt

 

 

 

 

Für die brillante und faszinierende Scarlet Reynolds

 

Ich freue mich jetzt schon auf den Moment, in dem du dieser Welt zeigst, was du draufhast.

Kapitel 1MORGAN

Gibt es das nur bei uns Menschen oder kennen auch andere Lebewesen das Gefühl, innerlich leer zu sein?

Wie kann es sein, dass in mir all das ist, woraus Körper so bestehen – Knochen, Muskeln, Blut, Organe –, und ich trotzdem das Gefühl habe, man könnte mir in den Mund brüllen und das Echo würde von den Wänden meines Brustkorbs widerhallen?

So geht das jetzt schon seit Wochen. Ich hatte gehofft, es würde von selbst wieder verschwinden, aber allmählich fange ich an, mir Sorgen zu machen. Eigentlich fehlt mir in meinem Leben nichts. Ich bin jetzt schon seit fast zwei Jahren mit einem sehr süßen Jungen zusammen, und wenn ich die paar Situationen nicht mitzähle, in denen sich Chris wie eine unreife Knalltüte aufführt (meistens in Verbindung mit Alkohol), ist er genau der Freund, den sich jedes Mädchen wünscht: fröhlich, witzig, sieht gut aus, liebt seine Mutter und weiß, was er will. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese innere Leere etwas mit ihm zu tun hat.

Dann habe ich auch noch Jenny – meine ein Jahr jüngere Schwester und gleichzeitig beste Freundin. Ich liebe sie über alles, obwohl sie das komplette Gegenstück zu mir ist. Jenny ist spontan, sagt immer, was sie denkt, und hat ein herzhaftes Lachen, um das ich sie beneide. Ich bin zurückhaltender als sie und finde, mein Lachen klingt manchmal ein bisschen gepresst.

Wir machen immer Witze darüber, wie gegensätzlich wir sind und dass wir uns wahrscheinlich nicht ausstehen könnten, wenn wir keine Schwestern wären. Jenny fände mich todlangweilig, und mir würde ihre laute Art auf die Nerven gehen, aber weil unser Altersabstand so gering ist und wir immer schon ein Superteam waren, fühlt es sich für uns eher an, als würden wir uns gegenseitig ergänzen. Klar haben wir unsere Reibereien, aber wir vertragen uns auch schnell wieder. In letzter Zeit machen wir sogar noch mehr miteinander als sonst, weil sie seit Kurzem mit Chris’ bestem Freund Jonah zusammen ist. Die beiden waren im Jahrgang über mir und haben gerade ihren Abschluss gemacht. Seit Beginn der Sommerferien sind wir praktisch ständig im Viererpack unterwegs.

Hat dieses Gefühl der inneren Leere womöglich was mit meiner Mutter zu tun? Aber ich wüsste nicht, warum sie mir auf einmal fehlen sollte. Sie spielt schon lange keine wirkliche Rolle mehr in unserem Alltag. Ich habe mich damit abgefunden, dass Jenny und ich in der Elternlotterie nicht das große Los gezogen haben. Seit dem Tod unseres Vaters vor fünf Jahren ist Mom in unserem Leben praktisch nicht mehr vorhanden. Am Anfang war ich noch wütend, dass ich für Jenny quasi die Mutterrolle übernehmen musste, aber mittlerweile ist das okay für mich. Im Gegenteil, je älter ich werde, desto angenehmer finde ich es, dass da niemand ist, der sich ständig einmischt, uns vorschreibt, wann wir zu Hause sein sollen, und sich Sorgen um uns macht. Mit siebzehn habe ich Freiheiten, von denen andere in meinem Alter nur träumen. Es ist echt merkwürdig. In meinem Leben hat sich in letzter Zeit nichts verändert, was dieses Gefühl erklären könnte.

Oder ist da womöglich doch irgendwas, und ich habe nur Angst, mich damit auseinanderzusetzen …?

»Ich hab Hank getroffen«, unterbricht Jenny vom Beifahrersitz aus meine Grübeleien. Jonah fährt und Chris und ich sitzen hinten. Ich hatte aus dem Fenster in die Dunkelheit gestarrt, jetzt sehe ich meine Schwester an, die sich mit leuchtenden Augen zu uns umdreht. Heute sieht sie ganz besonders süß aus. Sie hat sich eins von meinen Maxi-Kleidern geliehen und ist nur ganz wenig geschminkt. Ich habe mich noch nicht so richtig daran gewöhnt, dass die sechzehnjährige Jenny so ganz anders ist als die fünfzehnjährige. »Er hat versprochen, uns für heute Abend was zu besorgen.«

Chris hebt grinsend die Hand und Jenny klatscht ihn ab. Ich sehe wieder aus dem Fenster und verbeiße mir jeden Kommentar. Ich weiß nicht, wie ich es finde, dass meine Schwester seit Neuestem kifft. Natürlich habe ich auch schon mal an einem Joint gezogen, aber Jenny ist erst sechzehn und konsumiert auf Partys fröhlich so ungefähr alles, was ihr angeboten wird. Das ist der Hauptgrund, warum ich mich meistens zurückhalte. Als die Ältere von uns beiden fühle ich mich für sie verantwortlich. Übrigens auch für Chris, der beim Feiern genauso einen Babysitter braucht. Der Einzige hier, auf den ich nicht aufpassen muss, ist Jonah. Nicht weil er nie trinken oder kiffen würde, aber irgendwie schafft er es immer, halbwegs vernünftig zu bleiben, egal, was er intus hat. Jonah ist der ausgeglichenste Mensch, dem ich je begegnet bin. Ich habe noch nie erlebt, dass er sich in irgendeiner Weise extrem verhalten hätte. Er bleibt ruhig, wenn er getrunken hat. Er bleibt ruhig, wenn er was geraucht hat. Er bleibt ruhig, wenn er feiert. Und selbst wenn ihn irgendwas wütend macht, bleibt er ruhig.

Chris und er sind schon von klein auf beste Freunde und so was wie die männlichen Ausgaben von mir und Jenny – in umgekehrter Paarung. Chris und Jenny machen Party, Jonah und ich sind ihre Sidekicks im Hintergrund.

Für mich ist das völlig okay. Ich verschmelze lieber mit der Tapete und gucke anderen Leuten zu, wie sie auf Tische klettern, als diejenige zu sein, die von allen angestarrt wird.

»Der Typ wohnt aber ganz schön weit weg«, sagt Jonah.

»So weit auch nicht«, widerspricht Chris. »Es sind nur noch etwa fünf Meilen.«

»Okay, vielleicht von hier aus. Ist aber trotzdem ein ziemlich langer Rückweg. Wer übernimmt den Fahrdienst?«, erkundigt sich Jonah.

»Ich nicht!«, rufen Jenny und Chris gleichzeitig. Jonah wirft mir im Rückspiegel einen Blick zu. Wir sehen uns an, nicken kurz, und damit ist geklärt, dass er heute nüchtern bleiben wird. Aus irgendeinem Grund klappt das mit der wortlosen Verständigung zwischen uns schon immer reibungslos. Vielleicht hat es was damit zu tun, dass wir uns so ähnlich sind und dadurch oft die gleichen Gedanken haben. Jenny und Chris haben von unserem Austausch wie üblich nichts mitbekommen. Stumme Kommunikation ist nicht ihr Ding. Sie platzen immer sofort mit allem raus, was ihnen durch den Kopf schießt, auch in Situationen, in denen es klüger wäre, den Mund zu halten.

Chris greift nach meiner Hand. Als ich mich ihm zuwende, beugt er sich vor und gibt mir einen Kuss. »Du siehst toll aus heute«, raunt er.

Ich lächle. »Danke. Du siehst aber auch nicht übel aus.«

»Schläfst du nachher bei mir?«

Bevor ich etwas sagen kann, hat Jenny sich schon zu uns umgedreht und beantwortet die Frage für mich. »Sorry, aber sie darf mich heute nicht unbeaufsichtigt lassen. Ich bin noch minderjährig und werde in den nächsten vier Stunden eine Menge Alkohol und vielleicht auch das eine oder andere illegale Rauschmittel zu mir nehmen. Wer soll mir heute Nacht beim Kotzen die Haare aus dem Gesicht halten, wenn sie bei dir übernachtet?«

Chris zuckt mit den Schultern. »Jonah?«

Jenny lacht. »Jonahs Spießereltern erwarten, dass er um Punkt Mitternacht brav zu Hause ist. Das weißt du doch genau.«

»Jonah geht bald aufs College«, sagt Chris, als säße sein Freund nicht mit im Wagen und würde jedes Wort mitkriegen. »Höchste Zeit, wie ein echter Mann mal eine ganze Nacht wegzubleiben.«

Jonah ignoriert, dass über ihn gesprochen wird, und biegt bei einer Tankstelle ein. »Sollen wir noch irgendwas für die Party besorgen? Chips? Cola? Süßigkeiten?«

»Ich organisiere uns ein paar Bier«, sagt Chris.

Ich muss lachen. »Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass die dir Alkohol verkaufen.«

Chris grinst. Meine Bemerkung stachelt ihn natürlich erst recht an. Er steigt aus und schlendert zum Tankstellenshop, während Jonah nach der Zapfpistole greift. In der Mittelkonsole liegt die übliche Tüte Jolly Ranchers, und ich nehme mir eins von denen mit Wassermelonengeschmack, die Jonah immer übrig lässt, obwohl mir unbegreiflich ist, wie man sie nicht mögen kann. Das sind mit Abstand die besten.

Jenny schnallt sich ab und kommt zu mir auf die Rückbank geklettert. Sie zieht die Beine unter sich und verkündet mit blitzenden Augen: »Ich hab mir übrigens vorgenommen, heute mit Jonah zu schlafen.«

Ich sehe sie überrascht an. Plötzlich ist keine Leere mehr in mir; stattdessen fühle ich mich so schwer, als wäre mein Brustkorb mit Wasser gefüllt. »Bist du sicher? Du bist doch gerade erst sechzehn geworden.«

»Ja, eben. Genauso alt wie du, als du das erste Mal mit Chris geschlafen hast.«

»Aber da waren wir nicht erst seit zwei Monaten zusammen. Und ich bereue inzwischen, dass wir das nicht besser geplant haben. Er hat nach Tequila gestunken, ich war überhaupt nicht locker, und nach einer Minute war alles vorbei.« Ich stocke kurz, weil ich ihn nicht schlechtmachen will. »Seitdem hat er dazugelernt.«

Jenny lacht, dann lässt sie sich mit einem Seufzen ins Polster sinken. »Du solltest mich dafür loben, dass ich zwei Monate abgewartet habe.«

Mir wäre es lieber, sie würde noch ein Jahr warten oder am besten fünf. Wobei ich mich über mich selbst wundere. Sie hat ja recht – ich war bei meinem ersten Mal genauso jung wie sie jetzt. Und wenn sie schon unbedingt Sex haben muss, sollte es mich eher beruhigen, dass sie sich jemanden ausgesucht hat, von dem ich weiß, dass er einer von den Guten ist. Jonah ist wirklich der anständigste Typ, den man sich nur vorstellen kann. Obwohl schon seit einer Weile klar war, dass sich die beiden toll finden, ist er mit Jenny erst zusammengekommen, als sie sechzehn war. Für sie war das bestimmt frustrierend, aber ich fand es irgendwie cool von ihm.

Ich seufze. »Es gibt nur ein einziges erstes Mal, Jenny. Ich würde mir einfach für dich wünschen, dass du dich nicht betrunken auf irgendeiner Party in einem fremden Haus in einem fremden Bett entjungfern lässt.«

Jenny neigt den Kopf, als würde sie tatsächlich darüber nachdenken. »Na gut, dann machen wir es vielleicht im Auto.«

Ich lache laut auf. Aber nicht, weil ich das lustig finde, sondern weil sie sich über mich lustig macht. Chris und ich haben nämlich in einem Auto zum ersten Mal miteinander geschlafen. Zusammengequetscht auf der engen Rückbank im Audi seines Vaters, um genau zu sein. Absolut unspektakulär und unromantisch. Mittlerweile haben wir zwar besseren Sex, aber ich wäre froh, wenn ich an unser erstes Mal mit schöneren Erinnerungen zurückdenken könnte.

Am liebsten würde ich gar nicht daran zurückdenken. Und auch nicht darüber reden. Das ist ein Grund, warum es schwierig ist, die beste Freundin meiner jüngeren Schwester zu sein. Ich will mich für Jenny mitfreuen und möchte, dass sie mir alles bis ins letzte Detail erzählt. Und gleichzeitig habe ich das Bedürfnis, sie davor zu bewahren, dieselben Fehler zu machen wie ich. Für sie soll alles perfekt laufen.

»Okay.« Ich gebe mir größte Mühe, nicht zu muttermäßig rüberzukommen. »Aber wenn es wirklich heute Nacht passieren soll, versuch wenigstens, nüchtern zu bleiben, ja?«

Jenny verdreht die Augen und klettert wieder nach vorn auf den Beifahrersitz, als Jonah die Tür öffnet.

Chris ist mittlerweile auch zurück. Ohne Bier. Er rutscht auf die Rückbank, knallt die Tür zu und verschränkt die Arme vor der Brust. »Scheiß auf mein Babyface.«

Ich lache und streiche ihm über die Wange. »Ich mag dein Babyface.«

»Zum Glück.« Er beugt sich zu mir, um mich zu küssen, aber dann richtet er sich wieder auf und legt Jonah eine Hand auf die Schulter. »Versuch du es noch mal.« Er zieht ein paar Dollarscheine aus der Jacke und hält sie ihm hin.

»Meinst du nicht, dass es auf der Party genug Bier gibt?«, fragt Jonah.

»Hallo? Das ist die größte Abschlussparty des Jahres. Unser kompletter Jahrgang kommt und alle sind minderjährig. Glaub mir, wir müssen vorsorgen.«

Jonah greift widerstrebend nach dem Geld und steigt aus. Jetzt küsst Chris mich, diesmal mit Zunge. »Mhm? Was hast du im Mund?«

Ich zerbeiße das Bonbon. »Jolly Rancher. Wassermelone.«

»Gib mir was ab.« Er nähert sich wieder meinen Lippen.

Jenny stöhnt vorne laut auf. »Boah, widerlich.«

Chris zieht sich grinsend mit einem Bonbonsplitter im Mund zurück, den er krachend zerbeißt. »Komisch, dass die Party erst heute ist, oder?«, sagt er. »Mir ist es eigentlich egal, aber die Zeugnisübergabe ist immerhin schon sechs Wochen her. Bisschen spät, oder?«

»Vier Wochen«, sage ich.

»Sechs«, wiederholt er. »Heute ist der 11. Juli.«

Sechs?

Jeder Muskel in meinem Körper erstarrt. Ich versuche, mir vor Chris nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich schockt, was er gerade gesagt hat.

Es kann keine sechs Wochen her sein. Oder?

Wenn es aber doch sechs Wochen her ist, dann bedeutet das, dass ich … zwei Wochen überfällig bin.

Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Das Auto wackelt, als der Kofferraum geöffnet wird. Wir drehen uns um. Jonah schlägt die Klappe wieder zu, kommt um den Wagen rum und setzt sich mit einem selbstzufriedenen Lächeln hinters Steuer.

»Schweinerei«, brummt Chris und schüttelt den Kopf. »Sie hat dich nicht nach deinem Ausweis gefragt?«

Jonah startet den Wagen und fährt los. »Sie hat eben gleich erkannt, dass ich ein echter Mann bin, mein Freund.« Er greift über die Konsole nach Jennys Hand.

Ich sehe zum Fenster hinaus, mein Magen ist verknotet, meine Hände sind feucht und mein Herz klopft zu schnell, während ich stumm an den Fingern die Tage abzähle.

Ich weiß genau, dass ich am Tag der Zeugnisübergabe meine Periode hatte, weil Chris so enttäuscht darüber war, dass ich nicht mit ihm schlafen wollte. Ich war überzeugt gewesen, das wäre erst einen Monat her. Aber wir vier haben in den Ferien so viel unternommen, dass ich jedes Zeitgefühl verloren habe.

Zwölf Tage. Ich bin zwölf Tage drüber.

###

Auf der Party kann ich an nichts anderes denken. Am liebsten würde ich mir Jonahs Wagen leihen, um zur nächsten Nachtapotheke zu fahren und mir einen Schwangerschaftstest zu besorgen, aber dann würde er wissen wollen, wo ich hinwill. Und Jenny und Chris würden sich natürlich auch fragen, wo ich abgeblieben bin. Stattdessen muss ich den ganzen Abend inmitten einer Soundkulisse verbringen, die so laut dröhnt, dass ich das Vibrieren der Bässe in meinen Knochen spüre. Überall drängen sich verschwitzte Menschen, es gibt keine ruhige Ecke. Ich habe Angst, nur einen einzigen Schluck zu trinken. Bisher habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, was ich tun würde, wenn ich schwanger wäre, weshalb ich nicht besonders gut informiert bin. Ist Alkohol in einem so frühen Stadium schon schädlich? Egal. Falls tatsächlich ein Kind in mir wächst, will ich auf gar keinen Fall etwas machen, was ihm schaden könnte.

Gott, ich kann das alles echt nicht glauben.

»Morgan! Hey, Morgan!«, brüllt Chris quer durch den Raum und winkt mich zu sich. Er steht neben einem anderen Typen auf dem Tisch. Table Shots. Na toll, das ist sein Lieblingstrinkspiel und eine dieser Situationen, in denen ich meinen Freund lieber nicht erleben würde. Die beiden müssen auf einem Bein balancierend Shots trinken, bis einer das Gleichgewicht verliert. Bevor ich mich durchs Gewühl zu ihnen durchgekämpft habe, kippt der andere um und Chris rammt die Siegerfaust in die Luft. Als ich bei ihm bin, springt er vom Tisch, legt einen Arm um mich und zieht mich an sich.

»Trink und sei lustig!«, sagt er und hält mir ein Glas an die Lippen. »Sei keine Langweilerin.«

Ich schiebe das Glas weg. »Ich bin heute Fahrerin und trinke nichts.«

»Stimmt nicht, Jonah fährt. Du kannst dich locker machen.« Chris hält mir das Glas wieder hin, aber ich schiebe es ein zweites Mal weg.

»Jonah hat mich gebeten zu fahren«, lüge ich.

Chris schaut sich um. Ich folge seinem Blick und sehe auf der Couch neben uns Jonah mit Jenny, die rittlings auf ihm sitzt und ihre Beine um seine Hüften geschlungen hat. »Du bist doch heute unser Fahrer, oder?«, ruft Chris ihm zu.

Jonah blickt kurz zu mir, bevor er antwortet. Es ist nur ein ultrakurzer stummer Austausch. Er neigt leicht verwundert den Kopf, versteht aber sofort. »Bin ich nicht«, sagt er zu Chris. »Siehst du doch. Ich lasse es mir gut gehen.«

Chris lässt die Schultern hängen und schaut mich wieder an. »Dann muss ich eben allein Spaß haben.«

Ich versuche, mir seine Worte nicht zu nah gehen zu lassen, aber das fällt mir schwer. »Willst du damit sagen, dass du keinen Spaß mit mir hast, wenn ich nüchtern bin?«

»Doch, schon, aber mit der Nicht-nüchternen-Morgan hätte ich definitiv mehr Spaß.«

Ich schlucke trocken. Wow. Aber er ist betrunken, deswegen verzeihe ich ihm den blöden Kommentar erst mal. Ich habe weder Lust noch Nerven, mit ihm zu streiten. Mir gehen gerade wichtigere Dinge durch den Kopf.

Ich klatsche ihm mit beiden Händen auf die Brust. »Tja, die Nicht-nüchterne-Morgan kann heute Abend leider nicht hier sein, also musst du dir deinen Spaß wohl woanders suchen.«

Genau in diesem Moment packt der Typ von eben Chris am Arm und zieht ihn zum Tisch zurück. »Los, Alter. Rückspiel!«, grölt er.

Nachdem mein Nüchternheitsgrad nicht mehr Thema ist, nutze ich die Chance, vor Chris, dem Lärm und den vielen Menschen zu fliehen. Als ich auf die Terrasse trete, wird es schlagartig ruhiger. Die frische Luft, die mir entgegenweht, tut gut. Obwohl sich im Pool gerade ein Pärchen vergnügt und ich mir ziemlich sicher bin, dass die beiden Sachen machen, die aus Hygienegründen in einem Schwimmbecken eher verboten gehörten, finde ich es hier draußen viel angenehmer als im Haus. Ich rücke einen der Gartenstühle so hin, dass ich die zwei nicht sehen muss, setze mich und lehne mich mit geschlossenen Augen zurück. Die nächsten Minuten bemühe ich mich, jeden Gedanken daran zu unterdrücken, ob sich bei mir in letzter Zeit irgendwelche Schwangerschaftssymptome gezeigt haben und was das alles für meine Zukunft bedeuten würde.

Jemand zieht einen Stuhl über den Betonboden zu mir, aber ich will meine Augen jetzt nicht öffnen. Hoffentlich ist das nicht Chris. So betrunken, wie er ist, könnte ich ihn gerade nicht ertragen. Selbst Jenny in ihrer durch Fruit-Punch und Gras angefeuerten Sechzehnjährigkeit wäre mir jetzt zu viel.

»Alles okay bei dir?«

Als ich Jonahs Stimme erkenne, atme ich erleichtert aus. Ich drehe ihm den Kopf zu, mache die Augen auf und lächle. »Ja. Mir geht’s gut.«

Es ist deutlich zu erkennen, dass er mir das nicht abnimmt, aber das ist mir egal. Ich werde ihm ganz bestimmt nicht erzählen, dass ich überfällig bin, weil es ihn a) nichts angeht, ich b) nicht mal weiß, ob ich wirklich schwanger bin, und c) Chris der Erste sein sollte, der es erfährt, falls es so ist.

»Danke, dass du mir Rückendeckung gegeben hast«, sage ich. »Ich bin heute irgendwie nicht in Partystimmung.«

Jonah nickt verständnisvoll und hält mir einen der zwei Plastikbecher hin, die er mitgebracht hat. »Ist bloß Cola«, sagt er. »In einer der Kühltaschen hab ich ganz unten noch eine Dose entdeckt.«

Ich greife danach, trinke einen Schluck und lehne den Kopf wieder zurück. Cola schmeckt tausendmal besser als jeder Alkohol. »Wo steckt Jenny?«

Jonah nickt in Richtung Haus. »Balanciert einbeinig auf dem Tisch und trinkt Shots. Ich hab den Anblick nicht ertragen.«

Ich stöhne. »Gott, wie ich dieses Spiel hasse.«

Jonah lacht. »Warum sind wir eigentlich beide mit Leuten zusammen, die das komplette Gegenteil von uns selbst sind?«

»Du weißt doch. Gegensätze ziehen sich an.«

Jonah reagiert darauf nur mit einem Schulterzucken, was ich ein bisschen merkwürdig finde. Er sieht mich einen Moment lang an, dann schaut er weg. »Ich hab mitbekommen, was Chris zu dir gesagt hat. Keine Ahnung, ob du deswegen allein hier draußen sitzt, aber ich hoffe, du weißt, dass er das nicht so gemeint hat. Er ist bloß betrunken. Auf Partys vergisst er sich schnell mal, du kennst ihn ja.«

Ich finde es süß, dass Jonah ihn verteidigt. Auch wenn Chris manchmal ein bisschen unsensibel sein kann, wissen Jonah und ich, dass er ein größeres Herz hat als wir beide zusammen. »Ich würde nicht damit klarkommen, wenn er immer so wäre, aber das ist eure große Abschlussparty. Ich verstehe schon, dass er heute so richtig feiern will und sich wünscht, ich würde mitmachen. Er hat ja recht: Mit der Nicht-nüchternen-Morgan hat man mehr Spaß.«

Jonah sieht mich scharf an. »Der Meinung bin ich nicht.«

Ich wende den Blick ab und starre in den Becher in meiner Hand. Aus irgendeinem Grund passiert gerade etwas in mir, das mich nervös macht. Mein Brustkorb weitet sich und das Vakuum füllt sich mit Wärme und Vibration und Herzschlag. Das fühlt sich gut an und beunruhigt mich gleichzeitig, weil ich plötzlich eine dumpfe Ahnung habe, warum ich mich in den letzten Wochen oft so unausgefüllt gefühlt haben könnte.

Jonah.

Wenn wir allein sind, sieht er mich manchmal auf eine Art an, die in mir schlagartig ein Gefühl der Leere zurücklässt, sobald er wieder wegsieht. Wenn Chris mich anschaut, geht es mir nie so.

Diese Erkenntnis macht mir Angst.

Bis vor Kurzem kannte ich dieses warme Gefühl nicht, aber seit ich es immer häufiger erlebe, ist es, als würde ein Loch in mir klaffen, wenn ich es nicht spüre. Ich stütze mein Gesicht in beide Hände. Was für eine Scheiße. Das kann nicht sein, oder? Als würde etwas in mir die ganze Zeit nach einem fehlenden Teil suchen und ausgerechnet Jonah Sullivan wäre derjenige, der es in der Hand hält.

Ich stehe schnell auf. Ich muss weg von ihm. Ich liebe Chris, und es macht mich total unruhig, solche Gedanken zu haben, wenn ich mit seinem besten Freund allein bin. Natürlich könnte meine Unruhe auch am Koffein in der Cola liegen.

Oder an der Angst, schwanger zu sein.

Vielleicht hat es ja gar nichts mit Jonah zu tun.

Kaum bin ich aufgestanden, steht plötzlich Chris vor mir, schlingt beide Arme um mich und zieht mich mit sich in den Pool. Ich bin sauer und erleichtert zugleich, weil ich es keine Sekunde länger neben Jonah ausgehalten hätte. Dafür versinke ich jetzt im tiefen Ende des Beckens, obwohl ich nicht die geringste Absicht hatte, heute Abend komplett angezogen ins Wasser zu springen.

Chris und ich kommen gleichzeitig keuchend an die Oberfläche, aber bevor ich ihn anbrüllen kann, hat er mich auch schon an sich gezogen und küsst mich wild. Und ich mache mit, weil ich mich dringend ablenken muss.

»Wo ist Jenny?« Chris und ich heben den Blick zum Beckenrand, wo Jonah steht und ein bisschen genervt aussieht.

»Woher soll ich das wissen?«, sagt Chris.

Jonah stöhnt auf. »Ich hab dir doch gesagt, dass du auf sie aufpassen sollst. Sie ist betrunken.« Er geht zum Haus, um nach ihr zu suchen.

»Ich bin auch betrunken«, verteidigt sich Chris. »Man darf einen Betrunkenen niemals bitten, auf andere Betrunkene aufzupassen!« Er greift nach meiner Hand und schwimmt ein paar Züge, bis er wieder Boden unter den Füßen hat. Den Rücken gegen die Beckenwand gedrückt, zieht er mich an sich, legt sich meine Arme um den Nacken und umschlingt meine Taille. »Tut mir leid, dass ich das vorhin gesagt habe. Ich finde dich nie langweilig, Morgan. Egal, ob nüchtern oder nicht.«

Es erleichtert mich, dass er wenigstens gemerkt hat, wie daneben seine Bemerkung war.

»Ich wollte bloß, dass du heute Abend Spaß hast. Ich hab nicht das Gefühl, dass du welchen hast.«

»Jetzt schon.« Ich ringe mir ein Lächeln ab, weil er nicht merken soll, wie es in mir arbeitet. Aber ganz egal, wie sehr ich es zu verdrängen versuche – ich werde an nichts anderes denken können, bis ich Bescheid weiß. Ich mache mir Sorgen. Um mich, um ihn, um unsere Beziehung, um das Baby, das wir womöglich in die Welt setzen, bevor wir wirklich dafür bereit sind. Wir können uns gar kein Kind leisten. Wir sind nicht vorbereitet. Ich weiß noch nicht mal, ob Chris überhaupt der Mann ist, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen möchte. Und zumindest in diesem Punkt sollte man sich doch absolut sicher sein, bevor man zusammen einen neuen Menschen zeugt.

»Weißt du, was ich am liebsten an dir mag?«, fragt Chris. Meine Bluse treibt an der Wasseroberfläche, er zieht sie nach unten und steckt den Saum in den Bund meiner Jeans. »Du bist eine Aufopferin. Keine Ahnung, ob es das Wort überhaupt gibt, aber das beschreibt dich total. Du tust Sachen, die du eigentlich gar nicht tun willst, nur um den Menschen um dich herum das Leben schöner zu machen. Zum Beispiel, dass du heute nichts trinkst, um uns nach Hause zu fahren. Du bist kein bisschen langweilig – du bist meine Heldin!«

Ich lache. Wenn Chris betrunken ist, bekomme ich immer die kitschigsten Komplimente von ihm. Manchmal mache ich mich darüber lustig, aber in Wirklichkeit finde ich das total süß.

»Jetzt musst du aber auch sagen, was du an mir am liebsten magst«, sagt er.

»Hm …« Ich starre in die Ferne, als müsste ich angestrengt nachdenken, und er kneift mich spielerisch in die Seite.

»Ich mag es, dass ich mit dir so viel Spaß habe«, sage ich. »Du bringst mich sogar dann zum Lachen, wenn ich sauer auf dich sein sollte.« Als Chris lächelt, bildet sich in seinem Kinn ein Grübchen. Er hat ein so umwerfendes Lächeln. Falls ich schwanger bin und wir dieses Kind zusammen bekommen, wird es hoffentlich wenigstens Chris’ Lächeln erben. Das ist das einzig Gute, was mir im Moment dazu einfällt.

»Was noch?«, fragt er.

Ich lege den Zeigefinger auf sein Grübchen und will ihm eigentlich sagen, wie sehr ich sein Lächeln liebe, aber heraus kommt etwas ganz anderes. »Ich glaube, dass du eines Tages ein toller Vater sein wirst.«

Ich weiß nicht, warum ich das sage. Vielleicht, um seine Reaktion zu testen. Er lacht. »Worauf du dich verlassen kannst. Clara wird mich über alles lieben.«

»Clara?«

»Meine zukünftige Tochter. Ich weiß schon, wie sie heißen soll. Der Name für einen Jungen ist noch in Arbeit.«

Ich verdrehe die Augen. »Und was ist, wenn deine zukünftige Frau diesen Namen schrecklich findet?«

Chris’ Hände gleiten meinen Hals hinauf und umfassen mein Gesicht. »Tust du nicht.« Er küsst mich. Und obwohl sein Kuss mich nicht so erfüllt, wie es Jonahs Blick manchmal tut, durchströmt mich in diesem Moment ein tröstliches Gefühl. Chris schafft es, mich zu beruhigen. Durch seine Worte. Durch seine Liebe zu mir.

Auch wenn der Schwangerschaftstest morgen meine Befürchtungen bestätigen sollte, eins weiß ich genau: Chris wird immer fest an meiner Seite stehen, ganz egal, welche Entscheidung ich treffe. So ist er einfach.

»Leute? Ich glaub, wir fahren jetzt lieber«, ertönt Jonahs Stimme.

Chris und ich lösen uns voneinander.

Jonah steht wieder am Pool und hält Jenny, die sich stöhnend an ihn klammert.

»Ich hab ihr noch gesagt, dass sie bei den Table Shots nicht mitmachen soll«, brummt Chris. Er stemmt sich am Beckenrand hoch, hievt sich aus dem Wasser und hält mir die Hand hin, um mir rauszuhelfen. Wir wringen unsere Klamotten aus und gehen ums Haus herum zu Jonahs Wagen. Zum Glück hat er Ledersitze. Ich setze mich hinters Steuer, weil Chris ja davon ausgeht, dass Jonah getrunken hat. Jonah steigt mit Jenny hinten ein. Sobald wir losgefahren sind, klickt sich Chris durch die Radiosender.

Als er auf »Bohemian Rhapsody« stößt, dreht er den Ton auf und grölt mit. Jonah fällt ein paar Sekunden später mit ein.

Und sogar ich mache mit. Diesen Song kann man einfach nicht hören, ohne laut mitzusingen. Selbst wenn man erst siebzehn ist, höllische Angst davor hat, womöglich schwanger zu sein, und Gefühle für jemanden auf der Rückbank hat, die man nur für denjenigen haben sollte, der neben einem sitzt.

Kapitel 2CLARA

Siebzehn Jahre später

Als ich zur Beifahrerseite schaue, sehe ich auf dem Lederpolster irgendwelche bräunlichen Krümel kleben. Eklig. Ich werfe meinen Rucksack auf die Rückbank zu der zerknüllten McDonald’s-Tüte und den beiden leeren Wasserflaschen und versuche, die Krümel so gut wie möglich abzuschaben. Wahrscheinlich sind sie von letzter Woche, als Lexie Banana Bread im Auto gegessen hat. Oder von dem Bagel, den sie heute Morgen auf dem Weg zur Schule gefrühstückt hat.

Im Fußraum liegen ein paar zerknitterte Klassenarbeiten. Als ich mich danach bücke, macht der Wagen einen Schlenker nach rechts Richtung Straßengraben. Erschrocken richte ich mich wieder auf und beschließe, die Arbeiten liegen zu lassen. So wichtig ist mir ein aufgeräumter Wagen dann doch nicht, dass ich dafür mein Leben riskiere.

Beim nächsten Stoppschild nutze ich die Zeit, um noch mal gründlich nachzudenken, was ich tun soll. Fahre ich wie geplant nach Hause, wo meine Eltern gerade Moms Geburtstagsessen vorbereiten … oder gebe ich meinem Impuls nach, wende und fahre noch mal den Hügel rauf, wo Miller Adams eben am Straßenrand stand.

Miller hat mich zwar das ganze Schuljahr über quasi keines Blickes gewürdigt, aber ich kann jemanden, den ich zumindest vom Sehen kenne, nicht in dieser Höllenhitze draußen stehen lassen, egal, wie scheiße er mich vielleicht findet. Es sind mindestens achtunddreißig Grad. Obwohl die Klimaanlage im Wagen auf Hochtouren läuft, rinnen mir Schweißtropfen den Rücken hinunter und in das BH-Band.

Lexie wirft ihre BHs immer erst nach einer Woche in die Wäsche. Sie sagt, sie würde schließlich jeden Tag duschen und Deo benutzen, das müsste reichen. Für mich wäre schon ein zwei Tage hintereinander getragener BH fast so schlimm, als würde ich eine Unterhose zweimal anziehen.

Jetzt rächt sich, dass ich an die Sauberkeit meines Wagens nicht dieselben Standards anlege wie an die meiner BHs. Ich schnuppere. Riecht auch ziemlich muffig hier drin. Soll ich ein bisschen von dem Deo versprühen, das ich im Handschuhfach immer dabeihabe? Aber dann würde mein Wagen nach Deo riechen, wenn ich jetzt wende und Miller Adams anbiete, ihn mitzunehmen, und ich weiß nicht, was peinlicher ist: ein müffelndes Auto oder eins, in dem es riecht, als hätte jemand Deo versprüht, um irgendein Müffeln zu überdecken.

Als ob es wichtig wäre, was Miller Adams für einen Eindruck von mir hat. Im Gegenteil sollte es mir komplett egal sein, was ein Typ, der offensichtlich nichts mit mir zu tun haben will, von mir oder meinem Wagen hält.

Komischerweise ist es mir nicht egal.

Ich habe Lexie nie davon erzählt, weil es mir irgendwie peinlich ist, aber Anfang des Schuljahres haben Miller und ich nebeneinanderliegende Schließfächer zugeteilt bekommen. Nach der zweiten Stunde ist mir aufgefallen, dass Charlie Banks seine Sachen dort eingeräumt hat. Als ich ihn gefragt habe, ob die Schulverwaltung die Schließfächer noch mal neu verteilt hätte, sagte er, Miller hätte ihm zwanzig Dollar geboten, wenn er mit ihm das Schließfach tauscht.

Vielleicht hatte das ja gar nichts mit mir zu tun, aber ich habe es persönlich genommen. Wobei ich keine Ahnung habe, was ich getan haben könnte, dass er mich so hasst. Ich gebe mir Mühe, es nicht an mich ranzulassen, aber das klappt nicht so gut. Ich mag es nicht, dass er mich nicht mag, und deswegen werde ich garantiert nicht achtlos an ihm vorbeifahren und den negativen Eindruck, den er ja anscheinend von mir hat, auch noch bestätigen. Ich bin nämlich nett, verdammt! Ich bin nicht der furchtbare Mensch, für den er mich offensichtlich hält.

Also wende ich. Miller soll seine Meinung über mich gefälligst ändern, auch wenn meine Nettigkeit in diesem Fall rein eigennützige Gründe hat.

Als ich den Hügel wieder hochfahre, steht Miller immer noch auf Höhe eines Verkehrsschilds am Straßenrand und schaut auf sein Handy. Sein Auto ist nirgends zu sehen, aber joggen ist er garantiert nicht. Er hat nämlich eine Jeans und ein schwarzes T-Shirt an. Schon eines dieser Kleidungsstücke würde bei diesen Temperaturen reichen, um an einem Kreislaufkollaps zu sterben, in Kombination bedeuten sie das sichere Todesurteil. Selbstmordversuch durch Hitzschlag? Ziemlich eigenwillige Methode, aber das muss natürlich jeder für sich entscheiden.

Ich wende und parke auf dem Seitenstreifen der frisch asphaltierten Fahrbahn, die schon seit ein paar Wochen verbreitert wird. Miller steht ungefähr zwei Meter von mir entfernt, sodass ich deutlich das Lächeln auf seinem Gesicht sehen kann, als er sein Handy hinten in die Jeans schiebt und mich ansieht.

Ich weiß nicht, ob ihm bewusst ist, was es mit einem Menschen anrichten kann, wenn er ihm Interesse schenkt (oder eben verweigert). Der Blick, mit dem er einen anschaut, gibt einem das Gefühl, als wäre man das faszinierendste Wesen, das er je gesehen hat. Und irgendwie schafft er es, die Wirkung dieses Blicks durch seine gesamte Körperhaltung noch zu verstärken. Er beugt sich vor, er zieht die Augenbrauen mitfühlend zusammen, er nickt, hört konzentriert zu, er lacht, er runzelt die Stirn. Was in seinem Gesicht passiert, wenn ihm jemand etwas erzählt, ist total fesselnd. Manchmal beobachte ich ihn von Weitem, während er mit anderen Leuten redet – und beneide sie insgeheim dafür, dass er ihnen seine volle Aufmerksamkeit widmet. Ich habe mich immer gefragt, wie es wohl wäre, sich mal so richtig mit ihm zu unterhalten. Miller und ich haben zwar noch nie ein persönliches Wort gewechselt, aber ich habe ihn ein paarmal dabei ertappt, wie sein Blick mich gestreift hat, und das allein hat schon gereicht, um mich erschauern zu lassen.

Mir kommt der Gedanke, dass es vielleicht doch klüger gewesen wäre, wenn ich einfach weitergefahren wäre und nicht gewendet hätte, aber das habe ich nun mal, und jetzt bin ich hier und deswegen lasse ich die Scheibe runter, schlucke den Kloß in meinem Hals ebenfalls runter und rufe: »Der nächste Greyhound-Bus kommt frühestens in dreizehn Tagen hier vorbei. Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?«

Miller sieht mich an und schaut danach hinter sich auf die verwaiste Straße, als würde er hoffen, dass sich dort eine bessere Mitfahrgelegenheit materialisiert. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, dann sieht er an dem Verkehrsschild hoch, um dessen Stange er die rechte Hand gelegt hat.

Die nervöse Anspannung in meinem Bauch ist ein eindeutiges Zeichen dafür, dass mir offenbar doch etwas an Miller Adams’ Meinung liegt, egal, wie sehr ich mir einzureden versuche, es wäre nicht so.

Ich finde es schrecklich, dass wir so ein verkrampftes Verhältnis haben, und ich nicht weiß, woran das liegt und was das Problem sein könnte. Dass er mir so ausweicht, gibt mir das Gefühl, als wäre irgendetwas zwischen uns vorgefallen, obwohl wir in Wirklichkeit nie näher miteinander zu tun gehabt haben. Es fühlt sich fast so an wie zwischen zwei Leuten, die mal zusammen waren und Schluss gemacht haben und danach total steif im Umgang miteinander sind.

Ich kann mir noch so sehr einreden, dass er mir egal ist, das ändert nichts daran, dass ich mich danach sehne, von ihm wahrgenommen zu werden, weil er einfach … echt einzigartig ist. Und supersüß. Jetzt gerade besonders, mit der umgedreht aufgesetzten Rangers-Cap, unter der seine dunklen Haare hervorschauen. Er müsste mal wieder zum Friseur. Normalerweise trägt er die Haare ziemlich kurz, aber mir ist schon aufgefallen, dass sie über die Sommerferien gewachsen sind. Was mir gut gefällt. Wobei er mir auch mit kurzen Haaren gefällt.

Scheiße. Habe ich etwa tatsächlich so sehr auf seine Haare geachtet? Ich fremdschäme mich für mich selbst.

Aus Millers Mundwinkel ragt wie üblich ein weißer Stiel. Irgendwie ist es niedlich, dass er ständig Lollys lutscht, und gleichzeitig hat es auch was Verwegenes. Ich kann mir nicht vorstellen, dass unsichere Typen mit Lolly im Mund rumlaufen würden, aber Miller lutscht vor Unterrichtsbeginn eigentlich immer einen und mittags nach dem Essen auch.

Jetzt zieht er den Lolly raus, leckt sich über die Lippen, und ich fühle mich in dem Moment exakt wie die Sechzehnjährige, die ich ja auch bin.

»Kannst du mal kurz herkommen?«, fragt er.

Ich bin bereit, ihn irgendwo hinzufahren, aber eigentlich gehört es nicht zu meinem Plan, in dieser Affenhitze aus dem Wagen zu steigen. »Wie bitte? Wozu? Es ist total heiß.«

»Dauert nur ein paar Minuten. Aber du müsstest dich beeilen, bevor jemand vorbeifährt und ich geschnappt werde.«

Ich habe wirklich keine Lust, aus dem Auto auszusteigen, und bereue es jetzt, zu ihm zurückgefahren zu sein, auch wenn wir endlich das Gespräch führen, von dem ich so lange geträumt habe.

Andererseits ist das eben wirklich ein Traum, der hier gerade wahr wird, und damit fast so gut wie die kalte Luft, die durch die Schlitze der Klimaanlage strömt. Also öffne ich nach kurzem Überlegen doch die Wagentür, verdrehe dabei aber theatralisch die Augen. Er soll ruhig sehen, was für ein großes Opfer ich bringe.

Als ich aussteige und den ersten Schritt mache, merke ich, dass die Straße wirklich erst ganz frisch asphaltiert worden ist, weil sich die Sohlen meiner Flip-Flops nur schmatzend vom weichen Untergrund lösen. Ich hebe ein Bein und betrachte stöhnend die teerverklebte Unterseite der Flip-Flops, die ich mit ziemlicher Sicherheit jetzt wegwerfen muss. »Du kannst mir gleich neue Schuhe kaufen.«

Miller schaut zweifelnd auf meine Flip-Flops. »Das sind keine Schuhe.«

Jetzt erst sehe ich, dass es sich bei dem Schild, an dem er sich die ganze Zeit festhält, um unser Ortsschild handelt. Wegen der Verbreiterung der Fahrbahn ist es ausgegraben worden und steckt übergangsweise in einem Ständer, der aus einem Holzkreuz besteht, das von zwei Sandsäcken beschwert wird. Die ganzen Straßenschilder werden erst wieder fest einzementiert, wenn die Arbeiten beendet sind.

Miller wischt sich über die verschwitzte Stirn, dann bückt er sich, hebt einen der Säcke hoch und hält ihn mir hin. »Könntest du den tragen?«

Ich ächze, als er den schweren Sack in meine ausgestreckten Arme fallen lässt. »Wohin?«

Miller deutet mit dem Kinn in die Richtung, aus der ich gekommen bin. »Nur ungefähr zehn Meter weiter.« Er steckt den Lolly wieder in den Mund, wirft sich den zweiten Sandsack lässig über die Schulter, greift nach dem Schild, läuft los und schleift es hinter sich her. Der Holzständer schrappt über den Asphalt, sodass feine Splitter abspringen.

»Hast du vor, das Ortsschild zu klauen?«

»Nein, nur zu versetzen.«

Er geht weiter, während ich stehen bleibe und zusehe, wie er das Schild hinter sich herschleift. Die Muskeln in seinen Unterarmen sind angespannt, und ich kann gar nicht anders, als mir vorzustellen, wie sein Restkörper unter dem Shirt wohl aussieht. Nicht dran denken, Clara! Der verdammte Sandsack ist so schwer, dass mir die Arme wehtun und ich ihn am liebsten fallen lassen würde, aber mein Verlangen nach Miller ist stärker als mein Stolz, also trage ich ihn ihm widerstrebend hinterher. »Eigentlich wollte ich dir nur anbieten, dich irgendwo hinzufahren«, sage ich zu seinem Hinterkopf. »Ich habe keine Lust, in diese Sache – was auch immer das hier werden soll – verwickelt zu werden.«

Miller stellt das Schild aufrecht hin, legt seinen Sandsack auf den Ständer, nimmt mir meinen ab, legt ihn auch drauf und richtet das Schild zuletzt so aus, dass von der Straße aus die Vorderseite zu sehen ist. Er nimmt den Lolly aus dem Mund und lächelt. »Perfekt. Vielen Dank.« Dann wischt er die Hände an seiner Jeans ab. »Könntest du mich vielleicht auch noch nach Hause fahren? Keine Ahnung, warum es auf einmal so heiß ist. Als ich los bin, war es mindestens zehn Grad kühler. Ich hätte mit meinem Wagen kommen sollen.«

Ich deute auf das Schild. »Warum haben wir das Schild gerade hier hingestellt?«

Er dreht sein Basecap richtig rum und zieht sich den Schirm tief ins Gesicht, weil ihn die Sonne blendet. »Ich wohne ungefähr eine Meile weiter in der Richtung«, erklärt er und zeigt mit dem Daumen über die Schulter. »Meine Lieblingspizzeria liefert aber nur innerhalb des Stadtgebiets, deswegen versetze ich das Schild jede Woche um ein paar Meter. Ich hoffe, dass ich es bis direkt vor unsere Einfahrt schaffe, bevor die mit den Bauarbeiten fertig sind und es wieder einzementieren.«

»Du versetzt unsere Stadtgrenze? Wegen Pizza?«

Miller geht zu meinem Wagen. »Ist ja nur eine Meile.«

»Aber das ist doch bestimmt strafbar.«

»Kann sein. Keine Ahnung.«

Ich gehe ihm hinterher. »Und warum versetzt du es immer nur so wenig? Warum stellst du es nicht jetzt gleich direkt vor eure Einfahrt?«

Miller öffnet die Beifahrertür. »Wenn ich es in kleinen Etappen mache, fällt es hoffentlich nicht so auf.«

Okay, das ist ein Argument.

Ich setze mich hinters Steuer, schlüpfe aus meinen teerverklebten Flip-Flops und stelle die Klimaanlage noch ein bisschen höher. Als Miller sich anschnallt, rascheln meine Klassenarbeiten unter seinen Füßen. Er bückt sich danach und sieht sie sich an.

»Nur Topnoten«, stellt er fest, als er sich umdreht, um die Arbeiten auf die Rückbank zu legen. »Bist du von Natur aus gut oder lernst du viel?«

»Hey, du bist ganz schön indiskret. Und um die Frage zu beantworten: ein bisschen von beidem.« Ich fahre los, Miller klappt das Handschuhfach auf und wirft einen Blick hinein. Er kommt mir vor wie ein neugieriger Welpe. »Was machst du da?«

Er zieht mein Deo raus. »Für Notfälle?« Er grinst, dann zieht er den Deckel ab und schnuppert daran. »Riecht gut.« Er legt es wieder zurück, holt eine Packung Kaugummis raus, nimmt sich einen und bietet sie dann mir an. Er bietet mir meine eigenen Kaugummis an.

Ich schüttle den Kopf und sehe zu, wie er mit unverschämter Neugier weiter mein Auto inspiziert. Weil er noch den Lolly im Mund hat, packt er den Kaugummi nicht aus, sondern steckt ihn ein und zappt sich dann durch meine Playlist. »Schnüffelst du bei anderen immer so rum?«

»Ich bin Einzelkind«, sagt er. Als wäre das eine Begründung. »Was für ein Album ist das?«

»Das ist meine Playlist auf Shuffle, und was gerade läuft, ist Greta Van Fleet.«

Er dreht genau in dem Moment lauter, in dem der Song endet. »Ist die gut?«

»Das ist keine sie, das ist eine Band.«

Der Eröffnungsriff des nächsten Songs dröhnt durch die Lautsprecher und Miller strahlt mich an. »Ich hatte irgendwie was Softeres erwartet!«, brüllt er.

Ich schaue wieder auf die Straße und frage mich, ob Miller Adams immer so ist. So sprunghaft, so neugierig, vielleicht sogar hyperaktiv. Unsere Schule ist nicht besonders groß, aber weil er schon in der Zwölften ist, haben wir keine gemeinsamen Kurse und nie wirklich etwas miteinander zu tun gehabt. Ich kenne ihn gerade mal gut genug, um zu merken, dass er mir offensichtlich aus dem Weg geht. Ich habe ihn nie aus der Nähe erlebt. Keine Ahnung, was ich mir vorgestellt hatte, aber nicht das.

Er greift in den Spalt zwischen der Mittelkonsole und seinem Sitz, zieht den dort steckenden Folder raus und hat ihn schon aufgeklappt, bevor ich richtig mitgekriegt habe, was er tut. Ich reiße ihn ihm aus der Hand und werfe ihn auf die Rückbank.

»Was war das?«, fragt er.

In diesem Folder bewahre ich meine Uni-Bewerbungen auf, aber das soll niemand wissen, weil es ein großes Streitthema zwischen mir und meinen Eltern ist. »Nichts.«

»Sah aus wie eine Bewerbung für ein Schauspielstudium an der University of Texas. Schickst du die etwa jetzt schon raus?«

»Du bist echt der neugierigste Mensch, der mir jemals begegnet ist. Und nein, ich hab nicht vor, sie jetzt schon rauszuschicken. Ich will nur vorbereitet sein.« Und ich verstecke sie in meinem Auto, weil meine Eltern ausrasten würden, wenn sie wüssten, wie ernst es mir damit ist, dass ich Schauspielerin werden will. »Hast du dich noch nicht beworben?«

»Doch. Und am liebsten würde ich Film studieren. An der University of Texas.« Millers Mund verzieht sich zu einem Lächeln.

Er verarscht mich, oder?

Miller trommelt den Rhythmus der Musik auf das Armaturenbrett. Ich versuche, mich auf die Straße zu konzentrieren, aber mein Blick wird immer wieder wie magnetisch zu ihm hingezogen. Einerseits weil ich ihn wirklich ziemlich faszinierend finde, aber auch weil ich das Gefühl habe, dass man ihn im Auge behalten muss, damit er nichts anstellt.

Als er sich auf einmal kerzengerade aufrichtet, erstarre ich, weil ich mich frage, was ihn erschreckt hat. Er holt sein Handy aus der Tasche und nimmt einen Anruf entgegen, den ich wegen der lauten Musik nicht gehört habe. Miller stellt die Anlage leise und zieht den Lolly aus dem Mund, von dem fast nichts mehr übrig ist. Nur noch ein kleiner roter Zapfen.

»Hey, Babe«, sagt er ins Handy.

Ich versuche, nicht das Gesicht zu verziehen. Babe?

Das ist bestimmt seine Freundin Shelby Phillips. Die beiden sind seit einem Jahr zusammen. Früher war sie auch auf unserer Schule, hat aber schon vor einem Jahr ihren Abschluss gemacht und studiert jetzt an einem College, das etwa eine Dreiviertelstunde von hier entfernt liegt. Ich habe keine wirkliche Meinung zu ihr, weil ich noch nie etwas mit ihr zu tun gehabt habe. Sie ist zwei Jahre älter als ich, was in Erwachsenenjahren gemessen nichts ist, in Highschooljahren aber eine ganze Menge. Der Gedanke, dass Miller mit einer Studentin zusammen ist, zieht mich ein bisschen runter. Ich weiß selbst nicht, warum ich mich plötzlich so minderwertig fühle. Als wäre ein Mädchen, nur weil es schon studiert, automatisch intellektueller und interessanter, als es eine Elftklässlerin jemals sein könnte.

Ich halte den Blick starr auf die Straße gerichtet, obwohl ich am liebsten jede kleinste Regung in Millers Gesicht beobachten würde. Total bescheuert.

»Auf dem Weg nach Hause.« Er hört zu, dann sagt er: »Ich dachte, das wäre morgen Abend.« Wieder eine Pause. Dann: »Du bist gerade an unserer Einfahrt vorbeigefahren.«

Ich brauche einen Moment, bis ich begreife, dass er mit mir geredet hat. Als ich zu ihm rübersehe, hat er die Hand auf das Mikro am Handy gelegt. »Das da eben war unsere Einfahrt.«

Ich steige auf die Bremse. Miller hält sich mit der linken Hand am Armaturenbrett fest, lacht und sagt leise: »Scheiße!« Ich habe so angestrengt dem Gespräch gelauscht, dass ich völlig vergessen hatte, dass ich ihn ja nach Hause fahren sollte.

»Nein, nein«, sagt Miller ins Handy. »Ich war laufen, aber dann wurde es so höllisch heiß, dass ich jetzt bei jemandem mitfahre, der mich nach Hause bringt.«

Ich höre Shelby am anderen Ende fragen: »Bei wem denn?«

Miller sieht kurz zu mir rüber. »Ach, nur so ein Typ, den ich angehalten habe. Ich ruf dich nachher an, okay?«

Ein Typ? Anscheinend hat hier jemand ein Eifersuchtsproblem.

Miller steckt das Handy weg, als ich den Wagen wende. Kurz darauf biege ich in einen hellen Kiesweg ein. Ich hatte zwar mal mitbekommen, dass Miller irgendwo hier in der Gegend wohnt, habe das Haus selbst aber noch nie gesehen, weil es hinter zwei Reihen von Bäumen versteckt liegt.

Was mich erwartet, ist nicht das, was ich mir vorgestellt hatte.

Das Holzhaus ist sehr klein, sehr alt und könnte dringend einen neuen Anstrich vertragen. Auf der Veranda hängt die übliche Schaukel, und daneben stehen zwei Schaukelstühle, die so ungefähr das Einzige sind, was an dem Szenario irgendwie einladend wirkt.

Auf dem Vorplatz parkt ein alter blauer Pick-up. Seitlich vom Haus steht ein von Unkraut überwucherter, auf Backsteinen aufgebockter Wagen, der zwar nicht ganz so alt ist wie das Haus, aber dafür in noch schlechterem Zustand.

Ich bin überrascht. Keine Ahnung, irgendwie hatte ich mir vorgestellt, Miller würde in einer bonzigen Villa wohnen, mit Gartenteich und einer Garage für vier Fahrzeuge. Die Leute bei uns an der Schule sind ziemlich statusfixiert, und ich bin immer davon ausgegangen, dass die in der Rangordnung besonders hoch stehenden Schüler das einer Mischung aus gutem Aussehen und reichen Eltern zu verdanken haben. Aber vielleicht gleicht Miller den Geldmangel ja mit Nettigkeit aus. Ich habe nämlich das Gefühl, dass er allgemein sehr beliebt ist. Jedenfalls habe ich nie mitbekommen, dass irgendjemand was Negatives über ihn gesagt hätte.

»Nicht, was du erwartet hattest?«

Jetzt schäme ich mich. Ich stelle den Wagen ab und gebe mir Mühe, so zu tun, als gäbe es nichts an seinem Zuhause, das mich irgendwie schocken würde. Zum Glück fällt mir schnell etwas ein, um vom Thema abzulenken. Ich sehe ihn scharf an. »Nur so ein Typ?«, wiederhole ich, was er eben am Handy gesagt hat.

»Ich erzähle meiner Freundin bestimmt nicht, dass du mich nach Hause fährst«, sagt er. »Die hätte mich drei Stunden lang ins Kreuzverhör genommen.«

»Klingt ja nach einer ganz tollen und gesunden Beziehung.«

»Solange ich nichts sage, was dazu führt, dass ich ins Kreuzverhör genommen werde.«

»Wenn du es so schlimm findest, ins Kreuzverhör genommen zu werden, solltest du vielleicht lieber nicht die Stadtgrenze verrücken.«

Mittlerweile ist Miller ausgestiegen, aber bevor er die Wagentür zuschlägt, bückt er sich noch mal, um mich anzusehen. »Ich verrate niemandem, dass du mitgemacht hast, wenn du niemandem verrätst, dass ich die Stadtgrenze verrücke.«

»Kauf du mir neue Flip-Flops, dann vergesse ich alles, was heute passiert ist.«

Er lacht leise, als fände er mich witzig, dann sagt er: »Komm mit rein. Mein Geld liegt in meinem Zimmer.«

Das ist natürlich nur ein Scherz gewesen. Von jemandem, der in so einem desolaten Haus wohnt, werde ich garantiert kein Geld nehmen. Aber wenn ich mich nach meiner ironisch gemeinten Forderung plötzlich weigere, Geld von ihm zu nehmen, denkt er womöglich, ich würde ihn bemitleiden. Ich habe kein Problem, ihn ein bisschen aufzuziehen, aber ich will ihn nicht verletzen. Abgesehen davon kann ich jetzt sowieso nicht mehr anders, als ihm hinterherzugehen, weil er schon an der Haustür steht und auf mich wartet.

Ich lasse meine Flip-Flops im Wagen, um nicht auch noch Teerspuren ins Haus zu tragen. Als ich barfuß die knarzende Verandatreppe betrete, fällt mir auf, dass die zweite Stufe gefährlich morsch aussieht.

Ich steige drüber.

Er bemerkt es.

Bevor wir reingehen, zieht Miller seine teerverschmierten Schuhe aus. Ich stelle erleichtert fest, dass das Haus innen besser aussieht, als von außen zu vermuten war. Alles ist sauber und aufgeräumt, auch wenn ich den Eindruck habe, dass hier seit Jahrzehnten nichts mehr verändert wurde. Die Möbel sind alle maximal altmodisch. In einer Ecke steht eine orange Plüschcouch, über die eine dieser typischen selbst gemachten Decken aus Häkelquadraten gebreitet ist. Davor zwei grüne, extrem unbequem wirkende Sessel, die nach Mid-Century aussehen, aber nicht von der Sorte, die gerade angesagt ist. Im Gegenteil. Alles wirkt wie lange vor Millers Geburt angeschafft und nie ausgetauscht.

Das einzig relativ neue Stück im Raum ist ein Fernsehsessel, auf dem jemand liegt, der sogar noch älter aussieht als die Möbel. Ich sehe nur sein Profil und seinen kahlen, altersfleckigen Kopf, auf dem ein paar silberweiße Haare sprießen. Er schnarcht.

Es ist verdammt heiß hier drinnen. Beinahe noch heißer als draußen. Die warme Luft riecht nach gebratenem Speck. Ein Fenster ist hochgeschoben, davor kreiseln zwei Ventilatoren, die auf den alten Mann gerichtet sind. Millers Großvater, nehme ich an. Er ist zu alt, um sein Vater zu sein.

Miller geht durchs Wohnzimmer in den dahinterliegenden Flur. Ich folge ihm und fühle mich immer mieser, weil ich sein Geld wirklich nicht will. Bloß weil ich einen Witz gemacht habe, komme ich jetzt rüber wie ein fieses Charakterschwein.

Miller stößt eine Tür auf, ich bleibe im Flur stehen. Ein leichter Luftstoß fährt durch meine Haare. Obwohl die Luft warm ist, empfinde ich sie als angenehm.

Ich werfe einen Blick in sein Zimmer, das ebenfalls nichts von der Schäbigkeit der Außenansicht des Hauses hat. In einer Ecke steht ein Bett. Hier schläft Miller also. In diesem gar nicht mal so schmalen Bett wälzt er sich nachts unter dieser weißen Bettdecke von einer Seite zur anderen. Ich reiße den Blick vom Bett los und betrachte das Beatles-Poster über dem Kopfteil. Steht Miller auf Bands von früher oder hängt das Poster vielleicht auch schon seit den Sechzigern hier? Es würde mich nicht wundern, wenn das hier das ehemalige Jugendzimmer seines Großvaters wäre.

Mein Blick bleibt an einer Kamera hängen, die auf der Kommode liegt. Die war garantiert nicht billig. Und die Objektive, die daneben aufgereiht sind, haben sicher auch eine Stange Geld gekostet. Der Anblick würde jeden Amateurfotografen neidisch machen. »Fotografierst du?«

Miller folgt meinem Blick. »Ja.« Er zieht die oberste Schublade der Kommode auf. »Aber noch lieber filme ich. Ich will Regisseur werden.« Er sieht mich an. »Ich würde alles dafür geben, an der University of Texas angenommen zu werden, aber ich glaube kaum, dass ich ein Stipendium bekomme. Also muss ich wohl aufs Community College.«

Vorhin im Auto dachte ich, er hätte das gesagt, um sich über mich lustig zu machen, aber als ich mich jetzt in seinem Zimmer umsehe, ahne ich, dass er es wohl doch ernst gemeint hat. Neben dem Bett liegt ein Stapel Bücher. Das oberste ist von Sidney Lumet und heißt Filme machen. Ich gehe hin, greife danach und blättere darin.

»Hey, du bist ganz schön indiskret«, sagt Miller im selben Ton wie ich vorhin.

Ich strecke ihm die Zunge raus und lege das Buch zurück. »Kann man am Community College überhaupt Film studieren?«

Miller schüttelt den Kopf. »Nein. Aber es könnte ein erster Schritt sein, um danach an einer Uni angenommen zu werden, an der man Film studieren kann.« Er hält mir einen Zehndollarschein hin. »Bei Walmart kriegst du Flip-Flops wie deine für fünf Dollar. Hier. Gönn dir die Luxusvariante.«

Ich zögere, weil ich sein Geld wirklich nicht will. Miller seufzt und schiebt mir den Schein dann in die linke Jeanstasche. »Das Haus ist eine Bruchbude, aber ich bin nicht pleite. Nimm schon.«

Ich schlucke trocken.

Er hat seine Finger in meine Hosentasche geschoben. Und ich kann sie immer noch fühlen, obwohl er sie schon wieder rausgezogen hat.

Ich räuspere mich und lächle gezwungen. »War mir ein Vergnügen, mit dir Geschäfte zu machen.«

Er neigt den Kopf. »Und warum siehst du dann aus, als hättest du ein schlechtes Gewissen?«

Normalerweise ist mein Schauspieltalent überzeugender. Ich bin von mir selbst enttäuscht.

Obwohl ich mich gern noch ein bisschen eingehender in Millers Zimmer umschauen würde, drehe ich mich zur Tür. »Ich? Schlechtes Gewissen? Keine Spur. Wer anderer Leute Schuhe ruiniert, muss Buße tun.« Ich erwarte nicht, dass er mir hinterhergeht, aber er tut es. Als ich ins Wohnzimmer zurückkomme, zögere ich. Der alte Mann liegt nicht mehr im TV-Sessel, sondern steht jetzt in der offenen Küche vor dem Kühlschrank und schraubt gerade den Deckel von einer Wasserflasche. Er mustert mich neugierig, während er einen Schluck trinkt.

Miller geht um mich herum. »Hast du daran gedacht, deine Tabletten zu nehmen, Gramps?«

Er nennt ihn Gramps. Das ist irgendwie voll süß.

Gramps sieht Miller an und zieht die Augenbrauen hoch. »Ich denke jeden verdammten Tag daran, meine Tabletten zu nehmen, seit deine Großmutter mich sitzen gelassen hat. Ich bin nicht dement.«

»Noch nicht«, sagt Miller. »Und Grandma hat dich nicht sitzen gelassen. Sie ist an einem Herzinfarkt gestorben.«

»Jedenfalls ist sie weg.«

Miller dreht sich um und zwinkert mir zu. Ich weiß nicht, was er damit ausdrücken will. Vielleicht soll es mich beruhigen, weil sein Gramps ein bisschen Ähnlichkeit mit Mr Nebbercracker aus Monster House hat. Ich beginne zu ahnen, von wem Miller seinen beißenden Humor hat.

»Du nervst«, brummt Gramps. »Zwanzig Kröten darauf, dass ich dich und deine gesamte Generation von zukünftigen Darwin-Award-Preisträgern locker überlebe.«

Miller lacht. »Pass bloß auf, Gramps. Sonst kriegt jemand mit, dass du ziemlich fies bist.«

Gramps wirft mir einen kurzen Seitenblick zu, dann sagt er: »Pass du lieber selbst auf, Miller. Sonst kriegt jemand mit, dass du ziemlich untreu bist.«

Miller lacht darüber, aber mir ist es ein bisschen peinlich. »Pass du auf, Gramps. Sonst kriegt jemand mit, dass du ein alter Mann mit Krampfadern bist.«

Gramps wirft den Deckel der Wasserflasche in Millers Richtung und trifft ihn an der Wange. »Pass bloß auf. Ich werde dich enterben.«

»Mach ruhig. Du sagst immer, das einzig Wertvolle, das du besitzen würdest, wäre Luft.«

Gramps zuckt mit den Schultern. »Luft, die du jetzt nicht mehr erben wirst.«

Jetzt lache ich auch. Bis eben war ich mir nicht so sicher, ob das Geplänkel harmlos ist.

Miller bückt sich nach dem Deckel und nickt in meine Richtung. »Das ist Clara Grant. Eine Freundin aus der Schule.«

Eine Freundin? Okay. Ich winke Gramps zu. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Gramps mustert mich mit schräg gelegtem Kopf. »Clara Grant?«

Ich nicke.

»Mit sechs hat Miller sich mal vor Schreck in die Hose gemacht, als die automatische Spülung der Toilette im Einkaufszentrum anging.«

Miller geht stöhnend zur Haustür und öffnet sie. »Ich hätte wissen müssen, dass es ein Fehler ist, dich reinzubitten.« Er gibt mir ein Zeichen, ihm zu folgen, aber ich bleibe stehen.

»Ich weiß gar nicht, ob ich jetzt schon gehen will«, sage ich lachend. »Eigentlich würde ich gern noch ein paar Storys von deinem Gramps hören.«

»Kein Problem, da gibt’s genug«, sagt Gramps. »Hier ist noch eine, die dir gefallen wird. Ich hab ein Video von ihm, als er fünfzehn war und an eurer Schule …«

»Gramps!«, unterbricht Miller ihn jetzt wirklich gereizt. »Mach ein Nickerchen, okay? Dein letztes ist mindestens schon fünf Minuten her.« Er kommt zu mir zurück, umfasst mein Handgelenk, zieht mich aus dem Haus und schließt die Tür hinter uns.

»Moment! Was war denn, als du fünfzehn warst?« Ich brenne vor Neugier, aber Miller schüttelt den Kopf. Die Geschichte scheint ihm wirklich ein bisschen peinlich zu sein.

»Nichts. Er redet Blödsinn.«

Ich grinse. »Ich glaube, du redest Blödsinn. Bitte! Ich will wissen, was passiert ist.«

Miller legt mir eine Hand auf die Schulter und dreht mich Richtung Treppe. »Vergiss es. Die Story kriegst du nicht zu hören. Niemals.«

»Du weißt nicht, wie hartnäckig ich sein kann. Und ich finde deinen Grandpa total sympathisch. Kann gut sein, dass ich ihn von jetzt an öfter mal besuche«, sage ich lächelnd. »Sobald die Stadtgrenze erfolgreich verrückt ist, bestelle ich vielleicht mal eine Salami-Ananas-Pizza hierher und lasse mir von deinem Gramps peinliche Geschichten über dich erzählen.«

»Ananas? Auf Pizza?« Miller schüttelt in gespieltem Entsetzen den Kopf. »Du bist in diesem Haus nicht mehr willkommen.«

Ich gehe die Treppe runter und überspringe die zweite Stufe von unten. Sobald ich sicher auf festem Boden stehe, drehe ich mich noch einmal zu Miller. »Du kannst mir nicht vorschreiben, mit wem ich mich anfreunde. Und Ananas auf Pizza ist das Beste. Die perfekte Kombination aus süß und salzig.« Ich ziehe mein Handy raus. »Ist dein Großvater zufälligerweise bei Instagram?«

Miller verdreht die Augen, grinst aber. »Wir sehen uns in der Schule, Clara. Lass dich bloß nie wieder hier blicken.«

Ich gehe lachend zum Auto. Als ich die Tür öffne und mich nach Miller umdrehe, schaut er auf sein Handy. Er sieht nicht noch mal zu mir rüber, als er ins Haus geht. Kaum ist die Tür hinter ihm zugefallen, kommt eine Instagram-Benachrichtigung bei mir an.

Miller Adams folgt dir jetzt.

Ich lächle.

Vielleicht habe ich mir doch bloß eingebildet, dass er mir aus dem Weg geht.

Noch bevor ich mit meinem Wagen wieder auf die Straße biege, bin ich auch schon dabei, Tante Jenny anzurufen.

Kapitel 3MORGAN

»Nein, Morgan! Hör sofort auf damit!« Jenny nimmt mir das Gemüsemesser aus der Hand und schiebt mich resolut vom Schneidebrett weg. »Du hast Geburtstag, und ich lasse nicht zu, dass du heute auch nur einen Finger rührst.«

Ich lehne mich an die Arbeitsplatte, sehe ihr dabei zu, wie sie die Tomaten schneidet, und muss mir auf die Zunge beißen, weil die Scheiben viel zu dick werden. Obwohl wir mittlerweile beide über dreißig sind, will die große Schwester in mir manchmal immer noch das Kommando übernehmen. Aber es ist doch auch wahr. Ich könnte aus jeder ihrer Tomatenscheiben drei machen.

»Schau nicht so kritisch«, sagt sie.

»Tu ich gar nicht.«

»Tust du doch. Du weißt, dass ich kaum koche.«

»Deswegen wollte ich die Tomaten ja schneiden.«

Jenny schwingt drohend das Messer. Ich hebe schützend beide Hände und ziehe mich dann neben ihr auf die Arbeitsplatte hoch.

»Ach, übrigens …« Jenny wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. An ihrem Tonfall erkenne ich, dass sie gleich etwas verkünden wird, von dem sie weiß, dass es mir nicht gefällt. »Jonah und ich haben beschlossen zu heiraten.«

Überraschenderweise gelingt es mir, nach außen hin ruhig zu bleiben, obwohl diese paar Wörter sich anfühlen wie Klauen, die mein Innerstes aushöhlen. »Er hat dir einen Antrag gemacht?«

Jenny senkt die Stimme zu einem Flüstern, weil Jonah nebenan im Wohnzimmer gerade den Tisch deckt. »Na ja, Antrag