Zurück ins Leben geliebt - Colleen Hoover - E-Book
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Zurück ins Leben geliebt E-Book

Colleen Hoover

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Beschreibung

Zurück ins Leben lieben – der neue Geniestreich von Colleen Hoover Als Tate zum Studium nach San Francisco zieht, stolpert sie dort gleich am ersten Abend über Miles Archer: Miles, der Freund ihres Bruders, der niemals lächelt, meistens schweigt und offensichtlich eine schwere Bürde mit sich herumträgt. Miles, der so attraktiv ist, dass Tate bei seinem Anblick Herzflattern und weiche Knie bekommt. Miles, der, wie er selbst zugibt, seit sechs Jahren keine Frau mehr geküsst hat. Miles, von dem Tate sich besser fernhalten sollte, wenn ihr ihr Gefühlsleben lieb ist …

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Seitenzahl: 440

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Über das Buch

Als Tate zu ihrem Bruder nach San Francisco zieht, ahnt sie noch nicht, wie sehr der gutaussehende Mann, der bei ihrer Ankunft betrunken vor der Wohnungstür liegt, ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Auch Miles, der von schmerzhaften Ereignissen fest im Griff gehalten wird, kann der Anziehung, die Tate auf ihn ausübt, nicht widerstehen. Sie beginnen eine Affäre, doch bald schon kommen Gefühle mit ins Spiel. Gefühle, die Miles nicht zulassen will, nicht zulassen kann. Er legt zwei Regeln fest: Erstens, Tate darf ihn nicht nach seiner Vergangenheit fragen, und zweitens, sie darf sich niemals eine Zukunft mit ihm wünschen. Für Tate wird es zunehmend schwerer, sich daran zu halten, denn Miles stiehlt mit jeder Minute, die sie gemeinsam verbringen, mehr von ihrem Herzen.

 

Eine packende Geschichte über Verlust, Schmerz, Liebe und die Fähigkeit, sich selbst zu verzeihen.

 

 

Von Colleen Hoover ist bei dtv außerdem lieferbar:

Weil ich Layken liebe / Weil ich Will liebe / Weil wir uns lieben

Hope Forever / Looking for Hope / Finding Cinderella

Love and Confess

Nächstes Jahr am selben Tag – November 9

Nur noch ein einziges Mal – It ends with us

It starts with us – Nur noch einmal und für immer

Never Never (zusammen mit Tarryn Fisher)

Maybe Someday / Maybe Not / Maybe Now

Die tausend Teile meines Herzens

Too Late – Wenn Nein sagen zur tödlichen Gefahr wird

Was perfekt war

Verity

All das Ungesagte zwischen uns

Finding Perfect

Layla

Für immer ein Teil von dir

Summer of Hearts and Souls

Colleen Hoover

ZURÜCK INS LEBEN GELIEBT

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Katarina Ganslandt

 

 

 

Für meine zwei besten Freundinnen,

die beide zufälligerweise auch meine Schwestern sind.

Lin und Murphy

Erstes KapitelTATE

»Oh, oh. Sie hat man wohl erdolcht, Mädchen.«

Irritiert drehe ich mich zu dem alten Herrn um, der neben mir steht und gerade den Aufzugknopf gedrückt hat. »Wie bitte?«

Er deutet lächelnd auf meinen Hals. »Das Muttermal.«

Ich hebe instinktiv die Hand und berühre den dunklen, etwa Zehn-Cent-Stück großen Fleck direkt unter meinem Ohr.

»Mein Großvater hat immer gesagt, Muttermale markieren die Stelle, an denen man in einem früheren Leben eine tödliche Verletzung davongetragen hat«, erklärt er freundlich. »Ich nehme an, bei Ihnen war es ein Stich in den Hals. Aber der Tod kam bestimmt schnell und Sie mussten nicht lange leiden.«

Ich lache, obwohl ich die Bemerkung wahrscheinlich eher beängstigend als lustig finden sollte. Allerdings sieht der Mann aus, als wäre er mindestens achtzig, und wirkt kein bisschen gefährlich. Jetzt macht er ein paar wackelige Schritte auf einen der beiden mit rotem Samt bezogenen Sessel zu, die an der Wand stehen, und lässt sich mit einem unterdrückten Stöhnen hineinsinken.

»Sie müssen in die achtzehnte Etage, stimmt’s?«

Woher weiß er das? Ich habe heute zum ersten Mal in meinem Leben einen Fuß in dieses Gebäude gesetzt und diesen Mann garantiert noch nie zuvor gesehen.

»Ähm … ja«, bestätige ich zögernd. »Arbeiten Sie hier?«

Er nickt. »In der Tat, das tue ich.«

Auf der Anzeige über der Tür ist abzulesen, in welcher Etage sich der Aufzug gerade befindet. Noch elf Stockwerke, bis er im Erdgeschoss ankommt. Ich hoffe, dass das nicht mehr so lang dauert.

»Ich sitze hier, und wenn jemand mit dem Fahrstuhl fahren will, drücke ich auf den Knopf, um ihn zu rufen«, erklärt der alte Mann. »Eine offizielle Berufsbezeichnung gibt es dafür vermutlich nicht. Ich sage immer, dass ich der hauseigene Flugkapitän bin. Immerhin befördere ich meine Passagiere bis zu zwanzig Stockwerke hoch in die Lüfte.«

Ich muss lächeln, weil mein Vater und mein Bruder beide wirklich Piloten sind. »Und wie lange fliegen Sie diesen Fahrstuhl schon?«, frage ich, während ich noch einen Blick auf die Anzeige werfe. Ich schwöre, das ist der lahmste Aufzug, den ich je erlebt habe.

»Seit ich meine Stelle als Hausmeister altersbedingt aufgeben musste. Ich habe zweiunddreißig Jahre lang hier gearbeitet und jetzt bin ich schon über fünfzehn Jahre für den Fahrstuhl verantwortlich. Der Boss hat mir den Job aus reiner Gutmütigkeit gegeben. Ich glaube, er wollte nicht, dass ich untätig herumhocken muss, bis ich sterbe.« Er schmunzelt. »Ihm war nicht klar, wie viele Aufgaben mir der liebe Gott vor meinem Tod noch auferlegt hat. Mittlerweile hinke ich meinem Pensum so hinterher, dass ich wahrscheinlich niemals sterben werde.«

Ich lache. Wenig später öffnet sich endlich die Aufzugtür. Bevor ich einsteige, wende ich mich noch einmal an den alten Mann. »Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?«

»Sicher doch. Ich heiße Samuel, aber nennen Sie mich ruhig Cap wie Captain«, antwortet er. »So nennen mich alle hier.«

»Haben Sie eigentlich auch ein Muttermal, Cap?«

Er grinst. »In der Tat, habe ich. Scheint, als hätte mir in einem früheren Leben jemand in den Allerwertesten geschossen. Bin wohl langsam verblutet.«

Ich lächle und lege meine rechte Hand an die Schläfe, als würde ich einem richtigen Flugkapitän salutieren, dann greife ich nach meinem Rollkoffer und steige in den Aufzug. In der Kabine drehe ich mich um und bewundere noch einmal die prächtige Eingangshalle, die mit ihrem glänzenden marmorgefliesten Boden und den hohen Säulen mehr nach Luxushotel als nach modernem Apartmentkomplex aussieht.

Als Corbin mir angeboten hatte, zu ihm zu ziehen, bis ich mir hier eine eigene Wohnung gesucht habe, war mir nicht klar gewesen, dass er mittlerweile so nobel wohnt. Das letzte Mal bin ich vor vier Jahren bei ihm zu Besuch gewesen. Ich hatte gerade die Highschool abgeschlossen und er steckte mitten in seiner Ausbildung zum Piloten. Damals hauste er noch in einer winzigen Wohnung in einem ziemlich schäbigen zweistöckigen Apartmentgebäude – und jetzt also in der achtzehnten Etage dieses superschicken Hochhausturms im Zentrum von San Francisco. Wenn das kein Aufstieg ist.

Nachdem ich auf den Knopf gedrückt habe und darauf warte, dass die Tür zugeht, betrachte ich mich in der verspiegelten Seitenwand der Kabine. Ich habe den ganzen gestrigen Tag und heutigen Vormittag damit verbracht, in San Diego alle meine Besitztümer – zum Glück sind das nicht so viele – in Kartons zu verpacken und das Apartment zu putzen. Anschließend bin ich praktisch nonstop die achthundert Kilometer bis nach San Francisco gefahren. Mittlerweile ist es schon nach zehn Uhr abends und die Erschöpfung ist mir deutlich anzusehen. Meine Augen, die normalerweise genau wie meine Haare in einem warmen Haselnussbraun leuchten, sind glanzlos und tief umschattet. Weil ich im Auto nichts hatte, um mir einen Pferdeschwanz zu binden, habe ich mir die Haare kurzerhand zu einem Knoten gedreht und mit einem Kuli festgesteckt.

Ich krame in meiner Umhängetasche gerade nach einem Pflegestift für meine aufgesprungenen Lippen, als sich die Tür endlich schließt. Aber statt sich in Bewegung zu setzen, rührt sich der Aufzug nicht und die Tür geht noch einmal auf. Ein Mann, den ich auf etwa Ende zwanzig schätze, tritt zu mir in die Kabine. »Danke, Cap!«, ruft er dem Alten zu, der zur Antwort allerdings nur vage brummt. Anscheinend unterhält er sich lieber mit Mädchen.

»Hal-looo.« Mein Gegenüber schenkt mir ein breites Aufreißerlächeln. Er denkt wohl, mir wäre nicht aufgefallen, dass er sofort seine linke Hand in die Hosentasche geschoben hat, damit ich den Ehering nicht sehe.

»Zehnter, bitte«, sagt er. Ich sehe, wie sein Blick zum Ausschnitt meiner Bluse wandert und dann zu dem Koffer, der neben mir steht. Wortlos drücke ich auf den Knopf für den zehnten Stock.

Warum habe ich keinen Rollkragenpulli angezogen?

»Bist du neu hier im Haus?«, fragt er und starrt ungeniert in meinen Ausschnitt.

Ich nicke, auch wenn er das wahrscheinlich nicht mitbekommt, weil er mir ja nicht ins Gesicht sieht.

»In welchem Stock wohnst du?«

Blitzschnell drehe ich mich zur Seite, halte die linke Hand so, dass er die leuchtende Zehn und Achtzehn nicht sehen kann, und drücke dann alle dazwischenliegenden Knöpfe.

»Das geht dich nichts an«, sage ich kühl.

Erst runzelt er die Stirn, dann lacht er.

Er denkt, ich mache Witze.

Jetzt zieht er eine Augenbraue hoch. Eine zugegebenermaßen hübsch geschwungene Augenbraue, die sich in einem attraktiven Gesicht befindet, zu dem ein ansehnlicher Körper gehört.

Ein verheirateter Körper.

Arschloch.

Der Kerl bekommt mit, wie ich ihn von Kopf bis Fuß mustere, und grinst anzüglich. Falls er sich einbildet, mein Blick wäre begehrlich, irrt er sich. Ich habe mir bloß vorgestellt, wie oft er diesen Körper wohl schon an irgendwelche Frauen gepresst hat, mit denen er nicht verheiratet ist.

Seine Frau tut mir leid.

Als der Aufzug im zehnten Stock hält und die Tür aufgeht, macht der Typ keinerlei Anstalten, auszusteigen. »Wenn du möchtest«, sagt er zu meinem Ausschnitt, »helfe ich dir, den Koffer ins Apartment zu tragen.«

Seine Stimme ist angenehm. Ich frage mich, wie viele Mädchen schon auf diese verheiratete Stimme reingefallen sind. Die Tür schließt sich.

Hastig drücke ich auf den Knopf, um sie wieder zu öffnen. »Danke, aber das schaffe ich gerade noch allein.«

Er nickt, doch die leichte Ungeduld, die in seinen Augen aufglimmt, bestätigt mir, dass meine instinktive Abneigung gegen ihn berechtigt war.

»Wie du meinst … Tate«, sagt er und steigt aus. »Bis bald mal wieder.«

Ich stehe mit offenem Mund da, während die Tür zugeht. Wieso weiß nicht nur der Aufzugwärter, sondern auch dieser schleimige Typ, wer ich bin? Das gefällt mir nicht.

Weil der Aufzug jetzt natürlich in jeder Etage anhält, dauert es eine ganze Weile, bis ich endlich im achtzehnten Stock angekommen bin. Ich steige aus, stelle meinen Koffer ab, sehe mich um und zucke zusammen.

Vor einer der Wohnungen liegt ein Mann am Boden. Ist er bewusstlos? Möglicherweise braucht er Hilfe. Aber die Alkoholfahne, die mir entgegenschlägt, als ich auf ihn zugehe, sagt mir, dass ich mir wohl keine Sorgen machen muss. Anscheinend schläft er hier bloß seinen Rausch aus. Was ist das nur für ein seltsames Haus? Mein Blick fällt auf die Nummer des Apartments, vor dem der Mann liegt: 1816. Wohnt Corbin nicht in 1816? Oder war es 1814? Hoffentlich. Leicht panisch ziehe ich mein Handy aus der Tasche und scrolle zu der Nachricht, in der er mir seine Adresse geschrieben hat.

Apartment #1816.

Großartig.

Nachdem ich meinen Koffer geholt habe, bleibe ich ratlos vor dem Schlafenden stehen. Vielleicht wacht er ja von selbst auf? Er lehnt mit dem Oberkörper halb an der Tür, seine langen Beine ragen ausgestreckt in den Gang hinein, das Kinn ruht auf der Brust.

»Äh … Entschuldigung?«

Keine Reaktion.

»Hallo?« Ich stupse ihn leicht mit dem Fuß an. »Ich muss in die Wohnung, vor der Sie liegen.«

Der Typ, der noch ziemlich jung aussieht, bewegt sich unmerklich. Er öffnet langsam die Lider und starrt auf meine Schienbeine.

Sein Blick wandert ein Stückchen höher, dann zieht er die Brauen zusammen, beugt sich mit verwunderter Miene vor und pikst mit dem Zeigefinger in mein Knie, als hätte er noch nie ein Frauenbein aus der Nähe gesehen. Danach schließt er die Augen wieder und lässt sich gegen die Tür zurücksinken.

Na toll.

Corbin hat mir geschrieben, dass er für einen Langstreckenflug eingeteilt ist und erst morgen nach Hause kommt. Seufzend ziehe ich mein Handy noch einmal aus der Tasche und rufe ihn an. Vielleicht hat er ja einen Tipp, was ich jetzt machen soll.

»Tate?«, meldet er sich. »Was gibt’s? Alles okay?«

»Ich bin heil hier angekommen«, sage ich. »Aber jetzt stehe ich vor deinem Apartment und kann nicht rein, weil ein Betrunkener davor liegt. Was soll ich tun?«

»Ein Betrunkener? Bist du sicher, dass du vor der richtigen Wohnung stehst?«

»Ganz sicher.«

»Und du bist sicher, dass er betrunken ist?«

»Absolut.«

»Komisch«, sagt er. »Was hat der Typ an?«

»Warum willst du das wissen?«

»Wenn er eine Pilotenuniform anhat, wohnt er wahrscheinlich auch im Haus. Die Hausverwaltung hat einen Deal mit unserer Airline.«

Der Typ trägt keine Uniform, sondern Jeans und ein schwarzes T-Shirt, und als ich ihn jetzt näher betrachte, stelle ich fest, dass er verdammt gut aussieht.

»Keine Uniform«, sage ich.

»Und du kommst nicht an ihm vorbei?«

»Er lehnt an deiner Tür. Wenn ich sie aufschließe, fällt er direkt in die Wohnung.«

Corbin denkt einen Moment lang nach. »Okay. Am besten fährst du noch mal nach unten und sprichst mit Cap«, schlägt er vor. »Das ist der alte Mann, der den Aufzug bedient. Ich hab ihm gesagt, dass du heute Abend ankommst. Er kann dir helfen.«

Ich seufze, weil ich unglaublich müde bin und einfach nur noch so schnell wie möglich ins Bett möchte. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, wie mir ein so alter Mann eine große Hilfe sein sollte.

»Ich krieg das schon irgendwie hin. Kannst du bitte dranbleiben, bis ich in der Wohnung bin? Nur zur Sicherheit.« Das Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, krame ich in meiner Umhängetasche nach dem Schlüssel, den er mir geschickt hat, und schließe auf. Leider wird der betrunkene Typ nicht wach, sondern sinkt – genau, wie ich es befürchtet hatte – Zentimeter für Zentimeter nach hinten. Zwischendurch stöhnt er und öffnet kurz die Augen, scheint ansonsten aber nichts mitzubekommen.

»Echt schade, dass er so besoffen ist«, sage ich zu Corbin. »Eigentlich sieht er ziemlich gut aus.«

Corbin kann über meinen Kommentar nicht lachen. »Tate, du gehst jetzt sofort in die Wohnung und machst die Tür hinter dir zu, damit ich endlich auflegen kann. Ich hab keine Zeit für blöde Witze.«

Ich verdrehe die Augen. Typisch, dass er sofort wieder den strengen großen Bruder heraushängen lässt, wie er es früher schon gemacht hat. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, bei ihm einzuziehen. Andererseits blieb mir gar keine andere Wahl. Ich hätte es niemals geschafft, in der kurzen Zeit bis zum Semesterbeginn einen Job und eine Wohnung zu finden.

Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, Corbin hätte seinen Beschützerkomplex endlich abgelegt und würde mich als ebenbürtig betrachten – schließlich bin ich mittlerweile dreiundzwanzig und er ist nur zwei Jahre älter.

Als wir beide noch zu Hause gewohnt haben, hatte er an jedem Typen, mit dem ich mich getroffen habe, irgendetwas auszusetzen. Keiner war ihm gut genug. Überhaupt fand er, dass ich mit den falschen Leuten befreundet war und immer alles falsch gemacht habe. Selbst das College, an dem ich mich beworben habe, hat ihm nicht gepasst. Nicht, dass ich je auf seine Meinung gehört hätte. Weil wir die letzten Jahre so weit voneinander entfernt gewohnt haben, hielten sich die Konflikte in Grenzen. Mal sehen, wie es wird, wenn wir jetzt wieder zusammenleben. Falls er mich weiter so bevormundet, könnte das zur ultimativen Zerreißprobe werden.

Als ich mit der freien Hand nach dem Koffer greifen will, um ihn an dem Betrunkenen vorbeizuziehen, rutscht mir die Tasche von der Schulter. Der Versuch, sie mir quer über die Brust zu schlingen, scheitert, weil ich immer noch das Telefon zwischen Schulter und Ohr klemmen habe und mit der anderen Hand die Tür festhalte. Irgendwann lasse ich die Tasche genervt einfach fallen. Mit der linken Hand halte ich unter Aufbietung meiner ganzen Kraft die Tür fest, damit der Typ nicht rückwärts ins Apartment fällt, während ich mit dem rechten Fuß von hinten gegen seinen Rücken drücke und mich abmühe, ihn seitlich Richtung Türrahmen zu schieben.

Es ist zwecklos.

»Er ist zu schwer, Corbin. Ich muss auflegen, damit ich mit beiden Händen anpacken kann.«

»Nein. Leg nicht auf«, sagt mein Bruder. »Steck das Handy meinetwegen in die Hosentasche, aber leg nicht auf.«

Ich blicke an der Tunika und den Leggings hinunter, die ich anhabe. »Keine Taschen. Ich schieb dich in meinen BH.«

Corbin macht Würgegeräusche, aber davon lasse ich mich nicht abhalten. Nachdem das Handy sicher verstaut ist, ziehe ich den Wohnungsschlüssel aus dem Schloss, damit ich ihn nachher nicht vergesse. Als ich ihn in meine Tasche werfen will, landet er knapp daneben auf dem Boden. Egal, darum kümmere ich mich später. Erst einmal bücke ich mich, packe den Betrunkenen unter den Achseln und hieve ihn unter größter Kraftanstrengung zur Seite.

»Sorry, Kumpel«, keuche ich. »Ich störe dein Nickerchen nur ungern, aber ich muss in dieses Apartment und du liegst im Weg.«

Irgendwie gelingt es mir, ihn mit dem Oberkörper so gegen den Türrahmen zu lehnen, dass er nicht umkippt. Anschließend drücke ich die Tür weiter auf und drehe mich zu meinem Koffer.

Eine Hand schließt sich um mein Fußgelenk.

Ich erstarre.

Dann sehe ich nach unten.

»Hey! Sofort loslassen!« Der Tritt, den ich seiner Hand verpasse, ist mit Sicherheit schmerzhaft. Der Typ schaut mit glasigem Blick zu mir auf und will sich an mir hochziehen. Ich verliere das Gleichgewicht, stolpere mit rudernden Armen rücklings in die Wohnung und falle zu Boden.

»Ich … ich muss da rein.« Er versucht hinter mir her ins stockdunkle Apartment zu kriechen, worauf ich sofort in den Panikmodus schalte, meine Beine anziehe und gleichzeitig die Tür zuschlage – während er immer noch mein Fußgelenk umklammert.

»Shit!«, brüllt er, weil seine Hand jetzt im Türspalt klemmt. Ich öffne sie gerade so weit, dass er sich befreien kann, und stoße sie anschließend schnell ganz zu. Keuchend richte ich mich auf, schiebe den Riegel vor und hänge zur Sicherheit auch noch die Kette ein.

Sobald sich mein Atem wieder einigermaßen beruhigt hat, höre ich mein Herz brüllen.

Seit wann hat mein Herz eine Stimme?

Noch dazu eine tiefe Männerstimme?

Es hört sich an, als würde es »Tate! Tate!« brüllen.

Corbin!

Ich ziehe das Handy aus meinem BH und drücke es mir ans Ohr.

»Tate? Rede mit mir! Was ist los?«

Ich halte das Handy ein paar Zentimeter von mir weg, so laut schreit er. »Alles gut gegangen«, beruhige ich ihn. »Ich bin drin. Die Tür ist zu.«

»Jesus, Tate!« Jetzt klingt er erleichtert. »Du hast mich zu Tode erschreckt. Was war denn?«

»Er wollte in die Wohnung, aber ich hab schnell die Tür zugeschlagen, sobald ich drin war. Jetzt ist er ausgesperrt.« Ich schalte das Deckenlicht an, als mir plötzlich etwas klar wird.

Na toll, Tate.

Langsam drehe ich mich wieder zur Tür.

»Äh … Corbin?« Ich schlucke trocken. »Es kann sein, dass ich ein paar Sachen draußen gelassen habe, die ich brauche. Ich würde sie mir ja holen, aber der betrunkene Typ will aus irgendeinem Grund unbedingt in die Wohnung, deswegen mache ich die Tür jetzt bestimmt nicht noch mal auf. Irgendwelche Vorschläge, was ich tun soll?«

Corbin schweigt ein paar Sekunden. »Was hast du im Gang gelassen?«

»Meinen … Koffer.«

»Gott, Tate«, murmelt er.

»Und meine … Tasche.«

»Warum hast du die denn draußen gelassen?«

»Es kann auch sein, dass der … Schlüssel zum Apartment draußen auf dem Boden liegt.«

Darauf sagt Corbin gar nichts mehr. Er stöhnt nur. »Ich rufe Miles an, vielleicht ist er ja schon zu Hause. Gib mir zwei Minuten.«

»Moment mal. Wer ist Miles?«

»Er wohnt gegenüber. Egal, was ist, mach die Tür nicht auf, bis ich dich zurückgerufen habe.«

Corbin legt auf und ich lehne mich gegen die Wand und atme erst einmal tief durch.

Verdammt, ich bin erst knapp dreißig Minuten hier und mache meinem Bruder jetzt schon das Leben schwer. Hoffentlich lässt er mich überhaupt bei sich wohnen, bis ich einen Job finde, mit dem ich mich während meines Aufbaustudiengangs über Wasser halten kann. Da ich examinierte Krankenschwester bin, habe ich mich in einer großen Klinik in der Nähe als Springerin für Nacht- und Wochenenddienste beworben. Wenn ich Glück habe, verdiene ich so viel, dass ich mein Erspartes nicht anbrechen muss.

Das Handy klingelt. »Hey.«

»Tate?«

»Ja.« Warum fragt er immer, ob ich es bin? Er hat mich angerufen, wer außer mir sollte sich an meinem Handy denn bitte sonst melden?

»Ich hab Miles erreicht.«

»Cool. Kann er den Betrunkenen in Schach halten, während ich meine Sachen reinhole?«

»Eher nicht.« Corbin zögert. »Hör mal, ich muss dich um einen großen Gefallen bitten.«

Ich lehne den Kopf gegen die Tür, weil ich ahne, dass ich ihm in den nächsten Monaten eine Menge Gefallen tun muss, um mich dafür zu revanchieren, dass er mich bei sich wohnen lässt. Sein dreckiges Geschirr spülen? Klar. Seine Schmutzwäsche waschen? Kein Problem. Für ihn einkaufen? Na sicher.

»Was soll ich machen?«

»Miles braucht deine Hilfe.«

»Dein Nachbar?« In dem Moment, in dem ich es sage, schwant mir Böses und ich schließe die Augen. »Corbin? Bitte erzähl mir nicht, dass dieser Miles, den du angerufen hast, um mich vor dem betrunkenen Typen zu beschützen, der betrunkene Typ ist.«

Corbin seufzt. »Mach die Tür auf und lass ihn rein. Er kann auf der Couch schlafen. Ich komme morgen früh zurück. Sobald er ausgenüchtert ist, wird ihm wieder einfallen, wer er ist, dann geht er zu sich rüber. Aber mir wäre einfach wohler, wenn jemand solange ein Auge auf ihn hat.«

»Gott.« Ich schüttle den Kopf. »Was hast du nur für Nachbarn, Corbin? Muss ich jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, darauf gefasst sein, von irgendwelchen besoffenen Männern begrapscht zu werden?«

Pause. »Er hat dich begrapscht?«

»Na ja, begrapscht ist vielleicht übertrieben. Aber er hat mich am Fuß festgehalten, als ich in die Wohnung wollte.«

Corbin stößt einen Seufzer aus. »Tu mir einfach den Gefallen, Tate. Und wenn noch irgendetwas ist, rufst du mich sofort an, okay?«

Ich höre seiner Stimme an, dass er sich wirklich Sorgen macht.

»Klar, mach ich«, stöhne ich.

Als ich die Tür öffne, fällt mir der betrunkene Typ entgegen, sein Handy rutscht ihm aus den Fingern und schlittert über den Boden. Ich drehe ihn auf den Rücken, worauf er die Augen öffnet und verwirrt zu mir hochblinzelt.

»Du bist nicht Corbin«, murmelt er und schließt die Augen wieder.

»Stimmt, bin ich nicht. Ich bin deine neue Nachbarin und du schuldest mir jetzt schon ungefähr hundert Tüten Zucker.«

Ich schiebe die Hände unter seine Achseln und versuche ihn in eine aufrechte Sitzposition zu wuchten, was kläglich misslingt. Verdammt, ich glaube nicht, dass ich das schaffe. Wie kann man nur so dermaßen betrunken sein?

Schließlich packe ich ihn an den Handgelenken und zerre ihn stöhnend und ächzend Zentimeter für Zentimeter in die Wohnung. Anschließend hole ich meine Sachen aus dem Gang. Da dieser Miles offenbar nicht in der Lage ist, sich zur Couch zu bewegen, und ich nicht stark genug bin, um ihn dort hinzuziehen, bringe ich ihn in die stabile Seitenlage und schiebe ihm ein Kissen in den Rücken, damit er wenigstens nicht erstickt, falls er sich im Schlaf übergibt. Das muss genügen.

Ich beobachte ihn noch einen Moment, bis ich mir sicher bin, dass ich ihn allein lassen kann, dann stehe ich auf und sehe mich um.

Das Wohnzimmer ist so riesig, dass Corbins letztes Apartment ungefähr dreimal hineinpassen würde. Es geht offen in ein Esszimmer über, die Küche ist durch eine Theke vom Wohnzimmer getrennt. Abstrakte Bilder und Farbfotografien bilden einen stimmungsvollen Kontrast zu dem sonst eher sachlichen Einrichtungsstil und der hellbraunen Couch. In Corbins voriger Wohnung gab es nichts weiter als einen Futon und einen Sitzsack, die Wände waren mit Postern von irgendwelchen Models dekoriert.

Kann es sein, dass mein Bruder erwachsen geworden ist?

»Nicht schlecht, nicht schlecht«, murmle ich beeindruckt, während ich herumgehe und mein neues vorübergehendes Zuhause besichtige. Leider wird es verdammt schwer für mich werden, etwas zu finden, das es auch nur halbwegs mit diesem Apartment hier aufnehmen kann.

Ich werfe einen Blick in den Kühlschrank. Mayonnaise, Senf, Ketchup und Grillsoßen stehen in der Tür, im mittleren Fach gammelt ein Pappkarton mit einer halb aufgegessenen Pizza vor sich hin und oben steht eine Milchtüte – leer.

Genau wie früher. So erwachsen ist Corbin dann doch noch nicht.

Unter der Theke entdecke ich ein paar Wasserflaschen. Ich nehme mir eine und mache mich auf die Suche nach dem Gästezimmer, in dem ich die nächste Zeit wohnen werde. Anschließend hole ich meinen Koffer, der neben der Tür steht, wo Corbins Freund immer noch tief und fest schläft, wuchte ihn aufs Bett und packe aus. In meinem Wagen warten noch drei weitere Koffer, sechs Umzugskisten und ein ganzes Bündel von Kleidern auf Bügeln, aber jetzt habe ich keine Energie mehr, die Sachen zu holen. Morgen ist Corbin wieder da und hat hoffentlich Lust, mir zu helfen.

Nachdem der Koffer ausgeräumt ist, stelle ich ihn in den Wandschrank, ziehe mir eine Jogginghose und ein Trägershirt an, putze mir die Zähne und freue mich darauf, mich endlich ins Bett legen zu können. Normalerweise fände ich es nicht so angenehm, allein mit einem fremden Mann in einer Wohnung zu schlafen. Aber ich weiß genau, dass Corbin mich niemals mit einem Typen hier übernachten lassen würde, wenn auch nur im Entferntesten das Risiko bestünde, dass irgendetwas passieren könnte.

Corbin traut nämlich grundsätzlich keinem männlichen Wesen über den Weg, wenn es um mich geht. Meiner Meinung nach ist an seinem wirklich übertriebenen Beschützerinstinkt sein ehemals bester Kumpel Blake schuld.

Meine Freundinnen und ich haben als Fünfzehnjährige alle für die Jungs aus Corbins Klasse geschwärmt – einfach nur, weil sie zwei Jahre älter waren als wir –, und ich war monatelang unsterblich in Blake verknallt. An den Wochenenden übernachtete er öfter bei Corbin und kriegte irgendwann auch mit, dass ich mich für ihn interessierte. Eins führte zum anderen. Ein paar Wochen lang knutschten wir nur heimlich, wenn Corbin es nicht mitbekam, dann outeten wir uns und Blake wurde mein erster Freund. Zu seiner Erleichterung hatte Corbin damit erst mal kein Problem. Allerdings konnte er nicht ahnen, wie mein Bruder reagieren würde, wenn er mir das Herz brach.

Was genau das war, was er tat.

Und wie er es brach.

Mein fünfzehnjähriges Herz zersplitterte in tausend Stücke, als sich einige Zeit später herausstellte, dass ich nicht das einzige Mädchen war, das glaubte, Blakes Freundin zu sein. Sobald Corbin Wind davon bekam, kündigte er ihm die Freundschaft und sorgte dafür, dass mir keiner jemals wieder zu nahe kam. Die Jungs hatten alle so viel Respekt vor ihm, dass es für mich schwer war, überhaupt noch welche kennenzulernen. Selbst als er dann nach seinem Abschluss wegzog, blieb es schwierig, weil sich wegen der Horrorstorys, die an unserer Schule kursierten, kaum einer an Corbins kleine Schwester herantraute.

Seitdem habe ich zwar mehrere Beziehungen gehabt, aber der Richtige ist mir noch nicht über den Weg gelaufen, obwohl ich mit meinem letzten Freund sogar ein ganzes Jahr zusammengewohnt habe. Leider stellte sich dann irgendwann heraus, wie vollkommen unterschiedlich unsere Lebensvorstellungen waren. Ihm wäre es am liebsten gewesen, ich wäre zu Hause geblieben und hätte Kinder bekommen, ich wollte noch einmal studieren und danach erst mal in meinem Job weiterarbeiten.

Deswegen habe ich mich entschlossen, nach San Francisco zu ziehen. Hier werde ich mich ganz auf mein Studium konzentrieren und mich von Männern erst mal fernhalten. Insofern ist es vielleicht sogar ganz gut, dass ich bei meinem Bruder wohne.

Bevor ich mich schlafen lege, gehe ich noch mal ins Wohnzimmer, um nach Corbins Freund zu sehen und das Licht auszumachen. Als ich an der Küche vorbeikomme, erstarre ich.

Er sitzt auf der äußersten Kante eines Barhockers, hat das Gesicht in die Hände gestützt und sieht aus, als würde er jeden Moment zur Seite kippen.

»Miles?«

Da er nicht reagiert, gehe ich zu ihm und lege vorsichtig eine Hand auf seine Schulter. Er schreckt hoch und schnappt nach Luft, als hätte ich ihn aus einem Traum gerissen.

Einem Albtraum.

Als er vom Hocker aufstehen will, hat er solche Schwierigkeiten, sich gerade zu halten, dass ich ihm spontan einen Arm um die Schulter lege. »Junge, Junge. Leg dich lieber auf die Couch«, sage ich. »Ich bring dich hin.«

Während er neben mir herstolpert, schlingt er einen Arm um meine Taille und legt dann auch noch sein Kinn auf meinen Kopf, was es schwieriger macht, ihn zu stützen. »Ich heiße nicht Jungejunge«, lallt er. »Ich heiße Miles.«

Als wir endlich bei der Couch angekommen sind, befreie ich mich behutsam aus seinem Griff. »Okay, Miles. Ich schlage vor, dass du dich jetzt hier schlafen legst.«

Miles fällt auf die Couch und zieht mich dabei mit sich nach unten. Als ich aufstehen will, hält er mich am Handgelenk fest. »Nicht gehen, Rachel. Bleib bei mir«, bettelt er.

»Ich heiße nicht Rachel«, sage ich streng und löse seine Finger von meinem Arm. »Ich heiße Tate.« Keine Ahnung, warum ich ihm meinen Namen sage, wo er sich doch morgen vermutlich sowieso an nichts mehr erinnert. Ich gehe das Kissen holen, das ich ihm vorhin unter den Rücken geschoben habe. Als ich damit zur Couch zurückkehre, hat er das Gesicht ins Polster gedrückt und krallt die Finger so fest in den Stoff, dass seine Knöchel weiß hervortreten. Seine Schultern zucken. Im ersten Moment denke ich, er sei kurz davor, sich zu übergeben, dann wird mir klar, dass ich mich irre.

Und wie ich mich irre.

Er übergibt sich nicht.

Er weint.

Und zwar so verzweifelt, dass er dabei fast keinen Ton von sich gibt.

Unschlüssig schaue ich zwischen ihm und meinem Zimmer hin und her und frage mich, ob ich ihn nicht lieber allein lassen sollte. Ich kenne ihn nicht und habe nicht die geringste Lust, mich in seine Angelegenheiten zu mischen. Aber statt meinem ersten Impuls zu folgen, zögere ich. Aus irgendeinem Grund rührt mich der Anblick. Sein Schmerz wirkt echt und nicht so, als hätte er bloß zu viel getrunken.

Seufzend knie ich mich neben ihn und berühre ihn an der Schulter. »Miles?«

Er holt tief Luft und dreht langsam den Kopf zu mir. Seine Augen sind gerötet. Ich weiß nicht, ob vom Alkohol oder vom Weinen. »Es tut mir leid, Rachel«, schluchzt er, streckt die Arme nach mir aus, zieht mich an sich und begräbt sein Gesicht an meinem Hals. »Es tut mir so leid.«

Ich habe keine Ahnung, wer diese Rachel ist oder was er ihr angetan hat. Soll ich in seinem Handy nach ihr suchen und sie anrufen, damit sie herkommt und ihn tröstet? Aber wenn er ihretwegen solche Schuldgefühle hat, möchte ich mir lieber gar nicht erst vorstellen, wie wütend sie auf ihn ist. Sanft drücke ich ihn wieder auf die Couch zurück und schiebe ihm das Kissen unter den Kopf. »Schlaf jetzt, Miles.«

Sein Blick ist untröstlich. »Wie sehr du mich hasst«, sagt er erstickt und greift nach meiner Hand. Nach einer Weile fallen ihm die Augen zu und er stößt einen tiefen Seufzer aus.

Ich erlaube ihm, meine Hand zu halten, bis er in einen unruhigen Schlaf gefallen ist. Nachdem ich meine Hand weggezogen habe, bleibe ich noch ein paar Minuten neben ihm sitzen und betrachte ihn.

Selbst schlafend sieht er aus, als wäre er noch immer in seinem Schmerz gefangen. Er hat die Brauen zusammengezogen und sein Atem geht stoßweise.

Erst jetzt bemerke ich die blasse, gezackte Narbe, die sich von seinem rechten Ohr über die Seite seines Unterkiefers bis kurz vor seinen Mundwinkel zieht. Ich widerstehe dem unerklärlichen Bedürfnis, sie zu berühren, und streichle ihm – obwohl er das wahrscheinlich gar nicht verdient – stattdessen tröstend durch die Haare, die in einer perfekten Mischung aus Karamell- und Blondtönen glänzen.

Vermutlich hat er wegen dem, was er Rachel angetan hat, völlig zu Recht ein schlechtes Gewissen. Aber wenigstens empfindet er es auch, das muss man ihm lassen.

Wenigstens liebt er sie so, dass er es bereut.

Zweites KapitelMILES

Sechs Jahre davor

Ich öffne die Tür zum Sekretariat und lege Mrs Borden die Anwesenheitsliste auf den Schreibtisch. Als ich mich umdrehe und wieder gehen will, hält sie mich zurück. »Moment noch, Miles. Sie sind doch im Englischkurs bei Mr Clayton, oder?«

»Ja, stimmt«, antworte ich. »Wieso? Soll ich irgendwas für ihn mitnehmen?«

Das Telefon klingelt. Sie hebt ab und hält die Sprechmuschel mit der Hand zu. »Könnten Sie kurz warten?« Sie nickt in Richtung des Büros unseres Schulleiters. »Er spricht gerade mit einer neuen Schülerin, die auch in Mr Claytons Kurs ist. Sie könnten ihr den Weg zur Klasse zeigen.«

»Klar.« Ich setze mich auf einen der Stühle neben der Tür. Mir wird bewusst, dass ich heute zum ersten Mal hier sitze, was bedeutet, dass ich in den vier Jahren an der Highschool kein einziges Mal irgendetwas ausgefressen habe, weswegen ich zum Schulleiter musste.

Meine Mutter wäre sicher stolz auf mich, aber ich finde es eher ein bisschen peinlich. Gehört es nicht dazu, wenigstens einmal im Lauf seiner Schulkarriere eine Verwarnung zu kassieren? Mir bleibt noch der Rest des Abschlussjahrs, um mich so danebenzubenehmen, dass ich eine bekomme. Auch gut, dadurch habe ich wenigstens etwas, worauf ich mich freuen kann.

Obwohl Handys in der Schule verboten sind, ziehe ich meins aus der Tasche. Vielleicht sieht Mrs Borden mich ja und meldet es gleich empört dem Schulleiter. Als ich aufschaue, telefoniert sie immer noch. Sie bemerkt das Handy, lächelt aber nur und notiert sich etwas, das der Anrufer sagt.

Ich schüttle enttäuscht den Kopf und tippe eine Nachricht an Ian. An unserer Schule passiert nie etwas, da ist die Ankunft einer neuen Schülerin gleich die große Sensation.

Ich: Bin im Sekretariat und soll auf ein Mädchen warten, das sich neu angemeldet hat. 12. Klasse.

Ian: Wie sieht sie aus?

Ich: Hab sie noch nicht gesehen.

Ian: Wenn sie heiß ist, will ich ein Foto.

Ich: Kriegst du. Noch was. Wie viele Verwarnungen hast du dieses Jahr schon bekommen?

Ian: Zwei. Warum? Was hast du gemacht?

Zwei? Ich muss dringend rebellischer werden, bevor ich meinen Abschluss mache. Ist bei mir nicht irgendeine Hausarbeit fällig, die ich zu spät abgeben könnte?

Du bist erbärmlich, Miles.

Die Tür des Schulleiters geht auf, ich stecke das Handy weg, schaue hoch und …

… will nie wieder wegschauen.

»Miles ist auch in Mr Claytons Kurs, Rachel. Er zeigt dir den Weg«, sagt Mrs Borden und deutet in meine Richtung. Rachel nickt und geht auf mich zu.

Auf einmal sind meine Beine zu schwach, um aufzustehen und mich zu tragen.

Mein Mund hat vergessen, wie man spricht.

Mein Arm hat vergessen, wie man jemandem zur Begrüßung die Hand gibt.

Mein Herz hat vergessen, dass es warten soll, bis man ein Mädchen richtig kennengelernt hat, bevor es aus der Brust springt und ihr entgegenfliegt.

Rachel.

                           Rachel.

Rachel. Rachel. Rachel.

Sie ist pure Poesie.

Sie ist wie eine Geschichte,

ein Liebesbrief

oder

ein Gedicht.

Wie gereimte

Wörter,

die

übers Papier

strömen.

Rachel. Rachel. Rachel.

Ich sage mir ihren Namen in Gedanken immer wieder vor, weil ich jetzt schon sicher bin, dass es der Name des Mädchens ist, in das ich mich verlieben werde.

Auf einmal stehe ich doch. Gehe auf sie zu. Lächle vielleicht und tue so, als würden diese grünen Augen nichts in mir auslösen und ihr Lächeln mich nicht wünschen lassen, sie würde eines Tages nur für mich lächeln.

Diese herzblutroten Haare, die aussehen, als hätte sich die Natur diesen einen Farbton ganz speziell für Rachel ausgedacht.

Ich spreche mit ihr.

Sage ihr, dass ich Miles heiße.

Dass ich sie mitnehmen kann, weil ich auch in

Mr Claytons Kurs bin.

Als sie nichts darauf antwortet, warte ich,

dann nickt sie, und ihr Nicken ist

die schönste Antwort, die ich je von einem Mädchen bekommen habe.

Wir gehen Seite an Seite.

Ich frage sie, woher sie kommt, und sie sagt: Arizona. »Phoenix, um genau zu sein.«

Ich frage sie nicht, was sie nach Kalifornien verschlagen hat, erzähle nur, dass mein Vater öfter geschäftlich in Phoenix zu tun hat, weil ihm dort ein paar Immobilien gehören.

Sie lächelt.

Ich sage ihr, dass ich selbst nie dort gewesen bin, aber gern mal hinfahren würde.

Sie lächelt wieder.

Ich glaube, sie sagt, dass die Stadt ganz schön ist, doch es fällt mir schwer, ihr zu folgen, weil ich in meinem Kopf immer nur ihren Namen höre.

Rachel.

Ich werde mich in dich verlieben, Rachel.

Ihr Lächeln lässt mich wünschen, wir könnten uns endlos unterhalten, deswegen stelle ich ihr noch eine Frage, als wir zu Mr Claytons Raum kommen,

und gehe einfach daran vorbei.

Sie redet weiter,

weil ich ihr immer neue Fragen stelle.

Sie nickt.

Sie antwortet.

Sie singt.

Jedenfalls hört es sich für mich so an.

Wir haben das Ende des Ganges erreicht, als sie sagt, dass sie hofft, sie wird sich an unserer Schule wohlfühlen, weil sie eigentlich nicht aus Phoenix wegwollte.

Ich sehe, dass sie nicht glücklich über den Umzug ist.

Sie ahnt nicht, wie glücklich ich darüber bin.

»Und wo ist jetzt Mr Claytons Raum?«, fragt sie.

Ich betrachte den Mund, aus dem die Frage gekommen ist.

Ihre Unterlippe ist voller als die Oberlippe, was man aber erst sieht, wenn sie spricht. Ich frage mich, wie es sein kann, dass die Wörter, die ihr Mund spricht, so viel perfekter sind als die Wörter, die alle anderen Münder sprechen.

Und ihre Augen. Es kann gar nicht sein, dass diese Augen nicht eine viel schönere und idealere Welt sehen als all die anderen Augen.

Ich schaue sie ein paar Sekunden lang an, dann zeige ich über meine Schulter und sage, dass wir an Mr Claytons Klassenzimmer längst vorbei sind.

Ihre Wangen färben sich eine Spur rosiger, als hätte mein Geständnis in ihr das ausgelöst, was ihr Anblick in mir ausgelöst hat.

Ich lächle.

Ich nicke in Richtung des Klassenzimmers und wir gehen zurück.

Rachel.

Du wirst dich in mich verlieben, Rachel.

Ich öffne die Tür und sage Mr Clayton, dass Rachel die neue Schülerin ist. Am liebsten würde ich die anderen Jungs im Kurs warnen, dass sie sich keine Hoffnungen machen sollen.

Sie gehört mir.

Aber ich tue es nicht.

Das ist nicht nötig, weil der einzige Mensch, der wissen muss, dass ich Rachel will, Rachel ist.

Sie sieht mich an und lächelt wieder, dann setzt sie sich auf den einzigen freien Platz am anderen Ende des Klassenzimmers.

Ihre Augen sagen, dass sie weiß, dass sie mir gehört.

Dass es nur eine Frage der Zeit ist.

Ich will Ian schreiben: Sie ist nicht heiß. Sie ist ein Vulkan. Aber darüber würde er nur lachen.

Stattdessen mache ich unauffällig ein Foto von ihr und schicke es ihm. Das ist die Mutter meiner zukünftigen Kinder, schreibe ich darunter.

Mr Clayton beginnt mit dem Unterricht.

Miles Archer beginnt zu lieben.

***

Am Montag habe ich Rachel kennengelernt.

Heute ist Freitag.

Seitdem habe ich kein Wort mehr zu ihr gesagt. Ich weiß nicht, warum. Wir haben drei Kurse zusammen. Wenn wir uns treffen, lächelt sie. Ich glaube, sie will, dass ich sie anspreche. Aber jedes Mal, wenn ich genug Mut gesammelt habe, fällt er wieder in sich zusammen.

Früher war ich selbstsicher.

Dann kam Rachel.

Ich habe mir bis heute Zeit gegeben. Schaffe ich es nicht, sie anzusprechen, habe ich meine Chance vertan.

Mädchen wie Rachel bleiben nicht lange allein.

Wenn sie überhaupt noch allein ist.

Ich weiß nichts über sie oder ob in Phoenix jemand wartet, dem sie nachtrauert. Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.

Ich stelle mich neben ihr Schließfach und warte. Sie kommt den Gang entlang und lächelt mir entgegen.

»Hi«, sage ich. Ich sehe, dass ihre Wangen sich wieder rosa färben, und das freut mich.

Ich frage sie, wie ihre erste Woche gelaufen ist. Sie sagt, dass es ganz okay war. Ich frage, ob sie schon Leute kennengelernt hat. Sie zuckt mit den Schultern. »Ein paar.«

Ich atme ihren Duft ein und hoffe, sie merkt es nicht.

Sie merkt es.

Ich sage ihr, dass sie gut riecht.

»Danke«, sagt sie.

Ich überhöre das Schlagen meines Herzens, das in meinen Ohren dröhnt, ignoriere die Feuchtigkeit meiner Hände und schlucke ihren Namen, den ich laut herausbrüllen möchte, in meiner Kehle ganz weit hinunter.

Ich dränge alles weg,

sehe ihr fest in die Augen und frage sie,

ob sie Lust hat, sich nachher mit mir zu treffen.

Ich dränge alles weg

und warte auf ihre Antwort, weil sie

das Einzige ist, worauf es ankommt.

Vor allem warte ich auf das Nicken. Das Nicken, das keine Sprache braucht. Auf ein Lächeln vielleicht.

Es kommt nicht.

Sie hat heute Abend schon etwas vor.

Und alles Zurückgedrängte bahnt sich mit zehnfacher Wucht einen Weg zurück, kommt über mich wie eine Flutwelle und ich bin der Damm, der bricht. Der Herzschlag, die feuchten Hände, ihr Name – eine Unsicherheit, von der ich nicht einmal wusste, dass sie existiert, macht sich in meiner Brust breit und mit einem Mal ist Rachel ganz weit weg.

»Aber morgen kann ich«, sagt sie,

plötzlich wieder ganz nah.

Ich schaffe in mir Raum für die Wörter, die ich eben gehört habe. Viel Raum. Ich lasse mich von ihnen erfüllen, sauge sie auf wie ein Schwamm. Schnappe sie aus der Luft, lasse sie auf der Zunge zergehen und verschlinge sie.

»Morgen kann ich auch«, sage ich und ziehe mein Handy aus der Tasche, ohne mich für mein Lächeln zu schämen. »Gibst du mir deine Nummer? Dann rufe ich dich an.«

Sie gibt mir ihre Nummer.

Sie sagt, sie freut sich.

Sie freut sich.

Ich tippe Rachels Nummer in mein Handy und weiß, dass sie lange darin gespeichert bleiben wird.

Und dass ich sie anrufen werde.

Oft.

Drittes KapitelTATE

Wenn ich unter normalen Umständen morgens die Augen aufschlagen und in der Zimmertür einen Mann sehen würde, der mich schlecht gelaunt anstarrt, würde ich laut schreien. Ich würde mit Gegenständen nach ihm werfen. Ich würde ins Bad rennen und mich einschließen.

Doch ich tue nichts davon.

Ich starre erst mal nur zurück, weil ich mich frage, ob das derselbe Mann sein kann, der gestern erst betrunken im Hausflur lag, um sich dann später auf der Couch in den Schlaf zu weinen.

Der Mann in der Tür wirkt nämlich nicht angeschlagen oder traurig, sondern … einschüchternd. Er sieht mich an, als müsste ich mich für irgendetwas entschuldigen oder ihm eine Erklärung liefern.

Trotzdem kann es nur der Typ von gestern sein, weil er dieselbe Jeans und dasselbe schwarze T-Shirt anhat, in denen er auf der Couch eingeschlafen ist. Der einzige Unterschied ist, dass er heute Morgen ohne Hilfe aufrecht stehen kann.

»Was ist gestern passiert, Tate? Warum tut meine Hand so verdammt weh?«

Er kennt meinen Namen. Hat er ihn sich von gestern Abend gemerkt? Oder hat mein Bruder ihm erzählt, dass ich einziehe? Ich hoffe, dass Corbin mit ihm über mich gesprochen hat, weil ich eigentlich nicht will, dass er sich an gestern Abend erinnert. Plötzlich ist es mir peinlich, dass ich ihm über die Haare gestreichelt habe.

Aber da er anscheinend keine Ahnung hat, was mit seiner Hand passiert ist, besteht eine gute Chance, dass er sich auch sonst an nichts erinnert.

Jetzt lehnt er sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen und sieht mich so vorwurfsvoll an, als wäre ich für seinen vermasselten Abend verantwortlich. Schnaubend drehe ich mich zur Seite, ohne darauf zu reagieren, dass er offensichtlich eine Entschuldigung von mir erwartet. Ich habe längst noch nicht ausgeschlafen. »Du kannst die Vorhänge im Wohnzimmer ruhig zulassen, wenn du gehst«, sage ich und hoffe, dass er den Wink versteht.

»Wo ist mein Handy?«

Ich ziehe mir die Decke über den Kopf, kneife die Augen zusammen und versuche seine dunkle samtige Stimme auszublenden, die durch meine Ohren in meinen Körper schlüpft, sich an den Nervenbahnen entlangschlängelt und mich an Stellen wärmt, die unter der dünnen Decke heute Nacht gefroren haben.

Ich rufe mir in Erinnerung, dass der Mensch, dem diese einschmeichelnde Stimme gehört, mich rüde in meinem Schlaf gestört hat, ohne mir mit einem Wort dafür zu danken, dass ich ihm gestern Abend praktisch das Leben gerettet habe. Wo bleibt mein: Es war echt wahnsinnig nett von dir, Tate, dass du mir geholfen hast, oder zumindest ein Hey, ich bin übrigens Miles. Nett, dich kennenzulernen?

Aber nein, das ist offenbar zu viel erwartet. Der Typ macht sich stattdessen Sorgen um sein Handy. Und um seine verstauchte Hand. Er ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er auch nur einen Gedanken daran verschwenden würde, dass er andere mit seinem rücksichtslosen Verhalten womöglich vor den Kopf stößt. Und da dieser Typ und seine unangenehme Persönlichkeit in den nächsten Monaten meine direkten Nachbarn sein werden, sollte ich vielleicht am besten gleich Klartext mit ihm reden.

Ich schleudere die Decke von mir, steige aus dem Bett, stapfe auf ihn zu und stemme die Hände in die Seiten.

»Tu mir einen Gefallen und geh mal einen Schritt zurück, ja?«

Zu meiner Überraschung tut er es. Ich sehe ihm einen Moment in die Augen, dann knalle ich ihm die Tür vor der Nase zu. Mit einem triumphierenden Lächeln gehe ich zum Bett zurück, lege mich hinein und ziehe mir die Decke über den Kopf.

Gewonnen.

Habe ich erwähnt, dass ich morgens extrem unleidlich bin?

Die Tür geht wieder auf.

Nein, sie fliegt auf.

»Sag mal, spinnst du? Was hast du für ein Problem?«

Ich stöhne, dann setze ich mich im Bett auf und sehe ihn an.

»Dich!«, schreie ich. »Du bist mein Problem.«

Er sieht echt geschockt aus, worauf ich sofort ein schlechtes Gewissen bekomme. Dabei ist er doch derjenige, der sich wie ein Arschloch verhält!

Oder etwa nicht?

Jedenfalls hat er angefangen.

Glaube ich.

Er schüttelt den Kopf, dann stutzt er plötzlich und sieht mich stirnrunzelnd an.

»Sag mal, haben wir …« Er räuspert sich und zeigt mit dem Finger auf mich und dann auf sich. »Lief gestern irgendwas zwischen uns? Bist du deswegen sauer?«

Ich lache laut auf. Mein erster Eindruck hat mich also nicht getrogen. Er ist ein Arschloch.

Ein Arschloch, das sich offensichtlich regelmäßig bewusstlos säuft und dabei so viele Mädchen abschleppt, dass er nicht mehr weiß, mit welcher er etwas hatte und mit welcher nicht.

Als ich den Mund öffne, um ihm zu sagen, was ich von ihm halte, höre ich, wie jemand in die Wohnung kommt und die Tür zuschlägt. »Tate?«

Das ist Corbin. Ich springe auf und will zu ihm, aber dieser Miles steht immer noch in der Tür und scheint auf eine Antwort zu warten. Ich sehe ihn an und bin einen Moment aus dem Konzept gebracht.

Seine Augen sind nicht rot geädert und glasig wie gestern, sondern so unfassbar klar und meerblau, dass ich beinahe damit rechne, kleine Wellen darin zu sehen. Ich möchte fast behaupten, seine Augen sind so türkisblau wie das Wasser in der Karibik, auch wenn ich noch nie dort war und es nicht wirklich beurteilen kann.

Im nächsten Moment schleudert Miles mich mit einem Blinzeln vom karibischen Traumstrand wieder zurück nach San Francisco. Zurück in dieses Zimmer. Zurück zu der Frage, die er mir eben gestellt hat, bevor Corbin zur Tür reingekommen ist.

»Müsstest du das nicht selbst am besten wissen?«, zische ich und warte darauf, dass er zur Seite tritt.

Er richtet sich auf, und ich bilde mir ein, förmlich zu sehen, wie er sich eine unsichtbare Rüstung anlegt, so steif steht er da.

Seinem Blick nach zu urteilen, gefällt ihm die Vorstellung, dass wir beide etwas miteinander gehabt haben könnten, ganz und gar nicht. Er wirkt geradezu angeekelt, worauf ich ihn gleich noch unsympathischer finde.

Ein paar Sekunden lang fechten wir ein stummes Blickduell aus, dann macht er einen Schritt zur Seite und lässt mich vorbei. Corbin biegt gerade um die Ecke, als ich aus dem Zimmer komme. Fragend sieht er zwischen Miles und mir hin und her, aber ich gebe ihm mit einem Augenrollen zu verstehen, dass er falschliegt, falls er denkt, da wäre etwas gewesen.

»Hey, Schwesterherz.« Er breitet die Arme aus und zieht mich an sich.

Das letzte Mal haben wir uns vor sechs Monaten gesehen, und ich muss daran denken, dass man oft erst merkt, wie sehr man jemanden vermisst hat, wenn man ihn wiedertrifft. Bei Corbin und mir ist das nicht so. Meinen Bruder vermisse ich immer. So sehr mir sein Beschützerwahn auf die Nerven geht, empfinde ich ihn doch gleichzeitig auch als Beweis dafür, wie nahe wir uns sind.

Corbin lässt mich los, sieht mich an und zupft spielerisch an meinen Haaren. »Ganz schön lang geworden«, stellt er fest. »Finde ich gut.«

Ich streiche ihm die Haare zurück, die ihm in die Stirn fallen. »Deine aber auch«, sage ich grinsend. »Finde ich gar nicht gut.« Dabei stimmt das nicht, ich mag den Surfer-Look an ihm. Wir haben schon oft zu hören bekommen, man würde sehen, dass wir Geschwister sind, obwohl das meiner Meinung nach gar nicht stimmt. Er hat zum Beispiel einen viel dunkleren Teint als ich, um den ich ihn sehr beneide. Abgesehen von unseren braunen Haaren sehen wir vollkommen unterschiedlich aus und haben noch nicht mal die gleiche Augenfarbe. Mom sagt immer, zusammen wären wir wie ein Baum. Corbins grüne Augen seien die Blätter und meine braunen der Stamm.

Als Kind wollte ich viel lieber Blätteraugen haben, weil Grün meine Lieblingsfarbe war.

»Na, Alter.« Corbin nickt Miles zu. »Hast wohl eine harte Nacht hinter dir, was?« Er lacht.

Miles schiebt sich an uns beiden vorbei. »Keine Ahnung«, murmelt er. »Ich erinnere mich an nichts.« Er geht in die Küche, öffnet einen Schrank und greift so selbstverständlich nach einem Glas, als wäre er hier zu Hause.

Irgendwie passt mir das nicht.

Der ganze Miles passt mir nicht.

Jetzt zieht er eine Schublade auf, nimmt ein Fläschchen Aspirin heraus, füllt das Glas mit Wasser und wirft sich zwei Tabletten in den Mund.

»Hast du deine Sachen schon hochgeholt?« Corbin sieht mich fragend an.

»Nein.« Ich deute zu Miles hinüber. »Ich war gestern Abend zu sehr mit deinem Nachbarn beschäftigt.«

Der räuspert sich nervös, spült das Glas aus und stellt es in den Schrank zurück. Ich verkneife mir das Lachen. Irgendwie macht es mir Spaß, ihn zu ärgern. Es amüsiert mich, dass er wirklich keine Ahnung hat, was gestern passiert ist. Mal sehen, wie lange ich ihn noch zappeln lasse.

Corbin sieht mich an, grinst und schüttelt unmerklich den Kopf. Er kennt mich eben.

Als Miles aus der Küche kommt, streift er mich nur mit einem Seitenblick. »Ich wäre längst rübergegangen«, sagt er zu Corbin. »Aber es sieht so aus, als hätte ich meinen Schlüssel verloren. Hast du noch meinen Ersatzschlüssel?«

»Jep.« Corbin geht in die Küche, öffnet eine Schublade und wirft ihm einen Schlüssel zu. Miles fängt ihn lässig aus der Luft. »Es wäre super, wenn du in einer Stunde noch kurz Zeit hättest, mit mir Tates Kram aus dem Auto zu holen. Ich würde vorher nur gern noch schnell duschen.«

»Sicher.« Miles nickt.

»Und du erzählst mir nachher mal in Ruhe, was in deinem Leben so alles passiert ist«, sagt Corbin zu mir. »Später, wenn es nicht mehr ganz so früh am Morgen ist.«

Obwohl es sieben Jahre her ist, seit wir zusammen bei unseren Eltern gewohnt haben, erinnert sich mein Bruder offenbar noch gut daran, dass ich morgens nur mit Vorsicht zu genießen bin. Zu dumm, dass sein Nachbar das nicht weiß.

Nachdem Corbin in seinem Zimmer verschwunden ist, drehe ich mich zu Miles, der offenbar immer noch darauf wartet, dass ich seine Fragen beantworte. Weil ich inzwischen nur noch will, dass er endlich geht, bekommt er seine Antworten alle auf einmal.

»Du lagst gestern Abend, als ich hier angekommen bin, total besoffen im Hausflur und hast versucht, dich zusammen mit mir ins Apartment zu drängen. Ich hatte in dem Moment keine Ahnung, wer du bist, deswegen habe ich die Tür vielleicht ein bisschen brutaler als nötig zugedrückt, um dich draußen zu halten, okay? Deine Hand ist nicht gebrochen, höchstens verstaucht. Wenn du Eis drauflegst, ist in ein paar Stunden alles wieder gut. Und nein, zwischen uns ist nichts gelaufen. Nachdem Corbin mir gesagt hat, wer du bist, habe ich dich reingelassen und dir auf die Couch geholfen. Ach so, und dein kostbares Handy liegt auf dem Boden neben der Wohnungstür, wo es dir gestern runtergefallen ist, weil du zu betrunken warst, um es festzuhalten.«

Sein Blick verrät mir nicht, was er denkt, ist aber so durchdringend, dass ich mich abwende und auf mein Zimmer zugehe, weil ich seine Intensität nicht ertrage. An der Tür drehe ich mich noch mal um. »Wenn du in einer Stunde wiederkommst und ich die Möglichkeit hatte, richtig wach zu werden, können wir es ja noch mal versuchen.«

Miles’ Kiefer spannt sich an. »Was versuchen?«, fragt er.

»Uns kennenzulernen. Auf dem richtigen Fuß.«

Ich schließe die Tür und schaffe so eine Barriere zwischen mir und dieser Stimme.

Diesem Blick.

***

»Wie viele Kartons sind es denn?«, fragt Corbin und zieht seine Schuhe an, die neben der Tür stehen. Ich greife nach meinem Wagenschlüssel.

»Sechs. Außerdem drei Koffer und jede Menge Klamotten auf Bügeln.«

Corbin geht zum Apartment gegenüber, schlägt mit der flachen Hand einmal gegen die Tür und folgt mir dann zum Aufzug. »Hast du Mom schon Bescheid gegeben, dass du gut angekommen bist?«, fragt er und drückt auf den Knopf.

»Ja, großer Bruder, ich hab ihr gestern Abend noch eine SMS geschrieben.«

In dem Moment, in dem der Aufzug kommt, höre ich, wie hinter mir eine Tür aufgeht, drehe mich aber nicht um. Wir betreten die Kabine und Corbin legt die Hand vor die Lichtschranke, um den Aufzug für Miles aufzuhalten.

Als er lässig angeschlendert kommt, ahne ich, dass ich den Kampf verlieren werde. Den Kampf, von dem mir bis dahin nicht einmal bewusst war, dass ich ihn führe. Es passiert mir nicht oft, dass ich einen Typen anziehend finde, aber wenn es passiert, ist es mir lieber, es ist jemand, den ich anziehend finden möchte.