Alle außer Alice - Liane Moriarty - E-Book
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Alle außer Alice E-Book

Liane Moriarty

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Beschreibung

Durch einen Sturz verlor Alice kurzzeitig das Bewusstsein. Offenbar ist ihr dabei auch jegliche Erinnerung an die letzten zehn Jahre abhandengekommen. War sie nicht glücklich mit Ehemann Nick und schwanger mit dem ersten Kind? Stattdessen soll sie 39 Jahre alt sein, bereits drei Kinder haben und kurz vor der Scheidung stehen. Was ist geschehen, und was für ein Mensch ist sie geworden? Lässt sich die Zeit wieder zurückdrehen?

Dieser Roman erschien zuvor unter dem Titel »Vergiss ihn nicht«.

  • Der perfekte Feel-Good-Roman von der Bestsellerautorin von "Big Little Lies"
  • Über 14 Millionen verkaufte Bücher weltweit – Liane Moriarty erobert die Herzen ihrer Leserinnen (Stand Februar 2020)
  • »Eine der wenigen Schriftstellerinnen, für die ich alles stehen und liegen lasse.« (Jojo Moyes)

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Seitenzahl: 698

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ZUMBUCH

Alice Love ist neunundzwanzig, verrückt nach ihrem Mann und schwanger mit ihrem ersten Kind. Schön wäre es – denn zu ihrer Überraschung erfährt sie nach einem Sturz im Fitnessstudios und einem anschließenden Krankenhausaufenthalt, dass die Flitterwochen vorbei sind, die Scheidung läuft und sie mit 39 Jahren drei Kinder hat. Alice will die Ereignisse eines verlorenen Jahrzehnts rekonstruieren und gleichzeitig versuchen, ihr altes Leben zurückzubekommen. Sie muss herausfinden, warum ihre Schwester kaum noch mit ihr spricht, und wie es sein kann, dass sie zu einer dieser superdünnen Frauen mit teuren Klamotten geworden ist. Und warum glaubt ihr Mann, sie wolle ihn nicht mehr zurückhaben, sobald sie sich wieder erinnern kann, was in den letzten Jahren passiert ist?

Vergessen kann sowohl Segen oder Fluch sein – es liegt in Alices Hand …

ZURAUTORIN

Liane Moriarty lebt mit ihrer Familie in Sydney und ist seit Jahren auf den internationalen Bestsellerlisten vertreten. Ihre Romane verkauften sich weltweit über 20 Millionen Mal und werden insgesamt in 46 Ländern veröffentlicht. Mit der Filmadaption von »Big Little Lies« eroberte die Autorin zudem Hollywood: Die Serie wurde mit einem Emmy und dem Golden Globe ausgezeichnet. Hauptdarstellerin und Produzentin Nicole Kidman verfilmte auch »Neun Fremde«, die Rechte sicherte sich Amazon Prime.

LIANE

MORIARTY

ALLE

außer

ALICE

ROMAN

AUS DEM ENGLISCHEN

VON SYLVIA STRASSER

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Überarbeitete Neuveröffentlichung 10/2021

Copyright © 2009 by Liane Moriarty,

Titel der australischen Ausgabe: What Alice Forgot

Copyright © der deutschsprachigen Übersetzung by Bastei Lübbe AG,

Köln Copyright © 2021 dieser Ausgabe by Diana Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Antje Steinhäuser

Umschlaggestaltung: Verlagsatelier Romy Pohl, Landsberg am Lech

Umschlagmotive: © 2M media/Shutterstock.com

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-28399-5V001

www.diana-verlag.de

Das ganze Leben besteht aus Erinnerungen,

abgesehen von jenem gegenwärtigen Augenblick,

der so schnell vorbeigeht,

dass man ihn kaum wahrnimmt.

TENNESSEE WILLIAMS

Die Ehe ist eine Tortur.

JOSEPH CAMPBELL

Für Adam

1

Die Arme ausgebreitet, trieb sie im Wasser, das sanft gegen ihren Körper plätscherte, und nahm den sommerlichen Duft von Salz und Kokosnuss wahr. Sie hatte einen angenehmen Geschmack vom Frühstück im Mund – Croissants, Schinken und Kaffee. Als sie das Kinn hob, musste sie die Augen zusammenkneifen und blinzeln, um ihre Füße sehen zu können, so grell wurde die Morgensonne vom Wasser reflektiert. Ihre Fußnägel waren lackiert, jeder in einer anderen Farbe: rot, gold, lila. Lustig. Der Nagellack war unordentlich aufgetragen worden und warf kleine Blasen.

Neben ihr befand sich noch jemand im Wasser. Jemand, den sie schrecklich gernhatte, der sie häufig zum Lachen brachte und dessen Fußnägel genauso lackiert waren wie ihre. Diese andere Person wackelte ihr freundschaftlich mit ihren nassen Zehen zu. Träge Zufriedenheit erfüllte sie. Irgendwo in der Ferne rief eine Männerstimme: »Marco?«, und ein Chor aus Kinderstimmen antwortete: »Polo!« Der Mann schrie abermals: »Marco, Marco, Marco?«, und die Stimmen riefen fröhlich zurück: »Polo, Polo, Polo!« Ein Kind lachte ausgelassen.

Eine Stimme sagte ihr ruhig und eindringlich ins Ohr: »Alice?« Sie ließ ihren Kopf in den Nacken fallen und das kühle Wasser über ihr Gesicht fluten.

Winzige Lichtpünktchen tanzten ihr vor den Augen.

War das ein Traum oder eine Erinnerung?

»Ich weiß es nicht«, sagte eine panische Stimme. »Ich hab nicht gesehen, wie es passiert ist.«

Ach, mach dir doch nicht ins Hemd.

Der Traum oder die Erinnerung oder was immer es war, löste sich auf, verflüchtigte sich wie ein Spiegelbild im Wasser. Stattdessen wirbelten ihr Gedankenfetzen durch den Kopf, so als wachte sie spät an einem Sonntagmorgen aus einem langen, tiefen Schlaf auf.

Ist Frischkäse eigentlich ein Weichkäse?

Ein Hartkäse ist es jedenfalls nicht. Er ist …

… überhaupt nicht hart. Logischerweise sollte man also …  denken. Etwas denken.

Etwas Logisches.

Lavendel ist wunderschön.

Logischerweise wunderschön.

Der Lavendel muss zurückgeschnitten werden!

Hier riecht es nach Lavendel.

Nein, tut es nicht.

Doch, tut es.

In diesem Moment bemerkte sie zum ersten Mal die Schmerzen in ihrem Kopf. Er tat auf der einen Seite so höllisch weh, als hätte ihr jemand einen Schlag mit dem Hammer verpasst.

Ihre Gedanken schärften sich. Woher kamen diese Kopfschmerzen? Niemand hatte etwas von Kopfschmerzen gesagt. Sie hatte eine ganze Liste von merkwürdigen Dingen, auf die sie gefasst sein musste, Dinge wie Sodbrennen, den Geschmack von Aluminiumfolie im Mund, Schwindel, bleierne Müdigkeit, aber rasende Kopfschmerzen gehörten nicht dazu. Das hätte man ihr aber sagen müssen, weil die Schmerzen wirklich schlimm waren. Andererseits, wie sollte das werden, wenn sie nicht einmal imstande war, hundsgewöhnliche Kopfschmerzen auszuhalten?

Der Lavendelduft wehte heran und wieder fort wie eine laue Brise.

Sie ließ sich von Neuem treiben.

Das Beste wäre, einfach wieder einzuschlafen und diesen bezaubernden Traum mit dem Wasser und den verschiedenfarbigen Fußnägeln weiterzuträumen.

Vielleicht hatte man sie ja vor Kopfschmerzen gewarnt, und sie hatte es nur vergessen? Ja, richtig, jetzt fiel es ihr wieder ein. Ganz üble Kopfschmerzen. Na toll.

Da war so vieles, das man beachten musste. Kein Frischkäse, kein geräucherter Lachs, kein Sushi, weil man von diesen Nahrungsmitteln etwas bekommen konnte, von dessen Existenz sie nicht einmal etwas geahnt hatte. Listeriose. Wurde hervorgerufen durch Bakterien, die Listerien hießen. Schädlich für das Baby. Deshalb durfte man auch keine Reste essen. Ein einziger Bissen von einer übrig gebliebenen Hähnchenkeule konnte das Baby töten. Die enorme Verantwortung einer Mutter.

Jetzt würde sie erst mal weiterschlafen. Das war das Beste.

Listerien.

Wisterien.

Die Wisteria über dem Gartenzaun wird hinreißend aussehen, wenn sie es irgendwann einmal schaffen sollte zu blühen. Listerien, Wisterien.

Ha! Komische Wörter sind das.

Sie lächelte, aber ihr Kopf tat wirklich höllisch weh. Sie gab sich alle Mühe, tapfer zu sein.

»Alice? Kannst du mich hören?«

Der Lavendelduft wurde wieder stärker. Es war ein süßlicher Duft, ein bisschen Übelkeit erregend.

Frischkäse ist ein streichfähiger Käse. Nicht zu weich, nicht zu hart, gerade richtig. Wie das Bett des kleinen Bären.

»Ihre Augenlider flattern. Als ob sie träumen würde.«

Es hatte keinen Sinn. Sie konnte nicht wieder einschlafen, obwohl sie so müde war, dass sie das Gefühl hatte, bis in alle Ewigkeit schlafen zu können. Hatten alle Schwangeren so grauenvolle Kopfschmerzen? Sollten sie dadurch auf die Geburtswehen vorbereitet, gleichsam abgehärtet werden? Gleich nach dem Aufstehen würde sie in ihren Babybüchern nachsehen, ob sie etwas darüber fand.

Sie vergaß immer wieder, wie nervtötend Schmerzen waren. Einfach grausam. Geradezu kränkend. Man wollte nichts weiter, als dass sie aufhörten, und zwar auf der Stelle, bitte sehr. Eine Periduralanästhesie, jawohl, das war genau das, was sie jetzt brauchte. Bitte eine PDA für meine Kopfschmerzen. Vielen Dank.

»Alice, kannst du die Augen öffnen? Bitte versuch es.«

Zählte Frischkäse überhaupt zu Käse? Auf eine Käseplatte gab man schließlich keinen Klacks Frischkäse. Vielleicht hatte »Käse« in »Frischkäse« eine andere Bedeutung als »Käse«. Sie würde ihren Arzt fragen, nur für den Fall, dass das wieder einer von diesen peinlichen »O-Alice!«-Schnitzern war.

Es war so furchtbar unbequem. Die Matratze fühlte sich wie kalter Beton an. Warum nicht ein Stück rutschen und Nick mit dem Fuß anstupsen, damit er sich im Schlaf umdrehte, sie an sich zog und sie sich in seine Arme kuscheln konnte? Nick, ihre menschliche Wärmflasche.

Wo war er eigentlich? War er schon aufgestanden? Vielleicht kochte er ihr eine Tasse Tee.

»Nicht bewegen, Alice. Bleib einfach still liegen und mach die Augen auf, Schätzchen.«

Elisabeth weiß bestimmt, wie es sich mit dem Frischkäse verhält. Sie wird ihr die Sache exakt erklären. Mum hingegen hat garantiert keinen blassen Schimmer. Sie wird sagen: »O nein, ach, du großer Gott! Ich bin sicher, dass ich Frischkäse gegessen habe, als ich mit euch beiden schwanger war! Damals hat man das alles doch noch gar nicht gewusst!« Sie wird reden und reden und beunruhigt sein, weil sie, Alice, versehentlich gegen eine Regel verstieß. Mum glaubte an Regeln. Sie selbst übrigens auch.

Frannie würde zwar nicht wissen, wie es sich mit dem Frischkäse verhielt, aber sie würde sich ganz stolz daranmachen, es mithilfe ihres neuen Computers herauszufinden, so wie sie Alice und Elisabeth früher immer geholfen hatte, in ihrer Encyclopædia Britannica nachzuschlagen, wenn sie Informationen für irgendwelche Schulprojekte benötigten.

Ihr Kopf tat wirklich weh.

Die Schmerzen waren wahrscheinlich nur ein winziger Bruchteil dessen, was sie in den Wehen erwarten würde. Das war großartig, einfach großartig.

Es war ja nicht so, dass sie tatsächlich Frischkäse gegessen hätte. Jedenfalls nicht dass sie wüsste.

»Alice? Alice!«

Sie mochte Frischkäse eigentlich gar nicht.

»Hat schon jemand einen Krankenwagen gerufen?«

Wieder dieser Lavendelduft.

Einmal, als sie sich im Auto gerade abschnallten, hatte Nick, die Hand schon auf dem Türgriff (als Reaktion auf eine Bemerkung von ihr, mit der sie auf Bestätigung aus war), geantwortet: »Red keinen Unsinn, du dumme Gans, du weißt doch ganz genau, dass ich total verrückt nach dir bin.«

Sie hatte die Autotür geöffnet und die Sonne auf ihren Beinen gespürt und den Lavendel gerochen, den sie neben dem Vordereingang gepflanzt hatte.

Total verrückt.

Es war ein nach Lavendel duftender Augenblick purer Glückseligkeit gewesen, als sie vom Einkaufen kamen.

»Ja, er ist schon unterwegs. Ich habe dreimal die Null gewählt! Den Notruf! Zum allerersten Mal in meinem Leben! Ich war richtig nervös. Ich hätte beinah 911 gewählt wie in Amerika. Ich hatte die Neun schon gedrückt. Ich gucke eindeutig zu viel von diesen amerikanischen Serien.«

»Hoffentlich ist es nichts Ernstes. Ich meine, sie könnte mich doch nicht verklagen oder so? Meine Choreografie war doch nicht zu schwer, oder?«

»Na ja, diese letzte Spin-Pirouette war vielleicht ein bisschen viel, wenn einem nach dem Double Kick und dem anschließenden Reverse Turn sowieso schon schwindlig war.«

»Das ist ein Fortgeschrittenenkurs! Mache ich es zu einfach, beschweren sich die Leute. Ich biete Alternativen an! Die einzelnen Abschnitte bauen aufeinander auf. Herrgott, man kann es den Leuten aber auch nie recht machen!«

War das eine Radiosendung, bei der die Zuschauer anrufen konnten, die da im Hintergrund lief? Sie hasste diese Sendungen. Die Anrufer waren immer so exzentrisch, immer jagte ihnen irgendetwas Angst ein. Alice hatte einmal gesagt, dass ihr noch nie irgendetwas Angst gemacht habe, worauf Elisabeth entgegnet hatte, dass das aber wirklich beängstigend sei.

Die Augen fest geschlossen, sagte sie laut: »Hast du das Radio an, Nick? Ich habe solche Kopfschmerzen, weißt du.« Ihre Stimme klang quengelig und gar nicht nach ihr, aber schließlich war sie schwanger, und ihr Kopf schmerzte, und ihr war kalt, und irgendwie fühlte sie sich … merkwürdig.

Vielleicht lag das an der morgendlichen Übelkeit?

War es überhaupt Morgen? O Alice!

»Alice, kannst du mich hören? Kannst du mich hören, Alice?«

Rosine, kannst du mich hören? Kannst du mich hören, Rosine?

Nick legte jeden Abend vor dem Schlafengehen eine leere Klopapierrolle an ihren Bauch, durch die er mit dem Baby redete. Das hatte er in irgendeiner Radiosendung aufgeschnappt. Dort war behauptet worden, das Ungeborene würde auf diese Weise lernen, die Stimme seines Vaters zu erkennen.

»Hey!«, rief er. »Kannst du mich hören, Rosine? Hier spricht dein Vater! Wie geht es dir?« Sie hatten irgendwo gelesen, dass das Baby jetzt die Größe einer Rosine hatte. Deshalb nannten sie es so. Natürlich nur, wenn sie allein waren. Sie waren coole Eltern in spe. Kein albernes Benehmen in der Öffentlichkeit.

»Alles okay, danke, Dad«, antwortete die Rosine, »manchmal langweil ich mich ein wenig, aber ansonsten alles bestens.« Anscheinend hatte sie irgendwann die Nase voll von all dem stinklangweiligen Grünzeug, das ihre Mummy aß, und wünschte sich zur Abwechslung mal eine richtige Pizza. »Schluss mit dem Kaninchenfutter!«, lautete Rosines Forderung.

Die Rosine würde aller Wahrscheinlichkeit nach ein Junge werden. Dieser Meinung waren sie beide. Sie hatte jetzt schon so etwas Männliches. Der kleine Halunke.

Alice legte sich entspannt auf den Rücken, wenn Nick mit dem Ungeborenen sprach, und betrachtete seinen Kopf. Ein paar glänzende Silberfäden durchzogen seine Haare. Sie wusste nicht, ob er es selbst schon gesehen hatte, deshalb sagte sie nichts. Er war zweiunddreißig. Die Silberfäden trieben ihr Tränen in die Augen. Zu viele verrückte Schwangerschaftshormone.

Alice redete nie laut mit ihrem Baby. Aber sie sprach im Stillen mit ihm, in der Badewanne (das Wasser durfte nicht zu heiß sein – eine von den unzähligen Regeln, die man beachten musste), ganz scheu. Hallo, Baby, sagte sie im Geist, und dann war sie jedes Mal so überwältigt von dem Wunder des Lebens, das da in ihr heranwuchs, dass sie mit der flachen Hand das Wasser verwirbelte wie ein Kind in der Vorfreude auf Weihnachten. Ihr dreißigster Geburtstag stand vor der Tür, auf dem Haus lastete eine horrende Hypothek, sie hatte einen Ehemann und erwartete ein Kind, und trotzdem fühlte sie sich fast noch wie eine Fünfzehnjährige.

Der einzige Unterschied zu damals war, dass sie noch nicht diese Augenblicke ungetrübter Glückseligkeit beim Einkaufen von Lebensmitteln gekannt hatte. Nick war noch nicht in ihr Leben getreten. Ihr würde noch einige Male das Herz gebrochen werden, bevor er auftauchte und es mit Wörtern wie »total verrückt nach dir« wieder zusammenklebte.

»Alice? Alles in Ordnung? Bitte, mach die Augen auf!«

Eine Frauenstimme, zu laut und schrill, als dass man sie ignorieren könnte. Sie zerrte sie hoch, zurück ins Bewusstsein, und ließ sich nicht abschütteln.

Die Stimme reizte Alice auf eine vertraut unangenehme Weise, wie das Kratzen einer zu engen Strumpfhose.

Diese Person hatte in ihrem Schlafzimmer nichts zu suchen. Sie drehte den Kopf langsam auf die Seite. »Au!« Sie öffnete die Augen.

Nicht identifizierbare Farben und Formen, alle miteinander verschmolzen. Sie konnte nicht einmal ihr Nachttischchen erkennen, auf dem ihre Brille lag. Ihre Augen wurden offenbar schlechter.

Sie blinzelte und blinzelte noch einmal, und dann endlich fokussierte sich ihr Blick wie ein Fernglas, das man auf die richtige Entfernung eingestellt hat. Das waren Knie, die sie direkt vor sich sah. Wenn das nicht komisch war!

Knubbelige, blasse Knie.

Sie hob ihr Kinn ein ganz klein wenig an.

»Da bist du ja endlich wieder!«

Von allen Leuten war es ausgerechnet Jane Turner aus der Firma, die neben ihr kniete. Ihr Gesicht war gerötet, schweißnasse Haare klebten ihr auf der Stirn. Ihre Augen wirkten müde. Und ihr Hals! Alice war noch nie aufgefallen, wie weich und schwabbelig er war. Sie trug ein verschwitztes T-Shirt und Shorts. Ihre dünnen weißen Arme waren mit dunklen Leberflecken übersät.

Alice hatte noch nie zuvor so viele unbedeckte Körperteile von Jane gesehen. Es war irgendwie peinlich. Die arme alte Jane.

»Listerien, Wisterien«, murmelte Alice im Scherz.

»Du redest wirres Zeug«, sagte Jane. »Bleib schön liegen. Nicht aufsetzen!«

»Hmpf«, machte Alice und versuchte, ihren Kopf zu heben. »Ich will mich gar nicht aufsetzen.« Sie hatte das Gefühl, gar nicht im Bett zu liegen, sondern auf einem kühlen Laminatboden. War sie betrunken? Hatte sie etwa vergessen, dass sie schwanger war, und sich sinnlos betrunken?

Ihr Frauenarzt war ein weltgewandter Mann mit Fliege und einem runden Gesicht, das einem von Alice’ Ex-Freunden irritierend ähnlich sah. Er habe kein Problem mit einem »sagen wir, Aperitif und einem Glas Weißwein zum Essen«, meinte er. Alice dachte, ein Aperitif sei eine bestimmte Spirituosenmarke (»O Alice!«, seufzte Elisabeth). Nick hatte ihr erklärt, ein Aperitif sei ein appetitanregender Drink, den man vor dem Essen zu sich nehme. Nick kam aus einer Aperitif trinkenden Familie. Alice kam aus einer Familie, wo in der Küche ganz hinten im Regal eine verstaubte Flasche Baileys hoffnungsvoll hinter den Spaghetti stand. Obwohl ihr Frauenarzt also nichts gegen ein gelegentliches Gläschen einzuwenden hatte, hatte Alice nur ein halbes Glas Champagner getrunken, seit sie den Schwangerschaftstest gemacht hatte, und selbst das mit schlechtem Gewissen, auch wenn alle sie beruhigten und meinten, das sei völlig in Ordnung.

»Wo bin ich?«, fragte sie. Sie hatte Angst vor der Antwort. War sie in irgendeinem verrufenen Nachtklub gelandet? Wie sollte sie Nick erklären, dass sie ihre Schwangerschaft offenbar vergessen hatte?

»Du bist im Fitnessstudio«, erwiderte Jane. »Du bist hingefallen und ohnmächtig geworden. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, mir ist fast das Herz stehen geblieben! Obwohl ich zugeben muss, dass ich froh war über die Verschnaufpause.«

Im Fitnessstudio? Alice ging doch nicht ins Fitnessstudio. War sie betrunken in einem Fitnessstudio aufgewacht?

»Sie haben das Gleichgewicht verloren«, warf eine schrille, muntere Stimme ein. »Sie sind ganz schön auf den Boden geknallt. Sie haben uns allen einen Mordsschrecken eingejagt, Sie kleiner Unglücksrabe! Aber keine Angst, der Krankenwagen ist schon unterwegs, es kann nicht mehr lange dauern, bis professionelle Hilfe kommt!«

Die Stimme gehörte einer dünnen, kaffeefarben gebräunten Frau mit einem blondierten Pferdeschwanz. Sie kniete neben Jane und trug glänzende Lycrashorts und ein knappes rotes Top mit dem leuchtenden Schriftzug STEPCRAZY auf der Brust. Sie war Alice auf Anhieb unsympathisch. Sie hasste es, »kleiner Unglücksrabe« genannt zu werden. Das verletzte ihre Würde. Ihre Schwester Elisabeth sagte immer, sie nehme sich viel zu ernst, das sei eine ihrer großen Schwächen.

»Bin ich ohnmächtig geworden?«, fragte Alice hoffnungsvoll. Schwangere wurden durchaus mal bewusstlos. Sie war noch nie in Ohnmacht gefallen. Dabei hatte sie es in der vierten Klasse so fleißig geübt, immer in der Hoffnung, irgendwann zu den Glücklichen zu gehören, die beim Gottesdienst umkippten und dann von Mr. Gillespie, ihrem Sportlehrer, auf dessen starken Armen hinausgetragen wurden.

»Ich bin nämlich schwanger«, fügte sie hinzu. Sollte diese Kuh ruhig wissen, wen sie da als »kleinen Unglücksraben« bezeichnet hatte.

Jane klappte die Kinnlade herunter. »Großer Gott, Alice, das kann nicht dein Ernst sein!«

Das Step-Crazy-Mädchen spitzte die Lippen, als hätte sie Alice bei etwas sehr Ungezogenem erwischt. »Ach herrje, Schätzchen, warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Ich habe doch vor Beginn des Kurses gefragt, ob jemand schwanger ist. Ich hätte mich darauf einstellen können.«

Alice’ Kopf fiel auf den Boden zurück. Nichts von dem, was hier gesprochen wurde, ergab irgendeinen Sinn.

»Schwanger«, sagte Jane. »Ausgerechnet jetzt! Das ist eine Katastrophe!«

»Nein, ist es nicht«, protestierte Alice. Sie legte eine Hand schützend auf ihren Bauch, damit die kleine Rosine es nicht hörte und womöglich gekränkt war. Ihre finanzielle Situation ging Jane nichts an. Die Leute sollten sich einfach freuen, wenn man ihnen mitteilte, dass man ein Kind erwartete.

»Ja, aber ich meine, was wirst du jetzt machen?«, fragte Jane.

Du meine Güte! »Machen? Was meinst du damit, was werde ich jetzt machen? Ich werde ein Baby bekommen.« Sie schnupperte. »Du riechst nach Lavendel. Mir war so, als würde ich Lavendel riechen.« Die Schwangerschaft hatte ihren Geruchssinn enorm geschärft.

»Das ist mein Deodorant.« Jane sah völlig verändert aus. Ihre Augen. Mit ihren Augen stimmte etwas nicht. Vielleicht sollte sie anfangen, eine spezielle Augencreme zu benutzen.

»Alles in Ordnung, Jane?«

Jane schnaubte. »Mir geht’s bestens. Mach dir lieber Sorgen um dich selbst. Du bist doch diejenige, die schwanger und in Ohnmacht gefallen ist.«

Das Baby! Wie hatte sie nur so selbstsüchtig sein und an ihren schmerzenden Kopf denken können, wo sie sich um die arme kleine Rosine sorgen sollte! Sie würde ja eine schöne Mutter werden!

Laut sagte sie: »Hoffentlich ist dem Baby bei dem Sturz nichts passiert.«

»Oh, deswegen würde ich mir keine Gedanken machen, so ein Baby hält einiges aus«, sagte eine fremde Frauenstimme.

Zum ersten Mal blickte Alice auf. Eine Gruppe rotgesichtiger Frauen mittleren Alters in Sportkleidung scharte sich um sie. Einige beugten sich vor und gafften wie Schaulustige bei einem Verkehrsunfall, andere standen da, die Hände in die Seiten gestemmt, und plauderten miteinander wie auf einer Party. Der Raum, in dem sie sich befanden, war lang und neonerleuchtet. Irgendwo in der Ferne tönte blecherne Musik, sie konnte scheppernde metallische Geräusche und das plötzliche Gelächter eines Mannes hören.

»Aber Sportarten, die einen extrem körperlich beanspruchen, sollte man trotzdem nicht betreiben, wenn man schwanger ist«, warf eine andere Frau ein.

»Ich treibe überhaupt keinen Sport«, erwiderte Alice. »Ich sollte viel mehr Sport treiben.«

»Du, mein liebes Kind, könntest gar nicht mehr Sport treiben, selbst wenn du wolltest«, sagte Jane.

»Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.« Alice betrachtete die fremden Gesichter rings um sie her. Das alles war so … so albern. »Wo bin ich eigentlich?«

»Wahrscheinlich hat sie eine Gehirnerschütterung«, sagte jemand ganz aufgeregt. »Eine Gehirnerschütterung äußert sich unter anderem in Benommenheit und geistiger Verwirrung.«

»Hört, hört, die Frau Doktor spricht!«

»Ich habe in der Schule gerade einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert. Ich kann mich genau an diesen Wortlaut erinnern: Benommenheit und geistige Verwirrung. Hoffentlich hat sie keine Gehirnquetschung. Das ist sehr gefährlich.«

Das Step-Crazy-Mädchen machte ein erschrockenes Gesicht und streichelte hektisch Alice’ Arm. »Ach herrje, Schätzchen! SIEHABENBESTIMMTNUREINEGANZLEICHTEGEHIRNERSCHÜTTERUNG!«

»Selbst wenn, taub ist sie deswegen sicher nicht«, wies Jane sie schroff zurecht. Sie beugte sich näher zu Alice und sagte mit gedämpfter Stimme: »Alles in Ordnung. Du bist im Fitnessstudio, im Freitag-Step-Aerobic-Kurs, zu dem du mich seit einer Ewigkeit hast schleppen wollen, erinnerst du dich? Ich frage mich allerdings, was so Besonderes daran sein soll. Also jedenfalls bist du spektakulär auf den Boden geknallt und hast dir den Kopf angeschlagen, das ist alles. Das wird schon wieder. Aber wieso hast du mir nicht gesagt, dass du schwanger bist?«

»Was ist ein Freitag-Step-Aerobic-Kurs?«, fragte Alice.

»O Gott, dich hat’s aber wirklich böse erwischt«, entfuhr es Jane.

»Der Krankenwagen ist da!«, rief jemand.

Das Step-Crazy-Mädchen flippte schier aus vor Erleichterung. Sie sprang auf und scheuchte die Damen mit Handbewegungen weg wie eine energische Hausfrau mit einem Besen.

»Okay, Leute, macht mal ein bisschen Platz!«

Jane blieb auf dem Fußboden neben Alice knien und tätschelte ihr zerstreut die Schulter. Plötzlich hielt sie inne. »O Mann! Warum passieren immer dir die wirklich guten Sachen?«

Alice drehte mühsam den Kopf. Zwei gut aussehende Männer in blauen Overalls, einen Erste-Hilfe-Koffer in Händen, eilten auf sie zu. Peinlich berührt, versuchte sie noch einmal, sich aufzusetzen.

»Nicht bewegen, Schätzchen!«, rief der Größere der beiden ihr zu.

»Er sieht aus wie George Clooney«, hauchte Jane ihr ins Ohr.

Sie hatte recht. So sah er wirklich aus. Alice fühlte sich unwillkürlich viel besser. Ihr war, als wäre sie in einer Folge von Emergency Room aufgewacht.

»Hallo.« George Clooney ging neben ihnen in die Hocke. »Wie heißen Sie?«

»Jane«, antwortete Jane wie aus der Pistole geschossen. »Oh. Ach so. Sie heißt Alice.«

»Wie heißen Sie mit vollem Namen, Alice?« George ergriff behutsam ihr Handgelenk und legte zwei Finger auf ihren Puls.

»Alice Mary Love.«

»Sie sind hingefallen, nicht wahr, Alice?«

»Ja, anscheinend. Ich kann mich nicht daran erinnern.« Wie meistens, wenn sie mit jemandem aus einem Heilberuf sprach, und sei es nur ein Apotheker, war Alice den Tränen nahe und fühlte sich als etwas ganz Besonderes. Daran war nur ihre Mutter schuld, sie hatte immer viel zu viel Aufhebens um sie gemacht, wenn sie als Kind krank geworden war. Sie und Elisabeth waren fürchterliche Hypochonderinnen.

»Wissen Sie, wo Sie sind?«, fragte George.

»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Alice. »Anscheinend bin ich in einem Fitnessstudio.«

»Wir machen einen Step-Aerobic-Kurs.« Jane schob den Träger ihres BHs unter ihr Top zurück. »Plötzlich hat sie einen fulminanten Rückwärtssalto geschlagen und ist mit dem Kopf auf den Boden geknallt. Ich hab gesehen, wie’s passiert ist. Sie war ungefähr zehn Minuten bewusstlos.«

Das Step-Crazy-Mädchen trat wieder zu ihnen. Ihr Pferdeschwanz schwang hin und her, und Alice schaute an ihren langen, glatten Beinen hinauf zu ihrem flachen, straffen Bauch. Er sah aus wie ein falscher Bauch.

»Ich glaube, sie war einen Augenblick unkonzentriert«, sagte das Step-Crazy-Mädchen in jenem vertraulichen Tonfall, den Profis untereinander benutzen, zu George Clooney. »Schwangeren rate ich unbedingt von diesem Kurs ab. Und ich habe ausdrücklich gefragt, ob jemand schwanger ist.«

»In der wievielten Woche sind Sie denn, Alice?«, fragte George.

Alice machte den Mund auf, um zu antworten, und stieß zu ihrer Überraschung auf ein Vakuum in ihrem Kopf.

»In der dreizehnten«, sagte sie nach ein paar Sekunden.

»Nein, in der vierzehnten. Ja, genau, in der vierzehnten.«

Seit der Zwölf-Wochen-Ultraschalluntersuchung waren mindestens zwei Wochen vergangen. Die Rosine hatte einen sonderbaren kleinen Hüpfer gemacht, wie eine Tänzerin in der Disco, so als hätte jemand sie von hinten angestupst. Nick und Alice hatten danach allen Bekannten versucht vorzumachen, wie das ausgesehen hatte. Alle hatten sehr höflich reagiert und gemeint, das sei wirklich bemerkenswert.

Sie legte sich eine Hand auf den Bauch und bemerkte zum ersten Mal, was sie anhatte. Turnschuhe und weiße Socken. Schwarze Shorts und ein ärmelloses gelbes Top mit einer glänzenden Goldfolienapplikation darauf. Soweit sie erkennen konnte, war es ein Dinosaurier. In der Sprechblase, die aus seinem Maul kam, stand: ROCKON. Rock on? Was in aller Welt hatte das zu bedeuten? »Was für Klamotten habe ich denn da an?«, fragte sie Jane vorwurfsvoll. »Diese Sachen gehören mir nicht.«

Jane sah George an und zog vielsagend eine Braue hoch.

»An meinem Hemd klebt ein Dinosaurier«, sagte Alice ehrfürchtig.

»Was für einen Tag haben wir heute, Alice?«, fragte George.

»Freitag«, antwortete sie. Sie schummelte. Sie wusste, dass es Freitag war, weil Jane ihr gesagt hatte, dass sie in ihrem Freitag-Step-Aerobic-Kurs waren. Was immer das sein mochte.

»Wissen Sie noch, was Sie zum Frühstück gegessen haben?« George untersuchte behutsam ihren Kopf, während er die Frage stellte. Der andere Rettungssanitäter legte ihr unterdessen eine Manschette um den Oberarm und blies sie auf, um ihren Blutdruck zu messen.

»Toast mit Erdnussbutter?«

Das aß sie normalerweise zum Frühstück. Mit dieser Antwort dürfte sie auf der sicheren Seite sein.

»Er weiß ja nicht, was du gefrühstückt hast«, meinte Jane. »Er will nur versuchen herauszufinden, ob du dich daran erinnern kannst.«

Die Manschette quetschte Alice’ Oberarm zusammen. George hockte sich wieder auf die Fersen und sagte: »Seien Sie so nett, Alice, und sagen Sie mir, wie unser ehrenwerter Premierminister heißt.«

»John Howard«, antwortete Alice brav und hoffte, er werde ihr keine weiteren Fragen zum Thema Politik stellen. Politik war nicht gerade ihre Stärke. Es gelang ihr einfach nicht, genügend Entsetzen aufzubringen.

Die Antwort löste bei Jane einen Heiterkeitsausbruch aus, der sich in prustendem Geräusch äußerte.

»Oh, äh … Er ist doch noch Premierminister, oder?«, murmelte Alice zutiefst gedemütigt. Das würde man ihr jetzt jahrelang unter die Nase reiben. O Alice, du kennst nicht einmal den Namen unseres Premierministers? Hatte sie eine Wahl verschlafen? »Ich bin mir ganz sicher, dass er Premierminister ist.«

»Und welches Jahr haben wir?« George schien nicht allzu beunruhigt.

»1998«, lautete die prompte Antwort. In diesem Punkt war sich Alice ganz sicher. 1998 würde ihr Baby zur Welt kommen.

Jane schlug sich die Hand vor den Mund. George wollte etwas sagen, aber Jane ließ ihn nicht zu Wort kommen. Sie legte ihre Hand auf Alice’ Schulter und sah sie eindringlich an, die Augen vor Aufregung weit aufgerissen. Winzige Mascaraklümpchen klebten an ihren Wimpernspitzen. Die Kombination aus ihrem Lavendeldeodorant und ihrem Knoblauchatem stach Alice unangenehm in die Nase.

»Wie alt bist du, Alice?«

»Neunundzwanzig, Jane«, antwortete Alice gereizt. Janes theatralischer Tonfall ging ihr auf die Nerven. Worauf wollte sie hinaus? »Genauso alt wie du.«

Jane richtete ihren Oberkörper wieder auf und sah George Clooney triumphierend an. Dann sagte sie: »Ich habe gerade eine Einladung für die Party zu ihrem vierzigsten Geburtstag bekommen.«

Das war der Tag, an dem Alice Mary Love ins Fitnessstudio ging und durch eine gewisse Nachlässigkeit ein Jahrzehnt ihres Lebens verbummelte.

2

Sie hätte sie ja gern ins Krankenhaus begleitet, sagte Jane, aber sie müsse um zwei im Gericht sein.

»Was willst du denn im Gericht?«, fragte Alice, der es ganz recht war, dass Jane nicht mit ins Krankenhaus kommen konnte. Für heute hatte sie genug von ihr gesehen. Eine Einladung für die Party zu ihrem vierzigsten Geburtstag. Was genau hatte sie eigentlich damit gemeint?

Jane setzte ein sonderbares Lächeln auf und ging nicht auf Alice’ Frage ein. Stattdessen sagte sie: »Ich werde jemanden ins Krankenhaus schicken, der dort auf dich warten soll.«

»Nicht jemanden«, sagte Alice und beobachtete, wie die Rettungssanitäter eine Trage auseinanderklappten. Sie kam ihr ein bisschen klapprig vor. »Nick!«

»Ja, selbstverständlich, ich werde Nick anrufen.« Jane sprach jedes Wort so langsam und übertrieben deutlich aus, als wirkte sie in einem Theaterstück für Kinder mit.

»Das brauche ich nicht, ich kann gehen«, sagte Alice zu George Clooney. Sie mochte es nicht, getragen zu werden, nicht einmal von Nick, der ziemlich stark war. Sie hatte Angst, dass sie viel zu schwer war. Wenn die Rettungssanitäter nun beim Hochheben der Trage ächzten und vor Anstrengung das Gesicht verzogen wie Möbelpacker? »Mir geht’s gut. Es ist bloß mein Kopf.«

»Sie haben eine ziemlich schwere Gehirnerschütterung«, erwiderte George. »Mit Kopfverletzungen ist nicht zu spaßen.«

»Seien Sie doch nicht so«, meinte sein Kollege. »Das Schönste an unserem Job ist es, attraktive Frauen herumzutragen. Gönnen Sie uns doch die Freude.«

»Ja, gönn ihnen die Freude, Alice«, warf Jane ein. »Dein Gehirn hat etwas abbekommen. Du glaubst, du bist neunundzwanzig.«

Was genau wollte sie damit sagen?

Alice legte sich wieder hin, und die beiden Männer hoben sie routiniert auf die Trage. Als ihr Kopf zur Seite rollte, wurde ihr schwindlig vor Schmerz.

»Oh, hier, ihre Tasche!« Jane war quer durch den Saal gelaufen und hatte einen Rucksack geholt, den sie neben Alice auf die Trage quetschte.

»Die gehört nicht mir«, protestierte Alice.

»Und ob die dir gehört.«

Alice starrte die rote Segeltuchtasche an. Auf der obersten Klappe befanden sich nebeneinander drei glänzende Dinosaurierapplikationen wie der auf ihrem Top. Ihr kam der Gedanke, dass sie sich bestimmt gleich übergeben musste.

Die beiden Rettungssanitäter hoben die Trage scheinbar mühelos an. Alice vermutete, dass es zu ihrem Job gehörte, Leute aller Gewichtsklassen zu tragen.

»Das Büro!«, entfuhr es ihr in plötzlicher Panik. »Du musst im Büro anrufen und Bescheid sagen. Wieso sind wir eigentlich nicht im Büro, wenn es Freitag ist?«

»Das ist eine gute Frage. Wieso sind wir eigentlich nicht im Büro?«, entgegnete Jane, wobei sie abermals jedes Wort sorgfältig artikulierte wie im Kindertheater. »Aber mach dir keine Sorgen, ich werde Nick anrufen, und dann werde ich im Büro anrufen. Mit Büro meinst du doch sicher ABR Bricks, nehme ich an?«

»Ganz recht, Jane, ABR Bricks«, antwortete Alice vorsichtig. Sie arbeiteten seit drei Jahren bei ABR. Litt das arme Mädchen womöglich an irgendeiner Form von Geisteskrankheit? »Du solltest Sue Bescheid sagen, dass ich heute nicht kommen kann«, fügte sie hinzu.

»Sue«, wiederholte Jane langsam. »Damit meinst du wahrscheinlich Sue Mason.«

»Richtig, Jane. Sue Mason«, erwiderte Alice und dachte: Bei der ist definitiv eine Schraube locker.

Sue Mason war ihre Chefin. Sie legte allergrößten Wert auf Pünktlichkeit und ärztliche Atteste und angemessene Kleidung. Alice konnte es kaum erwarten, sich in die Babypause zu verabschieden. Sie war ja so froh, wenn sie diesen Laden nicht mehr sehen musste.

Sie sah Jane, die zuschaute, als die Rettungssanitäter sie hinaustrugen. Jane kniff sich die Unterlippe mit Daumen und Zeigefinger zusammen, sodass ihr Mund einem Fischmaul ähnelte.

»Gute Besserung!«, rief das Step-Crazy-Mädchen ihr zu. Sie stand auf einer Bühne im vorderen Teil des Saals und hatte ein Headset an, das ihre Stimme verstärkte. Als die Rettungssanitäter die Tür erreicht hatten, erscholl laute, hämmernde Musik. Alice warf einen Blick zurück. Das Step-Crazy-Mädchen stieg zackig auf ein niedriges Plastikpodest und wieder herunter, rauf und runter, rauf und runter. Die Frauen, die sich um Alice geschart hatten, ahmten jede ihrer Bewegungen auf ihren eigenen Plastikpodesten exakt nach. »Auf geht’s, LADYS! Ich will ein Basic sehen, ich will einen Hamstring Curl, und jetzt REITEN wir ein RODEO!« Die Frauen stellten sich breitbeinig über die Podeste und ließen imaginäre Lassos über ihren Köpfen kreisen.

Du lieber Himmel! Das musste sie unbedingt Nick erzählen, vor allem die Sache mit dem »Rodeoreiten«. Das musste sie ihm vormachen. Er würde es bestimmt urkomisch finden. Dieser ganze Tag war ein absoluter Knaller!

Andererseits war das alles aber auch ein bisschen beängstigend, denn was in aller Welt machte sie mit Jane Turner, die ganz offensichtlich einen Sprung in der Schüssel hatte, in einem Fitnessstudio?

Durch eine Glastür gelangten sie in einen langen Raum von der Größe eines Supermarktes. Nichts kam Alice irgendwie bekannt vor.

An kompliziert aussehenden Geräten, von denen es unzählige gab, mühten sich Männer und Frauen ab, irgendwelche Dinge, die viel zu schwer für sie waren, hochzustemmen, heranzuziehen oder wegzudrücken. Es herrschte eine Atmosphäre wie in einer Bücherei, gedämpft und von stillem Fleiß erfüllt. Niemand hielt in seinem Tun inne, als Alice vorbeigetragen wurde. Lediglich die Blicke folgten ihr, ausdruckslos und innerlich unbeteiligt, so als wäre sie eine Meldung in den Fernsehnachrichten.

»Alice!«

Ein Mann stieg vom Laufband. Er schob seinen Kopfhörer auf die Schultern herunter und fragte: »Was ist denn mit Ihnen passiert?«

Sein Gesicht, hochrot und mit Schweißperlen übersät, sagte ihr überhaupt nichts. Sie blickte zu ihm auf und suchte in ihrem Gehirn nach einer höflichen Erwiderung. Auf einer Trage zu liegen und sich mit einem Fremden zu unterhalten hatte etwas Surreales. Es war wie einer jener Träume, in denen sie im Schlafanzug auf einer Cocktailparty erschien.

»Ein kleiner Schlag auf die Birne«, antwortete George Clooney, was ganz und gar nicht nach medizinischem Fachvokabular klang.

»O nein!« Der Mann wischte sich mit einem Handtuch über die Stirn. »Und das ausgerechnet jetzt, wo der große Tag vor der Tür steht!«

Alice versuchte, ein zerknirschtes Gesicht aufzusetzen. Vielleicht war das einer von Nicks Kollegen, und der große Tag, über den sie Bescheid wissen sollte, hatte etwas mit seiner Arbeit zu tun?

»Das kommt davon, wenn man so ein Fitnessfreak ist. Das wird Ihnen bestimmt eine Lehre sein, was, Alice?«

»Ho«, entgegnete sie. Sie war sich nicht sicher, was sie eigentlich hatte sagen wollen, aber heraus kam es als »Ho«.

Die Rettungssanitäter gingen weiter. Der Mann stieg wieder auf das Laufband und schaltete es ein. »Passen Sie gut auf sich auf, Alice!«, rief er ihr nach. »Ich werde Maggie sagen, sie soll Sie anrufen!« Er hielt Daumen und Zeigefinger seitlich ans Gesicht, um seine Worte mit der Geste zu unterstreichen.

Alice machte die Augen zu. In ihrem Magen rumorte es.

»Alles in Ordnung mit Ihnen, Alice?«, fragte George Clooney.

Alice öffnete die Augen. »Mir ist ein bisschen schlecht.«

»Okay, das ist normal.« Sie hielten vor einem Lift.

»Ich hab wirklich keine Ahnung, wo ich bin«, sagte sie, weil sie fand, dass das noch einmal erwähnt werden sollte.

»Machen Sie sich deswegen mal keine Gedanken«, erwiderte George.

Die Fahrstuhltüren glitten leise zischend auf. Eine Frau mit einem glatten Bubikopf trat heraus. »Alice! Was ist denn passiert? Alles in Ordnung?« Sie hatte eine schrecklich kultivierte Stimme. »So ein Zufall! Gerade habe ich an dich gedacht! Ich wollte dich anrufen wegen des … kleinen Zwischenfalls in der Schule, Chloe hat mir davon erzählt, du Ärmste! Das hat dir gerade noch gefehlt, nicht? Und das ausgerechnet jetzt, vor dem morgigen Abend und wo der große Tag bevorsteht!«

Die Rettungssanitäter hatten unterdessen die Trage in den Lift bugsiert und den Erdgeschossknopf gedrückt. Kurz bevor die Türen sich schlossen, machte die Frau draußen die gleiche Geste wie der Typ auf dem Laufband, um anzudeuten, dass sie telefonieren würden, und eine Stimme rief: »War das Alice Love da auf der Trage?«

»Sie kennen aber eine Menge Leute«, bemerkte George.

»Nein«, erwiderte Alice. »Nein, überhaupt nicht.«

Sie dachte wieder an Janes Worte: Ich habe gerade eine Einladung für die Party zu ihrem vierzigsten Geburtstag bekommen.

Und dann drehte Alice den Kopf zur Seite und erbrach sich über George Clooneys schöne glänzende schwarze Schuhe.

*

ELISABETHS TAGEBUCH FÜR DR. HODGES

Die Mittagspause war fast zu Ende, als der Anruf kam. In fünf Minuten ging es weiter, und ich hätte eigentlich auf der Toilette sein und mich vergewissern müssen, dass ich keine Essensreste zwischen den Zähnen hatte. Sie sagte: »Elisabeth? Oh, hi, hier ist Jane, ich hab da ein kleines Problem«, so als ob es nur eine einzige Jane auf der ganzen Welt gäbe (man sollte meinen, jemand mit einem Allerweltsnamen wie JANE wäre es gewohnt, seinen Nachnamen zu nennen), und ich dachte, Jane, Jane, Jane, eine Jane mit einem kleinen Problem, und dann wurde mir plötzlich klar, dass das Jane Turner war. Alice’ Jane.

Sie sagte, Alice sei im Fitnessstudio während des Step-Aerobic-Kurses umgekippt.

Da stand ich also mit einhundertdreiundvierzig Leuten, die schon wieder an ihren Tischen Platz genommen hatten, sich eisgekühltes Wasser einschenkten, ihre Pfefferminzdrops lutschten und erwartungsvoll und zum Mitschreiben bereit in Richtung Podium guckten. Jeder von ihnen hatte zweitausendneunhundertfünfzig Dollar bezahlt, um mich reden zu hören, oder, mit Frühbucherrabatt, immerhin noch zweitausendfünfhundert Dollar.

So viel bezahlen mir die Leute dafür, dass ich ihnen zeige, wie man erfolgreiche Direct-Mail-Kampagnen auf den Weg bringt. Ja, ich weiß, diese hässliche kommerzielle Welt da draußen ist Ihnen vollkommen fremd, nicht wahr, Dr. Hodges? Sie haben aus reiner Höflichkeit genickt, als ich Ihnen zu erklären versuchte, was ich beruflich mache, das habe ich Ihnen angesehen. Ihnen ist garantiert noch nie der Gedanke gekommen, dass all diese Werbesendungen in Ihrem Briefkasten von richtigen Menschen verfasst werden.

Richtigen Menschen wie mir. Ich wette, Sie haben einen KEINE-REKLAME-Aufkleber an Ihrem Briefkasten, stimmt’s? Keine Sorge, ich nehme Ihnen das nicht übel.

Es war der denkbar ungünstigste Zeitpunkt, alles stehen und liegen zu lassen und zu Alice zu eilen, bloß weil sie einen kleinen Unfall im Fitnessstudio hatte (es gibt Leute, die arbeiten müssen und keine Zeit haben, mitten am Tag ins Fitnessstudio zu gehen). Außerdem redete ich seit dem Zwischenfall mit den Bananenmuffins ja nicht mehr mit ihr. Ich weiß, wir haben uns schon früher ausführlich darüber unterhalten, dass ich versuchen soll, ihre Handlungsweise aus einem »rationaleren Blickwinkel« zu betrachten, aber ich rede trotzdem nicht mit ihr. (Sie weiß natürlich nicht, dass ich nicht mit ihr rede, aber gestatten Sie mir diese kindische Genugtuung.)

Leicht gereizt und wichtigtuerisch, wie ich zugeben muss, sagte ich zu Jane: »Ist es denn was Ernstes?« Nicht im Traum hätte ich gedacht, dass es wirklich etwas Ernstes sein könnte.

»Sie denkt, wir hätten 1998«, antwortete Jane, »und sie sei neunundzwanzig und wir würden immer noch zusammen bei ABR Bricks arbeiten. Glaub mir, das ist so ernst, dass es schon richtig unheimlich ist.« Und dann sagte sie noch: »Oh, und ich nehme an, du weißt, dass sie schwanger ist?«

Ich schäme mich zutiefst für meine Reaktion. Alles, was ich dazu sagen kann, Dr. Hodges, ist, dass sie so spontan und nicht vom Willen gesteuert und unaufhaltbar war wie ein durch Heuschnupfen ausgelöster Niesanfall.

Blinde Wut packte mich, sie raste vom Bauch in meinen Kopf hinauf, und ich hörte mich sagen: »Tut mir leid, Jane, aber ich muss jetzt gehen.« Und dann beendete ich das Gespräch.

*

George Clooney war überhaupt nicht böse wegen seiner Schuhe. Alice, zutiefst entsetzt, wollte von der Trage klettern und das Erbrochene wegwischen. Hatte nicht jemand ein Tuch für sie? Vielleicht war eines in dieser komischen Segeltuchtasche. Aber die beiden Rettungssanitäter wollten nichts davon wissen. Streng befahlen sie ihr, liegen zu bleiben und sich nicht zu rühren.

Alice’ Magen beruhigte sich ein wenig, als sie hinten im Krankenwagen festgeschnallt wurde. Das klobige, saubere weiße Plastik ringsumher hatte etwas Vertrauenerweckendes, alles fühlte sich vernünftig und steril an.

Die Fahrt zum Krankenhaus verlief so gemächlich wie eine Fahrt im Taxi. Alice hatte nicht den Eindruck, dass sie mit quietschenden Reifen durch die Straßen rasten und andere Autofahrer mit blinkendem Blaulicht anwiesen, schnellstmöglich den Weg frei zu machen.

»Ich muss also nicht sterben?«, fragte sie George. Er saß hinten bei ihr, sein Kollege vorne am Steuer. Ihr fielen Georges buschige Brauen auf. Nick hatte auch so kräftige, buschige Brauen. Einmal, es war schon spätabends gewesen, hatte Alice ihm die Brauen zupfen wollen, und da hatte er so laut geschrien, dass sie befürchtet hatte, Mrs. Bergen, ihre wachsame Nachbarin, werde die Polizei rufen.

»Keine Angst, Sie werden bald wieder im Fitnessstudio trainieren können«, antwortete George.

»Ich gehe nicht ins Fitnessstudio«, entgegnete Alice. »Fitnessstudios sind nicht mein Ding.«

»Meins auch nicht.« George lächelte und tätschelte ihren Arm.

Durch das Fenster hinter Georges Kopf sah sie Teile von Reklametafeln und von Bürogebäuden und vom Himmel vorbeiflitzen.

Okay, das Ganze war wirklich lachhaft. Das lag nur an diesem »kleinen Schlag auf die Birne«, dass ihr alles so sonderbar vorkam. Es war wie eine längere, intensivere Version dieses komischen, traumähnlichen Gefühls, das einen überkam, wenn man in den Ferien aufwachte und im ersten Moment nicht wusste, wo man war. Kein Grund zur Panik. Sie musste das Ganze als eine interessante Erfahrung betrachten. Und sie musste sich konzentrieren.

»Wie spät ist es?«, fragte sie George mit fester Stimme.

Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. »Fast Mittag.«

Gut. Kurz vor Mittag. An einem Freitag.

»Warum wollten Sie vorhin wissen, was ich zum Frühstück hatte?«

»Das ist eine der Standardfragen, die wir Leuten mit Kopfverletzungen immer stellen. Damit versuchen wir herauszufinden, wie es um ihre geistige Verfassung steht.«

Könnte sie sich also daran erinnern, was sie gefrühstückt hatte, würden sich die restlichen Stücke möglicherweise zusammenfügen und die Lücke schließen.

Frühstück. Heute Morgen. Ach, komm schon! Das konnte doch nicht so schwer sein.

Sie hatte eine klare Vorstellung von einem gewöhnlichen Werktagsfrühstück. Zwei Scheiben Toast, die gleichzeitig aus dem Toaster hüpften, und der verdrießlich blubbernde Wasserkocher und das Sonnenlicht, das unmittelbar vor dem Kühlschrank schräg über den Fußboden fiel, direkt auf den großen braunen Fleck im Linoleum, der aussah, als könnte man ihn im Nu wegschrubben, was jedoch ein Irrtum war. Frühstück, das hieß auch, einen Blick auf die Bahnhofsuhr zu werfen, die Nicks Mutter ihnen zum Einzug in ihr Haus geschenkt hatte, und inständig hoffen, dass es früher als gedacht war (es war aber immer später). Frühstück, das war das Knistern des Rundfunksenders ABC im Hintergrund, beunruhigte, eindringliche Stimmen, die über das Weltgeschehen sprachen. Nick hörte zu und machte manchmal eine Bemerkung wie »Das soll wohl ein Witz sein!«, während Alice die Stimmen über sich hinwegplätschern ließ und so zu tun versuchte, als würde sie noch schlafen.

Sie und Nick waren Morgenmuffel. Da sie beide vorher in Beziehungen mit unerträglich fröhlichen Morgenmenschen gelebt hatten, wussten sie dieses Mürrische sehr zu schätzen. Nach dem Aufstehen wechselten sie kaum mehr als ein paar kurze Sätze. Manchmal war es ein Spiel, bei dem sie es mit ihrer Griesgrämigkeit übertrieben, und manchmal war es Ernst, und auch das war in Ordnung, weil sie beide wussten, dass ihr wahres Ich abends nach der Arbeit wieder zum Vorschein käme.

Alice durchforschte ihr Gedächtnis nach einer speziellen Frühstückserinnerung.

Da war jener kühle Morgen, als sie die Küche zur Hälfte gestrichen hatten. Es regnete in Strömen, und der beißende Geruch von Farbe prickelte ihr in der Nase, als sie auf dem Fußboden saßen, weil sie sämtliche Möbel mit Planen abgedeckt hatten, und schweigend Erdnussbuttertoast aßen. Alice war noch im Nachthemd, aber sie hatte eine Strickjacke an und Nicks alte Fußballsocken übergestreift und bis zu den Knien hochgezogen. Nick war rasiert und fertig angezogen, nur die Krawatte fehlte noch. Er habe am anderen Tag eine wirklich erschreckend wichtige Präsentation vor den drei großen Bossen seiner Firma, dem glatzköpfigen Armleuchter, dem Despotenarsch Megatron und dem Obermacker, hatte er ihr am Abend zuvor erzählt. Alice, die eine Heidenangst davor hatte, vor einem größeren Publikum zu reden, hatte gespürt, wie sich ihr Magen vor Mitgefühl regelrecht zusammengekrampft hatte.

Nick nippte an seinem Tee und stellte den Becher ab. Als er in seinen Toast beißen wollte, rutschte ihm die Brotscheibe aus der Hand und landete mit der gebutterten Seite nach unten auf seinem blau gestreiften Lieblingshemd, wo sie kleben blieb. Sie wechselten einen erschrockenen Blick. Nick schälte den Toast langsam von seinem Hemd. Ein großer, rechteckiger Fettfleck zeichnete sich auf dem Stoff ab. Im Tonfall eines Angeschossenen, der den Tod vor Augen hat, sagte Nick: »Das war mein letztes sauberes Hemd.« Dann klatschte er sich die Brotscheibe gegen die Stirn.

»Nein, ich hab gestern Abend, als du beim Squash warst, eine Ladung weggebracht«, entgegnete Alice. Da sie noch keine Waschmaschine hatten, brachten sie all ihre Sachen in die Wäscherei ein Stück die Straße hinunter. Nick fummelte den zermatschten Toast von seiner Stirn und meinte: »Ist das wahr?« Und sie erwiderte: »Wenn ich es dir sage.« Und da rutschte er auf Händen und Knien zwischen den Farbeimern hindurch zu ihr, nahm ihr Gesicht in seine Hände und gab ihr einen langen, zärtlichen, nach Erdnussbutter schmeckenden Kuss.

Aber das war nicht an diesem Morgen gewesen. Das war Monate her oder Wochen oder so. Die Küche war fertig. Und damals war sie auch nicht schwanger gewesen. Sie hatte noch Kaffee getrunken.

Sie erinnerte sich an einige aufeinanderfolgende Frühstücksmahlzeiten, als sie auf einem Gesundheitstrip waren und nur Joghurt mit Obst aßen. Wann war das? Diese Phase hatte nicht allzu lange gedauert, obwohl sie anfangs mit Feuer und Flamme dabei waren.

Dann waren da jene Frühstücke, wo sie ihren Toast allein im Bett knabberte, weil Nick beruflich unterwegs war. Sie schwelgte förmlich in der romantischen, quälenden Sehnsucht nach ihm, so als ob er ein Seemann oder ein Soldat wäre. Es war wie das lustvolle Gefühl bohrenden Hungers in der Vorfreude auf ein üppiges Abendessen.

Sie erinnerte sich an jenes Frühstück, bei dem sie sich heftig gestritten hatten – die Gesichter wutverzerrt und hässlich, die Augen lodernd vor Zorn –, weil die Milch alle war. Das war nicht so schön gewesen. Das war definitiv auch nicht an diesem Morgen gewesen. Sie erinnerte sich nämlich, wie sie sich am Abend jenes Tages versöhnt hatten, im Theater, wo sie sich ein erstaunlich langes, postmodernes und völlig rätselhaftes Stück ansahen, in dem Nicks jüngste Schwester eine winzige Rolle spielte. Nick hatte sich zu ihr hinübergebeugt und ihr ins Ohr geflüstert: »Ach übrigens, ich verzeihe dir.« Und sie hatte zurückgeflüstert: »Wie bitte? Ich verzeihe dir.« Eine Frau in der Reihe vor ihnen hatte sich umgedreht und gezischt: »Schsch! Ruhe da hinten!«, wie eine erzürnte Lehrerin. Da hatten sie beide angefangen zu kichern und dann einen so unbändigen Lachkrampf bekommen, dass sie schließlich aufstanden, sich an etlichen Paar Knie vorbeizwängten und das Theater eilig verließen.

Nicks Schwester war stocksauer gewesen.

Einmal hatte sie beim Frühstück Babynamen aus einem Buch vorgelesen, in verdrießlichem Ton, und Nick hatte nach jedem Namen genauso bärbeißig Ja oder Nein gebrummt. Das war lustig gewesen, weil sie beide nur so getan hatten, als ob sie schlecht gelaunt wären. »Ich kann nicht glauben, dass man uns den Namen für einen Menschen aussuchen lässt«, hatte Nick gemeint. »Sollte das nicht eher dem Herrscher des Reichs vorbehalten sein?« »Oder der Herrscherin«, entgegnete Alice. »Als ob man eine Frau mit einer so wichtigen Aufgabe betrauen könnte«, versetzte Nick.

War das an diesem Morgen gewesen? Nein. Nein, das war … schon einige Zeit her.

Sie hatte keinen blassen Schimmer, was sie an diesem Morgen gefrühstückt hatte.

»Das mit dem Erdnussbuttertoast zum Frühstück habe ich nur gesagt, weil ich das morgens immer esse«, gestand sie. »Daran erinnern kann ich mich ehrlich gesagt nicht.«

»Das macht doch nichts, Alice«, erwiderte George Clooney. »Ich glaube, ich weiß auch nicht mehr, was ich gefrühstückt habe.«

»Oh.« So viel zum Thema geistige Verfassung. Wusste George eigentlich, was er machte? »Vielleicht haben Sie ja auch eine Gehirnerschütterung.« George lachte pflichtschuldigst. Sie schien ihn zu langweilen. Vielleicht hoffte er, sein nächster Patient wäre ein interessanterer Fall. Wahrscheinlich spielte er gern mit diesen Herzdefibrillator-Dingern herum. Alice jedenfalls würde das gern tun, wäre sie Rettungssanitäterin.

Eines Sonntags war Nick ziemlich verkatert gewesen. Alice wollte ihn überreden, mit ihr zum Strand zu gehen. Aber er lag mit geschlossenen Augen auf der Couch und reagierte nicht. Plötzlich rief sie: »O verdammt, wir verlieren ihn!« Sie rieb zwei Bratenwender aneinander, presste sie ihm auf die Brust und schrie: »Defi!« Nick tat ihr den Gefallen und bäumte sich kurz und realistisch auf, blieb aber liegen, bis sie zu guter Letzt kreischte »Er atmet nicht mehr! Intubieren, sofort!« und ihm einen Strohhalm zwischen die Lippen zu zwängen versuchte.

Als der Krankenwagen an einer Ampel halten musste, verlagerte Alice ihr Gewicht ein wenig. Alles an ihrem Körper fühlte sich falsch an. Eine bleierne Müdigkeit steckte ihr in den Gliedern, so als könnte sie bis in alle Ewigkeit schlafen, und gleichzeitig fühlte sie sich energiegeladen und ganz kribbelig vor Tatendrang, sodass sie am liebsten aufgesprungen wäre und mit irgendetwas losgelegt hätte. Das musste an der Schwangerschaft liegen. Alle sagten, in der Schwangerschaft komme einem der eigene Körper völlig fremd vor.

Sie senkte das Kinn auf die Brust und betrachtete die seltsamen feuchten Sachen, die sie anhatte. Solche Kleider würde sie niemals für sich aussuchen. Sie trug weder Gelb noch ärmellose Tops. Wieder stieg Panik in ihr auf. Sie wandte den Blick von sich ab und starrte erneut an die Decke des Krankenwagens.

Merkwürdigerweise konnte sie sich auch nicht daran erinnern, was sie am Abend zuvor gegessen hatte.

Sie hatte nicht die leiseste Ahnung. Nicht die leiseste.

Ihr Thunfischdingsda mit Bohnen? Das Lammcurry, das Nick so gern aß? Sie wusste es einfach nicht mehr.

Andererseits glich ein Wochentag dem anderen, sie verschmolzen zu einem gleichförmigen Einerlei. Was hatte sie denn vergangenes Wochenende gemacht?

Ein verknäulter Haufen Erinnerungen wie ein umgedrehter Wäschekorb stürzte auf sie ein – Erinnerungen, die von verschiedenen Wochenenden stammten. Zeitungslektüre im Park, auf dem Rasen sitzend. Picknicks. Durch Gartencenter bummeln und über Pflanzen diskutieren. Arbeiten am Haus. Immerzu irgendwelche Arbeiten am Haus. Kinobesuche. Abendessen.

Kaffee mit Elisabeth. Sex am Sonntagmorgen, danach noch eine Runde schlafen, danach Croissants aus der vietnamesischen Bäckerei. Geburtstage von Freunden. Dann und wann eine Hochzeit. Kurzreisen. Irgendwelche Sachen mit Nicks Familie.

Obwohl sie es nicht erklären konnte, wusste sie, dass nichts davon am letzten Wochenende geschehen war. Sie hatte keine Ahnung, wann all diese Dinge sich ereignet hatten, ob erst vor Kurzem oder schon vor langer Zeit. Sie waren einfach passiert.

Das Problem war, dass sie kein »Heute« oder »Gestern« oder auch nur »Letzte Woche« festmachen konnte. Sie schwebte hilflos über dem Kalender wie ein Luftballon, den jemand losgelassen hatte.

Vor ihrem inneren Auge tauchte ein Bild auf, ein grauer, wolkenverhangener Himmel, in den rosarote Luftballons aufstiegen, mit weißen Bändern zusammengebunden wie Blumensträuße. Ein stürmischer Wind riss an den Ballonsträußen und peitschte sie durch die Luft, und eine grenzenlose Traurigkeit überkam sie.

Das Gefühl verebbte wie plötzlich auftretende und wieder abklingende Übelkeit.

Du meine Güte. Was hatte das alles zu bedeuten?

Sie wünschte, Nick wäre hier. Er würde alles ins Lot bringen. Er könnte ihr genau sagen, was sie am Abend zuvor gegessen und was sie am Wochenende gemacht hatten.

Hoffentlich wartete er im Krankenhaus schon auf sie. Vielleicht hatte er ihr sogar Blumen gekauft. Ja, das hatte er mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit getan. Sie hoffte, er hatte es sein lassen, weil es viel zu extravagant war.

Nein, das war geschwindelt, in Wirklichkeit hoffte sie, dass er ihr welche gekauft hatte. Immerhin wurde sie mit dem Krankenwagen eingeliefert. Da hatte sie schon einen Blumenstrauß verdient.

Wieder stieg ein Bild vor ihrem inneren Auge auf, ein riesengroßer Strauß langstieliger roter Rosen und Schleierkraut in der Kristallvase, die Nicks Cousine ihnen zur Hochzeit geschenkt hatte. Wie kam sie nur auf so etwas? Nick schenkte ihr nie Rosen. Er wusste, sie mochte Rosen nur im Garten. Rosen aus dem Blumenladen dufteten nicht, und aus irgendeinem Grund brachte sie sie immer mit einem Serienmörder in Verbindung.

Der Krankenwagen hielt, der Motor wurde abgestellt. George sprang auf und zog gleichzeitig den Kopf ein, damit er ihn sich nicht anstieß.

»So, da wären wir, Alice. Wie geht es Ihnen? Sie machen ein Gesicht, als wären Sie in äußerst tiefschürfende Gedanken versunken.«

Er drückte den Hebel an der Tür herunter und stieß sie auf.

Sonnenlicht flutete herein. Alice musste blinzeln.

»Ich weiß nicht einmal, wie Sie heißen«, sagte sie.

»Kevin«, antwortete er entschuldigend, so als wüsste er, was für eine Enttäuschung er ihr damit bereitete.

*

ELISABETHS TAGEBUCH FÜR DR. HODGES

Es ist mir peinlich, das zuzugeben, aber die Wahrheit ist, dass meine Arbeit mir nicht selten einen kleinen Kick beschert, Dr. Hodges. Wie gesagt, nur einen kleinen, aber der ist unverkennbar vorhanden. Das Adrenalin schießt mir jedes Mal ins Blut, wenn die Lichter im Saal gedimmt werden und es still wird im Publikum und ich ganz allein dort oben auf dem Podium stehe und Layla mir so todernst signalisiert, dass alles in Ordnung ist, als ob es sich um den Countdown eines Raketenstarts in einem Raumfahrtzentrum handelte. Der Scheinwerfer wärmt mein Gesicht wie Sonnenstrahlen, und man hört nichts als das gelegentliche Klirren eines Wasserglases und vielleicht ein respektvolles Hüsteln. Ich liebe diesen klaren, herben, geschäftsmäßigen Geruch hoteleigener Veranstaltungsräume und die frische, klimatisierte Luft darin. Sie macht mir den Kopf frei. Und wenn ich rede, verleiht das Mikrofon meiner Stimme einen vollen, samtigen Klang und Autorität.

Es gibt aber auch Tage, da schleppe ich mich förmlich aufs Podium hinauf, gebückt wie unter einer schweren Last, mit hängendem Kopf und krummem Rücken, wie ein altes Weib. Dann würde ich am liebsten ins Mikrofon sagen: »Was für einen Sinn hat das Ganze eigentlich, meine Damen und Herren? Sie machen alle einen so netten Eindruck, wären Sie so freundlich, mir zu erklären, was für einen Sinn das Ganze hat?« Aber im Grunde weiß ich das selbst.

Diese netten Damen und Herren tragen dazu bei, dass wir unsere Hypothek abbezahlen können. Sie alle leisten einen Beitrag für die Kosten unserer Lebensmittel und unseres Stroms und unseres Wassers und unserer Kreditkarte. Jeder von ihnen beteiligt sich großzügig an den Ausgaben für die Injektionsnadeln und für die unförmigen Krankenhauskittel und für diesen letzten Anästhesisten mit seinen lieben Hundeaugen, der meine Hand hielt und sagte: »Schlafen Sie schön, Schätzchen.«

Ich schweife schon wieder ab. Aber Sie wollen ja, dass ich abschweife. Ich soll aufschreiben, was mir gerade in den Sinn kommt. Ich frage mich, ob Sie mich wohl langweilig finden. Sie machen immer ein milde interessiertes Gesicht, wenn ich zu Ihnen komme und darauf brenne, Ihnen die erbärmlichen Einzelheiten meines Lebens anzuvertrauen, aber vielleicht würden Sie an manchen Tagen lieber die Ellenbogen auf den Schreibtisch und das Kinn in die Hand stützen und sagen: »Was für einen Sinn hat das Ganze eigentlich, Elisabeth?« Und dann fällt Ihnen wieder ein, was für einen Sinn das Ganze hat, nämlich dass ich mit meinem Geld dazu beitrage, dass Sie sich Ihre Kreditkarte, Ihre Hypothek, Ihr Essen leisten können. Das ist der Lauf der Dinge.

Sie haben neulich gesagt, ein Gefühl von Sinnlosigkeit sei ein Anzeichen für eine Depression, aber sehen Sie, mir ist der Sinn des Ganzen durchaus bewusst – es dreht sich einzig und allein ums Geld. Folglich kann ich auch nicht an einer Depression leiden.

Nachdem ich das Gespräch mit Jane abrupt beendet hatte, klingelte das Handy sofort wieder (wahrscheinlich war sie es, weil sie dachte, die Verbindung wäre unterbrochen worden), aber ich schaltete es mitten im Klingeln aus. »Manchmal fragt man sich, ob wir ohne diese verdammten Dinger nicht besser dran wären!«, sagte ein Mann, der gerade vorbeiging, und ich erwiderte: »Verdammt richtig!« (Das habe ich noch nie in meinem Leben gesagt, aber in diesem Moment kam es mir aus heiterem Himmel in den Sinn: »Verdammt richtig!« Das gefällt mir. Vielleicht werfe ich es Ihnen in unserer nächsten Sitzung an den Kopf; bin schon gespannt auf Ihre Reaktion.) »Meinen Glückwunsch übrigens«, fuhr der Mann fort. »Ich habe schon eine Menge solcher Workshops besucht, aber noch nie jemanden mit so vernünftigen Ansichten erlebt!«

Er flirtete mit mir. Das passiert manchmal. Das muss am Mikrofon und an der Beleuchtung liegen. Ich finde das lustig, weil ich immer denke, die Männer müssen doch sehen, dass mir meine Sexualität vollständig entzogen worden ist. Ich komme mir wie ein Stück Dörrobst vor. Ja, genau. ICHBINEINEGETROCKNETEAPRIKOSE, Dr. Hodges. Keine dieser feinen, samtigen, saftigen frischen Früchte, sondern eine gedörrte, geschrumpfte, ihres Geschmacks beraubte Aprikose, die so hart ist, dass einem beim Kauen der Kiefer wehtut.

Ich atmete ein paar Züge der knackig frischen, klimatisierten Luft ein und klemmte mir das Mikrofon wieder an meine Jacke. Ich war so versessen darauf, wieder auf das Podium zu steigen, dass ich regelrecht zitterte vor Erregung. Ich kann nicht ausschließen, dass ich heute Nachmittag vorübergehend geistig verwirrt war, Dr. Hodges. Wir können bei unserer nächsten Sitzung darüber sprechen.

Vielleicht dient zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit aber auch nur als Entschuldigung für unentschuldbares Verhalten.

Vielleicht schäme ich mich ganz einfach zuzugeben, dass eine Bekannte mich anrief und mir mitteilte, dass meine einzige Schwester einen Unfall hatte, und ich das Gespräch abrupt beendete. Ich präsentiere mich Ihnen auf bestimmte Weise, Dr. Hodges. Ich möchte den Eindruck einer psychisch Gestörten erwecken, damit Sie das Gefühl haben, Sie werden gebraucht, und gleichzeitig möchte ich, dass Sie mich für einen netten Menschen halten, Dr. Hodges. Einen netten, psychisch gestörten Menschen.

Ich betrat das Podium mit federnden Schritten wie ein Rockstar. Ich begann darüber zu reden, dass man sich »seinen Kunden bildlich vorstellen« solle, und ich heizte ihnen ein. Ich brachte sie zum Lachen. Sie wetteiferten miteinander, wer mir die Antworten als Erster zurief, und die ganze Zeit, während sie sich ihren Kunden bildlich vorstellten, stand mir das Bild meiner kleinen Schwester vor Augen.

Mit Kopfverletzungen ist nicht zu spaßen, dachte ich. Nick ist nicht da, und Jane geht das Ganze im Grunde nichts an, dachte ich.

Und dann dachte ich noch: 1998 war Alice mit Madison schwanger.

3

Im Krankenhaus wartete kein Nick mit Blumen. Und auch sonst wartete niemand auf Alice. Sie kam sich wie eine heldenhafte kleine Einzelkämpferin vor.

Ihre beiden Rettungssanitäter verschwanden, als hätte es sie nie gegeben. Alice konnte sich nicht erinnern, dass sie sich von ihr verabschiedet hätten, und so hatte sie nicht einmal Gelegenheit dazu gehabt, sich bei den beiden zu bedanken.

Im Krankenhaus wechselten sich Phasen hektischer Betriebsamkeit ab mit solchen, in denen sie allein in einem kleinen weißen, schachtelförmigen Raum auf einer Trage lag und an die Decke starrte.

Ein Arzt kam. Er leuchtete ihr mit einem winzigen, bleistiftdünnen Stablämpchen in die Augen, bewegte seinen Finger vor ihrem Gesicht hin und her und bat sie, ihm mit den Augen zu folgen. Eine Krankenschwester mit ungewöhnlich grünen Augen, deren Farbe zu ihrer Schwesterntracht passte, und einem Klemmbrett in der Hand trat ans Fußende der Trage und erkundigte sich nach Alice’ Krankenversicherung und nach eventuellen Allergien und nach ihren Angehörigen. Als Alice ihr ein Kompliment wegen ihrer schönen grünen Augen machte, erwiderte sie, das seien farbige Kontaktlinsen. »Oh«, machte Alice nur und fühlte sich betrogen.

Sie bekam eine Eispackung auf das »Straußenei«, wie die grünäugige Schwester es nannte, an ihrem Hinterkopf und zwei weiße Tabletten in einem kleinen Plastikbecherchen gegen die Schmerzen. Aber Alice meinte, so schlimm seien die Schmerzen nicht, und sie wolle ohnehin keine Medikamente nehmen, weil sie schwanger sei.

Jeder stellte ihr irgendwelche Fragen und sprach dabei viel zu laut, so als müsste sie geweckt werden, dabei blickte sie ihnen direkt ins Gesicht. Ob sie sich an ihren Sturz erinnere, an die Fahrt ins Krankenhaus. Ob sie wisse, was für ein Tag es war.

Was für ein Jahr.

»1998?« Eine besorgt dreinblickende Ärztin, die eine rot gerahmte Brille trug, sah sie prüfend an. »Sind Sie da ganz sicher?«

»Ja, natürlich«, antwortete Alice. »Ich weiß das, weil mein Kind am 8. November 1998 zur Welt kommen soll.«

»Die Sache ist nur die«, sagte die Ärztin langsam, »wir haben schon das Jahr 2008.«

»Das ist völlig ausgeschlossen«, erwiderte Alice so liebenswürdig wie möglich. Vielleicht gehörte die Ärztin zu diesen weltfremden Intelligenzlern, die mit alltäglichen Dingen wie Jahreszahlen hoffnungslos überfordert waren.

»Und warum ist das völlig ausgeschlossen?«

»Weil der Jahrtausendwechsel noch nicht stattgefunden hat«, antwortete Alice und kam sich sehr schlau vor. »Irgendein Computervirus soll einen totalen Stromausfall verursachen, hab ich gehört.« Sie war ganz stolz auf ihr Wissen; das zeigte doch, dass sie auf dem Laufenden war.

»Mir scheint, Sie sind ein bisschen durcheinander. Sie können sich also nicht an den Jahrtausendwechsel erinnern? An das großartige Feuerwerk auf der Hafenbrücke?«

»Nein«, erwiderte Alice. »Ich kann mich an kein Feuerwerk erinnern.« Hören Sie bitte auf damit, hätte sie die Ärztin am liebsten angefleht. Das ist nicht witzig, und mein Kopf tut wirklich furchtbar weh. Ich lasse es mir nur nicht anmerken.

Sie erinnerte sich, wie Nick eines Abends gesagt hatte: »Ist dir eigentlich klar, dass wir mit einem einjährigen Baby ins neue Jahrtausend feiern werden?« Er hielt einen Vorschlaghammer in beiden Händen, weil er eine Wand einreißen wollte.