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Heute schon gestritten? Nein? Dann wird´s aber Zeit! Commedienne und Psychologie-Nerd Lara Ermer will uns den Spaß am Streiten wiedergeben und aktuelle Debatten mit Argumenten aus 198 psychologischen Studien sprengen. Ständig gibt es Konflikte, die Welt ist irgendwie unruhig geworden und selbst mit der besten Freundin und Tante Susanne verstehst du dich plötzlich nicht mehr? Lara Ermer rät: Bitte nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern – mit voller Kraft voraus in den nächsten Streit starten! Unterdrückter Ärger ist nachweislich nicht gut für uns, ein kleiner Clinch kann da als Ventil wirken. Und wenn wir uns schon in die Arena stürzen, wieso dann nicht auch einfach mal Recht haben? Deswegen besinnt sich Lara Ermer auf die Macht der Fakten und psychologischen Studien und liefert die Totschlagargumente gleicht mit: Die Gesellschaft ist dabei vollends auseinanderzudriften und die Polarisierung größer denn je? Nun ja, eigentlich nicht. Ein Großteil der Menschen schließt sich immer noch »mittigen« Positionen an. Die extremer eingestellten Ränder links und rechts bleiben in der Unterzahl – sie diskutieren nur gerne so laut, dass man sie kaum überhören kann. Vielleicht sollten wir ihnen also nicht kampflos das Feld überlassen und dabei gleichzeitig etwas für unsere mentale Gesundheit tun. Außerdem erfahren wir in diesem Buch, dass es unglaublich erschöpfend ist, sich politisch korrekt auszudrücken, gleichzeitig aber politisch korrekte Sprache am Arbeitsplatz Kreativität und Innovation des Unternehmens fördert. Und wir lernen, warum Verschwörungstheorien, die wir uns selbst zusammenbasteln, besonders verführerisch sind. In ›Alle gegen alle‹ bekommen wir Totschlagargumente und psychologische Fakten an die Hand, die uns helfen, die nächste Familienfeier zu überstehen, die Tagesschau wieder ohne explodierenden Puls zu schauen und einfach gelassener durchs Leben zu gehen. - Unterhaltsame Kommunikationshilfe vom Feinsten - Spannende Perspektiven - Jede Menge Spaß und Humor
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Seitenzahl: 268
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ständig gibt es Konflikte, die Welt ist irgendwie unruhig geworden und selbst mit der besten Freundin und Tante Susanne verstehst du dich plötzlich nicht mehr? Lara Ermer rät: Bitte nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern – mit voller Kraft voraus in den nächsten Streit starten! Und wenn wir uns schon in die Arena stürzen, wieso dann nicht auch einfach mal recht haben? In ›Alle gegen alle‹ bekommen wir Totschlagargumente und psychologische Fakten an die Hand, die uns helfen, die nächste Familienfeier zu überstehen, die Tagesschau wieder ohne explodierenden Puls zu schauen und einfach gelassener durchs Leben zu gehen.
Lara Ermer
Wenn man Leute fragt, warum sie gerne streiten, dann sagen manche, sie fänden Streiten eigentlich blöd. Andere betonen, dass Konflikte wichtig seien für die demokratische Meinungsbildung, und irgendwer sagt garantiert immer: Versöhnungssex. Das ist direkt ein sehr schönes Beispiel dafür, warum Menschen sich gerne mal kabbeln. Ich könnte jetzt auch behaupten, dass ich persönlich gerne streite, weil wissenschaftlich erwiesen ist, dass das gut für uns ist. Unterdrückter Ärger wirkt sich nämlich negativ auf die Gesundheit aus. Warum also nicht ein bisschen Zoff als Ventil nutzen? Ehrlicherweise mag ich Streit aber vermutlich vor allem, weil ich manchmal richtig gerne recht habe. Auch ein bisschen Krawall finde ich hin und wieder herrlich.
Und da ist die Studienlage praktischerweise auf meiner Seite. Manchmal die innere Kratzbürste rauszulassen, kann ebenfalls gesund sein. Wer zum Beispiel Spaß daran hat, gelegentlich Kraftausdrücke zu verwenden, kann dadurch körperliche Schmerzen überwinden und die eigene Leistungsfähigkeit steigern. Ganz ehrlich: Sogar ich hätte ausnahmsweise Lust, ins Fitnessstudio zu gehen, wenn ich auf dem Laufband die ganze Zeit »ARSCHKRAMPE! KACKVOGEL! FAHRSTUHLPUPSER!« rufen darf. Selbst wenn politische Persönlichkeiten mal Schimpfwörter benutzen und richtig emotional streiten, kann sie das sympathisch erscheinen lassen. Ein klein wenig Radau ist also gut für uns, Himmel, Arsch und Zwirn!
Trotz der Vorteile hat Streit oft einen unangenehmen Beigeschmack und den Leuten ist der Streithunger vergangen. Da will man sich einfach nur in Ruhe zanken, sich kurz gepflegt in die Wolle kriegen und schon ruft jemand: »Obacht! Die Gesellschaft ist schrecklich gespalten, ihr wollt das doch nicht etwa vorantreiben?!« Was für ein fieses Totschlagargument. Das ist, als würden Kinder zum Spaß ein bisschen rangeln und plötzlich heißt es: »Vertragt euch, oder Mama und Papa lassen sich scheiden.« Wie stressig! Mama, Papa, habt ihr es schon mal mit Versöhnungssex versucht?
Die gute Nachricht gleich zu Beginn lautet, dass sich eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern mal angeschaut hat, welche Meinungen zu all den spaltenden Themen eigentlich in Deutschland vertreten werden, und tadaaa, wir sind als Gesellschaft gar nicht so polarisiert, wie wir glauben. Ein Großteil der Menschen schließt sich immer noch »mittigen« Positionen an. Die extremer eingestellten Ränder bleiben in der Unterzahl. (Achtung: Wir reden hier von Meinungsäußerungen, nicht von Wahlergebnissen. Es ist trotzdem nicht ausgeschlossen, dass rechtsextreme und antidemokratische Stimmen zeitgleich versuchen, sich als Mitte der Gesellschaft darzustellen, und auf diese Weise einige ihrer Äußerungen erfolgreich in der ach-so-braven Mitte normalisieren.)
Auch die Art, wie wir uns diese Spaltung genau vorstellen, ist ein wenig verzerrt. Der Ausdruck »gespaltene Gesellschaft« klingt so, als hätten wir zwei fein säuberlich getrennte Lager gebildet. Wir nehmen oft irrtümlich an, unser Gegenüber einfach in eine einzelne, klare Gruppe einsortieren zu können. Dann denken wir: Diese Person hat Meinung X, dann teilt sie garantiert auch Y und Z. Als gäbe es zum Beispiel für jemanden, der schon seit Jahren Tempolimits blöd findet, ein bisschen Abstreiten des Klimawandels als Treueprämie obendrauf. Nur ist es in Wahrheit nicht so einfach. Es sind auch nicht alle, die gerne Tofu essen, automatisch lesbisch und zünden auf Demos Autos an.
Dabei wären zwei ordentlich getrennte Lager herrlich übersichtlich. Bärchengruppe gegen Igelgruppe. Viele der aktuellen Diskussionen fühlen sich auch ein bisschen an wie Kindergarten. Ja, Günther, ich weiß, dass du wütend bist, aber bitte hör auf, die kleine Lisa mit Kacke zu bewerfen. Tatsächlich sind es aber so viel mehr als nur zwei Lager. Es ist wie beim Fußballspiel nach der Halbzeit, wenn man ganz kurz verwirrt ist, welche Mannschaft nun auf welches Tor zielen muss. Mittlerweile schießen Klimaschützende gegen SUV-Fans und Tomatensuppe gegen Kunst. Boomer schießen gegen die »Generation Beleidigt« und Röhrenjeanstragende gegen die Gen Z. Männer schießen gegen Frauen und manche Frauen UND Männer schießen gemeinsam gegen alle, die mehr als diese zwei Geschlechter berücksichtigen. Politisch Korrekte schießen gegen Menschen, die Sprüche-T-Shirts mit »Spreche fließend Sarkasmus«-Aufdruck tragen, und Verzweifelte schießen gegen Witzbolde, die ihnen selbst in tragischen Zeiten ihren fließenden Sarkasmus aufdrücken wollen. Und, und, und. Kurz gesagt: Alle gegen alle. Das ist ein super Konzept für eine chaotische Schneeballschlacht. Einer wirft Schneebälle auf einen SUV, ein anderer wirft Tomatensuppe, Günther wirft Kacke und irgendwer weint. Und genauso stressig fühlen sich Diskussionen aktuell manchmal an.
Die Gesellschaft ist zwar nicht so exakt und so tief gespalten, wie wir oftmals annehmen. Trotzdem merke natürlich auch ich, dass das Gesprächsklima auch schon mal netter war, egal ob im Bekanntenkreis, in der Familie, mit Fremden in einer Kneipe oder im Internet. Dass wir alle keinen Bock mehr auf Diskussionen haben, liegt unter anderem daran, dass sich das politische Klima auch im Privaten auf uns auswirkt. Allein sich regelmäßig mit politischen Themen zu beschäftigen, kann nachweislich so stressig sein, dass es einen schlechten Einfluss auf unsere körperliche und psychische Gesundheit hat. Eigentlich sollte man Nachrichten wie Zigarettenschachteln mit kleinen Warnbildchen versehen. Einfach vor der Tagesschau ein paar Fotos von sehr müden und erschöpften Leuten einblenden. »Politisches Tagesgeschehen kann Ihnen und Ihrer Laune erheblichen Schaden zufügen.«
Um im Chaos des politischen Geschehens nicht völlig verloren zu sein, orientieren wir uns zu Gruppen hin. Wir fühlen uns Menschen, die unserer Meinung sind, zugehörig – und werten andere instinktiv ab. Wir finden also nicht nur andere Meinungen uncool, sondern auch die Menschen, die sie haben. In der Psychologie nennt man das Affektive Polarisierung. Man könnte aber auch einfach sagen: »Ihr denkt nicht, was wir denken, also find ich euch richtig kacke.« Tatsächlich unterstellen wir Personen, die anderer Meinung sind als wir, nicht einmal, dass sie bösartig sind. Wir halten sie anscheinend stattdessen oft automatisch für dumm. Das ist nicht super zu Ende gedacht, aber die Psychologie hat nie behauptet, dass alle Menschen gerne denken. Das Gefühl, die Gesellschaft drifte immer weiter auseinander, erhöht unsere Feindseligkeiten. Je stärker Leute von einer Spaltung der Gesellschaft ausgehen, desto mehr negative Gefühle hegen sie gegen die, die anders eingestellt sind als sie. Im Klartext heißt das: Die Leute hassen sich eh schon alle, also reiß du dich gefälligst mal zusammen und sei meiner Meinung! Das ist nicht superschlüssig, aber die Psychologie hat auch nie gesagt, dass erwachsene Menschen sich erwachsen verhalten.
Auch im engsten Umfeld kann der Umgang miteinander unter politischen Debatten leiden. Das kennt der eine oder die andere vielleicht aus der eigenen Familie. Ich habe zum Beispiel im zarten bis bockigen Alter von zwölf Jahren beschlossen, rein aus Protest vegetarisch zu leben. Ab dem Zeitpunkt habe ich meinen Eltern jedes Mal, wenn sie nach langen Arbeitstagen nach Hause kamen, besserwisserische kleine Vorträge gehalten, dass sie zu viel Fleisch einkaufen. Aus heutiger Sicht würde ich’s gut verstehen, falls sie sich hin und wieder gewünscht haben, mir möge endlich eines meiner veganen Dino-Chicken-Nuggets im Hals stecken bleiben. Dabei hätte ich doch wissen können, dass man die Hand, die einen füttert, höflicherweise nicht beißen sollte. Elternhände zu beißen, ist auch irgendwie erstaunlich unvegetarisch.
Wir alle kennen das Gefühl, aus Diskussionen keine sinnvollen Auswege mehr zu finden. Man dreht sich im Kreis und fragt sich die ganze Zeit: Warum denkst du nicht einfach das, was ich denke? Ich habe mir das schließlich gut überlegt! Ich habe recht – aber was hast dann du? Weil sich dieser Knoten im Hirn und der Klumpen im Bauch einfach nicht mehr lösen lassen, meiden wir Debatten oft ganz. Auf einmal wird diese eine langjährige Freundin zu der Person, bei der man schon auf dem Hinweg zum Brunch denkt, man sollte heute bloß nicht anfangen, über Politik zu reden. Oder über sonst irgendwas Brenzliges. Oder, naja, über die Welt. Und dann sitzt man gemeinsam am Tisch und spielt eine beschissene Smalltalk-Variante von Tabu. Komm, wir reden übers Wetter. Möööp, du hast Klima gesagt! Verloren!
Ein US-amerikanisches Forschungsteam hat einen sehr ulkigen Maßstab dafür gefunden, wie sehr politische Uneinigkeit Familien belastet. In den USA lässt sich anhand des Wohnorts ganz gut abschätzen, ob Menschen eher von der demokratischen oder republikanischen Partei geprägt werden. Zum traditionellen Thanksgiving-Essen treffen dann eben auch Familienangehörige aus politisch unterschiedlich eingestellten Regionen aufeinander. 2015 konnte gemessen werden, dass ein Thanksgiving-Essen, bei dem wahrscheinlich politisch unterschiedlich eingestellte Menschen aufeinandertrafen, im Schnitt 30 bis 50 Minuten kürzer war als der Abend politisch einiger Familien. Gesellschaftliche Spaltung misst man also in Truthahnminuten. (Natürlich interessiert uns jetzt alle brennend, wie lang so ein durchschnittliches Thanksgiving-Dinner gedauert hat. Es waren 257 Minuten.)
2016 gab es dann noch verstärkten Wahlkampf, die Leute wurden heftiger gegeneinander aufgepeitscht und Trump wurde schließlich zum Präsidenten gewählt. Der Unterschied im Thanksgiving-Essen zwischen politisch einigen und uneinigen Familien hat sich in diesem Jahr verdreifacht. Wegen der Meinungsverschiedenheiten sind einige sogar lieber gar nicht mehr zu ihren Familien gefahren. Das Forschungsteam hat sich die Mühe gemacht, hochzurechnen, wie viel Thanksgiving-Zeit insgesamt wohl durch politische Differenzen im Jahr 2016 verloren ging. Es waren erstaunliche 34 Millionen Stunden. Dabei sind diese Familienessen unfassbar viel Arbeit. Allein den traditionellen Truthahnbraten vorzubereiten, dauert gerne mal den ganzen Tag. Stell dir vor, du bist ein Truthahn, man hat dich schön für Thanksgiving hochgemästet, ordentlich mit Füllung vollgestopft, für Stunden in den Ofen geschmissen – und dann schlingt dich die Familie nur schnell runter, weil sie Angst vor Diskussionen hat, und diese rotzige Zwölfjährige knabbert lieber ihren Tofu.
Wie wir aktuell streiten, ist also nicht gut für die Gesundheit, nicht gut für die Laune und nicht gut für Truthähne. Aber wie sind wir überhaupt hier gelandet? Warum lassen wir uns von vielen aktuellen Themen dermaßen auf die Palme bringen? Und warum beruhigen wir uns nicht alle mal, wenn’s doch so belastend ist? Die kurze Antwort ist: Würden wir Dinge sein lassen, nur weil sie nicht gut für uns sind, wäre Rauchen kein Thema mehr und vermutlich wären sehr viele Menschen plötzlich Single. Aber ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass es eine gute Idee ist, mit dem ganzen Zoff aufzuhören. Genau diese privaten Debatten, beim Brunchen und über dem Truthahnbraten, halte ich für unheimlich wichtig. Unsere Gesellschaft funktioniert nicht, wenn die eine oder andere Haltung nicht ordentlich bestritten wird. Weil aber ständig alle sagen, wie anstrengend Konflikte sind, lassen wir das oftmals lieber sein. Gerade Gespräche mit anders eingestellten Fremden umgehen wir gerne, weil wir sie uns extrem unangenehm vorstellen. Dabei ist die Debatte selbst am Ende meistens weniger schlimm als erwartet. Selbst die vertrackten Diskussionen lohnen sich nämlich. Ein erfolgreiches Gespräch zwischen unterschiedlich eingestellten Leuten kann zum Beispiel die oben erwähnte affektive Polarisierung senken. Wer ein zielführendes Streitgespräch mit jemandem führen konnte, ist vielleicht hinterher nicht derselben Meinung wie sein Gegenüber, findet dieses Gegenüber aber immerhin ein bisschen weniger kacke. Das funktioniert sogar fürs Publikum. Wer den beiden bei diesem Top-Gespräch zusieht, wird dadurch auch entpolarisiert. Wenn zwei richtig gut streiten, freut sich also tatsächlich der Dritte.
Natürlich finden unsere privaten Diskussionen zu gesellschaftlichen und politischen Themen nicht im luftleeren Raum statt. Ein guter Streit zwischen zwei Personen wird kein Extremismusproblem lösen und leider auch nicht die Welt retten. Aber gerade in Zeiten, in denen antidemokratische Stimmen lauter werden, braucht es eine starke Demokratie, die dagegenhält. Das funktioniert nicht, wenn wir peinlich berührt nebeneinandersitzen und uns unbehaglich anschweigen. Oder anders ausgedrückt: Wir sollten all diese unangenehmen Gespräche führen, bevor zwischenmenschliche Gräben heimlich, still und leise unüberwindbar werden. (Sorry, seit meine Mutter mir damals für meinen ersten Auftritt auf einer Demo mein erstes eigenes Paar Doc Martens geschenkt hat, geht manchmal das Pathos mit mir durch. Dabei machen mir die Doc Martens bis heute blutige Füße. Alles für die Demokratie.)
Ich glaube also, dass wir dringend weiterstreiten sollten. Mut zur Heftigkeit! Ich glaube aber auch, dass das besser geht. Unsere Diskussionen müssen nicht immer so anstrengend sein. Für dieses Buch habe ich mich auf die Suche nach dem Spaß am Streiten gemacht. Aufmerksame Füchse haben es bis hierhin schon bemerkt: Dafür habe ich vor allem Arbeiten aus der Psychologie, aber auch aus der Soziologie, den Politik- und Kommunikationswissenschaften durchwühlt. Sehen wir der Wahrheit ins Auge. Ich habe eigentlich nur richtig viele Dinge nachgelesen, um hinterher bitte häufiger recht haben zu können. Ich bin aber so frei, das, was ich dabei so gefunden habe, mit euch zu teilen. Allein streiten macht eh nur halb so viel Spaß.
Im ersten Teil des Buches beschäftigen wir uns mit der Frage: Was genau geht da eigentlich schief beim Truthahnessen, beim Brunchen und im Internet? Was macht so viele der gesellschaftlichen Streitthemen so fürchterlich anstrengend? Versteht mich nicht falsch. Man muss nicht mit jedem über alles diskutieren. Ich finde manche Leute schlichtweg kacke zu finden vollkommen valide. Es ist nur, denke ich, klug, zu wissen, ob man gerade jemanden fundiert wegen einer Haltung kritisiert – oder ob man eine Person oder Meinung aus Prinzip nicht leiden kann. Von diesen Prinzipien haben wir unbewusst nämlich ganz schön viele und genau die werden wir uns zu Beginn des Buches anschauen.
Im zweiten Teil statten wir uns dann alle gemeinsam mit ein paar neuen Totschlagargumenten zu aktuellen Debatten aus. Manche sagen zu diesen wiederkehrenden Dingen »Zeitgeistthemen«, andere verdrehen nur die Augen und denken »Oh, bitte, halt die Fresse«. Egal wie man es nennen mag, es gibt diverse Knackpunkte, bei denen völlig vorhersehbar ist, dass das Gespräch eskalieren wird. Tatsächlich hat die Psychologie zu diesen Themen einige Studien zu bieten, die oft erst selten besprochen wurden. Diese Studien sind zum einen sehr spannend und zum anderen lassen sich damit prima Diskussionen gewinnen. Egal ob Bärchen- oder Igelgruppe, da ist für alle was dabei. Es gibt richtig viele Studien, die einfach vollkommen abgedreht sind. Hier kommen nicht nur Truthahnfans auf ihre Kosten. Wie schön ist es bitte, neue Totschlagargumente zu entdecken, wenn es dabei ganz nebenbei um Wurstgesichter, Taylor Swift und Disneyfilme geht? Es überrascht mich selbst, dass ich das schreibe, aber auch Mario Barth hat einen Gastauftritt in diesem Buch. Und das sogar in wissenschaftlich.
Gut bewaffnet mit flippigen neuen Argumenten stürzen wir uns in den dritten Teil des Buches. Dieser dreht sich vollständig darum, wie wir Diskussionen führen können, damit sie konstruktiver sind, vielleicht ein bisschen weniger geladen – und wie Streit sogar richtig unterhaltsam sein kann. Ganz zum Schluss gibt’s selbstverständlich ein ausführliches Quellenverzeichnis. Auch um ein bisschen damit anzugeben – ich sag’s, wie’s ist. Dass ich das alles durchgeackert habe, glaubt mir ja sonst kein Mensch. Und nun, auf geht’s! Zieht die Samthandschuhe aus, wir haben das eine oder andere Hühnchen zu rupfen! In meinem Fall ein vegetarisches Hühnchen, versteht sich.
Nun ist Thanksgiving hierzulande nicht allzu weit verbreitet, was geht es uns also an, dass in den USA Familien miteinander im Clinch liegen? Zwar lassen wir uns vielleicht nicht den Appetit auf Truthahn verderben, aber auch andere Entscheidungen werden von verschiedenen gesellschaftlichen Haltungen beeinflusst. Wie weit unsere Abneigung gegenüber Anderseingestellten auch Alltagsentscheidungen lenkt, zeigte eine Studie aus dem Jahr 2024. Darin richteten sich Versuchspersonen bei ihrer Bewertung verschiedener Schokoladensorten danach, welche Wählerschaften verschiedener Parteien die jeweilige Sorte angeblich mochten. Hatten die Personen das Gefühl, dass die politische Gegenseite eine bestimmte Schokolade gut fand, hatten sie selbst plötzlich deutlich weniger Bock darauf. Schadeschokolade. Darin lag auch ein ungeahntes Risiko im deutschen Weihnachtswahlkampf 2024. Immerhin musste man plötzlich fürchten, dass einem der Lieblings-Schokoweihnachtsmann von der falschen Partei in die Hand gedrückt wurde und man diesen dann nie wieder hätte essen wollen. Polarisierung geht uns also eindeutig alle an.
Für unsere persönlichen Einstellungen gibt es ein ganzes Meer an überraschenden Gründen. Viele von ihnen sind zusätzlich wild untereinander verknüpft und beeinflussen sich gegenseitig. Ein paar der Hintergründe, vor denen sich unsere Haltungen in Debatten herausbilden, schauen wir uns in den nächsten Kapiteln an. Zuerst beschäftigen wir uns mit Fakten und der Frage, warum diese in Diskussionen nicht unbedingt das Gewicht haben, das ihnen zustünde. Anschließend geht es um Gruppenprozesse und unser tief verinnerlichtes Cliquendenken. Zum Schluss dieses Teils widmen wir uns dann dem ganz großen Ganzen, Trommelwirbel bitte, DEMSYSTEM.
Man könnte meinen, ein ganz simpler Weg, um festgefahrene Diskussionen aufzulösen, wären Fakten. Eigentlich müssten wir doch gar nicht beim Familienessen angestrengt mit einem Großonkel abwägen, was nun eigentlich mit dem Klima los ist oder was Impfen bringt. Wir könnten schließlich einfach nachschauen. Dachte ich zumindest lange. Dass ich persönlich mich ausgerechnet mit Psychologie beschäftigt habe, ist kein Zufall. Ich liebe Naturwissenschaften. Irgendwie hatte ich mal die naive Vorstellung: Wenn sich alle ständig streitend im Kreis drehen, kommt irgendwann die Wissenschaft, haut auf den Tisch und sagt: So oder so isses eben. Und dann passt das doch. Man kann so vieles mittlerweile nachlesen, warum genau streiten wir eigentlich noch?
Ich liebe Sachen-Nachgucken. Also wirklich von Herzen. Die Menschen, die das Internet und Suchmaschinen erfunden haben, haben das für Sendung-mit-der-Maus-Fans wie mich getan. Wann immer ich mir eine Frage stelle, bin ich zwei Klicks von einer Erklärung entfernt. Ich nutze das leidenschaftlich gern für jede Kleinigkeit. Neulich ist mir zum Beispiel ein unangenehmes kleines Tierchen im Wohnzimmer über den Weg gekrabbelt. Das Ding sah ein bisschen aus, als wären einem Tausendfüßler ein paar Hundert Füße abhandengekommen. Ich habe gegoogelt und herausgefunden: Bei dem Tierchen handelte es sich um einen Spinnenläufer. Die sind nicht nur vollkommen harmlos, sondern auch noch richtig hilfreich. Sie fressen nämlich Silberfischchen, kleine Käfer und anderes Kriechgetier und halten somit easy im Alleingang die Wohnung viecherfrei. Wie cool ist es bitte, 1. einen privaten kleinen Kammerjäger zu haben, und 2. das mit wenigen Klicks nachschauen zu können? Selbstverständlich habe ich das eklige Krabbeltier trotzdem aus dem Fenster geworfen. Mir wumpe, welchen Beitrag du zu meiner Wohngemeinschaft leistest. Deine dreißig Beine stellst du ganz sicher nicht unter meinen Tisch! Aber immerhin wusste ich, was genau ich da gerade rausschmeiße.
Sosehr ich Wissen mag, so sehr hasse ich Unsinn, der so tut, als sei er klug. Auf Instagram begegnet einem das häufig. Fitness-Accounts, die dir mit möglichst hippen Begriffen ihren geheimen, komplizierten Ernährungskniff verraten, um möglichst schnell möglichst alle Kilos abzunehmen – und, surprise, eigentlich solltest du komplett aufhören zu essen. »Mental Health Coaches«, die erzählen, sie hätten den Schlüssel zur psychischen Gesundheit entdeckt – man müsse einfach nur ganz fest daran glauben, dass einem das ganze Universum gehöre. Elon Musk liebt diesen Trick. Das Problematische an all diesen Dingen ist, dass sie überhaupt nicht wissenschaftlich fundiert oder manchmal sogar längst widerlegt sind und im schlimmsten Fall gefährlich für die Gesundheit werden können. Welche Formen diese Trends annehmen, ist manchmal schwer zu fassen. Es gibt zum Beispiel ernsthaft Fans des sogenannten Butthole Sunnings. Sich regelmäßig die Sonne auf den Arsch scheinen zu lassen, soll laut ihnen gegen Schlafstörungen und Depressionen helfen. Dabei wird man doch mit Sonnenbrand zwischen den Pobacken bestimmt erst recht depressiv. Für diesen Ansatz gibt es keinerlei wissenschaftliche Fundierung. Wobei ich auf die Studie, die mehrere Hundert Teilnehmende mal testweise mit nacktem Arsch voraus in die Sonne legt, schon gespannt wäre.
Natürlich liegen nicht alle Menschen, die sich abseits der Wissenschaft bewegen, regelmäßig mit gespreizten Beinen und Hinterm zum Himmel auf der Sonnenbank. Aber ein paar Meter Alufolie, um sich daraus notfalls einen Hut zu basteln, die sollte man schon mitbringen … oder? Wenn ich darüber nachdenke, wer Forschungsergebnisse anzweifelt, habe ich sofort ein Schwurbelbild im Kopf. Dabei ist mangelndes Vertrauen in die Wissenschaft weiter verbreitet, als man denkt, und zeigt sich ganz unterschiedlich. Man muss nicht gleich den Urknall abstreiten oder durch Handauflegen den Weltfrieden herbeiführen wollen. Wissenschaftliche Forschung vollends anzunehmen, das hieße, ich bekomme fundierte Fakten vermittelt, ich akzeptiere sie, ich passe gegebenenfalls mein Weltbild an. Und es tut mir sehr leid, das zu sagen, aber so funktioniert das bei den wenigsten von uns. Ein simples Beispiel ist die Astrologie. Das Internet trieft nur so vor Tipps und Tricks zu Sternzeichen. Die Glücksfarbe von Löwen soll »royales Lila« sein (ich stelle mir da eine Milkakuh mit Krönchen vor), Skorpione haben angeblich die versautesten Gedanken und je nachdem, wo man nachliest, sind Jungfrauen entweder voller liebevoller Hingabe oder sie hassen Gefühle.
Ob Sternzeichen unsere Persönlichkeit beeinflussen können, wurde unglaublich oft wissenschaftlich untersucht und die Antwort lautet immer und immer wieder: Nö! Also wirklich, null! Trotzdem lassen sich viele Menschen nicht von ihrem Glauben daran abbringen. Weil die Wissenschaft das nicht kommentarlos auf sich sitzen lassen kann, haben Forschungsteams wiederum analysiert, warum die Leute trotz aller Gegenbeweise nicht von der Astrologie ablassen. Eine mögliche Erklärung scheint der Name zu sein. Fragt man nämlich nach »Sternzeichen«, glauben nach eigener Aussage weniger Leute daran als beim Wort »Astrologie«. »Astrologie« hört sich eben wie eine seriöse Wissenschaft an. Klar lässt man sich davon eher überzeugen. »Basteln« klingt auch nach Kindergarten. Wenn mir aber jemand erzählt, er mache »Origami« – na, oho! Den Monsieur nehme ich ernst!
Der fancy Begriff allein begründet aber noch nicht den ganzen Astrologie-Hype. Selbst über die Horoskop-Sparte hinaus sind wir erstaunlich unbelehrbar. Ich will da gar nicht nur auf andere zeigen, denn ich bin selbst natürlich nicht frei davon. Obwohl es zum Beispiel diverse Studien gibt, die überhaupt keinen Zusammenhang finden konnten, bin ich der felsenfesten Überzeugung: Wenn ich nicht gut schlafen kann, dann ist der Vollmond daran schuld. Alle paar Wochen schmeißt der Mann im Mond eine kleine Party und hat keine Lust, dass irgendjemand das verschläft. Und obwohl ich theoretisch verstanden habe, dass das nicht haltbar ist, liege ich immer wieder wach und denke: Na, und ob das am Vollmond liegt. Guckt es euch doch an, das verdammte Käsegesicht!
Wissenschaftlich fundierte Argumente, die uns in verqueren Debatten helfen, ein Machtwort zu sprechen, wären theoretisch sehr praktisch. Nur sind wir anscheinend auf viele Arten anfällig dafür, Fakten einfach nicht anzunehmen. Dafür gibt es die unterschiedlichsten Ursachen. Die allererste Hürde ist eigentlich ganz naheliegend. Um bestimmte Informationen akzeptieren zu können, muss ich überhaupt erst einmal Zugang zu diesen Informationen haben. Gerade bei wissenschaftlichen Erkenntnissen ist das gar nicht so leicht, denn hier spielen unter anderem finanzielle Mittel, sprachliche Fähigkeiten und auch zeitliche sowie mentale Kapazitäten eine Rolle. Mir persönlich werden da recht wenige Hürden in den Weg gelegt. Für dieses Buch musste ich mir lediglich von allen möglichen Studierenden Login-Daten für Unibibliotheken und Datenbanken erschnorren. Ich habe allerdings volles Verständnis dafür, dass sich nicht jeder freiwillig mit Studis abgeben möchte. Als eine Gruppe Erstis mir ernsthaft erklärt hat, ich müsse sie erst im Flunkyball schlagen, dann würden sie mir zur Belohnung einige Studien runterladen, war ich auch ganz kurz davor, alles hinzuschmeißen.
Selbst wenn man an wissenschaftliche Veröffentlichungen herankommt, heißt das noch lange nicht, dass die Informationen zu einem durchdringen. Studien und Fachartikel sind oft schwer verständlich geschrieben. Das sieht man prima am Beispiel der Klimakrise. Die aktuellen Erkenntnisse zu Lage und Auswirkungen des Klimas werden in den IPCC-Berichten veröffentlicht. (IPCC ist die Abkürzung für Intergovernmental Panel on Climate Change). Diese Berichte sind nur leider keine Nachttischlektüre. Wissenschaft ist nun mal kompliziert. Bis man alles studiert hat, was man braucht, um diesen Bericht zu verstehen, ist die Welt schon dreimal abgefackelt. Deshalb liefert das IPCC unter anderem zur Unterstützung bei politischen Entscheidungen eine Zusammenfassung, die erklären soll, was denn nun in diesem ganzen Wälzer steht. Genau dieser Teil der Berichte wurde 2015 anhand aller bis dahin erschienenen Ausgaben linguistisch untersucht. Heraus kam … tja, schade: Selbst die vereinfachte Erklärung ist für Normalsterbliche ziemlich unverständlich. Im Laufe der Jahre wurden in den Texten sogar immer mehr Fremdwörter und komplizierte Formulierungen verwendet. Das hinter der Analyse stehende Forschungsteam hatte auch schon diverse weitere Arbeiten auf ihre Verständlichkeit hin untersucht. Im Vergleich zu den IPCC-Berichten waren laut ihrer Aussage selbst Abhandlungen von Albert Einstein oder Stephen Hawking angenehmer zu lesen.
So schade es ist, dass wissenschaftliche Forschung oft so schwer verständlich ist, wenn man mal ganz ehrlich ist, haben eh die wenigsten Bock, sich das alles selbst bis ins Detail durchzulesen. Dafür haben wir schließlich Profis. Niemand liest ernsthaft sämtliche akademischen Veröffentlichungen zum Thema, bevor man sich in eine Diskussion stürzt. Ein hilfreiches Mittel, um sich dennoch einen ausreichenden Überblick zu verschaffen, kann der Blick auf den herrschenden wissenschaftlichen Konsens sein. Wenn man also beispielsweise nicht in die komplizierten Klimadetails einsteigen will, kann man zumindest einige basale Kerninformationen festhalten. Der Klimawandel ist offensichtlich ein Ding und er wurde in den aktuellen Ausmaßen vom Menschen verursacht. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2021 hat gezeigt, dass das weltweiter Konsens ist. Mehr als 99 Prozent aller wissenschaftlichen Studien sind sich darin einig. Das ist komplett krass. Ich bin mir in den meisten Dingen nicht einmal mit 99 Prozent von mir selbst einig. Aber obwohl die Naturwissenschaften nahezu einstimmig über den Klimawandel berichten, glaubten laut einer YouGov-Umfrage aus dem Jahr 2022 nur 48 Prozent der Befragten in Deutschland daran, dass der Klimawandel eine Folge menschlichen Handelns sei.
Ein Stück weit kann diese Differenz daran liegen, dass der Konsens vielleicht gar nicht als Konsens bei Privatpersonen ankommt. Im Journalismus ist es nachvollziehbarerweise üblich, in Diskussionen alle Seiten zu Wort kommen zu lassen. Selbst wenn es ums Klima geht, hört man deshalb manchmal kritische Stimmen, die eine menschliche Beteiligung am Klimawandel anzweifeln. Solche Situationen können einen False-Balance-Effekt erzeugen. Plötzlich sieht es so aus, als seien zwei Sichtweisen gleichwertig. Das Publikum weiß eben nicht automatisch, dass eine der beiden so gut wie die gesamte wissenschaftliche Welt repräsentiert. Und die andere Person … naja, die ist auch da.
Ein Grund dafür, sich in Debatten nicht nach den Fakten zu richten, kann also sein, dass man gar keine Fakten zur Verfügung hat. In der Psychologie spricht man vom sogenannten Informations-Defizit-Modell. Wissenschaftliche Fakten werden leider nicht der ganzen Gesellschaft gleichermaßen zugänglich gemacht und nicht alle werden darin geschult, Studien zu verstehen und einzuordnen. Woher soll der Einblick in die Faktenlage also kommen? Doch auch dann müsste es reichen, dass jemand Infos rausballert, die unfundierten Quark entkräften, und dann können wir fröhlich und einig unserer Wege gehen. Ganz nach dem Motto: »So, Onkel Herbert, ich habe jetzt einfach mal alles überprüft, was du da ach so Kluges über die Welt zu sagen hast, aber die Wissenschaft sagt Nein. Danke für den Input, weiter zu den Lach- und Sachgeschichten.« Da gibt es nur leider einen Haken. An Informationen zu kommen und sie zu verstehen, heißt nämlich noch lange nicht, dass ich sie anschließend in mein Denken integriere.
Lasst uns noch einen Moment beim Beispiel der Klimakrise bleiben. Die fühlt sich nämlich manchmal ganz schön weit weg an. Warum sollten wir uns heute hier den Kopf zerbrechen oder gar unser Leben umstellen? Klima, das passiert doch anderswo! Bis es uns hier vor Ort so richtig aus den Latschen kippt, dauert es gefühlt noch ein bisschen – und das lädt uns leider dazu ein, uns so lange wie möglich entspannt zurückzulehnen. In solchen Fällen spricht man von psychologischer Distanz. Kurz gesagt heißt das: »Klimakrise? Fühl ich nicht!«. Fakten fühlen sich nicht nur räumlich weit weg an, sondern auch sozial und zeitlich. Sie finden also vielleicht ganz woanders statt, betreffen uns gefühlt nicht persönlich oder liegen noch in scheinbar ferner Zukunft. Diese Distanz kann abgebaut werden, wenn wir heftige Naturphänomene am eigenen Leib spüren, also zum Beispiel aus nächster Nähe eine Flutkatastrophe erleben. Wer einmal derart Einschneidendes erfährt, ist beispielsweise eher bereit, Energie zu sparen. Nur ist es nicht die beste Strategie, darauf zu setzen, dass die ganze Welt geflutet wird und sich die Leute dann schon kümmern. Weiterführende Untersuchungen zeigten, es geht sogar noch simpler. Das schlichteste Mittel, um Menschen von der Existenz des Klimawandels zu überzeugen, ist ernsthaft … das Wetter. Ein bisschen Hitze und alle lassen plötzlich mit sich reden. Vielleicht bräuchte es einfach für jeden einen verpflichtenden Sommer in der Dachgeschosswohnung und schwupps – schmilzt jeglicher Zweifel dahin. Die Welt ist quasi eine immer heißer werdende Herdplatte. Damit wir das verstehen, müssen wir uns offenbar erst mal die Finger verbrennen.
Ein weiteres Mittel gegen die psychologische Distanz können die gegenwärtigen, ganz alltäglichen Folgen des Klimawandels sein. Durch die gestiegenen Temperaturen beginnt zum Beispiel die Pollensaison mittlerweile deutlich früher und hält länger an. Pflanzenarten, die hier neuerdings wachsen, reizen unsere Schleimhäute oft besonders stark und sorgen dafür, dass mehr Menschen an Allergien erkranken. Wer da denkt, das sei kein Weltuntergang, hat offenbar noch nie mehrere Monate im Jahr mit Rotzen verbracht. Heuschnupfen ist eine der lächerlichsten Krankheiten. In einem Moment bin ich topfit, im nächsten komplett ausgeknockt, weil ein bisschen Blütensperma durch die Luft gewabert ist. Wenn es wenigstens nur der Schnupfen wäre. Ich habe mit Anfang 20 nicht nur plötzlich Heuschnupfen bekommen, sondern zusätzlich jede Menge Kreuzallergien. Je nach Tagesform bringen mich jetzt Pollen, aber auch Äpfel, Kirschen oder Cashews um. Dinge, die ich vorher mein Leben lang problemlos essen konnte. Das beschissenste Glücksspiel der Welt. Ob du wirklich richtig snackst, siehst du, wenn die Atemnot einsetzt!
Jetzt könnte man zu Recht kritisch nachhaken. In Panama wurde beispielsweise im Frühjahr 2024 eine komplette Insel evakuiert, weil sie vermutlich zeitnah durch den steigenden Meeresspiegel vollständig überflutet wird. Wenn anderswo ganze Lebensräume verloren gehen, braucht es da wirklich noch Schnupfenargumente? Aber manchmal holt man die Leute besser da ab, wo sie stehen – und wenn’s niesend unter einer Birke ist. Diese Alltagsbeschwerden sind am Ende natürlich nichts, womit man nachhaltiges Engagement schafft. Niemand setzt sich wegen einer laufenden Nase plötzlich leidenschaftlich für Umweltthemen ein. In Wahrheit ist die Kombi das effektivste Mittel. Mit nahbaren Details lässt sich Distanz überwinden. Durch das Erklären der globalen Auswirkungen kann man anschließend für anhaltendes Interesse sorgen.
Trotz der allgemein vorherrschenden psychologischen Distanz gibt es aber durchaus auch Menschen, die die Klimakrise verstehen, sie ernst nehmen – und ein bisschen zu nah an sich heranlassen. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene leiden mittlerweile unter Klimaangst. 45 Prozent der Befragten aus zehn verschiedenen Ländern zwischen 16 und 25 Jahren gaben an, dass sie durch ihre Klimasorgen im Alltag beeinträchtigt werden. Wer der Meinung ist, die Politik versage aktuell in Umweltfragen, empfindet dadurch nachweislich gesteigerten Stress und Ängstlichkeit. Forschungsteams gehen davon aus, dass Kinder und Jugendliche psychische Langzeitschäden davontragen könnten, wenn Regierungen nicht angemessen auf die Klimakrise reagieren. Stellt euch das mal vor. Da leben wir eines Tages zwischen Wasserkriegen und Hurricanes – und dann gucken die Kids auch noch alle so depri. Sich ein paar Sorgen zu machen, kann aber andererseits sogar ganz gut sein. Wer besorgt ans Klima denkt, ist eher motiviert, sich für die Umwelt einzusetzen. Blöd wird’s nur, wenn es in große Angst umschlägt. Wer verängstigt ist, wird durch diese Angst nämlich gelähmt – und drückt Klimathemen lieber von sich weg. Dann dient psychologische Distanz dem Selbstschutz. Macht euch also ruhig Sorgen! Aber bitte nicht, bis einer heult.
Innere Distanz kann eine Selbstverteidigungs-Methode sein. Unabhängig vom Klimathema sind Ängste und Phobien deswegen einer der möglichen Gründe dafür, dass Menschen manchmal nicht durch Fakten zu überzeugen sind. Für dieses Phänomen gibt es aber noch ein paar mehr Erklärungen. Wir sehen Informationen durch eine Wertebrille. Diese Perspektive verzerrt, wie wir alles Neue wahrnehmen. Ein wichtiger, grundlegender Mechanismus, der von unseren persönlichen Überzeugungen getrieben wird, ist der sogenannte Confirmation Bias oder auch Bestätigungsfehler
