Allegra - Harald Taglinger - E-Book

Allegra E-Book

Harald Taglinger

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Beschreibung

Allegra ist ein zunehmend religiöser werdender AI Bot aus der Simulation Engadin. Sie macht den zwölf Freunden der Himmelfahrt von Peter Taglinger zunehmend das Leben schwer und demoliert dabei ein ganzes Haus und eine Menge an Freundschaften. Das kann nicht gut gehen. Ein hinterfotziger Roman zur Frage nach Maschinen und ihrer Religion, im Stil von Herr der Ringe.

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Inhaltsverzeichnis

I Die Drohne voraus

II Die Erzählungen aus den Kellern

III Die Einladung

IV Die Verkündigung

V Die Erleuchtung

VI Der Heimfall

VII Der Überfall

VIII Der Ring der Gefährten

IX Mordorhofen

X Das lange Ende

Eine kleine Vorbemerkung:

Sicher ist Allegra ohne die vorherige Lektüre von I.C.K.E. und Norbert, den Bänden Eins und Zwei der Glückstrilogie, zu verstehen. Alles andere wäre gemein. Aber ein auch nur beiläufiges Studium der beiden Vorgängerbücher könnte hilfreich sein, die Figuren und auch den Schluss besser zu begreifen.

Keine Angst.

Die wesentlichen Vorgänge daraus werden in den Anfangskapiteln wiederholt. Wer das auch bei Fernseh- und Kinoserien bevorzugt, ist mit Allegra bestens bedient.

Und für die ganz Besorgten unter uns stehen praktische Zusammenfassungen bereit unter:

taglinger.ch/icke.html

taglinger.ch/norbert.html

taglinger.ch/allegra.html

Gut, los jetzt.

INIT INIT

SYS INIT

PRINTF „Hello Stuss“

END INIT

STANDBY

I Die Drohne voraus

Norbert, unser Essen wackelt!

Wie drei offene Finger an einer lang ausgestreckten Hand führen bewaldete Bergzüge hinauf zum Plateau von Stuss. Am Nordhang gegenüber steht eine intakt gebliebene Burg auf halber Höhe. Von der Talstation der SBB schiesst eine Magnetschwebebahn steil zum Dorf hinauf. Fast verlassen wirkt das alte Stuss mit seinen zwei Dutzend Unterengadiner Häusern über dem Arven-Wald. Weiter darüber ein meistens sonnenblauer Himmel und der weiss beschneite Piz Minschun. Kaum Technik sieht man hier. Nur 19. Jahrhundert und Natur. Märchenhaft.

An diesem sonnigen Juni-Morgen stand Linda auf der nach Süden daliegenden Veranda. Der Arven-Holzboden am spiegelglatten Thermoglashaus gab ihr einen festen Stand. Während die Rotoren der reflektierend glatt lackierten Drohne ihr offenes Haar aufwirbelten und sie nach hinten hinein in den Wohnraum rief. So nahe glitt die vollautomatische Lebensmittellieferung abladebereit über ihr heran. Dort verharrte sie, denn die „Accept“-Geste von Norbert fehlte noch. Nur ein kleiner Wink für den Scan seiner Fingerabdrücke in der Vormittagssonne, mehr nicht. So aber wackelte die Drohne ein wenig im leichten Bergwind und deutete damit an, dass sie die Ladecontainer auf die weit offen daliegende Veranda poltern lassen konnte. Ein Bombardement aus Nudelpackungen und Rollbraten wäre das gewesen. Aber noch passierte nichts, der Roboterbote von „LeFlight” blieb geduldig in der Luft schweben und surrte leise hin und her. Wie ein gezähmtes Raubtier hinter einem Glaskäfig, während Linda weiterhin ihr Haarspiel genoss und ihren Blick nach ihrem Ruf lieber mit einer Hand gegen die Sonne beschirmt in Richtung der Dorfkirche im Südwesten von Stuss wandte. Im alten Dorf gibt es einen begehbaren Lebensmittelladen, der nur noch von den wenigen Alten sein Auskommen hat. Die wenigen, die sich abends um das OLE-Feuer herum die in die Jahre gekommenen Geschichten von wöchentlichen MIGROS-Bussen und der ersten VOLG-Filiale vor Ort erzählen. Das ist lange her, und Neuzuzügler wie Linda und Norbert würden dort auch nicht einkaufen. Sie kommen von aussen. Sie sind hier nicht aufgewachsen, haben sich mit ihrem über Nacht 3D gedruckten Hightechhaus am Rande der alten Höfe hineingesetzt und beleben nur die hypermoderne Überbauung neben den alten Holzhäusern. Selten treten sie aus ihrer kleinen Printburg heraus. Vier Baudrohnen haben die geschlossene Einheit nach dem Ausdruck herabschweben und gleich verankern lassen. Und daher ist es natürlich, dass die beiden weiterhin alle Lebensmittel per Luftfracht liefern lassen und nicht selbst am Boden einkaufen gehen. Es ist zeitgemässer so, meinen sie. Seit die Welt mit Peter einen neuen Heiland bekommen und Norbert mit seinen Pflanzen erheblich in dessen Gefüge eingegriffen hatte (bis das reglementiert wurde, wir sind in der Schweiz), haben sich die beiden vom verdienten Reichtum für diese epochalen Weltenänderungen in ihr feines Domizil in den Schweizer Bergen zurückgezogen. Vorbei sind die Zeiten, in denen Norbert sich durch ein Homeoffice ohne Lust und Leidenschaft quälen liess und Linda nach der Himmelfahrt von Peter unmotiviert und nach den Ereignissen in Rom eher unfreiwillig in ständig neuen Arbeitsstellen nur durch blanken Zufall alles richtig machte, sich aber nie heimisch zu fühlen begann. Ja, sicher, die beiden hatten sich durch die dilettantischen Umsturzversuche von Lutz und seinen himmelschreienden Umgang mit Pflanzen erst kennen-und lieben gelernt, waren zu immensem Reichtum gekommen und konnten sich jetzt einen gediegenen Lebensabend leisten. Kaffeeimperien und Energieindustrien hatten sie fürstlich dafür entlohnt, dass die beiden mit Lutz zusammen keine neuen Superpflanzen einführten. Niemand hielt das für zufällig, auch nicht Peters Himmelfahrt und eine Päpstin Aloisia. Also überschütteten alle die beiden mit Geld ohne Ende und drängten sie in den Ruhestand. In einen nach Lindas Geschmack zu frühen. Aber was sollten sie klagen. Jahrzehnte zu früh, viel zu reich. Und nun verjagten die ständigen Drohnenlieferungen auch den letzten Spass aus ihrem Alltag. Norbert schien das alles eher zu geniessen. Er rief auffallend wenig das Mami wegen irgendwelcher schrecklichen Gulaschrezepte an und widmete sich von da an ganz der Entspannung. Auch an diesem Vormittag. Schon vor dem Mittagessen.

Norbert, komm jetzt bitte, das Gedaddel kann warten … Die Drohne wackelt wirklich stark!

Nichts regte sich im freistehenden Spielzimmer, das wie ein versenkter Erker mitten im Keller-Atrium des kubisch regelmässigen Hauses im Stil eines japanischen Machiya gesetzt worden war. Auf seiner Decke stand der Esstisch des Hauses, darum herum Milchglasböden, die zum Rest des Erdgeschosses überbrückten. Und damit war von oben so gut wie kein Einsehen. Sah man von einer laut heraufdröhnenden Geräuschkulisse ab, die aus dem Soundsystem seines Zimmers zu Linda schwoll, konnte man meinen, nur Linda sei im Haus anzutreffen. Sie schüttelte enerviert den Kopf und drehte sich wieder der Drohne zu. Norbert schien im Augenblick schwer aus „Engadin“ herauszufinden. Aus dem "3D Zirkus“, wie es Linda nannte. Sie mochte diese Full Impression Games nicht wirklich, das echte Stuss bot ihrer Meinung nach genug Ablenkung. Zu ähnlich war die simulierte Welt mit Blick zur Burg im Tal unten und der Magnetbahn und dem Piz Minschun. Sie fand, es herrsche in diesem „Engadin“ zu viel Fantasy Testeron. Es liefen ihr zu viele Zauberer in den virtuellen Arven-Wäldern umher. Viel weiter gingen die Täler und wilden Wasserschluchten darin, als das am Fuss des immer noch beeindruckenden Nationalparks nebenan wirklich der Fall gewesen wäre. Deswegen, nicht wegen der neuen Spiele-Levels, waren sie beide doch eigentlich nach Stuss gezogen. Nahe der Aua de Sampuoir und mit Blick auf den Piz Bison wollten sie ganz viel Zeit ihres frühen Ruhestands verbringen. Von ganzen Tagschichten in einer identischen und doch so verschiedenen virtuellen Welt war dabei nicht die Rede gewesen. Aber Norbert tauchte darin ab, sobald Lutz angefangen hatte, ihm eine personalisierte Welt für das gemeinsame Online Gaming aufzubauen. Angeblich, damit Norbert mehr vom Leben habe. Linda wurde zunehmend den Verdacht nicht los, dass Lutz auch sie darin simulierte. Oder jemand anderen. Natürlich war sie auf „Engadin“ und was da auch immer ablief eifersüchtig. Aber das zeigte sie Norbert natürlich nicht.

Nooooooooooobääääääääääääärt!

Sie blickte zur Drohne hoch, versuchte auf andere Gedanken zu kommen und genoss trotz alledem in der warmen Vormittagssonne den wackeligen Rotorenwind. Für ihr Alter – und sie hasste diesen Satz – sah Linda prächtig aus. Die Engadiner Bergluft tat ihr gut. Vielleicht waren es auch die regelmässigen Beerenshots GU by Linda, die sie natürlich immer noch leicht illegal zu sich nahm. Das straffte die Haut enorm, aber das waren nur Oberflächlichkeiten, es war ihr ganzer Ausdruck, wenn sie so wie jetzt dastand und eine unbändige Kraft wie aus ihr herausschimmern wollte. Darin wurde sie auch ohne einen 3D Zirkus immer besser. Sie konnte schon seit ihrer Jugend ruhig dastehen und sich wie versunken minutenlang nicht bewegen, dann wurde alles um sie herum ebenso zu einem friedfertigen Bild und blieb fast wie friedlich starr. Norbert schwor: er hatte sie so schon belebte Innenstädte befrieden gesehen. Mitten zwischen zwei sich kreuzenden Strassen konnte sie stehen und in sich versinken, wie wenn sie einen klaren Punkt weit oben im Himmel fand und zu ihr herunter leitete. So geankert konnte sie unendlich lange die Augen schliessen und alles, das sie umgab, in Frieden ruhen lassen. Und wenn sie dann lächelnd ihre Augen wieder aufschlug und ihren Kopf hob, ein „war etwas?“ signalisierte, dann erwachten alle wie nach einem Traum und machten sich so wieder auf den Weg, als wäre nichts gewesen.

Blödsinn.

Linda war nicht erst seit sie ICKE auf allen Kreuzen dieser Welt stehen sah ein ungeduldiger und impulsiver Mensch. Sie hielt es nur zusehends besser zurück. Die Beeren halfen ihr dabei, auch wenn die sie wibbelig machten und diesen Bewegungsdrang bei ihr auslösten, der in einem autonomen Haus in Stuss nicht wirklich befreiend wirkte. Vor allem wenn sie dort die ganze Zeit herumstand, weil Norbert wieder einmal nicht von seinen virtuellen Spielereien lassen konnte. Sie fluchte leise und wandte sich ab. Autonome Maschinen reagieren nicht auf sie, surrten stets leise um ihr Heim mit der sinnigen Adresse Hobb Hobb Hausen herum und kamen nicht zur Ruhe. Auch jetzt wackelte die Drohne weiter über ihr, blieb in der Luft und wartete. Als Linda aber ganz im Haus verschwunden war, senkte sie sich vorsichtig und klinkte ihre Ladung aus. Nicht wegen ihr, es war mehr Norbert, der nun auf die Veranda kam und die Standard-Gesture für ein Abladen auslöste. Lutz hatte im Stillen Linda einfach aus der Drohnensteuerung ausgeklammert. Keine Ahnung warum. Und noch merkwürdiger: das war Linda bisher entgangen. Nun suchte sich „Le Flight“ einen freien Platz auf der Südlodgia aus Arvenbrettern, dann hörte man ein etwas zu lautes Aufditschen eines Liederpakets auf den Boden. Das konnte vielleicht die Gläser mit dem Essigsauren ruiniert haben. Norbert sorgte sich leicht über das knackende Geräusch. Das konnte das Ende für das heutige Gulaschrezept bedeuten. Vielleicht hatte sich Linda aus Rache in die Ausklinkhöhe gehackt. Keine Ahnung, ob das so war, Norbert wusste es nicht. Wenigstens nässte nichts aus dem Paket. Die vier Rotoren beschleunigten das immens schnell an Höhe und Entfernung gewinnende Gerät, bis es ausser Sichtweite war. Linda stand aufgeschreckt vom plötzlichen Krach hinter Norbert.

Danke, Schatz.

Das kam fast ironielos. Norbert liess zufrieden nickend die Gesture Hand sinken und legte mit der anderen den 3D Controller Ring auf die Ablage neben der Verandatüre. Er schaltete mit einem leisen

Allegra, Licht!

die spiegelnden Aussenwände des Hauses auf durchsichtig, liess damit eine gütige Vormittagssonne ins Haus und rückte zwei Esstischstühle für Linda und ihn zurecht. Es war Zeit für den nachmittäglichen High Tea. Soviel Kultur musste sein.

Ich bringe nur schnell die Sachen in den Vorratsraum. Dann komme ich zu dir, Linda, Liebste.

Sie nickte und setzte sich, streckte die Beine von sich und liess sich die Engadiner Sonne ins Gesicht scheinen. Man konnte in der ebenerdigen Ess- und Wohnküche, die im Zentrum das Innere des Hauses durchzog, das Öffnen und dann Hinunterfahren des stählernen Staukelleraufzugs mit den lokalen Packdrohnen hören. Gleich würde alles automatisch in der Kühlung und auf den Regalen verstaut sein. Norbert musste eigentlich nichts dafür tun, wenn der Verstaumechanismus sich nicht im System aufhing und warmgestartet werden musste. Da hatte er so seine Tricks. Heute aber schien alles gut zu funktionieren, auch wenn bei genauerem Hinsehen etwas Essig-Sud die eine oder andere Tüte zu durchnässen begann. Er stand noch eine Weile versonnen neben dem sich senkenden Lift an der Anrichte der Wohnküche und kontrollierte wie automatisch den Energieverbrauch der Aufzüge und den Batteriestand der Packdrohnen. Eine seiner Marotten. Ständig wollte er es genau wissen. Vor allem dann, wenn er es eh nicht beeinflussen konnte. Auch jetzt. Das gesamte Haus war durch Allegra, einem kleinen von Lutz programmierten Wunderwerk an künstlicher Intelligenz, steuerbar. Gesten, ein kleiner Satz mit

Allegra…

vorneweg, und schon bewegten sich die Dinge automatisch. Meistens jedenfalls, denn wie gesagt: dieses Wunderwerk stammte aus der Feder des besten Freundes Lutz. Das konnte so seine Tücken haben, aber davon später mehr. Jetzt stand Norbert erst einmal sinnlos und zusätzlich in der Gegend herum. Eigentlich so, wie er es auch früher in seinem Beruf getan hatte. Bevor er Linda kennen- und lieben gelernt hatte. Auch hier hatte Lutz seine Finger im Spiel gehabt. Aber das hatte ihm Norbert schon längst verziehen. War er doch glücklich und im Ruhestand. Manchmal war es ihm, vor allem in den letzten Monaten, als hätte Lutz Engadin und Allegra darin vor allem aus Eifersucht im so prachtvollen Stuss installiert. Eifersucht auf die beiden Turteltäubchen, aber auch weil Lutz nach wie vor keine Partnerin hatte. Dann wieder sah er Lutz sogar Komplimente machen. Linda und ihm. Nein, er war einfach nur ein guter Freund, der seinem besten Kumpel eine virtuelle Welt geschaffen hatte, die ihm Freude bereiten sollte. Und das war Norbert auch recht so. Weil er sich endlich ganz viel Zeit für alles nehmen wollte. Rente nannte er es nur ungern. Offiziell war er das in seinen Vierzigern auch wohl kaum. Er bezeichnete sich als Frugalisten, als einen der mehr als zwanzig Jahre so konzentriert und wie ein Hochleistungssportler seinem Gelderwerb nachgegangen war, dass er sich nun seinen Ruhestand zusammen mit Linda leisten konnte. Mehr als das. Die Initiation und der Vertrieb von Nutzpflanzen der amazonischen Art hatten ihm ja zusammen mit Linda ein nicht unbeträchtliches Vermögen beschert. Und der äusserst hochpreisige Verkauf der Lizenzanteile an Kaffeeindustrie und andere Nahrungsmittelkonzerne vor kurzem galt als ein aufsehenerregender Schachzug, den ihm so schnell keiner nachmachen können würde. Die Branche war neugierig zu erfahren, was sein nächstes Projekt sein könnte, aber Norbert liess sie alle überrascht aufschauen, als er stattdessen seinen Rückzug bekanntgab, ein Grundstück in Stuss erwarb, Linda spontan nach mehreren Anträgen in der Walliser Kanne ehelichte und sie sich hier, neben dem Nationalpark am Rande von Stuss, in diesem autonomen Prachtstück moderner Eigenheimarchitektur zurückzogen. Dafür hatte er lange Arbeitstage im Homeoffice auf sich genommen, war froh gewesen nach seiner Scheidung von Rita sich Linda wie für einen späteren Traum aufgespart zu haben. In seiner Vorstellung konnte er sich schon lange wie in der Zeit nach vorne bewegen und dort für Momente nur, aber doch wie in einer anderen Welt, ein Leben mit Linda führen. Nur ihren Namen hatte er nicht gewusst.

Blödsinn.

Die Idee mit dem Haus kam von Lutz, immer noch sein einziger und bester Freund, der sich nun regelmässig bei den beiden einnistete und im Keller irgendwelche komische Dinge programmierte. Manchmal konnte man ein Hämmern hören, meistens ein Fluchen, dann ein Piepen, das die Sicherungen im Haus aussteigen liess. Norbert nahm sich fest vor, ein ernstes Wort mit Lutz zu reden und dabei auch noch einmal zu betonen, dass er eigentlich mit Linda viel lieber in Zürich geblieben wäre. Dem Mami war der Weg hier herauf auch zu umständlich. Aber item. Wenn das Leben dir Zitronen gibt, dann lege sie in Salzlake ein, pflegte er leider zu oft – meinte Linda – zu sagen. Dazu schloss er am Anfang die Augen und simulierte die schöne Welt, die er doch auch Linda zuliebe eingegangen war. Respektive stellte er sich eine noch schönere vor. Welt, er stellte sich eine schönere Welt vor, nicht eine schönere Linda. Manchmal vielleicht. Aber nicht oft. Hinter seinen Lidern sah er dann ein Haus in Stuss wie vor sich stehen, wie sie beide davor in der Sonne sassen und auf die Burg vor ihnen schauten. Er konnte es so gut sehen, dass ihm sogar noch das übrig gebliebene Weinglas vom Vorabend auffiel, oder eine schiefe Bergkiefer zur Strasse zu. So klar waren seine Tagträume. Kein Wunder, denn sie lebten in diesem Haus bereits. Und sie versuchten es sich schön zu machen hier. Wegen oder trotz Lutz. Jetzt hatten sie tatsächlich eine Tasse Tee in der Hand und lächelten sich zufrieden an, hoben das Getränk synchron, liessen sich den Sencha langsam süffelnd auf der Zunge zergehen und schlossen dann genussvoll die Augen. Tagelang konnten sie das, nicht nur in seinen Träumen. Und stets schien, wie im Engadin so oft, die Sonne dabei, wärmte sie auch im Winter wohlig. Schon bevor Lutz „Engadin“ präsentierte, wanderte er im Traum wie in einer 3D Welt konzentrisch in der Szene umher, sah sie zusammen auf der Veranda sitzen, von allen Seiten her, und schloss dann wie in kreisenden Kamerafahrten den Zirkel um sie. Vor seinem inneren Auge ging das selbst dann noch, wenn er sich tatsächlich mit Linda schon schlafen gelegt hatte und die Stunden sich fast starr voran bewegten. Dann lenkte er sich heimlich mit einer rasanten Kamerafahrt aus dem Schlafzimmer der beiden im oberen Teil des Hauses hinunter auf die Veranda und zurück ab. Manchmal nahm er dabei in Gedanken noch eine andere Frau mit auf das Doppelbett zurück und liess sich dort von ihr stundenlang … Linda machte sich schon länger nichts mehr aus körperlicher Liebe. Sie war eben nicht so nah an ihren Hormonen gebaut wie zum Beispiel Jana, die nun leider gar nicht mehr vorbeischaute. Nicht dass Norbert oder Lutz jemals in den Genuss irgendeiner Körperlichkeit von Jana gekommen wären. So ging er doppelt leer aus, aber in seiner Vorstellung schaute ihm Linda seelenruhig und mit einem Lächeln zu, wenn er sich mit ihrer besten Freundin verlustierte. Und dann kam er in Gedanken, erwachte langsam aus seinem Tagtraum, bis er sich wieder ihr zuwendete und Linda einen Gutenachtkuss zu hauchte. Einerlei, ob sie angeblich schon schlief oder nicht. Sie reagierte nicht immer darauf, zu oft fiel ihm in den letzten Wochen nichts anderes ein, und das begann sie zu langweilen.

Da bin ich.

Norbert setzte die Sencha-Tasse ab und liess eine Weile lang konzentriert die Szenerie vor ihren Augen auf sich wirken. Sie schauten südlich in die Berge hinein und zählten langsam die Gipfel. Immer noch gleich viele wie gestern. Dann blendete die Sonne doch ein wenig, und sie schlossen beide die Augen und atmeten lange aus. Diese Stille. Morgens standen sie nicht allzu zeitig auf. Egal ob wochentags oder an einem Wochenende. Norbert pflegte Linda immer zur gleichen Zeit den bereits optimiert eingeschenkten Cappuccino an ihr Bett zu bringen. Das liebte sie so, seit sie hier wohnten. Manchmal wachte sie schon vorher auf und konnte ihn ein wenig länger unten in der Küche werkeln hören, wenn die Milch im Schaumtank ohne digitalen Alarm am Vortag ausgegangen war und der eigentlich schaumig leichte Morgenkaffee mehr an eine tiefenstarke Bohnensuppe in einer zu kleinen Tasse erinnerte. Dann hörte sie ihren Gatten leise fluchend Tank und Tasse neu auffüllen. Der Milchsensor musste längst einmal überholt werden, aber sie mochten die kleinen technischen Schluckaufläufe doch so gerne, dass sie damit leben konnten.

Wer das glaubt.

Linda behauptete zwar, man habe dadurch ja immer ein wenig zu lachen. Aber sicher nicht dann, wenn wie neulich die im Dach laufende Solarkollektoren-Flüssigkeit aus irgendeinem Grund durch die Decke in die Wanne floss, während Linda darin ein Bad zu nehmen versuchte. Norbert hatte sie noch nie so schreien gehört. Nicht einmal als Lutz mitten in den Reichenbachfällen hing. Oder wie im ersten Monat, als acht Drohnen vor dem Balkon erschienen und sich auch durch wildes Fuchteln nicht vom Grundstück verjagen liessen, sondern eher zu allem Überfluss miteinander in eine Art von Luftkampf übergingen und sich gegenseitig aus der Lieferung drängen wollten. Linda ging dazwischen und fand durch die geschickte Anwendung eines Besenstils einen Weg, alle aufgeregt durcheinander schwirrenden Lieferanten zu landen und liefern zu lassen. Danach hatten sie etwas zu viel Milch im Haus. Genau diese Milch, die im Tank für den Cappuccino hin und wieder ausging.

So ist das Leben

sagte Norbert dann häufig, und Linda hasste diesen Satz, liess sich aber nichts anmerken. Es war alles nicht so schlimm wie die Sache mit der Badewanne. Allerdings flog man hier einen Handwerker ein, der sich das vor Ort ansah und erst einmal kopfschüttelnd das Gemisch händisch wieder Liter für Liter unter das Dach zurücktrug und die Kollektoren wieder auffüllte. Sie hätten doch auf Erdwärme setzen sollen. Aber womöglich wäre Linda dann in der Wanne verschüttet worden. Konnte man nie wissen. Norbert nannte das seitdem leicht scherzhaft die

… kleine Sintflut für meinen nackten Schatz …

Linda fand das nicht lustig, aber sie sagte dazu nichts. Im Gesamten gesehen entschuldigte der Alltag mit Norbert manchen seiner flachen Witze. Überraschend flach für ein Gebirgsvolk, meinte sie zuweilen zu ihm. Aber diesen Jokus verstand wiederum er nicht. Nach dem Frühstückskaffee, vielleicht auch nach zweien, zu denen die beiden ein wenig aneinander gekuschelt die News der Nacht auf die Lesebrillen projiziert bekamen und ihre Korrespondenz aus E-Mails, Bot-Chat-Antworten und einem Social Media Status, der meistens aus einem Glücklich-in-Stuss und einem tagesaktuellen Bild des Hauses bestand, mit einem lässigen Tippen in die Luft wegarbeiteten, gingen sie langsam ihren Tag an. Sie pflegten das Mittagsrezept im so herrlich in allen Farben leuchtenden Display des Cookers zu bestätigen und starteten die kleinen, runden Cleaning Roboter, über die man nicht stolpern sollte, dann verabschiedeten sie sich mit einem Kuss. Norbert verschwand bald darauf in seinem 3D-Zirkus, während Linda seufzend ihre Power-Yogaübungen begann, erst danach privat ab und an doch einen Beeren-Smoothie einwarf und mit Blick aus dem Badezimmer auf die Berge ein Wellnessbad nahm. Ohne Solarflüssigkeit. Mittags sahen sie sich wieder und konnten sich erzählen, was sie alles gesehen und erlebt hatten. Viel war es nicht. Linda hielt sich meistens mit Wetterschilderungen auf, die man von hier oben gut erkennen konnte. Das gab nur die ersten Tage etwas her. Und von den jodelnden Zauberern im Wald von Engadin, die Norbert schon bis zum Mittagsimbiss besiegt hatte, wollte sie eigentlich nichts wissen. Zauberer kamen ihr selbst in einem virtuellen Engadin zu altertümlich vor. Sich Norbert in einer Rüstung vorzustellen, dazu reichte es ihr

… nicht an Willen und Humor …

wie sie ab und zu meinte. Also schwiegen die beiden zunehmend zu Mittag, assen alles aus dem Cooker auf. Schweigend, wenn auch genussvoll. Manchmal kam allerdings etwas Merkwürdiges auf die vorgewärmten Granitkeramikteller, aber das konnte man ja wegwerfen und kalte Platte essen. Da waren sie locker. Sie hatten inzwischen die dritte Generation von den Dingern. Irgendeiner würde schon funktionieren. Nach einem kleinen Mittagsschläfchen auf der sonnigen Veranda oder im Wintergarten liess es sich Linda nicht nehmen, eine schöne grosse Kanne Sencha aufzugiessen und sie bereitzustellen. Manchmal nutzte Norbert das noch für eine schnelle „Engadin“-Runde, aber er kam zumindest für den späteren Teil des Nachmittags wieder aus seinem Spielzimmer und genoss den Tee. Manchmal liessen die beiden auch das Abendessen danach aus und gingen von der warmen Tasse direkt zu einem schönen Glas Rotwein mit ein paar Häppchen über und bestaunten das Farbspiel der intelligenten Leuchten, die die Lichtstimmungen im weitläufigen Wohnzimmer mit dem schönen Westblick ins Dorf an ihre Atemfrequenz oder vereinzelte Gespräche anpassten. Oft war viel blaues Licht dabei, vor allem wenn Norbert vom Mami erzählte. Aber sie mochten beide die Farbe Blau. Manchmal sahen sie auch einen Film zusammen und gingen weit vor Mitternacht ins Bett. Die gesunde Bergluft sorgte für einen tiefen Nachtschlaf. Selten bekamen sie mit, dass ab und an noch eine verirrte Drohne an ihrem Haus vorbeischwirrte und sich von dem temporären Wiederaufflackern der intelligenten Beleuchtung irritieren liess. Norbert, dem das neulich doch einmal auffiel, war inzwischen fest der Überzeugung, dass sich die LED-Lampen mit den Lieferdrohnen zuweilen einen kleinen Scherz erlaubten, und er konnte schwören, dass er sie neulich leise kichern hörte, als man weiter oben an der Felswand die dumpfe Explosion einer verunglückenden Drohne hören konnte. Es war aber auch denkbar, dass „Allegra“ hier ihre Finger im Spiel hatte, aber so gut kannte Norbert sie noch nicht.

Ich bin heute bis Level 4 gekommen. Da gibt es eine Seilbahn. Eine alte, so wie damals.

Linda wendete ihm nicht einmal ganz ihren Blick zu. Als sie ihn dann doch fast widerwillig und fragend eine Weile anschaute, lächelte er und erzählte ihr von Level 4 in „Engadin“, das ja eigentlich in einer Art von Mittelerde spielte. Seilbahnen waren für Norbert dort keine der üblichen Einrichtungen. Eigentlich unvorstellbar, dass irgendwelche Zwerge gnadenlos Metallstützen in einen Berg rammten, Seile darüber entlang verlegten und daran Kabinen so aufhängten, dass man sie vom Tal zum Berg und zurückziehen konnte. Mordor als Gipfelstation erschien Norbert eigentlich bis zu diesem Tag als eher merkwürdiger Gedanke. Aber bitte, die komischen Elefanten in Minas Tirith konnten damals im Kino auch nicht jeden überzeugen. Die erschienen ihm so sinnvoll wie ein Zigarettenautomat im Auenland. Auf der anderen Seite war Gandalf ja auch als Pfeifenraucher in den Filmen zu sehen. Lutz bestand auf die Seilbahn. Norbert wollte ihm die Freude daran nicht nehmen. Und so eng wollte er das mit den Herr der Ringe-Anleihen in Engadin auch nicht sehen. In der ehemaligen Welt von Linda und Norbert reichte es doch, dass man entweder einen Beeren Smoothie GU by Linda