52 - Harald Taglinger - E-Book

52 E-Book

Harald Taglinger

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Beschreibung

In der vergangenen Dekade sind 52 Geschichten auf Alpgängen entstanden, die sich auf die Wochen eines Jahres verteilen lassen. Und dabei sind sie immer der Anfang eines Mikrokosmos. So wie sich ein Tal öffnet und man weiss: es wäre jetzt dort noch viel weiter hineinzugehen. Und selbst wenn es ganz hinten in einem Abschlusskessel endet, dann zweigen schon weiter vorne einzelne Seitentäler ab. Die Alpen hören niemals auf, so wie es diese Episoden nicht tun. So wie hinter dem gerade vergehenden Jahr ein neues erscheint.

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Seitenzahl: 171

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52

ImpressumFrühlingSommerHerbstWinterRegisterDurch das Jahr

© 2021 Harald Taglinger

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 9783753453255

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand, Norderstedt

Frühling

Die Frau mit den Beinen 

„Es ist doch noch nicht Fünf."    

Wir wollen einkehren, kommen so früh im Jahr gerade vom noch halb zugeschneiten Berg herunter, machen auf halber Höhe Halt. Die Bar oder das Restaurant, was immer es auch sein mag, bietet eine offene Tür, am Tresen steht diese alte Frau und weist auf die Uhr. Man habe noch nicht offen, aber sie nickt doch freundlich, als wir sagen, wir hätten Hunger. Ob wir Käse wollten. Wir nicken dieses Mal. Sie lächelt, geht nach hinten und meint noch, wir sollten uns draussen einen Platz suchen. Auf dem Platz neben dem Baum, da wo zwei schneefreie Liegestühle und eine Bank herumlungern, lassen wir uns fallen und schläfern in der Nachmittagssonne vor uns hin. Bis sie mühsam auf uns zu wankt. Mit einem Tablet auf dem Arm. Ihre Füsse. Sie hat beide stark eingewickelt. Zuckerkrank ist sie vermutlich. Durch die Binden sieht man an kleinen Stellen Blut sickern und das Weiss des Mulls einröten. Nicht viel, nur eine Andeutung davon. Aber es muss sie ständig schmerzen, nur sieht man das jetzt nicht. Ihr breites Gesicht lächelt glücklich, als sie uns grobe Schnitze von Brot und Bergkäse hinstellt. Dazu ein grosses Glas Wein und zwei Bier. Dann wankt sie wieder weg und überlässt uns still unserem Nachmittagshunger. Ein wenig später wird sie wiederkommen und auf einem weiteren Tablett einen halben Kaufkuchen hinstellen. Der ist süss und bröselt, der Zucker tut den ausgelaugten Muskeln gut. Dann wird sie wieder mit steifen und angebluteten Beinen nach hinten wanken und sich nicht mehr sehen lassen. Wir geniessen die Sonne, die bald untergehen will. In ein paar Stunden vielleicht, aber für uns ist das jetzt ein „irgendwann später“, so stark bleibt die Zeit hier stehen. Nichts will sich schnell bewegen.  

Wir können es nicht mehr, weil uns der Wein und das Bier müde macht, und uns die Wanderung vorher aufgebraucht hat. Sie kann es nicht mehr und wird sich heute Abend wieder schwer atmend die Beine verbinden. Der Klang der Kirchenuhr herauf zur halben Anhöhe klingt als würde die Zeit zwischen zwei Glockenschlägen noch einmal wie in einem Winter einfrieren. Wir hängen am Tropf einer noch nicht geöffneten Bar, deren Wirtin noch vor der Zeit einen Käse und einen Kuchen aufschneidet.

Sie wird uns dafür nie wieder weg lassen, wird uns einfach mit einer weiter ausholenden Schleife in ihre Bandagen einbinden und uns anhänglichen Kleinkindern gleich kniehoch an ihren Beinen weiterschleifen. Wir bleiben an ihnen festgeklammert. Langsam wird sie dann ins Haus zurückgehen. Mit uns und eine  Nacht erwarten, eine nach der anderen.

2

Der Mann, der wartet

Auf der gepflasterten Dorfstrasse,schon ein wenig ausserhalb vom eigentlichen Kern, aber noch nicht ganz mitten durch das spriessende Grün der Skimatten hindurch führend, steht ein Bauer mit seinem Traktor und einem daran angehängten Güllefass. Ein grosses landwirtschaftliches Gerät, das mit enormer Motorenkraft sicher imstande wäre, mehr als nur Viehausscheidungen durch das Dorf zu karren. Durchaus wendig und so gar nicht zum Fahrer passend, der reglos und mit einer undurchdringlichen Miene auf dem Bock der Maschine sitzt, mit angewinkelten Beinen hinter dem Lenkrad kauert. Er wartet. Den Motor sicher auch schon seit einer halben Stunde und mehr abgestellt. Er fährt nicht weiter, denn vor ihm im Richtung des Dorfkerns hat ein kleinerer, roter Traktor halbseitig die Strasse blockiert. Wie er da so trotzig parkt, sieht er grösser aus als er ist. Dieser: ohne einen Fahrer. Wie bei einem verlangsamten und bis zum Stillstand abgebremsten Duell stehen sich die beiden Traktoren gegenüber und rühren sich nicht. Der Fahrer des grossen, der tonnenweise Scheisse hinter sich geladen hat, atmet missmutig aus und rutscht fast unmerklich auf seinem Sitz hin und her. Dann ist wieder nichts wahrzunehmen und das Bild der beiden Fahrzeuge friert vor uns in der kaum warmen Frühlingssonne vor uns ein. Man kann derweil die Berggipfel ringsherum ein wenig kleiner und die wenigen noch verbliebenen Gletscherzungen schmelzen sehen, all das aber nur sehr langsam. Weiterhin nichts. Niemand will aus einem der noch spärlich am Dorfrand vorhandenen Häuser kommen und sich entschuldigend zum roten der beiden wenden, um dessen Motor anzulassen und dann so nah an den Rand zu fahren, dass der andere endlich mit seiner Ladung durchkommt. Oder um rückwärts bis zu einer Ausweichstelle zurückzustossen. Niemand kommt und greift ein. Keine Bewegung durchschneidet das Tableau. Nur die Hände des einen, der dort schon lange, sehr lange, auf den anderen wartet, sind trommelnd an den Fingerspitzen im Führerhäuschen zu sehen. So wie sie ein wenig tastend eine Lenkbewegung nachahmen und dann doch wieder fast enttäuscht auf den Oberschenkeln des Manns Platz machen.

Viel später dann hupt es mehrmals. 

Nichts geschieht. Der rote Traktor scheint immer noch niemandem zu gehören. Keiner kommt aus dem Haus, keiner kommt gerannt oder entschuldigt sich schon von weitem für die unbotmäßige Blockade genau an der Stelle der Strasse, die selbst ein hanebüchenes Seitenmanöver mit den wendigen Landmaschinen über steile Mattenstreifen nicht zulässt. Das Manngesicht im blauen Fahrzeug, das dort seit ewigen Zeiten schon geradeaus starrt, scheint sich nicht zu regen.

Es verharrt auch weiterhin und hat beschlossen, mit seinem Gefährt zu verwachsen, in ein paar Jahren nicht mehr unterscheidbar von ihm zu sein.

Wenn doch der andere Traktor in seiner Farbigkeit, in diesem gottverdammten Rot, nicht ständig einer Ohrfeige gleich mit dem starren Blick des Mannes duellieren würde. Da muss doch langsam eine Wut sein, oder eine Ungeduld. Die Frau zuhause. Das Essen, vielleicht auch ein Bier zum Nachmittag. Nichts. Alles bleibt in einer Ruhe stehen, die unendlich weitergehen kann. Stundenlang. Der Abend senkt sich langsam vom Tal herauf kommend über die Strasse. Und der Mann sitzt weiterhin da und wartete Man sieht nur, wie er den Motor anlässt und später dann das Licht einschaltet. Aber er weicht nicht. 

3

Zittern am Morgen

Dieses Zittern morgens. 

Wir fahren nach Garmisch. „Zum Bergsteigen“ hatte es abends geheissen. Und dass es hoffentlich bei Sonnenaufgang schönes Wetter habe. Vielleicht doch, trotz der Wettervorhersage am Abend. Man holte mich morgens sehr früh aus Bett, und ich: aufgespannt wie eine Feder, sprang aus dem Bett, schon beim öffnende Knarren meiner Schlafzimmertüre. Nach vorne huschte ich, in die Wohnküche. Dort stand Vater, bereits mit seiner Bundhose und den roten Wollsocken angetan, das weissrot karierte Hemd hochgeschlossen, sorgenvoll aus dem Fenster schauend. Noch unschlüssig wegen des Wetters. Ob es wohl reichen würde für den Tag in den Bergen? Ob es das Benzin wert wäre. Vertan werden sollte ein Sonntag nicht, so er. Schönwetter–Bergsteiger aus Vernunftgründen. Was sollte man auch bei Regen dort. Nass herumlaufen etwa? Sinnlos sei das. Also würde eine klare Entscheidung anhand einer guten Wetterprognose gefällt werden. Natürlich von ihm, schliesslich gehe es, neben des Verbrauchs an gutem Benzin, um einen Tag in den Bergen, mit der ganzen Familie. Und er war dessen Oberhaupt. Ich schlich mich in die Küche kommend an ihm vorbei, sass halb angezogen, abwartend auf der Couch, zitternd. Der Morgenkälte wegen vielleicht, oder weil ich es mit meinen fünf Jahren nicht gewohnt war, so früh aufzustehen und aus dem Schlaf gerissen zu werden. Der Körper vielleicht aber auch der Aufregung wegen vibrierend. Ich hoffte auf den erleichternden Satz, auf drei Wörter, solche wie "probieren wir es". Aber Vater liess sich an diesem Morgen Zeit. Zu unklar das Wetter im Frühjahr, noch lichtete sich der Morgennebel nicht. Die Sonne war nicht zu sehen. Da, zwischen den Nachbarhäusern der Gottwalds und Wicks. Die Baulücke zwischen den zugewandten Mauern wollte noch keinen einzigen Strahl von ihr durchlassen. Dort hätte sie sich schon längst gezeigt, wäre der Himmel wolkenlos gewesen. Selbst an einem frühen Aprilmorgen wäre ein Verlauf von Blau zu Gold zu dieser Zeit weich von ihr in den Himmel gemalt worden. 

Aber heute blieb der Himmel dunkel und düster. Und ich sass da, schlotterte kurz auf, am gedeckten Frühstückstisch, ass dann ein wenig von meinem Honigbrot und beobachtete Vater, wie er weiter fragend den Himmel absuchte. So, als könnte er schon auf einem Gipfel stehen und von dort weit in die Ferne schauen. Das rote Karohemd in der Kniebundhose, die roten Socken schon in den Bergschuhen. Er wollte es doch auch, aber ich traute mich nicht, ihn um diesen Tag zu bitten. Stattdessen wartete ich kauend darauf, dass sich sein Blick zu uns richtete, auch zu meiner Mutter, die sicher das letzte, wenn auch leise Wort darüber hatte, ob wir uns in den Wagen setzten.

Ich wartete kauend ab und betrachtete seinen Hakelstecken, der neben der Kommode zum Gehen bereit gelehnt war. Darauf befanden sich die Zinnwappen von Garmisch, mit Zugspitze, Oberammergau, Oberstdorf, Füssen, Tannheim und merkwürdigerweise auch Lindau. überall ausser in Lindau waren wir gewesen und hatten ihn zufrieden diese Wappen kaufen sehen, die er dann am Abend mit kleinen Nägeln der Reihe nach in Richtung der Eisenspitze am gebogenen Holz festnagelte. Der Gangstock war unser Logbuch, zeigte unsere glücklich erstiegenen Gipfel, auch wenn man nur die Orte auf den gepressten Andenken finden konnte. Aber er stand für unsere kleinen Eroberungen – bei schönem Wetter.

Der würde gepackt und mitgenommen werden. Eigentlich genauso wehrlos wie meine Schwester, die eher desinteressiert und eigentlich auf eine Absage hoffend neben mir frühstückte. Mutter sass neben uns und löffelte abwartend neutral in ihrem Morgenkaffee.

Ich war der Einzige, der noch mehr als seinen Schlaf für ein Losfahren in Richtung Garmisch gegeben hätte. Alle anderen, so schien es mir, würden das so etwas Nebensächlichem wie dem Wetter überlassen. Aber ich, ich wäre auch im Regen auf das Kreuzeck gewandert, weiter zum Osterfelderkopf, vielleicht sogar in die Schöngänge hinauf zur Alpsitze eingestiegen. Ich wäre wahrscheinlich wieder der, der ohne ein Zeichen von Anstrengung am Gipfelkreuz des Kramers oder Wanks auf die anderen wartete. Und dann, nach ein paar Minuten, käme Vater schwer atmend, unseren Hakelstecken rhythmisch einstechend, hinterher, würde sofort sein Gipfelbier aus dem Rucksack ziehen und mir wortlos meine Limonade reichen, während meine Mutter und meine Schwester noch lustlos und ein wenig mühevoll die letzten Serpentinen zu uns hinauf stapften. Die Zugspitze und die Waxensteine wären zu sehen, Bergdohlen könnte man füttern. Es gäbe Landjäger aus dem durchgeschwitzten Rucksack, und ein Stück Brot. Im Tal unten vielleicht ein Eis vor der Heimfahrt. Ich würde beim Einschlafen noch den Weg vor mir sehen, wie ich ihn wieder und wieder hinunter rannte. Ganz deutlich, bis in meinen glücklichen Schlaf hinein. Aber so etwas passierte eher im Sommer. Jetzt war es Frühstück. 

Mehr als eine Wanderung im Ort war doch eh nicht geplant.

Vater war immer noch nicht zu seinem Entschluss gekommen. Er stand da und schwieg. Bedrohlich, wie es mir schien. Die Hände in den Hosentaschen, darin vielleicht den Autoschlüssel suchend. Hingegen, was stände denn zur Auswahl, wenn das Wetter sich zum Schlechten wendete? Was fängt man an einem regnerischen Sonntag, zu weit vom nächsten Berg entfernt, an? Meine Mutter hatte es da einfach, sie würde sich um einen Braten kümmern, der ja dann doch mittags auf dem Tisch zu stehen hatte.

Vater konnte immer noch zu seinen Freunden ins Wirtshaus gehen und nach dem Frühschoppen und einem zufrieden gefüllten Magen eine Runde auf dem Sofa verbringen, bevor er das Liegemöbel mit einem Gang ins Wohnzimmer für einen Nachmittagsfilm aus den 60ern freiräumte. Meine Schwester hatte eine Freundin in der Nachbarschaft. Aber ich? So ohne ein Gipfelkreuz, so ohne den Blick auf meinen Lieblingsberg, ohne den Geruch der Latschen beim Aufstieg? Ich würde den Tag hassen. Ihn schnell zu den wenigen bereits gelebten legen wollen. So tun, als wäre ich gar nicht erst aufgestanden und hätte nicht diesen gottverdammten Satz am Vorabend gehört, morgens Vater in seiner zeitgemässen Bergtracht gesehen. Ich würde so tun, als wäre der Tag immer schon chancenlos langweilig und träge vor sich hin gelaufen. 

Draussen, auf dem Pflaster der Terrasse hörte ich es schlagartig rauschen. Als ich entsetzt um die Ecke blickte, hatte sich das Pflaster dort schon feucht eingefärbt. Vater nahm die Hände aus den Taschen, atmete aus und bückte sich, um die Schuhe aufzuknüpfen. Wir anderen sassen eine Weile lang da und hörten still dem Regen zu.

4

Der Duft des Lebens

In Zimmer 14 wohnt ein Aufrührer. 

Einer, der Unruhe in das Haus bringt. Seit Jahren ist er immer schon im Frühling zu Gast, hat sich bisher tadellos benommen und den Frieden im Haus nicht gestört. Kein Laut kommt seit Jahren aus seinem Erdgeschosszimmer. Früh geht er nach seinen Wanderungen ins Bett, steht morgens zeitig auf und verlässt wieder das Haus. Er grüsst stets freundlich, wenn man ihm doch auf dem Weg zur Etagendusche begegnet. Sonst: eher ein Schatten in den langen Zimmerfluchten. Das mag man hier. 

Aber seit diesem Frühjahr ändert sich das. 

Arno Meier öffnet am zweiten Ferienmorgen den mitgebrachten Schrankkoffer und klappt mit einem Lächeln die grossflächigem Seitentüren auf. Er freut sich an den vielen kleinen Fläschchen in edler Verpackung, die da in den einzelnen Seitenschlaufen stecken, und kontrolliert noch einmal die akribisch erstellten Aufschriften. Wunderbar, keine von ihnen, weder die eher empfindlichen Behältnisse noch deren feine Beschilderungen, haben durch die Anreise mittels Zug und den doch recht langen Gang zur Villa gelitten. Alles war an seinem Platz und sieht schmuck aus. Ganz so, wie Arno es sich wünscht Er lächelt zufrieden und wendet sich dem Fenster zum Garten zu. Das reicht bis zum Boden und will als Balkontüre geöffnet zu werden, frei den Gang hinaus ermöglichen, wo es nach einem für drei Stühle und ein Bistrotischchen ausreichenden Podest aus Kalkstein und einer kleinen Umzäunung mittels Treppe direkt in den Hof der Auffahrt geht. Er greift in die Mitte des Schrankkoffers und holt die drei gemalten Schilder sowie den Dekostoff aus leichter Gaze hervor. Er rückt die Paravans des Zimmers so zurecht, dass sich nun mit ein paar wenigen Griffen die Dekoration hinter dem Koffer herumschlingt, es den Rest des Zimmers gut vor Blicken durch die Balkontüre abdeckt und so eine Art von begehbarem Schaukasten erzeugt. Dann nimmt er nach einem weiteren zufriedenen Nicken die Schilder, auf denen "Arnos Lebensgeister" steht. Er klemmt das grösste der drei über die weit geöffnete Balkontüre und fixiert es dort gegen eventuell aufkommende Windstösse.

Dann trat er vom Stuhl herunter und drei Schritte zurück, liest noch einmal lächelnd, was er da eben angebracht hat, geht über das knirschende Kies des Hofes mit den anderen beiden eher pfeilartig zurechtgeschnittenen Schildern zuerst zur Grillecke hinüber, richtet dort an den Aussenkerzenhaltern des Sommerpavillons das eine Schild genau auf sein Zimmerpodest, geht mit dem anderen zur Einfahrt, wo er den zweiten Pfeil ziemlich exakt auf die Grillecke ausrichtet. 

Niemand ist im Hof zu sehen. Da ist zuerst nur Arno, der zufrieden nickt und sich die gelungene Wegführung hin zu seinem Schrankkoffer vor den Paravans anschaut.

Als er das knirschende Kies unter seine gehenden Füssen zurück spürt, wird ihm klar, dass jetzt der Moment für die Eröffnung gekommen sein muss. Und dass die geöffneten Fläschchen alles andere für ihn erledigen würden. Es ist ihm klar, dass er nun den grössten Teil seiner Arbeit getan hat, denn wenn seine Idee greift dann würden alle im Haus nun wie von selbst in den Hof und zu ihm und seinem Zimmer gezogen werden. Behutsam entschärft er in einer gewissen Aufregung Verschluss um Verschluss der mitgeführten Fläschchen. Ein betörender Duft um den anderen reichert die Luft an und setzt sich weit um den Schrankkoffer herum fort. Man kann Vanille riechen und Sandelholz, es duftet nach frisch Gebackenem und nach dem Nacken einer freudig tanzenden Schönheit, es riecht nach jauchzenden Kindern und eng umschlungenen Liebespaaren, es duftet nach dem zartesten Kuss inmitten eines lauwarmen Sommeregens und dem brüllenden Gelächter an einem gemeinsamen Tisch. Es riecht nach Zufriedenheit und der Lust, morgens nur mit einer Zeitung unter dem Arm im Lieblingscafé seine erste Bestellung zu tätigen, dabei ein Lächeln zu erhalten. All das quillt aus den kleinen Fläschchen weiter und weiter hinaus aus dem Zimmer von Arno Meier und ist bald daraus überall im Haus zu bemerken. Konzentrisch schweben Düfte weiter, die man so lange in diesem alten Gemäuer vermisst hat. Arno steht einfach davor und lässt mit einem langen, tiefen Einatmen die Hände halbhoch ausgebreitet stehen. Leben. Das ist Leben. 

Es duftet nach dem ersten Schluck Holundersirup während einer langen Wanderung und nach den Handflächen des Vaters, wenn man sich fest an ihn schmiegt, es riecht nach einer durchtanzten Nacht und dem Gang mit Tausenden von Menschen in ein lang erwartetes Konzert. Arno kann die Überreichung seiner Diplome riechen und seinen ersten Tag am Strand. Er spürte den Markt mit allen frischen Früchten im Süden wieder und kann die schweren Weine schmecken, die er immer nur mit einem guten Buch in der Hand trinkt. Er schnuppert selig in Weihnachtsessen und spürte den Duft einer Seilbahn, die ihn gleich auf die Pisten bringen wird. Die Augen schliessen sich, und um ihn herum schlingen sich leise die Arme dieser dunkelblonden Frau, es streicht die Katze um seine Beine und es ist ihm als würde ihm gerade jemand ein wunderbares toskanisches Gebäck in den Mund stippen. Das Leben ist angekommen und wieder eingekehrt in das so ruhige und sonst nur morsch riechende Erdgeschoss Zimmer.  

„Machen sie das sofort zu." 

Arno reisst erstaunt beim Klang der schneidend kalten Stimme die Augen auf. Da steht diese ältere Frau vor ihm und hat nur einen versteinerten Gesichtsausdruck zu bieten. Mehr nicht. Das heisst: so alt ist diese Frau vielleicht gar nicht. Arno schätzt sie auf höchstens Mitte Vierzig. Aber etwas an ihr sieht erkaltet und und ohne Eigengeruch aus. Das heisst: sie erscheint ihm gar nicht mit versteinerter Miene, sondern hat eher einen unterschwellig wütenden Ausdruck aufgesetzt. Das heisst: sie ist es nicht alleine, die geruchslos und unfreundlich vor ihm steht. Als Arno im Stillen durchzählt, kommt er darauf, dass sich fast alle Gäste des Hauses vollzählig hinter dieser Frau versammelt haben und in der Art ihrer Formation der Sprecherin Recht geben, ihr Denken einfach nur aussprechen lassen. 

Zumachen also. Wie wegzusperren. Die Flaschen verschliessen und das Leben wieder einfangen und wegtun. 

Immerhin: Die Schilder vom Eingang bis hin zu seinem Zimmer scheinen funktioniert zu haben. Sie locken an. Oder ist es der Duft allein. Das Leben, zu riechen in allen Facetten, unabänderlich anziehend. So wie das Licht keiner Motte eine Chance zu lassen scheint. Ähnlich feindlich jedoch. Arno sieht sich einer Front gegenüber, weniger einer Kundschaft, die vielleicht das eine oder andere Fläschchen zu erstehen trachtet. 

"Sie machen das sofort zu. Wir wollen das nicht." 

Wohl zwecklos, ein Sonderangebot anzupreisen.

"Wir holen die Polizei." 

"Gehen sie. Schnell." 

Andere Stimmen mischen sich vor allem von denen weiter hinten ein. Sie klingen erhitzt, aufgeheizt, kochend, sie drängen Arno Meier immer weiter auf seinen Schrankkoffer zu. Er hört hinter seinem Rücken schon das klirrende Anstossen der ersten Fläschchen.

5

Flachmann räumt auf 

Die neue Verkehrsverbindung zwischen München und Verona ist fertig, Eine neunzehn-spurige Autobahn führt brettgerade durch das ehemalige Südirol und das Etschtal. Die Fahrzeit von Innsbruck nach Florenz verkürzt sich so auf zwei Stunden. Die Anwohner erhalten Gutscheine für einen neuen Berggasthof im Wallis oder Bargeld. Die EU preist dieses Projekt als die gelungene Synthese aus Naherholungsgebiet Adria und Zonenranderschliessung für neue Arbeitsplätze im Veneto und in Südtirol.

Seit das Inntal ausgefräst wurde, passen weitere 200.000 Wohnungen in das Stadtgebiet von Innsbruck. Und vor allem sind sie bequem und winterfest zu erreichen. Projektleiter Martin Gruber steht stolz vor dem neuen Stadtteil "Durchholzen" und verweist auf die grosszügige Anlagen des Viertels. Durch die Fräsung lassen sich auch mühelos Golfplätze fast bis an die Innenstadt heran anlegen. Endlich herrscht Platz im Tirol. Und selbst die Bauern auf den Hängen geben zu: man ist jetzt in fünf. Minuten am nächsten Supermarkt, wo man früher - wenn es das Wetter zuliess - vor allem im Winter fast stundenlang auf engen Serpentinen ins Tal schleichen musste.

Das Projekt der alpinen Ausfräsung, entstanden aus einem Sonderförderungsprogramm der EU, hat sicher vor allem am Anfang nicht nur Freunde in den Regionen gefunden. Der Naturschutz und andere konservative Gruppierungen gaben schnell zu bedenken, dass es sich hier um einen wesentlichen Eingriff in die Landschaft handle. Aber, so die Befürworter, genau darum gehe es ja. Und zwar um einen Eingriff zum Wohl der ansässigen Bevölkerung und derer, die auf eine einfache Passage von Nord nach Süd angewiesen seien. Und schliesslich handle es sich dabei ja um Gebiete, die wegen extrem hohem Verkehrs-aufkommen und dichter Besiedelung beim besten Willen nicht mehr als naturbelassen gelten könnten. So sei eine funktions-gerechte Nivellierung doch nur mehr sinnvoll und angemessen. 

Die ausgesteckten Bereiche rund um das Inntal und die nach Südtirol hinein fliessende Etsch erhielten einen Zonenbefräsungsplan, der schonend genau dort das Bergmaterial beseitigte, wo bisher umständliche Umbauungen, nach Europa benannte Brücken und komplizierte Betunnelungen notwendig schienen, nur um wenigstens eine zweispurige Autobahn nach Italien und Hangsiedelungen im stets beengten Innsbruck zu ermöglichen.

Das Gebiet rund um den ehemaligen Brenner machte dabei den Anfang und konnte schon 2028 mit einer neu eröffneten Autobahn brillieren, die zehnspurig und mit einer reduzierten Reisezeit hochattraktiv für Durchreisende und vor allem den Güterverkehr wurde. Synergetische Verwendungen des Abtragungsmaterials in der Form eines Deichs vor Venedig und die Anhügelungen der Po Ebene zum Schutz vor Hochwassern hatten einen positiven ökologischen Effekt, der dem ganzen Projekt eine positive Note gaben. 

Nun gibt es nach Freitag Feierabenden nichts Schöneres für Münchner, also noch eben schnell in die Frühlingssonne des italienischen Südens zu rasen. Wenn nur der Stau nicht wäre. Man überlegt die Anlage von neuen Trassen auf der Höhe Landeck, hinein ins Veltlin.

6

Englische Pärke

Warum nicht eine grosse Mauer um die schönsten Täler der Alpen ziehen. So eine, wie sie um Sanssouci und Nymphenburg existiert. Um Versailles. Und hinter diesen Mauern erstreckt sich vom Brenner bis in die Steiermark, oder nur vom Mont Blanc bis zum kleinen Sankt Bernhard eine wunderliche Landschaft, in der sich saftige Wiesen, antik anmutende Tempel, versteckte Wasserspiele und kleine Lustschlösslein zwischen hohen Felsengipfeln schmiegen. Für den Eintritt in diese Wunderwelt bedarf es einer Erlaubnis, oder sagen wir: ich darf mir ein Tagesticket mieten, um durch die Täler voller Pfauen und Zieralmen in mitten eines Blumenmeer zu lustwandeln. Erfrischungspavilions reichen dazu eine gute Tasse vom Olongtee. Und die Kirschenblüten auf den Bäumen, die Apfelbäume voller Blüten laden dazu ein, im Vorübergehen einzuhalten. Von weitem lässt sich Musik erahnen. Hörner. Auch ein Juchzen.