ICKE - Harald Taglinger - E-Book

ICKE E-Book

Harald Taglinger

0,0

Beschreibung

Stell Dir vor Du wachst auf und ein alter Herr steht neben Dir. Er sagt: im Badezimmer liegt Jesus. Noch tot. Aber Du sollst ihm bei seiner Himmelfahrt helfen. Was würdest Du tun?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 569

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



„Sie müssen sich das wie einen einzigen, hunderte Seiten langen Witz vorstellen. Und ich bin die Pointe.“

„Ich, Consultant, Katholisch, Einsam.“

Alle Personen und Handlungen dieser Geschichte sind frei erfunden. Sollten sie aber in ähnlicher Form im Himmel oder auf Erden existieren, dann finden sie sich hier durch göttliche Fügung wieder.

Inhaltsverzeichnis

Ehren

23.12., 07:15 Uhr

23.12., 10:00 Uhr

23.12., 12:35 Uhr

23.12., 13:15 Uhr

Bildnis

24.12., 12:00 Uhr

24.12., 13:30 Uhr

24.12., 16:30 Uhr

24.12., 22:30 Uhr

24.12., 23:45 Uhr

Heiligen

25.12., 13:00 Uhr

25.12., 19:15 Uhr

26.12., 1:30 Uhr

Lieben

26.12., 7:27 Uhr

26.12., 14:00 Uhr

26.12., 17:00 Uhr

26.12., 20:00 Uhr

27.12., 02:00 Uhr

27.12., 06:50 Uhr

27.12., 09:00 Uhr

27.12., 11:30 Uhr

27.12., 15:23 Uhr

Unzucht

28.12., 05:30 Uhr

28.12., 09:30 Uhr

28.12., 10:30 Uhr

28.12., 14:00 Uhr

Stehlen

29.12., 06:00 Uhr

29.12., 09:00 Uhr

29.12, 11:00 Uhr

29.12., 14:00 Uhr

Lügen

30.12., 10:00 Uhr

30.12., 11:00 Uhr

Weib

30.12., 17:30 Uhr

30.12., 23:00 Uhr

Gut

31.12., 09:30 Uhr

31.12., 10:30 Uhr

31.12., 21:00 Uhr

31.12., 22:00 Uhr

31.12, 23:00 Uhr

EPILOG

FINIS

Ehren

„Himmel. Halt."

In einem Aufzug. Im Anzug. Auf- und Anzug, Aufzug. Auf und ab. Alles tut mir weh, ich muss schon seit Stunden kauern. Jetzt bin ich wach, meine Beine sind eingeschlafen. Meine Knie spüre ich gar nicht mehr. Wo ist die Tür? Der Aufzug sieht wie alle diese Dinger aus, ich gehöre aber nicht hierher. Und meine Kniescheiben fühlen sich pelzig an. Ich kauere ja gar nicht, ich knie. Wieso eigentlich? Im Herrgottswinkel dieses Aufzugs. Fast wie vor einem Altar. Einem mit Stockwerksanzeige. Was passiert hier, oder eher: Was passiert hier nicht? Ich muss auferstehen. Es tut höllisch weh. Aufruf zum Aufstand. Aufstehen im stehenden Aufzug.

„Aufmachen!“

Die Türen sind zu. Hämmern. Die Aufzugtür ist mit der Hand nicht aufzukriegen. Verschlossen. Als wäre ein Stein dagegen gekeilt. Dabei wäre der Schlitz im Aufzugaltar die Türe zu einer anderen – meiner – Welt. Da will ich hin, will auf mein Zimmer. Den Aufzug kenne ich, es ist der des Hotels. Denk ich. Sehr gut. Denn ich schlafe nicht in Aufzügen. Und ich knie schon gar nicht in ihnen. Mir brummt der Schädel. Ich weiß nicht einmal, wie spät es ist. Die Uhr befindet sich in meinem Smartphone auf meinem Tisch im Zimmer. Als Alarmklang habe ich diesen Gockel eingestellt. Das finde ich witzig. Keine Ahnung, wem jetzt gerade welche Stunde schlägt. Mein Magen sagt mir: es ist morgens. Ich habe vielleicht einen Hunger. Es muss Frühstückszeit sein. Mein Magen hängt bis zu den Knien. Den schmerzensreichen. Vielleicht ist es eine Krankheit, wegen der ich im Schlaf aufstehe und in Aufzügen auf den Knien einschlafe. Platz genug ist ja, und die Luft würde auch für Stunden reichen. Nicht nur für mich. Rein rechnerisch passen bei einem zirka sechs Quadratmeter großen Aufzug bis zu 13 Personen auf die Standfläche. Dafür ist er laut Messingschild neben der Türe auch zugelassen. Zwölf Mitfahrer und ich, auf dem Weg nach oben oder unten. Würden sich zum Beispiel 13 Personen auf – sagen wir – einen Quadratmeter zusammenballen, ließe sich die Weltbevölkerung auch im Bodensee unterbringen. Aber nur, wenn alle sehr nahe beieinanderständen und sich keiner hinkniete. Der Mensch ist kein Fisch. Und ein Aufzug ist keine Büchse. Dieser Aufzug zum Beispiel ist trotz seiner sechs Quadratmeter Grundfläche nicht für das Gewicht von 78 Menschen ausgelegt. So ein Gedränge veranstalten sie nicht einmal in der U-Bahn von London. Ich bin in London. Das weiß ich. Und ich rechne hier dummes Zeug aus. Wie üblich, wenn ich durcheinander bin. Aber das alles hier ist kein Drama. Seit 1853 fahren Aufzüge ausschließlich von oben nach unten und von unten nach oben. Dank der Otis Elevator Company, deren Absicherung einen vollkommenen Absturz verhindert. Die welthöchste Aufzughaltestelle mit 638 Meter Höhe liegt derzeit im Burj Khalifa. Und hier stehe ich höchstens im dritten oder vierten Stock eines britischen Backsteinhauses. Absturzgesichert. Aufzüge haben überall auf der Welt eine Leiste mit Druckknöpfen nach oben oder unten. Mehr nicht. Keine Kurven oder Kreise.

Wo wir gerade beim Thema „Kurve“ sind. Die Kurve vom Firmenanlass gestern Abend habe ich vermutlich gekriegt. Nüchtern aus einer Weihnachtsfeier in England auszuscheren, das ist Kunst. Ich als Deutscher will und kann das, ich schere aus. Mein persönliches Peter-Prinzip: ich schere jederzeit aus. Das kann ich immer und quasi aus dem Stand. Auch gestern. Allein, wie stets. Oder? Mal hinter mich ….

„Jessas."

Wer ist der Kerl in der anderen Ecke? Wieso sehe ich den jetzt erst? Wieso schläft der zusammengekauert auch hier? Wie lange versucht der schon, nach oben zu kommen? Mein Onkel würde sagen „typisch“, dass ich Weihnachten feiere und dann, statt eine sympathische Engländerin abzuschleppen, mit einem halbtot da liegenden Mann im Aufzug stehe. Stundenlang vielleicht schon. Halt, den Nothalt, den kann man entriegeln. Das ist einfach. So, das sollte jetzt funktionieren. Es rumpelt, wir fahren auf. Gut. Letzte Nacht. Ich erinnere mich, es war eine Nacht ganz im Stil von Linda. Ich mag Linda sehr, ich schätze sie als Kundin. Mir liegt an einem guten Dialog mit ihr. Und ihr geht es wohl auch so. Unsere Treffen sind sehr intensiv, immer enden sie im Umtrunk und im Morgengrauen. Aber da kräht ja kein Hahn danach. Sie sagt, dass ich sie wie von einer schweren Krankheit heile, dass ich ihr guttue. Ich ahne nur ungefähr, was sie damit meint. Vielleicht unsere sehr persönlichen Gespräche über ihre Männer. Ich höre stumm zu und betrinke mich eher aus Versehen dabei. Wenn man ihr glauben darf, dann muss Liebe wirklich sehr kompliziert sein. Linda kann wohl alles außer geliebt werden, sagt sie. Aber enthaltsam leben will sie auch nicht, auch wenn sie es eigentlich tut. So wie ich, aber das erzähle ich ihr natürlich nicht. Ich halte sie mir aber körperlich auf Distanz. Und trotzdem rückt Linda mir manchmal sehr nahe. Ich kann dann ihre pelzige Wärme spüren. Das ist sehr körperlich. Ich tue einfach so, als wären stetig 20 Grad Celsius, auch in ihrer Nähe. Ich ignoriere die Wärme, um Nähe, aber nicht Intimität aufkommen zu lassen.

Die Lampe vom vierten Stock leuchtet auf. Linda muss etwas mit der Zweiersituation in diesem Aufzug zu tun haben. Vielleicht hat sie mir den armen Schläfer dort mitgegeben, hat ihn mir vielleicht ohne große Worte zugesteckt und dann auf „oben“ gedrückt. Vielleicht will sie mir einfach zu verstehen geben, wie das ist mit ihren Männern ist. Deshalb legt sie mir einen bei. Linda will immer mit mir reden. Ich soll so ein toller Zuhörer sein. Es ist wichtig, dass sie einfach offen zu mir sein könne. Wir redeten dann schon noch über mich. Aber zuerst sei sie dran. So wie gestern auf der Weihnachtsfeier. Sie läuft schon Wörter produzierend auf mich zu, bevor sie überhaupt in meiner Hörweite ist. Das klingt wie eine langsam nach oben gezogene Tonspur. Von „kaum“ auf „unüberhörbar schrill“. Und bei voller Lautstärke sind dann nur noch diese Geräusche zu hören, die sie immer eine „Beichte“ nennt. Wörter wie „Einsamkeit“ und „Lebenspartner“ und „alles tun“ kommen darin vor. Manche verstehe ich nicht, weil Linda mittendrin zu schluchzen anfängt. Gestern Abend dann wieder etwas, das sie mir dringend auf einer Weihnachtsfeier sagen muss. Nur mir, denn ich sei nicht wie die anderen. Ich mache mir eigentlich viel aus Frauen, ich habe nur keine Gelegenheit, eine andere außer Linda kennenzulernen. Schon gar nicht auf Weihnachtsfeiern ihres Unternehmens, hier in London. Wenn sie auftaucht, mich sehr intensiv an sich selbst teilhaben lässt und danach mit mir zwecks thematischer Vertiefung in eine Kneipe abtaucht. Vermutlich bekomme ich wegen Linda den Robinson-Crusoe-Preis in der Kategorie „Toller Zuhörer“ zugesprochen. Und jetzt dieser Mann da. Der schläft doch, oder? Ich kann mich nicht auf ihn konzentrieren. Stattdessen kaue ich alles Mögliche wieder. So wie die Rinder aus meiner Kindheit, auf der Weide neben unserem Haus. Wenn ich unter Stress stehe, wiederhole ich mich, sage alles zweimal. Und ich werfe mit sinnlosen Fakten um mich, die dann wie Scheissefladen aus mir herausquellen und schlapp liegen bleiben. Es ist schwer, damit auf einen Punkt zu kommen. Dabei verkaufen wir in meiner Firma „Focussing“ als ein eigenes Modul. Ich biete es oft zusammen mit Tabellenkalkulationsschulungen an. Es ist eine eher redundante Position, die ich als Consultant bekleide. „HR Consultant Digital Processes“ bei der ZZFT Inc., börsennotiert. „Ich fische in trüben HR-Gewässern“ sage ich immer, wenn jemand wissen will, was ich beruflich mache. Teuer bezahlter SME, „Subject Matter Expert“, der den von der Technik überforderten Lindas in diversen Personalabteilungen zeigt, wie man in einer Tabellen-kalkulation eine Grafik einbindet. Wenn ich dabei die Verzweiflung in ihren Gesichtern sehe und ahnen kann, dass sie mir schon seit dem zweiten Mausklick intellektuell nicht mehr folgen, biete ich „Focussing in IT, EXCEL III“ als Aufbaukurs an. Ein guter und fairer Abverkauf. Zusammen mit einem kleinen Scherz, damit das Gespräch nicht zu viel hierarchische Fallhöhe bekommt.

„Sie wissen doch, {hier Name der Kundin einfügen}, dieses Programm auf dem Computer ist schon verwirrend. Das mit dem „X“, mit dem man senkrechte und waagrechte Linien auf dem Bildschirm zeichnet. Ist aber sehr praktisch, wenn es bei Umstrukturierungen wieder einmal drunter und drüber gehen muss.“ Den Satz findet Linda hin und wieder noch lustig, sie kauft mir dann gerne noch einmal einen Zusatzkurs ab.

„Sie sind ein guter Verkäufer, Herr Taglinger.“

Wir siezen uns tagsüber, darauf bestehe ich, sie duzt mich meistens erst gegen Abend hin. Das ist in Ordnung, das hilft ihr in den Männergesprächen, allerdings lasse ich es noch ein wenig länger beim „Sie“ und ihrem Vornamen. Das klingt verbindlicher. Tagsüber bringe ich ihr aber konzentriert und in einem dieser fensterlosen Meetingräume den Umgang mit einer Tabellenkalkulation bei. Senkrecht, waagrecht. Sehr ungezwungen. Sogar die Farbe der Menüleiste darf sie zum Einstieg selbst wählen. Linda erkläre ich das für einen Tagessatz von 2000,-EUR. Übrigens ein Vorzugstarif für Vielbucher, dabei lacht sie viel und will abends noch einmal „in Ruhe“ über das eine oder andere reden. Solange bis ich einnicke und sie mich im Hotelzimmer ablegt. Stark ist sie, das muss man ihr lassen. Ich pflege angezogen aufzuwachen, meistens mit einem Pyjama am Leib.

Immerhin habe ich jetzt Hemd, Hose und Schuhe an, neben diesem Mann. Also, Du Mann da auf dem Boden, ich sollte mich wohl bei Dir entschuldigen, dass ich an Linda, den Bodensee und meinen Beruf denke, während Du Dich vielleicht gar nicht so gut fühlst. Sei mir nicht böse, ich bin aber trotzdem gleich weg, sobald die Türen aufgehen. Herrgott, ich muss langsam hier raus, es fühlt sich schon beengt an. Ich sehe ein wenig verwüstet aus mit dieser schiefen Krawatte und den zerzausten Haaren. Das Hemd könnte ich mir auch in die Hose stecken, aber erst einmal muss ich hier raus. Gleich geht die Tür auf, wir sind im vierten Stock, das passt. Ich erinnere mich an die Bar Ecke Brewer Street mit den großen Bildschirmen voller Fußball. Linda ungewöhnlicherweise mit ihrem vierten Pint in Folge, ich dazu noch mit ein paar schottischen Whiskeys als Beschleuniger. Ich sehe noch vor mir, wie ich zugetextet von ihr aus der Richmond Mews vom Hotel her zum Inn einbiegen. Die Kurve von der Weihnachtsfeier ihrer Firma geht auf ihr Konto. Indem sie einfach „Der gehört mir“ in die Runde brüllt, sich bei mir unterhakt und mich aus dem Raum schleift. Sie muss mir, das kann ich verstehen, unbedingt noch von ihrem Schwarm in der Tanzschule 1987 erzählen. Darüber werde ich aber bald müde. Ihre Staccato-Sprache erzeugt bei mir einen Hang zum Tiefschlaf. Nach ihrem finalen Glas in dieser Bar gehen wir ins Hotel zurück. Ich kann mich nicht genau erinnern, vielleicht lässt sie uns auch von einem Taxi zum Hintereingang fahren. Damit uns der CEO nicht abfängt und über das nächste Geschäftsjahr sprechen kann. Ich erinnere mich nur einfach nicht mehr. Der Aufzug scheint ja inzwischen im vierten Stock zu sein und ich kann mich gleich duschen, umziehen und frühstücken. Das Meeting beginnt in ein paar Stunden. Sobald die Aufzugtüre aufgeht, wecke ich den anderen auf dem Boden und gehe danach auf mein Zimmer. Das kann ich für ihn tun. Ein bisschen Nächstenliebe kann nicht schaden. Und wenn ich noch ein wenig Glück habe, dann ist es so früh am Morgen, dass ich vor dem Debriefing des Geschäftsjahres noch ein bis zwei Stunden Schlaf herausschinden kann. Bevor ich gehe, sollte ich es mit einem gepflegten englischen Satz probieren.

„He, aufwachen, vierter Stock, es h ö h e r h i er n i c h t g e h t.“

Wenn man mich fragen würde: Er sieht eher wie ein Künstler aus. Irgendwie indische Kleidung, vermutlich ein Händler aus Soho. Er hat auch gehörige Kratzspuren an der Stirn, aber das ist nicht so einfach zu erkennen, wegen der schulterlangen Haare.

„Hallo!“

Mehr kann ich nicht tun. Wenn ich mich noch weiter herunterbeuge, liefere ich restverdautes Weihnachtsessen dahin, wo es sicher nicht hingehört. Gleich bekleckere ich den schönen Flieder-Minz-farbenen Gangteppich. Der Gang. Schön, dass jetzt endlich die Tür auf ist. Ich sollte meinen Fuß hineinstellen, damit sie nicht wieder schließt. Diese Teppiche, London ist voller Minze und Flieder, und das vermutlich seit Jahrhunderten. Viel ändert sich hier nicht. Ich freue mich auf den Rückflug nach Berlin, da wo es noch echte Diele und zuweilen noch original ostdeutsches Linoleum gibt.

„Ha - llo!“

Merkwürdig, dass er sich immer noch nicht rührt. Vielleicht sollte ich ihn auf den Rücken drehen, damit er mehr Luft bekommt. Ein Mensch, der im Koma liegt, wirkt wie im Schlaf, ist aber nicht weckbar. Auf starke Schmerzreize reagiert der Patient – je nach Tiefe des Komas – mit gezielter Abwehr oder mit Beuge- und Streckkrämpfen der Arme und Beine … ach Gott, der ist sicher im Koma, oder sogar Schlimmeres! Wenn mich jetzt jemand sieht, dann wirke ich wie einer, der einem Komapatienten nur zuschaut. Übel, solche Stockwerke sind morgens schon voller Menschen. Ich gehe dann mal lieber. In mein Zimmer, hoffentlich ist das überhaupt mein Hotel. Hotels sehen innen überall in den UK gleich aus, vor allem wenn man den vierten Stock betritt. Auf jeden Fall müsste mein Zimmer da hinten liegen. Nichts wie rein in die 404. Auf Wiedersehen, mach es gut, und schlaf Dir auch Deinen Rausch aus. Oder Dein Koma. Oder was auch immer. Ich eile, Gänge können ewig dauern. Ich will nur weg. Das da ist nicht mein Freund im Aufzug, ich kenne den Herrn gar nicht. Herr gib, dass der Gang leer bleibt, bis die eine Türe aufgeht, und die andere zu. Ich will jetzt meine Ruhe. Die gedämpften Flure mit ihren dicken Teppichen bremsen mich. Das Zimmer 404, es ist meines, ganz sicher. Nur auf jetzt. Niemand zu sehen. Schnell 404. Meine Zimmerkarte, nun geh schon auf.

„Nun geh schon auf …“

Die Türe klackt, die Karte lässt die Diode am Türschloss grün aufleuchten. Gut. Rasch, Peter, oder willst du bis zum Jüngsten Tag warten. Auf, rein, uff. Zu. Guten Morgen, hallo Zimmer. So. Und ausatmen. Mein Smartphone auf dem Nachttisch zeigt 07:02 Uhr. Das fehlt mich noch, dass mich jemand mit diesem Mann im Aufzug erwischt.

„Guten Morgen, Peter.“

Wie? Was? Woher? Seine Stimme klingt auf merkwürdige Art und Weise samten, zerschneidet doch die Luft. Sie passt so gar nicht zu seiner Erscheinung. Zum Teufel, wer ist denn der jetzt wieder? Wieso kommt er gerade aus meinem Bad? Ohne eine Spur von Scheu oder schlechtem Gewissen. Sein Grinsen spannt sich wie eine venezianische Wäscheleine quer durch sein sonnengebräuntes Gesicht. Das kann ich auch. Einfach lächeln, ich bringe ja keine Leiche mit. Ich komme von der frischen Luft, über die Treppe. Das kann nach einer Weihnachtsfeier stundenlang dauern. Wer er denn bitte sei.

„Na, der liebe Gott vielleicht? Sehe ja so aus.“

Ich lache hölzern. Ja, genau: plötzlich steht Gott im Zimmer. Ich lache immer noch, er jetzt mit, will wissen, ob ich mich zufällig an einen jungen Mann im Aufzug erinnere. Ich lache natürlich ganz locker weiter. Mit einem kleinen Pfeifen in den Obertönen, aber ich lache. Er hebt nur eine Augenbraue. So als ob er doch etwas mehr fragen möchte. Etwas, das mit „Unterlassener Hilfeleistung“ beginnt. Er scheint eine ungefähre Ahnung zu haben. Sicher Überwachungs-kameras. 4,5 Millionen sollen es schon 2015 in ganz Großbritannien gewesen sein. Und die meisten davon in London. Da wimmelt es nur so von Kameras. Vor allem in Aufzügen. Er muss der Mann hinter den Hotelkameras sein. Deshalb kennt er mich und wird mich verhaften, oder so. Bevor er dazu kommen kann, mache ich erst einmal das, was man in diesem Land immer macht. Humor zeigen. Ich frage ihn, ob er den komatösen Jungen mit den Spuren auf der Stirn meine.

„Ja, genau den.“

Ich lache herzlich. Er auch. Dann atmen wir noch einmal laut aus und lassen die Pause auf uns beide wirken. Er steht einfach da, zieht ein wenig seine Schildmütze zurecht und grinst. Sein schwarzer Overall, den er mit einem feuerroten Seidenhalstuch aufhübscht, deutet auf einen eher extravaganten Modegeschmack hin. Und wenn ich es richtig erkennen kann, trägt er an je drei Fingern seiner Hände goldene Siegelringe mit einem opalfarbenen großen Blitz darauf. Das wirkt jedenfalls nicht besonders edel, vielleicht sogar ein bisschen „posh“, wie man hier in London sagen würde.

„Ja, Peter, das mit den Blitzen ist teuflisch gut, nicht? Sechs Ringe, wie die sechs Werktage.“

Wir lachen wieder. Dann bin ich jetzt wohl mit einem Scherz an der Reihe. Zum Beispiel dem, dass das Zimmer morgens so gottverlassen sei, nicht? Da lacht er nicht mehr. Er schaut mich nur an. Erst jetzt fällt mir auf, dass er kein einziges Wort Englisch spricht. Streng genommen entzieht es sich mir vollkommen, ob wir gerade sprechen oder denken, oder beides. Denke ich. Wir stehen so eine Weile da, schweigen, verstehen uns irgendwie doch, dann schüttle ich den Kopf. Vielleicht kommt mir das alles auch nur so vor. Das ist alles sicher ein ganz normaler Zimmereinbruch, ein Irrer bricht mein Zimmer auf und will mein Bad ausrauben. Oder eine Illusion, vielleicht die Nachwirkungen von dem Bier und Whiskey heute Nacht. Auch dann: Keine Ahnung, wie ich ihn wieder aus meinem Zimmer bekomme. Erst einmal entschuldige ich mich und gehe an ihm vorbei, mache die Türe zum Bad auf und wende mich dem cremefarbenen Waschbecken zu. Hände waschen sieht unschuldig aus. Das gibt mir auch ein wenig Zeit, um meine Gedanken zu ordnen. Als ich in den Spiegel hinter mich blicke, sehe ich eine Dreiheit, die ich erst einmal verarbeiten muss. Erstens steht er immer noch da und lächelt mich milde an, während hinter ihm die Morgensonne hochgezogen wird. Allerdings verstehe ich nicht, warum die Sonne direkt durch ihn hindurch schimmern kann. Zweitens hat er Sandalen an. Sandalen. Im Winter. Und als ich drittens ruckartig nach rechts schaue, muss ich den Mann vom Aufzug sehen. In meiner Badewanne. Im eingelassenen Schaumbad? Den Kopf unter Wasser? Das ist jetzt nicht mehr lustig. Ein bisschen zu laut merke ich an, dass ich solche Weihnachtsscherze aus meinem Kulturkreis nicht kenne, und dass ich mich nun bei Human Resources und Linda beschweren müsse. Das würde ordentlich Ärger geben. Und dieser Mann in der Wanne solle jetzt gefälligst aufhören, die Luft anzuhalten und nicht weiter seinen Kopf unter Wasser halten. Nichts geschieht. Ich mag es nicht, wenn jemand in meinem Hotelzimmer badet und dabei Toter Mann spielt. Wir warten alle drei noch ein paar Atemzüge. Ohne das Seidentuch kann ich mir seinen Overall an jedem Handwerker vorstellen. Und die Beintaschen sind auch sicher mit einem Taschenmesser, einem alten Nokia Handy und fünf kleinen GBP-Noten gefüllt. Schildmützen, wie er sie trägt, nerven mich generell, und bei ihm ärgert mich dazu dieser überscharfe Blick seiner hellblauen Augen. Das sieht mit seiner sonnengegerbten Haut aus wie ein Leberschaden im Endstadium. Vermutlich trinkt er stark. Das erklärt auch den abwesenden Glücksausdruck in seinem Gesicht. Ich verliere die Lust. Als sich keiner der beiden nach der dritten Aufforderung rührt und zwei weitere Minuten vergehen, erkläre ich, dass es mir jetzt reicht.

„Es reicht mir jetzt.“

Alles was der Handwerker tut ist nicken, dann dreht er sich versonnen in Richtung des wirklich wunderschönen Sonnenaufgangs, und Du in der Wanne kannst wirklich verdammt lange die Luft anhalten. Oder es ist ein Trick. Ich wende den Kopf ab und starre auf die weißen Holzfenster im Hotelzimmer, die wie üblich ein wenig zugig sind, und umständlich zu öffnen. Vielleicht kommen solche Menschen bei ihren Einbrüchen durch die Fenster. Vielleicht steht ein Baugerüst davor, das würde es ihnen einfacher machen. Vielleicht hast Du aus dem Aufzug auch einen toten Zwillingsbruder, und in Großbritannien wird es zunehmend Sitte, an Weihnachten in Badewannen zu bestatten. Ich kündige an, dass ich nun hinunterzugehen gedenke, in die Lobby und den Portier heraufbitte, damit man alle anwesenden Witzbolde aus meinem Zimmer entferne. Ich drehe mich auf dem Absatz um, als aber keiner von Euch Anstalten macht, aus meinem Zimmer zu verschwinden, öffne ich geradewegs die Tür und marschiere auf den Aufzug zu, drücke auf „E“ und blicke mich nicht noch einmal um. Ich hole jetzt wirklich den Portier, ja, das tue ich. Der Aufzug ist leer.

***

23.12., 07:15 Uhr

51,513945° -0,133896°

Das Hotel ist nicht weit von der Oxford Street entfernt und besticht in seiner Ausstattung durch die Andeutung von Fruchtschnittenfarben und Obstkorbschattierungen. Dazwischen existieren wie schon erwähnt Teppiche in Fliedermustern und Minzfarben. Frau Fischer, die etwas schrullige Nachbarin aus dem vierten Stock in der Lottumstraße, würde sich darin sehr wohl fühlen. Auf diesen Businesstrips legt man sich eine gewisse Art von Blindheit zu. Eine kleine Ausnahme bildet es vielleicht, wenn ein Mann mit einer Wasserleiche in der Badewanne meinen eh schon mühsamen Morgen stört. Plötzlich irritiert dann auch wieder die Farbgebung des Interieurs, während ich nun meinen Weg hinunter zum Portier suche. Das dortige Personal ist stets professionell und auf den Punkt, also werden sie mir auch beim Ausräuchern von Zimmer 404 helfen. Das Hotel ist so gesehen hilfreich. Was mich ein wenig stört, ist die schlechte Anbindung an Heathrow. Dynamisch trete ich vor den Herrn, der akkurat gekämmt und mit fast abwesender Mimik in den leicht versenkten Bildschirm vor sich schaut. Das Ablicht des Screens verleiht ihm ein eher kühles Antlitz. Oder ist es doch die eine hochgezogene Augenbraue, mit nur dem Hauch eines professionellen Lächelns, die auf meinen Redebeitrag reagiert? Ich will ihn nicht lange warten lassen. Natürlich sprechen wir reinstes Oxford English. Zumindest er, ich dagegen bekomme meinen Blitzkrieg-Akzent einfach nicht aus der Sprache. Neben einigen zusätzlichen grammatikalischen Schnitzern, aber darum geht es jetzt ja nicht.

„Sir.“

„Ich hoffe doch, sie haben einen angenehmen Tack.“

„Durchaus, Sir. Darf ich Ihnen zu Hilfe sein, Sir?“

„Oh, ja, das wäre sehr höflich von Sie.“

„Gut, was wäre denn nun Ihr Anliegen, Sir?“

„Gut, das Brolem ist, dass ich jemanden in der Badewanne habe.“

„Haben wir das nicht alle von Zeit zu Zeit, Sir?“

„In der Tat, aber dieser hier treht sein Gesicht nicht. Was ich sagen will: Ich habe auch einen Gott mit einer Kappe im Zimmer, durch den die Sonne hinturch tut.“

„Sir, ich befürchte fast, ich verliere Sie.“

„Für Himmels Willen, würden Sie mit kommen mir, ich habe zwei Menschen in meinem Zimmer stehen, und da gehören sie nicht hin. Vor allem nicht als Gott.“

Das nicht sehr vergnügte Gesicht des Portiers weicht in einem lauwarmen Lächeln auf, das normalerweise nur dazu benutzt wird, Umstehenden zu signalisieren, man habe alles im Griff und es gäbe kein Problem. Aber schon gar keines. Und genau das will er jetzt auch in der Lobby signalisieren, während er mich freundlich zum Aufzug begleitet, unauffällig den Hausdiener mitnimmt und zusammen mit uns beiden im Lift landet.

„Welche Etage, Sir? Die vierte? Vorzügliche Wahl, wenn ich das so sagen darf.“

„Es war nicht mein Joyce.“

„Wie meinen Sie, Sir?“

„Nicht.“

Die Kunst der gepflegten Konversation besteht auch darin, im richtigen Moment damit aufzuhören, und zwischen dem zweiten oder dritten Stock hüllt uns ein gekonntes Schweigen ein. Man macht sich nicht besonders beliebt, wieder einer dieser Deutschen zu sein, die in London über Probleme sprechen wollen, und dabei nur weitere verursachen. Aber auch ein noch so engstirniger Portier weiß sicher: sollte das Haus von einem Alten und einem komatösen Toten in der Badewanne etwas mitbekommen, wäre das dem Ansehen des Hotels nicht dienlich, also bringt das Personal dies flott und ohne weitere Umstände über die Bühne. Man meidet hier gerne den Eklat. Ein nicht zufällig französisch wurzelndes Wort, das in Großbritannien deswegen noch weniger beliebt ist. Ich renne, sobald sich die Aufzugtüre öffnet, swische mit einem geradezu emphatischen Schwung die Keycard durch den Kartenschlitz und stoße mit einem Triumph die Tür so sperrangelweit auf, dass sie wegen ihres Effets polternd an die Innenwand schlägt. Von dort schwenkt sie wieder langsam, sehr langsam in Richtung der Ausgangslage zurück, bevor sie von der Hand des freundlichen Personals sachte davon abgehalten wird, wieder ins Schloss zu schnappen. Sonst passiert nichts, und wir kommen alle ein wenig zu lange zur Ruhe. Nur mein freundlich zu Hilfe kommender Portier lässt einen mittelenglisch blasierten Atmer von sich und fokussiert sich dann lächelnd mit einem nichtssagenden Blick auf das bukolisch angehauchte Stillleben, das gleich neben dem Bett hängt. Ich stutze, wundere mich über die Stille und will das mit den beiden Besuchern klären, schaue um die Ecke der Tür, renne ins Bad. Nichts. Das Badewasser scheint nicht einmal eingelassen zu sein, mein Bett dagegen scheint benutzt.

„Sir, wünschen Sie vielleicht noch eine genauere Begutachtung oder sollen wir Ihnen stattdessen frische Handtücher bringen?“

Ich stehe momentan eher sinnlos in der Gegend herum und nicke nur abwesend. Vielleicht sollte ich wirklich mal ausspannen. Mensch, mein Debriefing im Meetingraum. Das fängt ja auch bald an.

„Gut, ja“, meine ich, „ich beziehe mich wohl offensichtlich nicht auf mein eigenes Zimmer.“

Er wisse ja, im Eifer der nachweihnachtsfeierlichen Orgien könne man sich schon einmal im Stockwerk vertun. Seine Miene versteinert eher noch. Es hat jetzt wohl keinen Wert, einen Witz aus meiner Heimat zum Besten zu geben. Ich versuche es stattdessen mit einem der Sorte Britisch und absurd, aber nicht zu sehr.

„Gut, wenn er nach einer wilden Nacht den lieben Gott sieht, soll man zum Teufel auch nicht glauben, nicht. Blutig noch einmal …“

Stille, dann: „Öh, in der Tat, Sir, ich könnte nicht mehr zustimmen.“

Wir lachen das Lachen weltgewandter Männer, und ich verabschiede mich mit einem freundlichen Gesicht. In diesem Moment höre ich ein Poltern aus dem Wandschrank. Tatsächlich, jemand poltert. Der Wandschrank. Crèmefarbene Türen, hinter denen sich vielleicht das Grauen oder ein Mann im Overall mit einer tropfenden Leiche über der Schulter befindet. Die schickt mir jetzt der Himmel, das sollen die beiden Bediensteten sehen. Mit spitzen Fingern öffne ich die linke Türe und schaue in ein verkatertes Gesicht. Das von Linda. Sie steht da. Vollkommen still. In Ausgehkleidung. Aber was das Schlimmste ist, sie kreischt nicht einmal auf oder fällt mir um den Hals. Sie schaut mich einfach nur einen Augenaufschlag lang an, dann murmelt sie tonlos „guten Morgen, Peter“ und begutachtet dabei den Feilwinkel ihrer Fingernägel. Ich schließe noch einmal eben die Schranktür. Sehr freundlich nickend zu allen. Aber vermutlich würde es das Hauspersonal nicht wundern, auch noch eine komplette Rockband pudelnackt im Wandschrank vorzufinden. Vermutlich wäre das nicht das erste Mal in der Geschichte des Hotels. Ich bitte leise um Entschuldigung und gehe ins Bad, verschließe die Türe hinter mir. Dort bleibe ich. Etwas wird sich schon tun. Tatsächlich höre ich nach ein paar Minuten, wie auch Linda die Tür von außen zufallen lässt. Jetzt sind alle weg. Selbst wenn man mich nun fragen würde, ich hätte keine Worte.

***

23.12., 10:00 Uhr

51,513945° -0,133896°

Schon vor dem Jahresmeeting „De-year XX“ geht es nicht besonders lustig zu. In der Lobby treffen wir uns und stehen verlegen bei einer lauwarmen Tasse Tee am Eingang des Briefing Centers herum. Außer dem CEO schauen alle vor sich hin und sagen kein Wort. Der jedoch rennt von stummen zu schweigenden Grüppchen und redet dabei pausenlos. Als ob er eine doppelte Fuhre Koks im Blut hätte. Vielleicht hat er von Josh und Rita wieder eine neue Lieferung in der Tasche. Das weiß doch jeder, dass sie die Taschen füllen. Sowohl ihre als auch seine. Josh hat Großeltern, die zu den Gründern des Unternehmens zählen und ihm alle Anteile vererbten. Die sind eigentlich gerade groß genug, um ihren Einfluss auf den Aktionärsversammlungen zu sichern. Josh und Rita leben sehr gut davon. Die beiden halten bei Dividendenausschüttungen einfach nur die Hand auf, verbringen aber ansonsten die Zeit auf ihrem Luxusschiff im Mittelmeer und vertreiben sich die Zeit damit, als Hobby Drogen zu dealen, sagt man. Das mögen sie, weil es so schön gefährlich klingt und nebenher noch ein wenig Freizeitspaß abwirft, sagt man. Bitte, das soll mich nicht stören, es ist so ein Gerede, und man sagt es ja auch nur. Es ist ein Geheimnis, das man schon am dritten Tag in der Firma mitbekommt. Dann gehört man dazu. Und wenn man zur Führungsriege des Unternehmens gehört, dann lassen Josh und Rita regelmäßig irgendwo in einer eher seitwärts gelegenen Mittelmeerbucht eine schöne Feier steigen, laden die Herren und Damen mit der doppelten Anzahl an Lustknaben und feschen Mädchen auf ihr Schiff. Hin und zurück geht es mit dem Helikopter. Den Laderaum voller Drogen gepackt, sagt man. Kein Wunder, dass der Zoll nichts findet. Oder er steckt mit ihnen unter einer Decke, so munkelt man jedenfalls. Und dabei geht alles stets über die Schweiz. Vielleicht bekommt Linda ja auch das eine oder andere Häufchen davon ab und tut es mir in bester Absicht abends ins Bier. Aber bitte, das soll jetzt nur ein Scherz sein. Und wenn, dann tut sie das nur, damit ich locker werde. Allerdings vertrage ich nicht einmal Bier wirklich. Der schwere Kopf und der absolute Filmriss von heute Morgen wären damit jedenfalls erklärbar. Vielleicht kann mir Linda alles auseinandersetzen. Aber Linda will gar nichts erklären. Sie schweigt beharrlich und stellt sich immer wie zufällig Rücken an Rücken mit mir. Und auch auf meine beharrliche Frage hin, warum sie mich morgens im Wandschrank besuche, bekomme ich nicht ein Wort zu hören. Oder es ist so: Linda schleicht morgens in mein Zimmer, während ich noch im Aufzug stecke. Sie hat einen Zweitschlüssel und will nur nach dem Rechten sehen, bevor ich die Tür aufreiße. Oder ihr sorgsam geplanter Scherz zum Weihnachtsfest glückt, sie hört alles mit den beiden Männern im Wandschrank mit an, und morgen lacht sie sich mit ihren Kolleginnen krumm. Nein, das kann ich nicht glauben. Ich nehme ja wohl nicht an, dass der Eine mit der Kappe und der Andere in der Wanne ein Einfall von Linda sind, sonst würde sie mich darauf ansprechen. Wir setzen uns alle in Bewegung. Meetingraum „Waterloo“ steht für uns bereit. Die Tür geht auf, der CEO steht geradewegs neben mir, schüttelt mir die Hand und gibt mir noch mit einer neckischen Geste zu verstehen, dass er gleich wie neulich besprochen 30 Prozent des anwesenden Managements kündigen wird, um über die Feiertage den Aktienkurs zu pushen und sich seine Optionen zum Jahresende zu versüßen. Deshalb dieses Excelsheet, das von mir stammt und seit drei Tagen durch Weiterleitung von Linda auf seinem Tisch liegt. Ich mache nun auch noch die Arbeit von ihr, aber das geht in Ordnung, es ist ja zumindest für mich nur ein Übungsbeispiel. Mit 30 Prozent des Middle Managements und einigen Kick-off Varianten. Die Namen der Betroffenen sauber formatiert, dahinter ein „GO“ oder „NO GO“. Eine Beförderungsliste. Nicht nach oben, sondern nach draußen. Unter uns: Der CEO ist auch wenn er ausgenüchtert ist gewöhnungsbedürftig, sagt man. Er nordet uns fast wollüstig im Raum ein und treibt die Herde Schafe ohne ihre Teetassen hinter die Türen von „Room Waterloo“. Man setzt sich zwanglos. Etwa nach Hierarchie. Die Abteilungsleiter immer möglichst weit vorne. Der CEO klopft auf ein vollkommen überflüssiges Mikrophon, das sich an einem Redepult in der Mitte des Raumes befindet.

„Test, one, two … Ah … Liebe Friends, willkommen auf dem Final Peak dieses Jahres, von wo wir noch einmal zurück auf vier Rocking Quarters schauen wollen. Der Review wird spannend, das promise ich.“

Das kann eine lange Rede werden, wenn es so anfängt. Die ersten schrauben vorsorglich die Wasserflaschen vor sich auf. Reines Bergwasser aus dem hohen Norden des Landes, ist darauf etikettiert. Es schmeckt allerdings leicht bitter und moosig. Wieder dieser fliederfarbene Teppich und eine Wandbespannung, die sich nur ein Heimtextilfanatiker unter Starkstromeinwirkung einfallen lassen kann.

„Wir sind absolut energized als Stakeholder dieser Company, dass no Reason für Grieving vorhanden ist. Strength liegt ja in unserer Embrace Strategy, die wir seit drei Jahren in den Markt inducting sind. Justice is with the first Mover, wie wir wissen. Unsere Competitors haben ihren Hunt gecrashed und wir wissen alle, dass der Stock Market uns nicht flamen kann. Dementsprechend ist der Growth of Value für das ongoing Business stable. Nicht growing, im Moment, aber stable.“

Von diesem Gerede, das dann eineinhalb Stunden wie ein monotoner Springbrunnen durch das Zimmer plätschert, kann ich nichts länger behalten. Die Mineralwasserflaschen sind alle gelehrt, außer der meinen, neue Flaschen kommen gerade hereingefahren, verwandeln sich aber nicht in den Alkohol, den manche jetzt bräuchten. Der CEO hat die Liste an die Wand projiziert. Einzelne begreifen bereits, dass die Firma ihnen gerade noch den Heimflug zahlt, und schicken unter dem Tisch heimlich dem Headhunter oder dem Redakteur eines Wirtschaftsteils eine Nachricht. Genau darauf spekulieren wir ja. Er sagt doch nicht wirklich gerade „ein Drittel Low-Performer“?

„Er meint doch sicher den neben mir, nicht mich.“ sagen die Blicke zum Nebenmann.

Niemand lacht, alle rechnen im Stillen ihren Kontostand durch. Das hier ist nicht der Letzte im Jahr, das ist der Jüngste Tag. Und der CEO kommt nicht zum Ende.

„Denkt nicht, dass ich hier bin, um the Laws of Market aufzuheben, ich will sie performen. Revenue for Revenue, Fiskal Year for Fiskal Year, und ich bin sehr excited, mit den strong Leaders und einem dynamisch neu aufgestellten Team diese Performance in den nächsten Quartern noch zu enhancen.“

Immer wieder blicke ich hinüber zu Linda, aber die versinkt in ihren Unterlagen und hat scheinbar unglaublich viele Seiten an Excel-Listen zu studieren. Der Rest der Anwesenden sagt mir nicht viel, ich kenne zwar ihre Namen, kann die aber nicht mit den Gesichtern verbinden. Eine Frau weiter hinten im U beginnt zu schluchzen. Weihnachten sei eben immer hochemotional, dafür habe man absolutes Verständnis, meint der CEO und lobt seine Ergebnisse im Unternehmen und dass auch im nächsten Jahr der Konsolidierungskurs so weitergehen könne. Er wolle ja nicht den Teufel an die Wand malen, aber man müsse eben auch darauf reagieren, dass die Wirtschaft derzeit in Endzeitstimmung sei. Und man könnte ja nicht nur davon leben, wie ein „Business Angel“ vor der Belegschaft zu stehen. Das würden alle im Raum sicher verstehen. In der Zwischenzeit zähle ich die Bläschen, die im nachbarlichen Glas mit „Medium Mineral Water“ aufsteigen. Das sieht konzentriert aus, entspricht dem Bild eines Beraters an entscheidenden Businesssitzungen, unterdrückt in mir wirre Bilder von Kappen und Badewannenleichen und zwingt mich auch nicht mehr, den Blick von Linda zu suchen. Ich zähle 93 Bläschen, dann komme ich kurz durcheinander. Dabei fixiert sie mich. Außerdem räuspert sie sich alle zehn Sekunden. Aber ich habe keine Energie mehr für einen Austausch. Jetzt will ich nicht mehr und schaue weg. Mir ist nur noch nach gesundem Essen. Und da das Meeting für die eingeladenen Dienstleister bald vorbei sein wird, habe ich zumindest die Chance, schnell aus dem Raum zu kommen. Da gibt es doch immer noch den Asiaten mit den langen Holzbänken und großen Nudelsuppen im Hotelkeller. Das lässt den Vormittag vergessen, damit liegt er ja dann auf einer Linie mit dem vorhergehenden Abend.

„Danke.“

Der Applaus ist vereinzelt und pflichtschuldig, dünn wie das Lächeln von allen.

„Wir haben uns erlaubt, Eure Year End Gifts in kleinen Umschlägen draußen zu enrollen. Manche finden sogar noch einen Add-on als Final Thanks included. Cool.“

Mahlzeit. Aufstehen. Raus. Einer weiter hinten weint noch immer. So ein Meeting reißt mich immer noch auseinander, und dann entsteht in der Mitte ein Loch, das sich nur durch ein gutes Mittagessen füllen lässt. Da gibt es ja das asiatische Dings. Ich nehme die Stufen hinunter in den Essraum, unterhalb des Straßenniveaus, und lasse mich an einen der langen Holztische lotsen. Man bringt mir Papierunterlage und Stäbchen, man lächelt mich kurz an und will gar nicht mit mir reden. Sehr gut. Hier isst man, und solange wird man hier niemandem kündigen. Ab jetzt wird der Tag gut. Nur leider schaue ich nach einer Weile dumpfen Vor-mich-hin-Starrens langsam von den Holzstäbchen und seinen Tonstützen auf. Da sitzt er wieder vor mir. ER, und er grüßt freundlich nickend. Dann nimmt er langsam seine Schildmütze ab und schaut mich geradezu ewig aus seinen hellblauen Augen an. Drei seiner sechs Ringe bewegen sich an den Fingern seiner Rechten genüsslich auf und ab. Wie durch ein Wunder kommen just in diesem Moment zwei Schüsseln mit Ramen an den Tisch. Weitere elf Menschen an unserem langen Holztisch sehe ich, von denen einer Geld zählt, während einer in der Mitte irgendwelche Fladen bricht und kritisch gegen das Licht hält. Das wird jetzt aber langsam affig und das sage ich ihm auch. Oder denke ich es wieder nur?

„Langsam wird es affig. Bibel-Andeutungen. Soweit kenne ich mich aus. Hier an dem Tisch sitzen wohl kaum Pippi Langstrumpf und der Kleine Onkel mit den Dorfkindern unter dem Limonadenbaum, oder?“

Er schüttelt lächelnd den Kopf. Nein, das seien sie nicht, lässt er mir gedanklich mitteilen.

„Wo ist denn der Sohn? Riecht er nach seinem letzten Bier mit Lazarus etwas streng und wäscht sich deshalb noch einmal in meinem Bad?“ Und als er nicht lacht, probiere ich es noch einmal mit „Der da hinten sieht so aus, als würde er gleich die Bullen holen. Ich krähe jetzt dreimal und kaue danach der Bedienung ein Ohr ab. Einverstanden?“

Immer noch kein Lachen, alle schlürfen nur gelangweilt ihre Suppe und beachten uns nicht. Wir sitzen nur so da, wie man in einer Allgäuer Wirtschaft den Nachmittag verbringt. Stumm, die Hand am Glas. Dann nimmt er sich den lackierten Holzlöffel vor die Augen, schüttelt lächelnd seinen Kopf und tut auch dieses Stück Holz zur Seite. Die Suppe und ihre Essbestecke scheinen ihn nur mäßig zu interessieren.

„Da wird doch wohl nicht INRI draufstehen?“, witzele ich in Gedanken noch vor mich hin. Ich spüre so einen aggressiven Drang nach schlechten Witzen in mir. So unflätig kenne ich mich gar nicht, das muss er irgendwie auslösen. Als ich ihm nach einem prustenden Seitenblick wieder in die Augen schaue, da ist mir für einen Augenblick so, als könnte ich ein Blitzen tief drinnen hinter seinen Pupillen erkennen. Er hebt nur ansatzweise seine Hand. Die Szenerie scheint wie in einer extremen Zeitlupe gallertartig stehen zu bleiben. Es stoppt alles wie eine schlecht getimte Kamerafahrt und lässt die Nahrungsaufnahme am Holztisch zu einem Standbild erstarren, selbst der Dampf in den Schüsseln bleibt. Nur er und ich scheinen noch Leben in uns zu haben. Sonst bewegt sich nichts und niemand mehr. Ich will noch einen Witz darüber machen, da fährt er ein zweites Mal mit der Hand leicht auf, und ich schnalze mit der Zungenspitze an die Decke, bleibe dort kleben, mein Körper federt leicht nach vom Schwung. Meine Füße haben bei der kleinen Himmelfahrt den Boden verlassen. Ich hänge herum wie ein zu schlecht ausbalancierter Seranoschinken. Es tut unglaublich weh. Ich lasse mit einem lauten A-Laut die Arme sinken und pendele aus. Das gibt es doch nicht. Komme mir vor wie ein kurzsichtiges Chamäleon, das mit einem Klebestreifen kämpft und irgendwann frustriert mit der Fangzunge hängend darauf wartet, dass der Klebstoff nachlässt.

„Wohl denn, einfach zuhören und die Zunge hüten.“

Ja, so einfach kann man auch einleiten, nicht so wie der CEO, mehr divine und souverän. Die Zunge wird mir irgendwann abreißen, aber das kann ich ihm nicht einmal sagen. Ich höre jetzt lieber schnell zu. Übrigens können Chamäleons nach einem Zungenabriss noch sehr gut weiterleben. Beim Menschen weiß ich das gar nicht genau.

„Zum einen geht es um mehr als einen Heiland.“

Soweit kann ich folgen, wenn er damit die Leiche in meinem Zimmer 404 im Hotel von heute Morgen in meiner Badewanne … Oh, ich habe mich bewegt, autsch, das ist wirklich fies.

„Das Folgende bitte aufnehmen, wirken lassen. Dann: Abhängung. Meineidige knüpfen wir schon seit Jahrhunderten an der Zunge auf. Schwätzer auch. Passt. Nach dem Zuhören kurz bestätigen, dass man den Auftrag verstanden hat. Dann annehmen. Angekommen?“

Ich gebe mit zwei kleinen Piepslauten zu verstehen, dass ich meine Aufmerksamkeit voll und ganz auf ihn richte. Er macht keine Anstalten, mich herunterschnalzen zu lassen. Im Gegenteil. Es zieht sich. Nun beginnt er auch noch in einer Seelenruhe von der Suppe zu kosten und tatsächlich ein paar Stücke Hühnerfleisch herauszulöffeln. Toll, dass seine Suppe dabei nicht wie der Rest der Lokalität wie eingefroren stehenbleibt. Alles was er mit seiner Aufmerksamkeit bedenkt, scheint sich wieder in Bewegung zu setzen. Er wirft schnaufend die Sprossen mit dem Holzlöffel hinter sich, die auch gleich in der Luft stehen bleiben, dann fügt er etwas Chili-Öl und ein paar Spritzer Sojasauce dazu und isst ohne mich weiter anzusehen vor sich hin. Blöd komme ich mir vor. Ich schaue hoch, verdrehe meine Augen so gut es ohne Schmerzen geht in Richtung Fensterreihe und muss sehen, dass dort auch die Zeit stillzustehen scheint. Gut, das ist London, große Teile der Stadt bewegen sich in rasendem Stillstand. Aber das meine ich nicht. Niemand scheint sich zu rühren. Ich kann keinen einzigen Fuß vor dem Fenster auch nur einen Millimeter weiterschreiten sehen. Er vor seinem Suppentopf scheint der Einzige zu sein, der noch so etwas wie Muskelkontraktion erzeugen kann. Und wozu das alles? Für Suppe. Ich frage mich währenddessen, wie er es schaffen will, nach dem Hauptgang noch einen Tee zu bestellen. Jetzt nimmt er die letzte Einlage mit den Stäbchen von schräg unten in den Mund, schlurzt sie genussvoll und kaut sie mit aller Ruhe dieser Welt. Dann setzt er doch wieder an.

„Nicht lange her. 2000 Jahre. Heiland auf die Welt.“ Noch einmal wischt er sich den Mund ab. „Soll Erfahrungen sammeln. Stattdessen: vermehrt Wein, Fisch, Brot. Macht Stress in Israel, statt in Rom Revolution zu starten. Heilt Kranke, rennt über den See. Firlefanz. Der Lümmel endet am falschen Kreuz.“

Er nestelt sich einen Zahnstocher aus seiner Westentasche und pult in aller Seelenruhe ein bisschen Asiatisch aus seinen Zahnlücken. Wenn er so weiter macht, kann ich den Heimflug mit der BA um 19:05 heute nach Berlin (Ankunft 21.55 CET) wohl vergessen. Mit der Zunge werde ich 14 Tage nicht sprechen können, und dann muss ich mir von Pit, meinem Kumpel in Berlin, wieder schlechte Witze wie „Cunnilingus war einer der Heiligen Drei Könige?“ anhören. Aber Reden wird auch überbewertet.

„Er stirbt, Leihgrab eines Freundes. Leihgrab, blödes Volk. Jesus bleibt im Grab. Drei Tage lang, Jünger sind weg. Glauben alles. Muss also selbst da raus, Himmelfahrt, sofort. Nach Hause. Denkt aber nicht nach und knallt voll gegen Tuffsteindecke. Koma. Außen, die Engel, die den Stein wegrollen, sehen Bescherung, hihi.“

Hat er jetzt gelacht? Echt jetzt? „Und dann: Frauen. Zu früh am Leihgrab. Engel tun so, als wäre Jesus nicht da, verhüllen ihn in der Ecke. Wie die Kinder. Und diese Gänse verstehen kein Wort. Rennen einfach nur schreiend davon. Danach: Engel schaffen ihn erst einmal weg. Himmelfahrt geht nur mit klarem Kopf. Funktioniert schon gar nicht mit Koma. Das hat er aber, seit 1980 Jahren. Verdammte Kacke.“ „Mhhh? Au.“ „Apostel wissen von nichts. Petrus kapiert aber: einfach so tun als wäre nichts. Als auferstanden sehen. Seitdem gibt es Kirche. Engel? Tragen ihn fort und legen ihn ins Tote Meer. Erzengel Gabriel schafft ihn auf anderen Kontinent, baut bei Azteken eine Pyramide um ihn herum. Auffahrt soll durch sein, wenn ihr Kalender aufhört. Aber nix ist. Neue Helfer für den Herrn. Zuerst in den USA, dann hier in Europa. Geht öfters schon schief. Und jetzt Du da. Nicht ideal, aber muss sein. Kann nicht nochmal 2000 Jahre warten. Nur noch ein Zeitfenster. Der Auftrag also: Heiland an den heiligsten Ort dieser Welt bringen und ihn erwecken. Mit einer schallenden Ohrfeige. Klappt nur einmal, muss schallend sein. Und bitte: Ort ohne Dach. Und nicht weitererzählen.“

Das Lachen, das er folgen lässt, ist alles andere als angemessen. Finde ich. Auf jeden Fall möchte ich etwas sagen, möchte protestieren. Auch wenn es weh tut. Gerade als ich unter Aufbietung all meiner Kräfte schreien möchte, wird mir schummrig vor Augen. Und als ich wieder klar sehe und aufschaue, kommt meine Portion Ramen auf den Tisch. Ich blicke hoch und sehe in das Gesicht einer gelangweilt vor sich hin schlurfenden Servierkraft. Wieso jetzt erst oder noch einmal? Wieso hängen keine Sojasprossen in der Luft? Und wieso sitze ich jetzt alleine am Tisch? Ohne die elf anderen? Den Kerl scheint es auch nicht mehr zu geben! Das macht mir alles Angst, raus hier, ich will zahlen, ich esse hier nicht, hier kommen Wunder vor, das verdirbt mir den Appetit.

„Thie Rechnnn biffe.“

… Aua. Ob denn die Suppe zu heiß gewesen sei, will der Service wissen und schaut in meine wohl etwas geschwollene Mundinnenpartie. Sie überreicht mir die Quittung, ich schüttele freundlich den Kopf, sage aber lieber nichts mehr, presche zur Kasse, gebe noch ein kleines Trinkgeld und renne hinaus. Ich denke, ich sollte auschecken und schnell den Heimweg antreten. Ich denke, ich sollte das alles schnell vergessen. Ich denke wieder für mich, niemand verbietet mir das. Er ist weg. Es gibt ihn wahrscheinlich nicht. Und den anderen in der Badewanne schon gar nicht.

***

23.12., 12:35 Uhr

51,513945° -0,133896°

Der Portier findet mich nicht nett. Ich ihn auch nicht. Das wissen wir spätestens seit heute Morgen. Trotzdem gehe ich noch einmal an seinen Tresen und sehe ihm geduldig zu, wie er umständlich ein Menü nach dem anderen auf seinem PC zuzuklappen scheint. Sekundenlang. Dabei hebt er gerade einmal die rechte Augenbraue, aber nicht seinen Blick. Jedoch weiche ich nicht, er muss einfach mit mir sprechen, denn ich will etwas von ihm. Und nach ein paar endlosen Minuten sieht er das auch ein. Also schaut er auf.

„Ah, Sir, welch angenehme Überraschung. Gibt es da irgendetwas, das ich für Sie tun kann.“

„Ja, mein Lieber, würden fie ef ermöglichen, mir einen Mietwagen fu beforgen? Ich denke, ich möchte dief wunderbare Land nicht ohne eine wenig Landluft verlaffen.“

„Oh, in der Tat, jegliche Landluft ist gerade im Dezember unvergleichlich, das lässt sich einfach für Sie arrangieren, Sir. Wir werden in ein paar Minuten einen Wagen für Sie in der Tiefgarage bereitstellen.“

„Wufferbar.“

„Wie wäre es, wenn Sie einfach in Ihrem Zimmer darauf warteten, und wir rufen Sie an.“

„Vorffügliche Idee.“

„In der Tat, Sir, in der Tat, wir rufen Sie dann.“

„Ja, wufferbar.“

„So werden wir das tun.“

„Genau fo“.

„Ist etwas mit ihrer Zunge, Sir?“

„Nein, ich nehme an, … mein Akffent.“

„Oh, der wäre mir noch gar nicht aufgefallen, Sir.“

„Genau.“

„Absolut. Haben Sie einen schönen Tag, Sir.“

„Mit Wagen, wufferbar.“

„Definitiv, Sir. Wir rufen Sie an.“

Die Türe zum Fahrstuhl geht zu langsam auf, ich drücke die 4, drehe mich kurz bevor die Türe schließt, noch einmal um und lächle ihm aufmunternd zu. Aber scheinbar sind die Computermenüs allemal einen intensiveren Blick wert. Er würdigt mich nicht eines Blickes mehr und starrt nur auf den illuminierenden Schirm. Hoffentlich vergisst er meinen Wagen nicht. Ich brauche Auslauf. Linksverkehr in London wird mich entspannen. Die merkwürdige Szene im Restaurant macht es mir unmöglich, einfach so mit einem Taxi oder gar mit dem Schnellzug nach Heathrow zu fahren. Ich will einfach nur ein paar normale Staus über mich ergehen lassen, bis es Zeit wird, das Land mit all seinen Irrträumen bei Ramen und Sojasoße zu verlassen. Ich will fluchend mindestens einmal auf Höhe Hyde Park oder dann wenigstens auf der M4 kurz vor Cranfork Park einem zu nahe kommenden Sportwagen ausweichen. So etwas entspannt mich. Mit solchem Mut in mir gehe ich zu meiner Zimmertür, öffne sie mit meiner Karte, freue mich am grünen Lichtchen, das eine gültige Swipe Card – noch nicht ausgecheckt – signalisiert und öffne, um einzutreten. Er liegt mitten auf dem Teppichboden. Wie tot natürlich. Mitten im Zimmer. Schnell, die Tür von innen zu. Niemand steht im Gang und sieht etwas. Der treibt mich noch in den Wahnsinn. Es muss sich um einen Scherz handeln, das kann so alles nicht wahr sein! Über ihn gebückt verpasse ich ihm eine Ohrfeige. Eine schallende, vielleicht verlässt er damit ja gleich den heiligen britischen Boden. Fahr zur Hölle. Aber er setzt sich nicht in Bewegung. Noch eine Ohrfeige. Das muss doch weh tun! Nichts. Trotzdem könnte alles stimmen. Vielleicht ist er wirklich … Ich gehe ganz nah an ihn heran. Zumindest riecht er nicht nach tot. Seine Lippen sind aschfahl. Sein bärtiges Gesicht ist vollkommen entspannt. Und bei genauerer Betrachtung seiner Handrücken sehe ich Narben. Keine Ahnung, woran man einen Heiland erkennen würde, es steht ja nicht „Mary Mother’s Son“ auf seinen Rücken tätowiert. Oder „Jesus®“ auf den Fußsohlen. Da gibt es also nur sehr wenige Hinweise auf eine mögliche Gottschaft. Ich muss ihn, egal was er ist, als Leiche akzeptieren, aufnehmen und sofort verschwinden lassen. Fokussieren. Das ist gut. Wie abgehängt direkt nach einer Kreuzigung sieht er vielleicht nicht aus. Aber ein religiöser Spinner ist er sicher. Ich denke mir noch, wenn ich ihm jetzt die Schuhe ausziehe und die Socken, dann finde ich die Nagelspuren sicher auch an seinen Füßen. Nur um das Bild abzurunden. Eine Lösung ist deshalb noch lange nicht in Sicht. Da klopft es. Die wollen doch anrufen wegen des Wagens.

„Peter, wir müssen reden“, tönt es dumpf.

Das muss Linda sein. Gott, sie fehlt mir noch. So sehr ich gerade eine Aussprache schätzen könnte, vor allem über die Ereignisse seit Mitternacht, will ich mich doch nicht mit einer Leiche zu ihr an den Tisch setzen.

„Linda, ich kann jetft ni redn“.

Alleine diese Aussage ist schon so unlogisch, dass ich am besten meinen Mund halte. Obwohl sie auch wieder stimmt. Wenigstens kann ich wieder klarer artikulieren, auch wenn meine Zunge tut immer noch verdammt weh tut. Nie wieder Ramen, ich schwöre. Es klopft wieder, stärker, geradezu aggressiv, und mein Herz tut das jetzt auch. Ich packe den Mann an seinen malträtierten Händen und schleife ihn wieder dahin, wo er herkommt. In mein Badezimmer. Frauen gehen nicht auf fremde Hoteltoiletten. Hier ist der Mann ungestört. Jetzt kann die Tür aufgehen.

„Bist Du allein, Peter?“

„Wie man ef nimmt, der Herr ist mein Gefährte.“

Ich atme schwer beim Sprechen, der Kerl weist überraschend großes Gewicht auf.

„Hast Du etwa getrunken? Du klingst so komisch …“

„Nur Hühnerffuppe, ich schwöre, aua.“

Ich beruhige meinen Atem, ziehe zur Tarnung mein Hemd halb aus der Hose, öffne dann mit einem angedeuteten Gruß die Tür.

„Wir müssen reden, sofort.“

Natürlich signalisiere ich ihr Bereitschaft dazu. Ich bugsiere sie am besten aus dem Zimmer in die Lounge.

„Wie wäre ef mit einem schönen Aperitif in der Lounge?“

Aber das will sie nicht, da könnte sie ihr Chef sehen. Der sei ledig und könnte sich ja weiß Gott was denken. Ich könnte seit diesem Morgen Auskunft darüber geben, was und ob Gott denkt, aber das interessiert Linda vermutlich nicht. Linda lässt sich schwer auf mein Bett sacken und sagt, sie könne sich nach den wohl etwas ausufernden Getränken gestern Abend an nichts mehr erinnern. Ich schaue sie tief an.

„An gar nichtf?“

Sie nickt und seufzt. Zumindest klingt das ehrlich und ich habe das Gefühl, nicht mehr allein mit meinem Blackout zu sein. Es müssen irgendwelche Drogen von Josh und Rita mit im Spiel sein. Alkohol alleine kann so etwas nicht anrichten. Sie sitzt irgendwie abwartend auf meinem Bett. Das ist sehr nahe. Aber vergebens, wenn das jetzt wirklich ihre Absicht sein sollte. Was ich aber nicht glaube. Ich bin kein Schwerenöter, auch kein Kostverächter, aber Linda löst nur Fluchtinstinkte in mir aus. Und sie versinkt derweil immer mehr in ihrer Nichterinnerung und ist den Tränen nahe. Um Himmels Willen, wenn sie weint, dann will sie vielleicht ins Bad.

„Weine nicht, Linda. Ef war sicher alles ganz harmlos. Du mufft wiffen, ich bin im Aufzug aufgewacht. Im Fitzen, aua.“

„Im … was?“

„Im Fitzen. H-o-c-k-e. Angetfogen.“

Linda schaut auf und prustet, schon besser. Ob ich, im Aufzug, im Sitzen, wie denn, was die Oberschenkel, Muskelkater, dann hieße das, dass wir nicht …

„Nein, Linda, wir haben nicht.“

Sie wirkt enttäuscht, aber wir sagen uns sofort, uns falle beiden ein Stein vom Herzen. Und dann schaut Linda wieder so ernst. Es wird Zeit für die versöhnliche Umarmung unter Erwachsenen. Linda packt bei solchen Gelegenheiten immer sehr stark zu. Sie kann ja vielleicht Liebhaber haben, die meisten dürften aber die finale Umarmung nicht überleben. Und ich knie zögerlich zu den ausgebreiteten Armen hin. Als die mich umschließen, muss ich kurz an die Erzählungen meines soldatisch geprägten Onkels vom Kessel in Omsk denken, aber das tut jetzt nichts zu Sache. Vor allem, weil er nur so tut als wäre er selbst dabei gewesen. Dann wäre er ja jetzt schon 100. Dabei ist er gerade einmal über die 70 gekrabbelt. Viel schlimmer ist, dass die Umarmung von Linda eine Sekunde zu lange dauert. Zwei Sekunden zu lange. Ich nehme mir vor, bei zehn Sekunden „jetzt ist es genug, Linda“ zu flüstern. Acht … neun … Es klopft. Himmel, die Leiche wird doch nicht aufgewacht sein, sich im Badezimmer desorientieren und nun gleich ins Zimmer stürzen? Aber nein, es klopft an der Tür zum Gang. Professionell vorsichtig. Linda zuckt zurück, immerhin. Dann klopft es noch einmal, und plötzlich höre ich das Durchziehen einer Karte und ich sehe einen Türspalt. Es ist mein Lieblingsportier.

„Ouh, das ist mir wirklich unglaublich peinlich, Sir.“ Für meine Antwort lasse ich mir ein wenig Genusszeit übrig. Nach einer hochgezogenen Augenbraue tropft es von meinen Lippen: „Oh, keine Sorge. Linda und ich haben uns nur zugesprochen, ich meine, unterhalten.“ „Ganz zweifellos, Sir.“ „Ja, nicht.“ Die Unterhaltung stockt etwas, für solche Fälle ist es gut, eine Dame im Raum zu haben, die das Wort ergreift. „Um was handelt es sich denn?“

Linda hat – wenn sie will – diesen Margaret Thatcher Ton in ihren Stimmbändern, bei denen nicht nur britische Staatsbürger feuchte Schuhsohlen bekommen. Und tatsächlich: Die Stimmung kippt ins Servile. Er wolle nur Bescheid geben, dass der Leihwagen nun in der Tiefgarage bereitstehe und man gerne wissen wolle, auf welchen Namen man die Rechnung des Zimmers denn buchen solle, inklusive des eher unbedeutenden Betrages, der durch den Late Check-out entstanden sei. Linda meint kühl, das sei doch klar (wieder dieser Ton), worauf der ihr nur beipflichten kann und das gerne auf das Firmenkonto schreibe. Linda merkt an, dass man die üblichen Rabatte erwarte, vor allem vor Weihnachten, und dass ein Leihwagen für langjährige Kunden wohl erwartungsgemäß auf das Haus gehe. Das versichert ihr Gegenüber spontan und herzlich. Ist mir nur so, oder sehe ich ein kleines Zucken an den Fingern seiner linken Hand? Aber das Lächeln sitzt. Ein Profi durch und durch. Außerdem wolle er noch wissen, ob denn sonst alles in Ordnung sei. Die Luft steht ein wenig nach dieser eher beiläufigen Frage. Aber wir alle drei nicken uns freundlich zu, es sei alles in bester Ordnung.

„Wie sagen wir Deutschen immer: Alles wunderbar, so sauber, da könnte man sogar vom Boden des Baderaums essen.“

Allerdings scheint sich nach dieser Bemerkung der Krampf seiner linken Hand zu verstärken. Er bietet mir an, genau diesen zusammen zu inspizieren, falls hier etwas zu beanstanden wäre. Um Himmels Willen …

Nein, nein, das sei doch gar nicht nötig, die Badezimmer seien doch das Glanzstück dieses Hotels.

„Verschwinden Sie endlich.“ Allerhand, Linda rettet.

Dann sei ja alles in Ordnung. Das zerschellt an ihrer kalten Schulter und er geht mit einer leichten Verbeugung in Richtung Gang, dreht sich noch einmal zu mir, um mir eine gute Reise zu wünschen, und nur zur Sicherheit, der Leihwagen stehe bereit, hier seien die Schlüssel. Er kommt noch einmal zu mir und sticht mir freundlich mit dem Schlüsselbart in meine aufgehaltene Hand. Ich will einfach nur heim ins sichere Berlin. Ohne weitere Zungenspiele. Die Tür schließt sich. Mein Versammlungsproblem wird wieder kleiner … denn wo drei sich in meinem Namen versammeln … Bitte jetzt nicht. Aus den Tiefen meiner Kindheit kommen Erinnerungen an Sonntagsmessen hoch. Als wir wieder allein sind, nickt mir Linda noch einmal zu und wünscht mir frohe Weihnachten. Ich ihr auch, aber auf Distanz. Vorsorglich habe ich dafür das kleine Teetischchen zwischen sie und mich gebracht. Für weitere Umarmungen können wir uns ja im nächsten Kalenderjahr wieder Zeit nehmen. Die Umrundung des Möbels will ihr nicht ohne Aufgabe einer gewissen Beiläufigkeit gelingen, deshalb sehe ich sie innerlich zum nächsten Tagesordnungspunkt übergehen. Sie drückt mir über das Möbel hinweg noch einmal die Hand, zerbricht mir dabei mit ihrer Herzlichkeit gefühlt drei Finger und geht ebenfalls zur Tür. Auf halbem Wege bleibt sie stehen und meint beiläufig:

„Ach, dürfte ich noch einmal Deine Toilette benutzen?“

Ich schlucke.

„Ah, nein, weißt Du, die ist bereits in der Endreinigung gewesen, eigentlich habe ich ja schon ausgecheckt.“

Das ist die blödeste Ausrede, die mir einfällt, aber sie überzeugt. Linda nickt, dreht sich um und geht ab, schüttelt dann noch einmal den Kopf, dreht ihn wieder um, schaut in meine Augen, schüttelt noch einmal den Kopf, ohne auch nur stehenzubleiben. Die Zimmertüre schließt leise und ich stehe da wie eine Schachfigur im Gegenlicht, falle dann nach weiteren drei Sekunden des Lächelns nach hinten auf das Bett. Jesus lebt nicht. Also nicht in meiner Fantasie. Oder irgendwie doch. Tot und noch da seit zwei Jahrtausenden. Selbst er haut sich den Kopf an. Das soll ich also glauben. Ich soll glauben, dass ein Leihgrab ausreichen soll, die Erlösung der Welt etwa 1980 Jahre lang und mehr aufzuhalten. Bis ich komme. Das klingt gut. Ich, Peter aus Berlin, aufgewachsen im Allgäu und jeder Tabellenkalkulation auf Gottes Erdenrund mächtig, der ich mich von einem Schreibtisch einer Human Ressource Abteilung erheben, den Heiland über die Schulter nehmen und an den heiligsten Ort der Welt gehen werde. Damit er auffahre in den Himmel und sein Werk vollbringe. Das muss wirklich eine Stressvision sein, das glaube ich mir ja nicht einmal selbst. Noch einmal schaue ich ins Badezimmer. Mist. Eine ganz reale Leiche habe ich am Hacken, nur der Rest ist Einbildung. Vielleicht ist der saubere Tote in meinem Badezimmer einfach die Rache von 30 Prozent Führungskader, die einen Sündenbock für ihren Abgang brauchen, die einen anderen Berater umbringen, um ihn mir in die Schuhe zu schieben. Und ich gehe damit bei der Polizei hops. Wenn ich die Leiche nicht bald loswerde, bin ich erledigt. Jesus muss weg. Schnell, ohne Nachdenken. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo ich diesen Kerl abladen soll, bevor ich in Heathrow zum Terminal fahre. Am Piccadilly Circus werde ich ja wohl kaum mit einem lauten „Raus, Du mieser Junkie“ die Türe aufreißen und ihn hinausbugsieren können. Obwohl … Nein. Unter meiner Tür schiebt sich ein Kuvert zentimeterweise ins Zimmer. So schnell sind die hier? Nun gut, dann hebe ich den Ausdruck eben noch schnell auf. Da steht in feiner Handschrift „Fröhliche Weihnachten“. Das muss von Linda sein. Als ich den Umschlag aufreiße, fallen etwa 30 Blätter seidiges Papier voll nervöser Handschrift heraus. Das kann nichts Gutes bedeuten. Ich schnappe aus den Elaboraten Signalwörter der höchsten Alarmstufe auf. „Nähe“ steht da und „Wahrheit“. Ich muss Linda das nächste Mal dringend eine Geschichte von einem religiösen Gelübde erzählen. Und ich muss einen Mann für sie finden. Dringend. Aber jetzt muss ich erst einmal in einen Flieger. Allein, ohne Handschellen. Ich öffne die Tür zum Badezimmer. Da liegt er immer noch. Wenigstens halbwegs geordnet, aber schlecht angezogen. Ich habe eine Idee.

***

23.12., 13:15 Uhr

51,513945° -0,133896°