Norbert - Harald Taglinger - E-Book

Norbert E-Book

Harald Taglinger

0,0

Beschreibung

Norbert hat Glück. Je mehr er Linda Schaden zufügen will, desto wunderbarer wuchern seine Pflanzen die ganze Schweiz zu und streuen Glück über das Land. Alle freuen sich darüber, nur Norbert braucht länger. Märchen. Love Story. Satire. Zweiter Band der Glückstrilogie, nach ICKE.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 229

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Tochter Aurora und ihre drei Kakteen.

Inhaltsverzeichnis

I.

Zu guter Letzt Reichenbachfälle

Fast eine Kündigung Im HR Büro, vorher

Yukka Trennung Walliser Kanne, vorherer

Homeoffice Birmensdorferstrasse

Das Date Walliser Kanne

II.

Der Tag darauf Gemeinschaftsraum

Ein mörderischer Plan Bei Lutz, Tage später

Lindas Erweckung Im Büro

Hügelgespräche Üetliberg

Was weiter geschah NESSER AG & Terrorabwehr

Schlingpflanzen Im Büro

III.

Ein teuflischer Plan Wieder im Call

Molotow-Cocktail Birmensdorferstrasse

Woge des Glücks Kantine Büro

Wonnerasen Bern

Reisstaub Vor und im Weissen Haus

Auf dem Weg Nach Meiringen

Showdown Reichenbachfälle

Eine Anmerkung

Als sie am nächsten Morgen wieder an dem Feigenbaum vorbeikamen, sahen sie, dass er bis zu den Wurzeln verdorrt war. Da erinnerte sich Petrus und rief: "Rabbi, sieh nur, der Feigenbaum, den du verflucht hast, ist verdorrt!" Jesus sagte zu ihnen: "Ihr müsst Vertrauen haben! Ich versichere euch: Wenn jemand zu diesem Berg hier sagt: 'Heb dich hoch und stürz dich ins Meer!' und dabei keinen Zweifel in seinem Herzen hat, sondern fest darauf vertraut, dass geschieht, was er sagt, dann wird es geschehen."

Markus 11:20-24

Zu guter Letzt

Was für ein Glück. An diesem herrlich sonnigen Frühsommermorgen war nicht eine Wolke zu sehen. Überall im Tal wuchs lindgrünes Laub, nur noch wenig Schnee klebte am Sustenpass auf den Berggipfeln. Lutz hingegen zappelte mitten im Felssturz, neben der siebten und größten Kaskade des Reichenbachfalls. Schmelzwasser donnerte kalt neben ihm herunter und nässte ihm dabei den Rücken ein. Es war so unbändig laut, dass Norbert und Linda, die über ihm Kauernden, sich kaum bemerkbar machen konnten. Glücklicherweise hatten sie ihn rechtzeitig erreicht. Lutz schaute zu den beiden hoch, die ihm freundlich bestimmt die Arme als Halt hinstreckten. Vor Betriebsstart der Standseilbahn aus Meiringen waren sie zuschauerlos ganz mit sich beschäftigt. Linda, die die nasse Kälte durch ihr Naturfaserkleid spürte, und unschlüssig war, ob es nicht besser gewesen wäre, Lutz mit einem Seil abzupassen.

Norbert, der jetzt an sein Seil im Wandschrank denken musste. Aber das war zum Glück eine andere Geschichte. Und Lutz, der sein offensichtliches Verderben in der Flucht und in einem vielleicht nun übel ausgehenden Stunt suchte, der sich an ein langsam reißendes Bündel Amazonasgras und einen glitschigen Kalkfelsen klammerte.

Bald würde er loslassen und vor den Augen der anderen in sein restloses Unglück stürzen. Das wollte er auch. Gerade weil um ihn herum die pure Freude entstand. Landesweit, eigentlich weltweit.

Norbert schien der Reichenbachfall für ein melodramatisches Ende zwar gut ausgewählt zu sein, aber eine übergewichtige und sonst eher als ängstlich zu bezeichnende Programmierfachkraft wie Lutz war für solch einen Akt der heroischen Selbsttötung einfach nicht geschaffen.

„Lutz, lass den Scheiß.“

„Nein.“

„Komm, wir gehen heim. Ist doch nass hier.“

Lutz starrte trotzig und mit aller Anstrengung nach oben, ließ als Zeichen seines Ungehorsams kurz sogar das Grasbüschel in der Linken los, hob die Hand, klammerte sich aber rasch nach einem Aufschrei von Linda wieder fest. Dabei verlor er einen seiner Haltepunkte. Unendlich lange starrte er dem Stein nach, wie der in den Wassermassen verschwand. Erst dann griff sein einschwingender Schuh in die entstandene Mulde. Das zuerst noch hilflos strampelnde Bein kam wieder zur Ruhe. So etwas, das konnte man am Gesicht von Linda ablesen, sollte er wohl nicht zu häufig machen.

„Lutz, es ist doch nicht so schlimm, dass du die Welt komplett vergiften wolltest.“

„Genau, Lutz, lass dir das von einer lieben Freundin gesagt sein. So etwas wollen wir doch alle einmal. Ich hatte das damals mit dem Papst auch vor.“

„Aber ihr … ihr kriegt das eben nicht hin!“

„Stimmt auch wieder. Lieber Freund, gib uns deine Hand, wir ziehen dich hoch und reden … miteinander, oder so.“

„Genug gelabert! Verschwindet!“

„Lutz, du bist mein einziger Freund, du machst dich noch tot.“

Norbert war nur dieses eine Argument eingefallen. Zugegebenermaßen eine eher magere Ausbeute für einen Kommunikationsexperten seines Kalibers. Er und Linda machten sich wirklich Sorgen über die ihrer Meinung nach zu impulsive Reaktion ihres Freundes. Zumal Lutz sichtlich die Kräfte verließen.

„Genug. Genug!“

Oh Schreck, er ließ tatsächlich los und flog seitlich geneigt die überhängende Wand hinunter, schrie verzweifelt auf und verlor sich im lärmenden Wasser. Dann schien eine endlose Sekunde in dieser unverschämten Morgensonne zu vergehen. Deren Licht erinnerte an Postkarten mit kitschiger Vorderseite. Solche, die man gelangweilt und trotzdem „Mit lieben Grüßen aus dem Urlaub“ schrieb. Es war jetzt ganz still.

Moment.

Nein.

Jetzt fällt dieser Lutz einfach herunter. Aber so soll die Geschichte doch gar nicht enden, so hat sie keinen Sinn und die ganze Mühe mit all dem Glück auf der Welt war umsonst. Das mit Linda und Norbert, das mit den neuartigen Pflanzen und der Rettung der Welt, das mit Green Terror auf der einen, und Gulasch auf der anderen Seite. Es ist zum Bäume wachsen lassen. Alles war so schön angelegt, und dann terrorisiert dieser Lutz uns mit seinem Schluss. Gut, wenn das einer macht, dann er, wo er doch ständig gegen alles Gute steht. Mit seiner Begabung für genau den falschen Handgriff zur richtigen Zeit. Einfach ist es nicht mit ihm, schon gar nicht, wenn er zu Tode kommt. Aber so läuft das nicht. Jetzt hole ich mir am besten erst einmal einen Kaffee, und dann beginne ich die Geschichte von vorne. Ja, so mache ich das.

Wenn man nicht alles selbst erzählt, wird das nichts.

Fast eine Kündigung

„Das ist eine tolle Chance für Sie, Norbert. Endlich können Sie Ihr Glück voll entwickeln. Voll geil, oder? “

Der, seiner Personalleiterin Jana auf einem leicht nach hinten kippenden Besucherstuhl gegenübersitzend und seine Hände auf dem Resopaltisch brokkolikopfgroß zu einem festverschlossenen Rund ineinander verkrampft, sah auf seinen rachitisch gekrümmten Fingerknoten und nickte verschlossen. Als Human Resources Spitzenkraft, die ihn unentwegt anblickte und nach diesem Satz schwieg, rückte Jana seine Personalakte sachte herum und ließ ihm Zeit. Sie lächelte, fühlte sich wohl, würde ihn vielleicht ein andermal vernaschen. Alles war gut soweit. Es konnte ja nicht so schwer sein, ihm die Augen für seine fabelhafte Situation zu öffnen. Es würde vielleicht nur ein wenig länger dauern. Wie er so da saß, vertiefte sie sich besser in einer Endlosschleife darin, die Akte noch genauer zur Seite und exakt im rechten Winkel zur Tischkante zu rücken. So wie das Felsenbad zu Vrin damals mit Peter einfach perfekt war. Göttlich sozusagen. Aber das ist eine andere Geschichte. Norbert war nicht Peter, auch wenn er in seiner Hilflosigkeit ein wenig an ihn erinnerte. Und ersterer hatte sich immerhin unter dem Petersdom auch neu ausgerichtet. Aber eben - andere Geschichte. Norbert richtete im Hier und Jetzt seinen Blick auf den vertrockneten Zimmerkaktus mit einer feinen Staubschicht darauf, die Schweizer Kaffeemaschine (selbstreinigend) auf einer Anrichte daneben in Stand-by, die Zimmerwand dahinter schimmerte matt eierschalenfarbig. Daran hing ein halbformatig eingerahmtes Aquarell mit dem Titel „Üetliberg im Morgendunst“ und langweilte. Es gab hier einfach keine Blickfänge. Norbert zog auch nicht unbedingt alle Augen auf sich. Wäre man ihm an diesem Tag unter der Stahlhaube des Hauptbahnhofs Zürich begegnet, wäre sein Gesicht nicht aufgefallen.

So unendlich oft hatte man eines wie seines schon gesehen. Mit diesem kurz gehaltenen Standardhaarschnitt, dem halbedlen Brillengestell in Mattgrau, der farbentfernten Bürokleidung. Unter dem etwas zu gerade fallenden Trenchcoat kauerte ein Anzug von der Stange, den ein ungemustertes Hemd komplettierte. Ähnlich fahlfarbene Socken rundeten das Kleidungsensemble ab und ließen die Langeweile des Anblicks nachhaltiger werden. Schuhe, wie er sie gerne trug, konnte man zu Dutzenden für 89.- CHF in jedem beliebigen Ladenregal finden. Mit alledem memorierte man kaum mehr als kontinuierliche Langeweile. Ein an seinem rechten Armgelenk lose sitzender Schweizer Billigchronometer festigte den Eindruck einer perfekten Mittelmäßigkeit. Man hätte versucht sein können, diesen Aufzug im Büro eine Uniform zu nennen, wenn Norbert nicht bar aller Abzeichen gewesen wäre. An Gleis 16 des Hauptbahnhofs Zürich entlang schlendernd hatte er an diesem Tag wie stets ein Laugengipfeli in der Tüte erstanden. Eines ohne Sesam. Ein normiertes „z’Nüni", das er täglich exakt um 09:15 Uhr zu seinem Espresso im Etagencafé des Bürokomplexes ass. Was er jedoch heute unterließ, nachdem er die handgeschriebene Notiz, er möge sich doch rasch im Zimmer 302 einfinden, gesehen hatte.

Da saß er nun in seinem Mattgrau mit dem Nichtmuster an Hemd und den kaum eingefärbten Socken in Billigschuhen, starrte am aquarellierten Üetliberg vorbei auf die Eierschalenfarbe der Wand und schien die immer noch aktenrückende Personalleiterin Jana schon fast nicht mehr wahrzunehmen. Ihr wiederum wurde die lange Stille spürbar langweilig, und das veranlasste sie, das Gespräch nun positiv in Gang zu bringen.

„Norbert, Homeoffice und Social Media sind heute Cutting Edge. Das ist fantastisch. Eine große Chance für Sie, Norbert. Das Unternehmen weiß schon, warum Sie der Richtige dafür sind. Ganz vorne stehen Sie damit.

Ganz vorne … Norbert. Sie sind doch ein knuffiger Süssstengel, und dann noch so ein Job. Echt. Toll.“

Ein Summen unter dem Resopaltisch ließ den so Angesprochenen zusammenzucken Sein Handy in der Hosentasche empfing eine SMS.

Vermutlich vom Mami. Seit er nicht mehr bei ihr wohnte, sondern nach dieser Übergangszeit in eine neue Wohnung gezogen war, kannte ihre Echtzeitsorge um ihn wenige Funkpausen. Das Mami hatte ihn nach der Scheidung von Sieglinde liebevoll wieder aufgenommen. Im alten Kinderzimmer. Er sortierte erfolgreich seine Spielsachen von 1990 aus und passte seine mattgrauen Anzüge in den etwas zu niedrigen Schrank ein. Aber nach ihrem unentwegten Wehklagen über das Scheitern von Norberts und Sieglindes Ehe, nach eher komplizierten Gesprächen mit dem Mami über seine weitere Lebensgestaltung als „doch eigentlich erwachsener Mann, berufstätig, mit Makel“, beschloss er, ihrer beider Wege rasch wieder zu entflechten. Leicht fiel es ihm nicht, sich heimlich bei einer Wohnungsgenossenschaft einzumieten. Das Mami hatte für das Wochenende zwei von Norberts Lieblingsgulaschen angekündigt, war aber doch etwas konsterniert über die kurzfristige Mitteilung des Umzugs. Unter Hinweis auf ausreichende Sättigung komplimentierte er sie tags darauf mitsamt ihren mitgebrachten Plastikschüsseln zur Neuwohnungstüre hinaus. Seitdem riss der Strom an SMS nicht ab. Fast schien es ihm, als ob das Mami viele von ihnen nachts vortextete, um sie dann in einem digitalen Platzregen auf ihn niederprasseln zu lassen.

Eines von denen hielt ihn jetzt davon ab, der Personalabteilung in Person von Jana sofort zu antworten. Norbert zuckte nur nervös, hob die Schultern wie entschuldigend und ließ sie sachte absacken, ohne auch nur eine Sekunde die Verschränkung seiner Finger zu lösen. Jana fand das insgeheim süß und beinahe kopuliereinladend. Das entging Norbert, er war mit der Arbeitsplatzsituation als Ganzes und den Rufen aus heimischer Gulaschproduktion schon mehr als überfordert. Was sollte er auch dazu sagen, als Pressesprecher Deutschschweiz der NESSER AG, einem der etabliertesten Health Food Hersteller im Schweizer Markt, weggelobt und auf ein Social-Media-Abstellgleis manövriert zu werden. Klar, Jana sah das anders, aber Norbert war nicht wohl dabei. Ende des vergangenen Jahrhunderts wurde man schnell zum Corporate Communications Profi, wenn man eigentlich „etwas mit Medien“ machen wollte, aber nicht wirklich den Mund aufbrachte.

Zumindest konnte er schon damals „Glukose“ tadellos buchstabieren.

Also stellte man Norbert an und entwickelte ihn dann nicht weiter. Bis man sich in der Vorstandsetage nun für den sanften Weg entschied und Norbert dorthin umzupflanzen gedachte, wo es wilder herging. Wo der Pfeffer twittert, dachte Norbert hingegen. Social Media, so glaubte man in Zusammenarbeit mit Janas makellosen Engelsaugen vermitteln zu können, würde eher seinem latenten Vokabelmangel entsprechen. Das stand so wörtlich im Vorstandssitzungsprotokoll. Auch die vielversprechende Neubesetzung der dadurch vakanten Stelle – aber das wollte man Norbert heute noch nicht mitteilen. Jetzt stand erst einmal er im Fokus und das sollte ihn eigentlich freuen.

„Ich bin gerade umgezogen. Triemli.“

Aha, Norbert konnte sprechen, und seine Personalbetreuerin, ehemals Headhunterin der ganz besonderen Sorte, blickte angenehm überrascht in seine auf sie gerichteten Augen. zugegebenermaßen waren das freundliche und nicht unattraktive Blicke, die sie dort fand, wo man bei Norbert eigentlich einen festgewachsenen Efeu vermutete. Umgekehrt traf ihn ihr freundliches Lächeln wie ein Schock. Nach der Scheidung konnte er immer noch sehr überrascht sein, freundliche Frauen zu treffen. Sieglinde war so unglaublich kalt gewesen. Das hier tat angenehm gut, wenn es ihn auch vollkommen neutralisierte. Jana sah ein wenig wie das Mami aus, das gerade wieder eine SMS an Norberts Oberschenkel geschickt hatte. Beides irritierte ihn.

„Norbert, das freut mich für Sie. Da soll es ja sehr schön sein.“

„Ja, ich meine, ich b-bin glücklich dort.“

„Dann haben Sie ja optimale Bedingungen, um Ihr Homeoffice aus der Taufe zu heben. Im eigenen Heim.“

„Genossen. Schaft.“

„Bitte?“

„Es ist eine Genossenschaftswohnung. 2.5 Zimmer. Neubau.“

„Super, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich für Sie freue.“

„Es ist das Triemli.“

Die Unterhaltung erstarb wieder. Erst jetzt fiel ihm auf, dass das Aquarell an der eierfarbenen Kaffeemaschinenwand nicht mehr und nicht weniger als seinen Blick aus dem Fenster am Klinikum Triemli vorbei zum Berggipfel zeigte; inklusive Gipfelaussichtsturm. Ob die Personalabteilung subtil genug war, die Bilder vor jedem Gespräch zu individualisieren? Nein, das käme das Unternehmen zu teuer. Norbert sah zögerlich zu Jana, ließ seinen Blick vorsichtshalber zwischen ihrem rechten Ohrläppchen und dem nicht allzu züchtigen Ausschnitt ruhen, was sie zu bemerken aber nicht zu irritieren schien. Aber noch bevor er zu einer Frage in etwas zu verdrilltem Satzbau ansetzen konnte, nahm er ihr sachtes und freundliches Kopfnicken wahr.

„Wie geil ist das denn. Ihr Handy summt ja kontinuierlich, seit wir hier sitzen, Norbert. Sie haben sicher einen großen Freundeskreis. Da ist Social Media genau das Richtige für Sie. Nicht?“

„Nicht.“

„Eben, Norbert. Freuen Sie sich doch mit mir. Sie können schon zum nächsten Ersten in Ihrer neuen Kaderfunktion anfangen. Hoppla, gerade sehe ich: der ist ja heute. Gratulation, Norbert. Super.“

„Ja…na… Frau Jana … ich …“ „Wissen Sie was, wollen Sie noch einen Kaffee? Sie schauen ja schon die ganze Zeit auf die Maschine, und ich war so unfreundlich, Ihnen nicht einmal eine Tasse anzubieten, Norbert.“

„Ja...“

„Ja, Tasse?“

„Äh.“

„Super, Norbert, lassen Sie sich doch erst einmal einen schönen Espresso im Firmencafé schmecken und freuen Sie sich auf die neue Herausforderung. Ich mache die Unterlagen für den heutigen Wechsel fertig und bringe sie dann nachher bei Ihnen am Platz vorbei. Ach sowas, da habe ich sie ja schon in der Akte vorliegen.“

Damit sprang sie auf, reichte ihm rasch drei Blätter auf grünem Papier und öffnete eine Schublade im Halbschrank neben ihrem Schreibtisch, nestelte dort einen Espresso Gutschein aus der mit „Fälle“ etikettierten Box. Norbert schnellte ebenfalls auf, um die bunte Karte mit einem eingekreisten „E“ in Empfang zu nehmen und sich zu verabschieden.

Während er leise die Türe hinter sich schloss, blieb Jana noch eine Weile im Modus eines Stand-by-Lächelns stehen und sah ihm nach. Als die Türe endgültig geschlossen schien, schritt sie kopfschüttelnd zum Gießkännchen am Fenster, fixierte beherzt den Kaktus, schüttelte noch einmal deutlicher ihren Kopf und stellte das Kännchen zurück. Es war ja nicht einmal mit Wasser gefüllt. Dann schaute sie noch eine Weile zum Fenster hinaus. Merkwürdig, wie sehr Männer mittleren Alters gerade in ruhigen Phasen ihres Lebens positive Impulse ihres Unternehmens ignorierten. Jana hatte sich wirklich für Norbert eingesetzt, um ihm diesen Traumjob zu ermöglichen. Jetzt nach der Scheidung konnte er doch etwas Neues in seinem Leben brauchen. Von Grund auf neu aufbauen. Das wollte sie ihm klar machen, aber irgendwie war ihr fast, als konnte Norbert sein Glück nicht fassen. Buchstäblich. Und dass Linda in sein Leben treten würde, die auch Peter in Rom letztendlich Glück gebracht hatte, das konnte Norbert ja noch nicht einmal ahnen.

Das war gerade Jana klar. Sie selbst hatte nach ihrer Ansiedlung in der Schweiz Linda ins Spiel gebracht. Ihr würde es bei den Eidgenossen sicher gefallen. Die vögelten ja alle gut. Und tierlieb waren sie auch.

Jana war nach einer gesegneten Line Koks. Espresso nahmen ja nur Anfänger. Die Welt war schön und voller Schnee, wenn man sich nur ein wenig umsah. Vor allem in der Schweiz.

Yukka Trennung

Was sie denn damit sagen wolle, dass „es“ aus sei. Lustlos liess Norbert sein bis eben noch käseloses Stück Brot in einer asymmetrischen Achterfigur durch das langsam von unten ankrustende Walliser Chäsfondue für zwei Personen kreisen. Sieglinde saß ihm im Fonduerestaurant am Hauptbahnhof Zürich gegenüber und mümmelte schon seit einer gefühlten Viertelstunde allerhöchstens an einer der Silberzwiebeln „à discretion“. Schweigend verharrte sie und hatte irgendwann nicht einmal mehr zu nicken versucht, wenn Norbert wieder in die beklemmende Stille hinein eine der wenigen neuen Geschichten aus seinem Berufsalltag vor sich hin brabbelte. Die konnten mit den ihren nicht im Mindesten mithalten, aber die erzählte ihm Sieglinde nicht. Darauf hatte sie einen Eid geschworen. Und Norbert von ihrer Geheimdienstposition zu erzählen hätte sie auch gelangweilt. Also schwieg sie doppelt. Von sich und ihm gegenüber. Vor allem bei seinem Alltagskram. Wie irritierend für ihn, denn beim Mami waren das vorher todsichere Lacher gewesen. Aber Sieglinde blieb ernst, er leitete daher zwischen den Dämpfen von Moité-Moité und etwas zu säurehaltigem Weißwein hektisch weiter. Aufforderungen wie „nun sag doch auch mal etwas“ waren in ihrer bald sechsjährigen Ehe nicht nötig. Wenn jemand die monologische Oberhoheit beanspruchte, dann war das bisher immer seine Gattin. Und dieses Recht auf das erste, mittlere und letzte Wort konnte man ihr so gut wie nie aus der Hand, oder besser gesagt, dem Mund nehmen. Wenn es um ihn als „Versager“ oder „mieseste Wahl ihres Lebens“ ging. Nur heute, an diesem Feierabend, wo doch sie überraschend per SMS die „Walliser Kanne“ in der Nähe seines Büros vorgeschlagen hatte, „um zu reden“, wollte keine ihrer gewohnten Suaden ertönen. Diese Stille war zäh wie ein abkühlendes Chäsfondue. Jetzt wäre er doch gerne mit dem Mami hier gesessen. Sieglinde schien keinen Appetit zu haben. Auf nichts außer Flüssiges. Die Kartoffeln hatte sie ganz gegen ihre Gewohnheit nicht einmal angerührt, das Brot nur gekostet und im Alleingang fast schon die ganze Flasche Petite Arvine zu 58.- CHF geleert, was zugegebenermaßen nicht so ungewöhnlich war. Norbert selbst war kein großer Trinker, eigentlich auch kein riesiger Esser, aber zumindest, um eine gewisse Asymmetrie am Tisch abzubauen, hatte er sich bereits das Gros des Käses einverleibt. Ihm war bereits ein wenig beklommen, und das verdichtete sich sekündlich zu einem mulmigen Gefühl. In den letzten Minuten vor diesem Satz, der nicht nur den Abend beenden sollte, hatte sie ihn eigentlich nur unentwegt angesehen und darauf gewartet, dass Norbert endlich seinen Mund hielt, um in der darauf einsetzenden Stille der anstehenden Trennung eine gewisse Schwere und Würde zu geben.

Was hieß hier eigentlich Stille? Im Lokal schallten die Unterhaltungen von viel zu vielen Gästen. Der reservierte Tisch lag unglücklicherweise ziemlich genau umlagert von einem Dutzend Fondues, die dampfend einen Geruch nach Männersocke und Schwefel verbreiteten. Dagegen lärmten offenbar alle Gäste an. Als ob man mit Geschrei einen noch so abartigen Gestank vertreiben konnte, der sich in den müde herunterhängenden Blättern der kaum gruppierten Yukkapalmen verfangen hatte. Vor allem die älteren Exemplare der Restaurantbotanik boten einen so trostlosen Anblick, dass man unwillkürlich an gefesselte und schon leicht angemoderte Opfer einer Folter mit heißem Fondue denken wollte. Nur die Frischeren, vielleicht erst seit ein paar Tagen aus dem Großmarkt herangekarrt und nun wild entschlossen, sich vom Inneren ihres Stammes aus bis an die Blattspitzen aufzubäumen, leisteten mit einem ins prallgrün gehenden Trotz Widerstand.

Zu allem Überfluss kam immer dann, wenn schon fast so etwas wie eine richtige Stille am Tisch herrschte, diese blonde Brachialbedienung heran und wollte wissen, ob die Kartoffeln recht seien, man noch Brot bringen solle oder es sogar noch eine Flasche Petite Arvine sein dürfe.

Schon weil Sieglinde mit einem fast überlauten „Mein Mann trinkt nicht und hasst Kartoffeln, bei mir ist das genau verkehrt herum“ und einem Gesicht im Adäquat zu drei Tonnen überwürzten Essiggurken das strohige Blondinchen vergraulte, hätte daraus fast noch ein netter Abend werden können. Jedenfalls brach Norbert bei diesem Ausspruch seiner Noch-Gattin so lange in die Andeutung eines Lachens aus, bis er sich vergegenwärtigte, dass er der Einzige mit dieser Regung am Tisch war. Also schwieg er endlich, woraufhin sie die kaum genutzte Fonduegabel beiseitelegte und mit einem „es ist aus“ den offiziellen Teil der Unterhaltung begann.

In Norberts Ohren staken Sieglindes Worte wie die Gabel in einem Stück Brot fest. Als er den Sinn und die Tragweite der drei Wörter langsam erfasste, begannen seine Füße zu zittern und die Hände schlagartig kalt zu werden. Nur der Form halber fragte er nach, was sie damit meine. Er erwartete tatsächlich, dass sie ihm mit einem „war nur ein Witz“ entgegenkam oder zumindest mit einem herzzerreißenden Heulen versuchte, das Todesurteil über die eigene Ehe abzumildern, es vielleicht auch in ein Lebenslänglich umzuwandeln. Norbert wäre sogar mit einem schluchzenden Gestammel und der darin enthaltenen Nennung eines anderen männlichen Vornamens zufrieden gewesen.

Das hätte ihm einen Feind verschafft, den er mittels eines Stückes Brot im blubbernden Abendessen hätte ertränken können. Aber nichts dergleichen. Sieglinde hob nur eine Andeutung lang die Schultern, ließ sie tonlos wieder sinken und begann nun doch ihrerseits mit einem Stück Brot an der Gabel asynchrone Achter in den heissen Käse zu zeichnen. Unendlich langsam.

Sie schwieg und fixierte das erhitzte Kuhmilchprodukt und wirkte dabei, als hätte ihr ganzes Denken genau bis zu diesem einen Dreiwortsatz eben gereicht. Mental musste das in ihr so aussehen: Satz raus, Beine hoch, Glas Petite Arvine gekippt, fertig, später einfach ohne zu zahlen aufstehen und gehen. Sie schien merkwürdig fasziniert zu sein vom Käse, der sich jetzt klebrig an der Gabel ansammelte und beim Herausziehen des Essinstruments lange Fäden zu bilden begann.

Norbert starrte sie an, konnte gar nicht fassen, dass seine Rückfrage nicht die Spur einer Antwort bewirkte, und sah seinerseits ein getunktes Brot erkaltend zwischen zwei Silberzwiebeln auf seinen Teller sinken. Er hielt die leere Fonduegabel noch ein paar Minuten senkrecht, bevor auch sie müde und wie von selbst gen Porzellan und Tisch sank. Sein Blick blieb auf Sieglinde gerichtet, die inzwischen nicht einmal mehr aufschaute.

Norbert entledigte sich der Starre mit einem leichten Zucken im rechten Auge, indem er die Yukkapalme vom Nachbartisch und dessen verdutzt aufschauender Besatzung ergriff, die obersten Grünsprossen vom Strunk köpfte, sie aufspießte und dann aggressiv im Nochehetopf um ihr bekästes Brot herum achterte. Mehrmals. Dann zog er die grüne Ladung ruckartig heraus, steckte sie sich in den Mund und patschte mit einer neuen aus der gerupften Yukka gewonnenen Portion wieder in die Mischung zurück, ohne den leise gehobenen Warnfinger des Nachbargastes, die tischeigene Palme betreffend, auch nur irgendwie zu beachten. Erst nach dem vierten Bissen erbarmte sich seine fast schon Ex-Gattin und schaute wieder langsam auf. Norbert spuckte das Grün aus.

„Warum, Sieglinde?“

Sie schüttelte schmallippig den Kopf, fast beiläufig, kippte sich ein ganzes frisches Glas vom Walliser Weißwein in den Rachen und gurgelte noch im Schlucken, murmelte am hinunterlaufenden Wein vorbei den Schlund hoch, sie wolle sich beruflich neu orientieren. Und dass Norbert öde sei. Mehr sei es nicht. Und als er sie entsetzt anschaute und schon fast zu einer Nachfrage angehoben hatte, schob sie einfach hinterher, mit ihm verheiratet zu sein, sei auf die Dauer wie eine vorgezogene Beerdigung; regelmäßiger Leichenschmaus und jährlicher Sex mit einem Toten inklusive.

Aua. Norbert packte den inzwischen kahl gefressenen Strunk und warf die Yukka-Nichtmehr-Palme tonlos schräg nach vorne, wo die Restpflanze dynamisch auf Tisch vier in ein klassisches Käsefondue ploppte und den Tischherrn zu einem „Nei, sichrr nööd!“ veranlasste.

Das Geflirre von fast zwei Dutzend Tischunterhaltungen im Raum erstarb schlagartig, während die Restyukka restlos im Käse versank.

Man hörte einen einfachen Aufschrei am Tisch. Von der Frau daneben.

Sie hatte bei der Landung der Pflanze im Topf einen Blubber heißen Käse an die Wange bekommen. Sie kreischte erschrocken und nötigte ihren Mann, der nun betont langsam die Serviette auf den Tisch zu legen begann, an Norberts Tisch zu treten. Dort angekommen wartete er erst gar nicht auf eine Erklärung wie „ich habe eben von meiner Trennung erfahren und benötigte einen Pflanzenwurf, um mich emotional wieder einzunorden“. Er packte den erstaunt Zappelnden vorne am Kragen und zog ihn ohne Absetzen auf Höhe seiner blitzenden Augen.

Wie kräftig doch Oberarme sind, wenn sie einem beim Fondue gestörten, durchtrainierten Freizeitgewichtheber gehören. Er riss Norbert im Rückwärtsgang quer durch das Lokal, hatte noch genug Kraft übrig, dabei mit der Linken die Tür der „Walliser Kanne“ aufzuziehen und Norbert mit einem kräftigen Schwung auf den Bürgersteig zu schlenzen. Dort schritt der damit halb Satisfaktionierte bedächtigen Schrittes auf ihn zu. Noch bevor ihn der erste Schlag direkt ins Gesicht traf und den linken Wangenknochen ordentlich blessierte, konnte Norbert tatsächlich Sieglinde sehen, wie sie ungerührt im Mantel aus dem Restaurant schritt. Sie blieb kurz an der Türe stehen und murmelte etwas von „Dienstwagen zur Kanne“ in ihr Handy.

Welchen „Dienstwagen“ meinte sie eigentlich? Das setzte ihm gedanklich so zu, dass er doch wirklich die ersten drei Schläge des Gewichthebers über ihm nur unwesentlich zur Kenntnis nahm, um dann beim vierten ohnmächtig ausgeknockt zu sein.

So gesehen kam Norbert noch einmal glimpflich davon. Schon allein deshalb, weil er später im Sanitätswagen aufwachte und sich nicht erinnern konnte, für das Fondue finanziell Rechenschaft abgelegt zu haben. Das bestätigte sich zwei Wochen später leider nicht, als er die Kreditkartenrechnung am Wohnzimmertisch vom Mami einsah und darauf drei (!) Käsefondues, und vier (!) Flaschen Wein abgerechnet fand. Sowie eine Zimmerpflanze. Zusammen ergaben sich hier genügend Treuepunkte, um für die neue Wohnung noch ein Fondue Set gratis zu erhalten. Sechs Gabeln inklusive. Es hatte doch immer alles sein Gutes. Sieglinde sah er seitdem eigentlich nie wieder. Auch das sollte sich noch als gut herausstellen. Aber zurück ins Büro.

Homeoffice

Als Norbert an seinen Arbeitstisch zurückkehrte, konnte er sehen, wie zwei Männer der NESSER AG, Abteilung „Beförderungen“ seine Büroausrüstung einpackten und ihn dabei kaum beachteten. Eigentlich gab es an seinem Platz nicht wirklich viel zu tun. Er hatte sich 1997 ein paar Bleistifte in den Seitenschrank legen lassen. Die Aktenordner im Schrank hinter seinem Gesundheitsstuhl nahmen in schöner Lückenlosigkeit den Monatskantinenplan auf (Ordner I - III) und speicherten in einem dünnen Register die akribisch abgelegten Pressemeldungen aus seiner Feder (Ordner IV, schmal). Auf dem Tisch lag eine Vermerkmappe der Personalabteilung, die Jana in Abwesenheit unter den wachsamen Augen aller auf der Etage dort während Norberts Espresso platziert hatte. Es klebte Puderzucker daran, dachte er noch, aber er verschwendete keinen weiteren Gedanken daran. Puderzucker passte fast nie zu schwarzem Kaffee, das hatte man von Jana eigentlich erwarten können, auch wenn sie Deutsche war. Man hätte darüber hinaus nun vielleicht die eine oder andere Frage erwarten können, aber das Personal tat beschäftigt und schien ihn wie stets kaum zu bemerken, was die Endlichkeit von Norberts Anwesenheit in diesem Gebäude durchaus unterstrich. Also fasste er seinen Trenchcoat, fand darin zwei Ärmel, um seine müden Arme hineingleiten zu lassen und machte sich nach einem kurz hingehuschten Gruß aus dem Stockwerk.

Noch einmal schaute er sich fragend um, doch vermutlich hatten ihn die anderen nicht gehen sehen. Also schüttelte er nur sachte den Kopf und schritt mit hängenden Schultern und seiner Bürotasche versehen zum Aufzug. Durch und durch neutral und alltäglich für die anderen.

Vielleicht auch deshalb, weil er ja nicht wirklich ging, eigentlich stieg er ja auf. Das wussten vielleicht schon alle. Für ihn war es Homeoffice, niemand hatte die Absicht, Norbert zu kündigen. Das murmelte er immer wieder leise vor sich hin. Er würde sich auf dem Weg in sein neues Zuhause ein Abendgipfeli kaufen oder heute zur Abwechslung mittags ein Müesli zubereiten. Milch und Haferflocken und ein wenig Joghurt hatte er ja bereits im neuen Kühlschrank. Auch ein bis zwei oder mehrere Schweizer Biere.