Allein durch die Antarktis - Borge Ousland - E-Book

Allein durch die Antarktis E-Book

Borge Ousland

0,0

Beschreibung

1997 gelang dem Norweger Børge Ousland die erste Solodurchquerung der Antarktis über den Südpol ohne Nachversorgung aus der Luft. Knapp 3000 km legte er zu Fuß und auf Skiern zurück. Dabei zog er einen Schlitten, der am Anfang der Expedition knapp 200 kg wog.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 229

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALT

Vorwort von Sir Edmund Hillary

Wieder unterwegs

Punta Arenas

Patriot Hills

Berkner Island

Wujek Ridge

Das Plateau

Schwere Schritte

Gratwanderung

Niemandsland

Der Südpol

Richtung Norden

Tanzboden des Teufels

Axel Heiberg

Zig Zag Bluff

Das Ross Schelf

McMurdo

Epilog

Cape Evans

VORWORT

Am 22. Januar 1997 flog ich mit einer Hercules-Maschine der Royal New Zealand Air Force vom neuseeländischen Christchurch aus in Richtung Süden zum McMurdo-Sund in der Antarktis. In erster Linie wollten wir das 40. Jubiläum jenes Tages feiern, an dem wir die neuseeländische Flagge auf der Scott Base gehisst haben, wo ich als Leiter für den Aufbau der Station und die Durchführung umfangreicher kartographischer und geologischer Erkundungsaufgaben verantwortlich gewesen war. Außerdem gelangte unter meiner Führung erstmals eine Fahrzeuggruppe auf dem Landweg zum Südpol.

Von der Eislandebahn der McMurdo Base fuhren wir zur Scott Base, die jetzt aus einer viel stattlicheren Anzahl von Gebäuden bestand als denjenigen, die ich vor 40 Jahren dort eingerichtet hatte. Es war schön, an diesen warmen, behaglichen Ort zu kommen. Das Personal der Antarktisstation begrüßte mich und stellte mir dann Børge Ousland vor, der gerade einmal fünf Tage zuvor an der Scott Base eingetroffen war, nachdem er als erster Mensch im Alleingang die Antarktis durchquert hatte.

Mein erster Eindruck von ihm war der eines hochgewachsenen, durchtrainierten und völlig entspannten Mannes. Obwohl das Team der Station ihn angesichts seiner Leistung berechtigterweise äußerst respektvoll behandelte, hatte er sich wie ein ganz normales Mitglied in die Gruppe eingefügt. »Er ist wie einer von uns«, stellte der Ingenieur der Station erstaunt fest. Damit brachte er auf den Punkt, was Børge Ousland ausmacht: Souveränität und herausragende Kompetenz, aber keine Spur von Arroganz.

Im Laufe der folgenden Tage hatte ich mehrfach das Vergnügen, mich mit Børge zu unterhalten. Mir wurde schnell klar, warum ihm seine große Unternehmung geglückt war: Er konnte einen reichen Erfahrungsschatz mit sorgfältiger Vorbereitung verbinden und befolgte seine Planungen für jeden Tag mit einem Höchstmaß an Effizienz. Wichtiger noch: Er war extrem motiviert; er wollte diese großartige Herausforderung unbedingt bestehen. Zugleich verhielt er sich nie leichtsinnig. Wir unterhielten uns über unser beider Furcht vor versteckten Gletscherspalten und die Erleichterung, wenn man sicher aus solch einer Gegend herausgekommen war.

Gemeinsam flogen Børge und ich mit einer amerikanischen Ski Hercules zum Südpol. Es herrschten - 35 ˚C und ein kräftiger Wind. Es war kalt. Und trotzdem hatte Børge bei ähnlichen Temperaturen 64 Tage lang auf Skiern gestanden. Ich habe mich gefragt, wie es ihm wohl vorge kommen sein mag, die Strecke so einfach durch die Luft zurückzulegen, um in der warmen, gemütlichen Station anzukommen. Beim vorigen Mal war er auf Skiern hier und zog seine Behausung auf einem kleinen Schlitten hinter sich her.

Børge Ousland ist ein wahrer Abenteurer. Er sucht das Abenteuer nicht des Ruhmes oder gar des Geldes wegen. Nicht um den Kampf gegen die Elemente geht es ihm, sondern um den Kampf gegen sich selbst. Er begegnet der freien Natur mit ungeheurem Respekt, und nichts ist ihm wichtiger, als sie zu erhalten.

Bei seiner Durchquerung der 2845 Kilometer des antarktischen Kontinents musste er sein ganzes Können, sein ganzes Organisationstalent und seinen ganzen Mut einsetzen – und er hat die Aufgabe gemeistert. Børge Ousland ist ein bewundernswerter Mann.

Sir Edmund Hillary, Juli 1977

WIEDER UNTERWEGS

Mich reizte das Sprengen von Grenzen. Allein die Antarktis zu durchqueren, ein Traum und ein Abenteuer. Diese Trophäe war die große Kraftprobe der 90er Jahre. Physisch und mental musste ich an die Grenzen gehen, es überstieg alles bisher Erreichte. Die Idee selbst war nicht neu. Der englische Polfahrer Ernest Shackleton hatte die Durchquerung der Antarktis schon 1915 als »letzte große Landreise, die noch niemand unternommen hatte«, bezeichnet.

1994 ging ich als Erster allein zum Nordpol. Ich war am Kap Arktichesky in Sibirien gestartet und 52 Tage später am Nordpol angekommen. Für mich war es ein großer und wichtiger Sieg. Nach einer Reihe von weiteren arktischen Expeditionen in den vergangenen Jahren wurde es Zeit, den Blick nach Süden zu richten.

1995 entschied ich mich, die Antarktis zu durchqueren. Ich lief mehr als 1000 Kilometer bis zum Südpol, aber dort war Schluss. Unterwegs hatte ich mir einige Erfrierungen und aufgescheuerte Blasen zugezogen, die das Weitergehen unmöglich machten. Wenige Tage nach dem Südpol musste ich abbrechen. Anstatt mein Ziel auf der anderen Seite zu erreichen, wurde ich nun auf halber Strecke mit dem Flugzeug abgeholt. Die Entscheidung war schwer gefallen. Im Unterschied zum Nordpol und dem dortigen Triumph stand ich nun auf der gegenüberliegenden Seite der Erdkugel und musste eine Niederlage verdauen. Ich hatte zwar geglaubt, ich könnte es schaffen, aber daran war nicht zu denken – ich musste akzeptieren, dass ich die Schlacht verloren hatte.

Scheitern gefiel mir ganz und gar nicht, und nun stellte sich die Frage, ob ich einen zweiten Versuch wagen würde. Sollte ich das Risiko eingehen, noch einmal aufgeben zu müssen? Die Fallhöhe war verhältnismäßig hoch, wenn es nicht klappte. Als ich nach Hause kam, dachte ich mit Grausen an eine neue Vorbereitungsrunde: Training mit Autoreifen und schwerem Rucksack, die ganze Mühe mit der Suche nach Sponsoren und nicht zuletzt noch ein Abschied von der Familie. Bei all der Unsicherheit, die eine solche Expedition mit sich bringt, ist es vielleicht am schlimmsten, dass man seine Familie zurücklassen muss. War ich dafür eigentlich schon wieder bereit?

Im Februar 1996 machte ich eine Skitour über die Hardangervidda. Abends im Zelt dachte ich oft an die Antarktis. In der polaren Welt, in der ich mich bewegte, wo fast nichts unerreicht geblieben ist, war und blieb dies eine der letzten klassischen Herausforderungen, die noch übrig war. War es möglich, den gesamten Kontinent zu durchqueren? Ich hatte es schließlich versucht und nicht geschafft. Der Zweifel nagte an mir, aber zu Hause hing immer noch die Südpolkarte mit der eingezeichneten Route an der Wand.

Ähnlich wie bei dem Wettlauf zwischen Robert Scott und Roald Amundsen im Jahre 1911 ging es nicht darum, die Welt zu retten, sondern der Erste zu sein. Zwar hätte ich es nicht ohne all die anderen Elemente machen können, die einer solchen Expedition etwas Wertvolles verleihen, aber zu gewinnen war wichtig. Wie in allen Arenen ist der Wunsch zu gewinnen ein Antrieb an sich, nicht zu vergessen die Anerkennung und der historische Aspekt. Hätte ich die Tour gewagt, wenn sie jemand vor mir unternommen hätte? Andere Touren, aber nicht diese. Ich wusste, wie hart sie war, die Antwort hätte Nein gelautet.

Mitte März rief mich Marek Kaminski aus Polen an. Marek war sowohl zum Nordpol als auch zum Südpol gegangen, und wir kannten uns relativ gut von früher.

»Børge, ich habe ein bisschen über die Sache mit der Antarktis nachgedacht; ich glaube, ich werde quer hinübergehen. Dieses Jahr.«

»Noch dieses Jahr?«

»Ja, es muss jetzt passieren – falls ich es schaffe, Sponsoren zu finden; das polnische Fernsehen ist in teressiert, und ich rechne damit, dass ich mich aufmachen werde.«

»Verfluchter Mist«, sagte ich, nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte. Im Grunde war ich nicht überrascht. Nach dem missglückten Versuch, den ich Anfang des Jahres unternommen hatte, lag es auf der Hand, dass andere es versuchen würden.

Eine Woche zuvor hatte ich mit dem englischen Polfahrer David Hempleman-Adams gesprochen. Er berichtete, dass ein anderer Engländer, Ranulph Fiennes, es auch probieren wollte. Fiennes kannte die Verhältnisse gut. Zusammen mit Mike Stroud hatte er 1993 einen soliden, aber misslungenen Versuch unternommen, die Antarktis zu durchqueren. Sie waren weit gekommen, mehr als 2000 Kilometer, und hielten lange den Rekord in der längsten Skitour ohne nachträgliche Versorgung per Flugzeug oder andere Hilfe von außen.

Nun wurde die Konkurrenz härter. Zwei Menschen waren bereits mitten in den Vorbereitungen. Für die anderen war der Startschuss eigentlich schon vor vielen Wochen gefallen, im Januar, als ich abbrechen musste. Ich war immer noch unsicher. Sie waren im Vorteil. Ihnen verschaffte es Auftrieb, dass ich es nicht geschafft hatte, mich warf es definitiv zurück.

Tief im Inneren wusste ich wohl, dass ich es noch einmal versuchen würde. Wenche, meine Lebensgefährtin, hatte das schon lange begriffen. Sie wusste auch, dass ich mich mein Leben lang ärgern würde, wenn ich es nicht wenigstens versucht hätte. »Mach es«, sagte sie, »du schaffst das.«

Odd Harald Hauge, ein anderer norwegischer Polfahrer, legte mir die Alternativen dar. Während einer Wintertour in Jotunheimen brachte ich meine Zweifel zum Ausdruck.

»Wenn du es nicht versuchst, könnte es jemand anders schaffen. Vielleicht schon dieses Jahr«, sagte er. Odd Harald, der 1994 mit Cato Zahl Pedersen und Lars Ebbesen zum Südpol gegangen war, wusste, wovon er sprach.

»Doch was, wenn es nicht klappt?«, fragte ich.

»Dann hast du wenigstens dein Bestes gegeben, ich bezweifle, dass du genug Motivation hast, um es ein drittes Mal zu versuchen. Und wenn du es jetzt schaffst, wirst du der Erste sein, denn du hast am meisten Erfahrung. Wenige haben so viel Schlitten geschleppt wie du. Du bist der bessere Skiläufer. Du bist der Schnellste. Du wirst nicht damit fertig, bevor du es nicht hinter dir hast, du musst nur anfangen, je früher, desto besser.«

Allmählich kam mein Körper wieder in Gang. Ich holte zwei Autoreifen aus der Garage und machte mit ihnen im Schlepptau eine Tour durch den Wald. Ich spürte, wie es sein würde, wieder den Schlitten zu schleppen, aber ich wollte auch testen, wie es um meine Motivation bestellt war. Es war gar nicht schlecht. Die Reifen blieben wie immer an Wurzeln und Steinen hängen, aber ich gab deswegen nicht auf und flennte. Die Kraft war da und der Wille auch. Das gab mir neuen Mut. Beim nächsten Mal hingen hinten drei Autoreifen an mir, auch das ging gut. Zufrieden merkte ich, dass der »Hunger« zurückkam, und von nun an trainierte ich regelmäßig.

Ende März traf ich eine Entscheidung. Ich war erleichtert. Endlich stand fest, dass der Heimweg mich durch die Antarktis führen würde. Nun stürzte ich mich ernsthaft in die Vorbereitungen. Vieles war bereits in Verbindung mit der ersten Expedition erledigt worden, aber ich wünschte mir einige Veränderungen. Das Gewicht des Schlittens musste verringert werden, beim letzten Mal waren es zu viele Kilos gewesen, und ich verwendete viel Mühe auf die Gewichtsreduktion. Hauptsächlich, indem ich die Anzahl der Tagesrationen herabsetzte, aber es wurde auch jeder andere Ausrüstungsgegenstand gedreht und gewendet, um jedes verzichtbare Gramm einzusparen. Die Segelschirme, die ich bei gutem Wind als Zugkraft benutzen wollte, mussten verändert werden. Ich entschied mich für zwei Schirme, einen kleinen und einen großen, um den Wind besser ausnutzen zu können.

Eine andere Sache war meine Einstellung. Beim ersten Versuch war ich zu hart rangegangen, ich hatte keine Rücksicht auf meinen Körper genommen, und das hatte zu Verletzungen geführt. Der Triumph am Nordpol hätte ein guter Ausgangspunkt sein können, aber ich ging nicht gut damit um und überschätzte mich. Deshalb arbeitete ich diesmal mehr an meiner mentalen Haltung. Der Sportpsychologe und ehemalige Hochspringer Leif Roar Falkum war bei diesem Prozess maßgeblich beteiligt. Wir gingen alle Phasen der Expedition durch, besprachen alles, was mir wahrscheinlich begegnen würde. Hauptsächlich ging es darum, dass ich sowohl meine starken als auch meine schwachen Seiten so gut wie möglich kennenlernte. Das sollte es mir ermöglichen, meine inneren Prozesse zu verstehen und in allen möglichen Situationen die Kontrolle zu behalten. Während die anderen aus meiner Niederlage bei der vorigen Tour einen Vorteil zogen, konnte ich aus meinen Fehlern lernen und mit einer demütigeren und reflektierten Haltung in diese Expedition gehen. Darin bestand mein Vorteil.

Alle drei wollten es mit Skiern und Schlitten auf die klassische Weise versuchen, ohne Flugzeugversorgung, Schlittenhunde oder Motorkraft. Nur aus eigener Kraft. Wenn man unterwegs zwei-, vielleicht sogar dreimal über die Luft mit Nahrungsmitteln versorgt wurde, halbierte sich das Schlittengewicht. Die Durchführung war letzten Endes eine Frage der Ökonomie. Wenn man dagegen vom ersten Tag an alles selber zog, einen Schlitten, der fast 200 Kilo wog, war es etwas ganz anderes. Erfahrung, Kraft, Ausdauer und nicht zuletzt die Vorbereitungen waren entscheidend. Die Grenzen sind feiner und der Schwierigkeitsgrad sehr viel höher, aber darin bestand auch die Herausforderung.

Es war geplant, dass ich Ende Oktober nach Punta Arenas in Chile flog, von dort sollte ich mit der Fluggesellschaft Adventure Network International nach Patriot Hills in der Antarktis fliegen. Patriot Hills liegt zwischen den Bergen auf 80° Süd und wird als Versorgungsbasis und Transitstation für Flüge in der Antarktis genutzt.

Wie beim letzten Mal sollte der Start auf der Berkner-Insel stattfinden, einer Insel, die im Eis des Weddell-Meers eingefroren ist. Ich wollte an der Meereskante der Berkner-Insel starten, bis zum Südpol gehen und von dort aus weiter durch die Antarktis laufen, bis ich hoffentlich mein Ziel in McMurdo im Ross-Meer auf der anderen Seite erreichen würde. Eine Strecke von fast 3000 Kilometern in einem extrem harten Klima.

Ich hatte ein kleines, aber starkes Team, das hauptsächlich aus Hans Christian Erlandsen und Kjell Ove Storvik bestand. Beide waren bei den meisten meiner Expeditionen ein unverzichtbarer Bestandteil des Teams gewesen, das mich unterstützte. Hans Christian als Pressesprecher und Verantwortlicher für die Entscheidungen, die in Norwegen getroffen werden mussten, und Kjell Ove als Fotograf und Mann für alles Mögliche draußen im Feld. Nun sollte Kjell Ove zusätzlich als Funker arbeiten, er würde in Patriot Hills im Zelt liegen und Funkkontakt mit mir halten, während ich unterwegs war.

Nach einer letzten Tour mit Kjell Ove in Jotunheimen nahmen wir einige letzte Verbesserungen vor, dann waren wir zufrieden. Die Zeit war knapp gewesen, nur sieben Monate, und ohne die Erfahrungen, die ich bereits gewonnen hatte, wäre es unmöglich gewesen, eine solche Expedition in so kurzer Zeit vorzubereiten. Wollten wir noch mehr Feinschliff, mussten wir ihn in Punta Arenas vornehmen. Am 21. Oktober gingen wir mit 400 Kilo Übergewicht an Bord eines Langstreckenflugflugzeugs der Aeroflot. Nun war ich endlich wieder auf dem Weg nach Süden.

PUNTA ARENAS

Punta Arenas liegt am äußersten Ende der Südspitze Chiles an der Magellanstraße. Alle drei, Marek, Fiennes und ich, wollten mit demselben Flugzeug nach Patriot Hills in der Antarktis fliegen. In der Praxis bedeutete das, dass wir ungefähr gleichzeitig starten würden. Eigentlich sollte uns das Flugzeug bereits um den 1. Oktober herum hinüber in die Antarktis bringen, aber aufgrund des konstant schlechten Wetters wurde der Transport um ganze zwei Wochen verschoben.

Marek war ein großer und kräftiger Typ. Wir kamen gut miteinander zurecht und hatten in der Planungsphase bei einigen Dingen zusammengearbeitet. Er hatte begriffen, dass in Bezug auf Polarexpeditionen ein Großteil der Kompetenzen in Norwegen lag, und seine Ausrüstung war derjenigen, die ich benutzen wollte, sehr ähnlich.

Fiennes hatte ich noch nie getroffen. Aufgrund der traditionellen Konkurrenz zwischen englischen und norwegischen Polfahrern, die Scott und Amundsen eingeleitet hatten, gab es zu Beginn auf beiden Seiten eine gewisse Reserviertheit. Eines Tages rief ich ihn an und lud ihn zum Mittagessen ein. Wir einigten uns rasch, diesen »Konkurrenzquatsch« für eine Weile bleiben zu lassen, und von da an herrschte zwischen uns beiden ein guter Ton.

Fiennes war kein Jugendlicher mehr, die Antarktis in einem Alter von 53 Jahren durchqueren zu wollen, verdient Respekt. Von all den Entschuldigungen, die 50-Jährige normalerweise vorbringen, wenn es darum geht, sich an etwas Unbekanntes zu wagen, konnte bei ihm nicht die Rede sein. Fiennes war stark und zäh, und diese Eigenschaften würde er gut gebrauchen können. Seine Ausrüstung war schwer und klobig, sie machte keinen gut durchdachten Eindruck.

Er ist zweifelsohne tüchtig und auch schon mehrmals in diesem Gebiet gewesen, aber er schien daraus keine Lehren gezogen zu haben. Meistens läuft es in solchen Fällen schlecht. Fiennes hat sowohl im Norden als auch im Süden viel Schlitten geschleppt, doch all seine Expeditionen sind von mangelhafter Vorbereitung und daraus resultierender unnötiger Schinderei geprägt. Gegen Mut ist nichts zu sagen, aber wenn das Leiden an sich zum Ziel erhoben wird, stimmt der Ausgangspunkt nicht. Man sollte das Schwierige lieber so erträglich wie möglich gestalten.

Neben uns dreien wollte eine koreanische Gruppe von sechs Personen die Antarktis durchqueren. Der Leiter der Gruppe hieß Young Ho Heo, und alle sechs waren Kletterer, die eine beeindruckende Liste von schwierigen Expeditionen mitbrachten. Sie hatten alle den Mount Everest bestiegen, und einer von ihnen war ohne Sauerstoffzufuhr auf dem K2 gewesen. Abgesehen davon, dass sie zu sechst waren, hatten sie das gleiche Ziel wie wir. Sie wollten auf Skiern von der Berkner-Insel starten und würden unterwegs weder nachträglich per Flugzeug versorgt werden noch Depots vorfinden.

Eine Solotour beinhaltet mehr Teamarbeit, als die meisten glauben. In der Planungsphase hatten Kjell Ove und ich eng zusammengearbeitet. Wir experimentierten und feilten und gaben uns nicht zufrieden, bevor wir die besten Lösungen gefunden hatten. Gleichzeitig musste jeder für sich eigene Entscheidungen fällen. Die Kombination aus Zusammenarbeit und Selbstständigkeit war unsere Stärke. Wir schafften es, ohne verleugnen zu müssen, dass wir beide ausgeprägte Individualisten sind, was manchmal zu Konflikten führte, aber auch die sind wertvoll. Im Vorfeld einer solchen Tour muss alles auf den Tisch kommen, auch das Unangenehme. Kjell Ove ist nicht nett, er ist beinhart. Es fragt sich, wie es ohne ihn gelaufen wäre.

In Punta stand wieder und wieder das Gewicht auf der Tagesordnung. Manchmal war das eine schwierige Gratwanderung. Theoretisch musste die Ausrüstung nur drei Monate halten, aber sie durfte unter keinen Umständen unterwegs den Geist aufgeben.

Der Schlitten war im Vakuumverfahren aus Kevlar gegossen, die Schale wog nur sechs Kilo. Manche meinten, das sei gefährlich dünn. Ranulph Fiennes, dessen Schlittenschale 20 Kilo wog, bezweifelte, dass mein Schlitten halten würde. Ich sagte nichts, aber im Hotelzimmer in Punta wurden mit Epoxidharz und Kevlar zweifelhafte Versuche unternommen, den Schlitten an besonders beanspruchten Stellen zu verstärken. Wir hängten ein rotes Schild an die Tür: Do not disturb. Das Hotelpersonal durfte uns nicht zu nahe kommen, denn so kurz vor der Abreise wollten wir nicht hinausgeschmissen werden.

Nun war es sowieso zu spät, um an dem Schlitten etwas zu verändern. Der Gewichtsfanatiker Kjell Ove hatte die »Taktik der verbrannten Brücken« eingeführt. Er fand es gut, dass ich keinen schwereren und solideren Schlitten mit nach Punta gebracht hatte, denn sonst hätte ich sicher den genommen, und am Ende wäre mein Gewicht viel höher gewesen. Und damit hatte er natürlich recht. Die Erfahrung lehrt, dass in den letzten Tagen vor der Abreise, wenn die Angst vor dem Unbekannten am größten ist, viel Kram in der Ausrüstung landet, den »man gut gebrauchen kann«. Jede Entscheidung stand auf dem Prüfstand, aber niedriges Gewicht war immer das oberste Gebot. Ein Kilo gespartes Gewicht entsprach einer Extraration Proviant und somit einem größeren Aktionsradius. Ich schnitt sogar die Zahnbürste entzwei, nicht weil die paar Gramm entscheidend gewesen wären, sondern weil es sich auf das Gesamtgewicht auswirkt, wenn man mit dieser Einstellung an jeden einzelnen Gegenstand herangeht.

Als Marek das mit der Zahnbürste hörte, reagierte er besorgt und ging seine eigene Ausrüstung noch einmal durch. Er konnte nur noch an der Verpackung seiner Filme sparen. Indem er die Filmdosen durch Kondome ersetzte, würde er er ganze 174 Gramm ersparen.

Gesagt, getan, er ging los und kaufte 50 Kondome. Marek ist ein kräftiger Kerl, und der Apotheker grinste diesen Hengst von einem Polen breit an. Marek wusste allerdings nicht, dass sie in Punta nur Kondome mit Gleitmittel hatten. Die Enttäuschung war groß, er traute sich nicht, sie umzutauschen, und wegwerfen wollte er sie auch nicht. Das Problem ging dennoch gut aus. Jedes Hotel verfügt ja über einen Laundry Service. Marek gab seine Kondome einfach beim Personal zum Waschen ab. Das Gleitmittel verschwand, Marek sparte seine 174 Gramm und strahlte glücklich und zufrieden. Aufgeben gilt nicht.

Da alles bereit und fertig gepackt war, nahmen wir uns einige Tage frei von Training und Ausrüstung. Eines frühen Morgens rumpelten Kjell Ove und ich mit dem Bus nach Torres del Paine, einem Nationalpark im südlichen Patagonien. Wir hatten ein Zelt, Essen und Wein dabei, wir wollten abschalten und noch etwas Grün um uns haben, bevor das große Weiß die Oberhand gewann. Wir fanden ein hübsches Plätzchen in einem fruchtbaren Tal mit einem Fluss ganz in der Nähe.

Tagsüber gingen wir in die Berge, stromerten herum und genossen das Leben. Abends dösten wir am Lagerfeuer. Es war Sommer, warm und windstill. Der Himmel wurde von unbekannten Sternzeichen erleuchtet, und die Flammen umzüngelten dickes, gutes Brennholz. Der Duft von frischem Gras, die summenden Insekten – wir hielten die Zeit an und nahmen diese ganze lebendige Welt in uns auf. Bis zum nächsten Mal würde es lange dauern. »Nimm es mit in die Antarktis«, sagte Kjell Ove, »du wirst es brauchen.«

Der Tag der Abreise kam. Fiennes und ich fochten einen stummen Kampf aus, wer als Letzter an Bord des Flugzeugs gehen durfte. Die Letzten werden die Ersten sein, dachten wir. Eine abergläubische Suche nach positiver Symbolik führte vor der Abreise zu weiteren Abwegen. Meinen Esslöffel hatte ich zum Beispiel von einem Cafébesitzer in Tierra del Fuego bekommen, er wurde mein Glückslöffel.

Mein Polfahrerkollege Erling Kagge hatte von mir einen Eisbärenzahn geschenkt bekommen, der ihn sicher bis zum Südpol und auf den Mount Everest gebracht hatte. Odd Harald Hauge ging mit einem tibetanischen Amulett in der Tasche zum Südpol. Eines Tages glaubte er, er hätte es verloren, und da wurde die gesamte Expedition in Alarmbereitschaft versetzt, bis er es im Innenfutter seiner Hose wiederfand. Auch harte Kerle klammern sich gern an etwas, wenn es zur Sache geht.

Auf dem Weg zum Flugzeug wären wir beinahe weggepustet worden, die voll beladene Herkules von South African Airlines wackelte und ließ die Flügel schaukeln. In Punta bläst es fast immer, die Winde fegen um das Kap Hoorn und in die Magellanstraße. Den Piloten gefiel das gar nicht, und uns auch nicht. Aber nun war das Wetter in Patriot Hills gut, und wir mussten uns auf den Weg machen. Die Wartezeit hatte uns in rastlose und ängstliche Stimmung versetzt. Der Winter beginnt in der Antarktis früh, wir mussten die Zeit von November bis Ende Januar nutzen. Jeder weitere Tag Verzug bedeutete schwierigere und kältere Bedingungen am Pol und darüber hinaus. Wir hatten uns bereits zweimal auf den Weg zum Flugplatz gemacht, aber das Wetter in Patriot hatte sich zugezogen, und wir mussten wieder zurück ins Hotel.

Diesmal hielt sich das Wetter. Als die Herkules in ruhigere Luftschichten aufgestiegen war, verschwand Punta schrittweise aus unserem Bewusstsein. Wir hatten Kap Hoorn hinter uns gelassen und waren auf dem Weg zur Drakestraße. Patriot Hills war sechs Stunden entfernt, und die meisten nutzten die Gelegenheit, ins Traumland zu entfliehen. Ich musste erst ein bisschen an meiner Hose nähen, ein letzter Feinschliff, um potenzielles Scheuern zu verhindern, bevor ich mir ein Beispiel an den anderen nahm und bei gleichmäßigem Motorenbrummen und aufgehender Mitternachtssonne einschlummerte. Wenn es keinen Weg zurück gibt, richten sich die Gedanken gebündelt und konzentriert nach vorn. Vor uns lag die Antarktis mit ihren großen weißen Hochebenen aus Eis, hinter uns war nichts zu holen.

PATRIOT HILLS

Patriot Hills ist kein gewöhnlicher Flugplatz, sondern eigentlich nur ein Zeltlager. Jede Saison werden 15 bis 20 Zelte aufgestellt, von denen aus die improvisierte Station betrieben wird. Im Winter liegt das Ganze unter dem Schnee begraben, kein Zelt würde den Winterstürmen standhalten, die von den Bergen hinunterfegen. Die Rollbahn besteht aus normalem, sehr hartem Eis, rauh und uneben, und die dortige Landung ist einer der spannenderen Teile der Expedition. Hier sollte Kjell Ove sich drei Monate aufhalten und Funkkontakt mit mir halten – auch er im Zelt, eine prächtige Gelegenheit für ihn, sich seiner Lieblingsbeschäftigung hinzugeben, nämlich draußen zu sein, und zwar am liebsten mit Skiern unter den Füßen. Dies war Kjell Oves dritter Aufenthalt in der Antarktis. Das erste Mal hatte 1992 stattgefunden, als Erling Kagge alleine zum Südpol wanderte. Mit anderen Worten: Er weiß, worum es geht.

Marek brauchte in Patriot fast 24 Stunden für die Aufnahmen mit dem polnischen Filmteam. Da Marek und ich zusammen fliegen wollten, konnten wir frühestens in anderthalb Tagen nach Berkner aufbrechen. Fiennes wollte sich sofort auf den Weg machen.

Wir hatten die Sache vorher besprochen, aber Fiennes wusste immer noch nicht genau, wo er starten und welche Route er nehmen sollte, um auf die Berge zu gelangen. Ich riet ihm nachdrücklich, auf Berkner selbst zu starten, wo es festen Grund gibt, und dann ins Dufek-Massiv zu steigen. 1993, als Stroud und Fiennes ihren ersten Versuch unternahmen, die Antarktis zu durchqueren, starteten sie auf dem Schelf, das etwas südlich von der Berkner-Insel liegt. Dort landeten sie mitten in einer Zone, in der das Eis heftig auseinanderbarst, und wären beinahe von den Eismassen verschlungen worden. Schneeflächen, die gerade noch glatt und schön ausgesehen hatten, brachen ganz plötzlich auf. Vor und hinter ihnen öffneten sich große Risse, es war ein extrem gefährliches und an den Nerven zerrendes Erlebnis.

Wie Fiennes auf die Idee kommen konnte, nun fast den gleichen Weg zu nehmen, erstaunte mich. Ging es lediglich darum, eine andere als die »norwegische« Route über Berkner zu nehmen? Diese Route war 1990 erstmals von einer norwegischen Expedition (Mehren, Høibakk und die Brüder Mørdre) gegangen worden. Sie erwies sich als günstiger Einstieg ins Polplateau und ist seitdem von einer Reihe von gelungenen norwegischen Expeditionen genommen worden.

Die Berkner-Insel selbst weist so gut wie keine Risse auf. Im Übergang zum Schelf hinter der Insel gibt es Spalten, aber das Eis ist ruhiger als an den Kanten auf der Ost- und der Westseite. Von dort aus bis zum Dufek-Massiv folgen 200 Kilometer gutes, stabiles Schelfeis und eine relativ gute Route zum Plateau, die über einen Pass namens Frost Spur führt. In der Hoffnung, dass Fiennes so vernünftig sein würde, seinen Widerwillen gegen die Fußstapfen der Konkurrenz zu überwinden, zeigte ich ihm eine Karte der Route und ein Foto von Frost Spur.

Konkurrenz hin oder her, im Augenblick des Abschieds saßen wir alle in einem Boot. Wir wagten uns in ein Abenteuer, das weit über alles hinausging, was wir bisher erlebt hatten, und teilten die gleichen Hoffnungen und Sorgen. Das Ziel war zwischen uns im Grunde nie ein Thema gewesen, nur die Durchführung, die Gefahren, die Route und die Ausrüstung hatten wir besprochen. Die Antarktis ist vollkommen neutral, keiner von uns hatte einen Besitzanspruch auf diesen großen Kontinent, und auch nicht darauf, der Erste zu sein. Hier waren wir alle gleich klein, und es konnte alles passieren, mir genauso gut wie den anderen. Am 13. November ging Fiennes los, gefolgt von Marek und mir.

Kurz darauf frischte der Südwind auf, es wehte eine steife Brise, und Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Das Flugzeug, in dem Fiennes saß, musste auf halbem Wege nach Berkner auf dem Eis landen und wartete nun auf besseres Wetter. Niemand von uns beneidete Fiennes um diese Situation. Verglichen damit war Patriot Hills Luxus, dort gab es größere Zelte, Fertiggerichte und mehr Sicherheit.

Wir saßen im Versorgungszelt und hörten dem Sturm zu. So kurz vor dem Start hat Wartezeit eine ganz besondere Note, man verharrt in einer Art Vakuum, in einem Zwischenstadium, obwohl man noch gar nicht unterwegs ist. Vor einem Jahr waren wir auch in Patriot Hills gewesen, aber damals nur wenige Stunden, bevor wir weiterfliegen konnten. Viel war seitdem passiert, der Südpol, die Niederlage, zumindest für mich persönlich, neue Planung, und nun war ich wieder hier. Wieder ging mir die Frage durch den Kopf, ob dies eine schlaue Idee war oder nicht. Was, wenn es nicht klappte?

Ich musste meine Perspektiven ordnen und rief übers Satellitentelefon Roar Falkum an. Nimm es in Angriff, sagte er. Kjell Ove war derselben Meinung, ich musste es angehen. In Gang kommen und losgehen, das war das einzige Rezept, das funktionierte.

Immer noch fegte der Wind von den Bergen herunter. Vorläufig konnte ich nicht viel tun. Nur das Übliche: warten.

BERKNER ISLAND