Allein in Gyaamani - Gloria Boateng - E-Book

Allein in Gyaamani E-Book

Gloria Boateng

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Beschreibung

Die kleine Ama Boaduwaa aus dem ghanaischen Dorf ­Pramso wächst in großer Armut auf. Zu essen gibt es wenig und auch die Schule kann nur selten besucht werden. Als eines Tages ihr unbekannter Großvater Yeboah nach Pramso kommt, verändert sich das Leben von Ama ­urplötzlich. Mit Yeboah wandert Ama nach Gyaamani (Deutschland) aus, wo ihre Mutter auf sie wartet. Doch Gyaamani ist das Land, das ihre Mutter abschiebt. Das Land, in dem ihr ­geliebter Groß­vater stirbt und Ama mit dem neuen Namen Gloria ­angeredet wird. Das Mädchen ist plötzlich auf sich allein gestellt und ständig rassistischen Angriffen ausgesetzt. Mit dem eisernen Willen des Überlebens, mit einer schier ­unbändigen Widerstandsfähigkeit, mit einem Hunger nach Bildung und einem großen Wissensdurst ausgestattet, boxt sich das Mädchen ihren Weg in ein selbstbestimmtes Leben. Allein in Gyaamani ist die faszinierende Lebensgeschichte der Bildungsaktivistin und SchlauFox-Gründungsinitiatorin Gloria Boateng. Eine Geschichte voller Tragik, Hoffnung und Lebensbejahung. Gloria Boateng nimmt die Leser*innen mit auf eine Reise, die mit kleinen Schritten etwas Großem entgegensteuert. Eine Reise, die Mut macht.

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Seitenzahl: 495

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gloria Boateng

Allein in Gyaamani

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Allein inGyaamani

Oder wie Lernen mir halfeine neue Heimat zu finden

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Sämtliche Illustrationen, Aquarelle und Titelabbildung © Dorota Anna

Nowaczyk (DoroNowa), Hamburg.

Fotografien von Gloria Boateng.

1. Auflage

ISBN 978-3-95768-269-7

eISBN 978-3-95768-270-3

© 2025 by Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek

Lau-Verlag & Handel KG

Kirschenweg 10a

21465 Reinbek

E-Mail: [email protected]

www.lau-verlag.de

Alle urheberrechtlichen Nutzungsrechte bleiben vorbehalten.

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Umschlagentwurf: pl, Lau-Verlag, Reinbek

Umschlagabbildung: © Dorota Anna Nowaczyk (DoroNowa), Hamburg

Satz und Layout: pl, Lau-Verlag, Reinbek

Inhalt

PROLOG

TEIL EINS Lebensschule – Meine Kindheit in Ghana

Zerrissene Familienverhältnisse

Licht und Schatten in der frühen Kindheit

Me maame – Meine Mutter

Me papa – Mein Vater

Bei Aunty Adwoa in Kumasi

Nana Yeboah und der Tag, der alles veränderte

Reisevorbereitungen und die kreative Geburtsurkunde

TEIL ZWEI Ankunft in einer fremden Welt

Moin Moin, Gloria – Ama im Land der Obronis

Schule in Deutschland ist überhaupt nicht toll!

Mutterseelenallein

Plötzlich Pflegekind

Rassismus überall

Drei gegen eine

Familienleben mit Licht und Schatten

Goodbye, Reimers – Hello, Wohnheim

Umzug – again

TEIL DREI Glaube an dich selbst, wenn niemand an dich glaubt

Folgenreiche Begegnung

Bittere Erkenntnis

Wieder ein Tag, der alles verändert

In anderen Umständen zum Abitur

Back to school

Mein Sabbatical lichtet den Nebel

Der Plan zur Rückkehr

Back to Pramso – nach 14 Jahren

Aufgeben ist keine Lösung – Alltag unter Dreifachbelastung

Kein Stipendium, sondern …

Eine Kerze, die an beiden Enden brennt

Ein Maulwurf unter den Föxen

Bleibt alles anders?

Staatsexamen – ich komme

SchlauFox e. V.

EPILOG

BILDERVERZEICHNIS

GLOSSAR

DANKSAGUNG

Meiner Tochter, meiner Mutter und meinem Großvater

Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich.

Afrikanisches Sprichwort

Saraphina und Gloria BoatengDas neue Leben zu zweit, Hamburg 2002

Liebe Twi-Expert*innen,

ich habe in mein Buch etwas Twi integriert. Zwar habe ich die Sprache als Kind beherrscht (was jetzt nicht mehr so der Fall ist), aber ich habe nie gelernt, sie zu schreiben. Daher habe ich mir Unterstützung bei den Formulierungen gesucht. Sollten euch Fehler auffallen, freue ich mich über Korrekturvorschläge für die nächste Auflage. Das gilt natürlich für den Text in deutscher Sprache ebenfalls.

Das Gendern in diesem Buch

Die Diversität in unserer Gesellschaft ist für mich ein großer Reichtum, den wir m. E. noch nicht ausreichend zu schätzen und zu nutzen wissen. Eine diversitätsorientierte, gendersensible Sprache zu verwenden, ist für mich als Autorin eine Möglichkeit, unsere Verschiedenheit wertzuschätzen. Es ist uns bewusst, dass alle verschiedenen Gender-Möglichkeiten ihre jeweiligen Vor- und Nachteile haben. Da der Gendersternchen laut Feedback den Lesefluss (übermäßig) einschränkt, haben mein Verlag und ich uns bei komplexeren Sprachkonstrukten auf die weibliche Form geeinigt; generisches Femininum, Männer sind mitgemeint; ebenso alle anderen, die sich nicht diesen binären Kategorien zuordnen. Auch auf das generalisierende Pronomen man, das vom Nomen Mann abstammt, wird in diesem Buch bestmöglich verzichtet.

Viel Spaß bei der Lektüre!

Gloria Boateng

PROLOG

Ghana 2003. Ich sitze auf einer Bank mit einem mir unbekannten Jungen. Vor uns eine asphaltierte Straße, hinter uns eine Schule. Es ist eine Primary and Junior Secondary School, vergleichbar mit dem Schultyp Grundschule mit weiterführender Unterstufe in Deutschland.

Wir besuchen mein Geburtsland Ghana und sind in Kuntanase, einer kleinen Stadt in der Nähe von Kumasi in der Ashanti Region. Kumasi ist die zweitgrößte Stadt in Ghana. Der Junge ist hier zu Hause. Ich bin nur zu Gast. Ein Verwandter von mir unterrichtet an dieser Schule. Als ich ihn besuche, finde ich den Jungen auf dieser Bank. Auf dem Schulhof tobt gerade das pralle Leben, die Schüler haben Pause.

»Hello«, begrüße ich den Jungen. Er lächelt mich an und zeigt dabei eine Reihe blitzweißer, wohlgeformter Zähne. So weiß sind meine Zähne schon lange nicht mehr. »Hello ma’am.«

»How are you?«

»I am good. Thank you, ma’am.« Ich wundere mich, wie gut sein Englisch ist. In seinem Alter konnte ich längst nicht so gut Englisch sprechen.

»Warum sitzt du allein hier draußen?«, frage ich ihn. Wir sprechen weiterhin Englisch. Er mag vielleicht elf oder zwölf Jahre alt sein. Verlegen schaut er weg.

»Ich kann nicht zur Schule gehen.«

»Wieso nicht?« Er antwortet nicht gleich, sein Blick wandert an mir vorbei in die Ferne.

»Ist das dein Kind?«, fragt er.

»Ja, das ist Saraphina. Ich bin Gloria.«

»Spricht sie Twi?«1

»Leider nicht. Ich habe mal Twi gesprochen. Aber ich habe es verlernt, deshalb konnte ich es ihr nicht beibringen.«

»But I speak English«, sagt meine Tochter.

»Sie ist süß. Saraphina. Sehr hübsch.«

»Thank you«, antwortet Saraphina. »What’s your name?«, will mein kleines Mädchen wissen.

»I’m Benjamin.«

»Also, Benjamin, ist das deine Schule?«, setze ich noch mal an. Er nickt.

»Ich bin hier sechs Jahre lang zur Schule gegangen.«

»Und jetzt gehst du nicht mehr in die Schule?«

»Ich würde ja gerne«, sagt er und weicht meinem Blick erneut aus.

»And why don’t you go?«, fragt Saraphina.

»Ich darf nicht. Wir können das Schulgeld nicht mehr bezahlen.«

Ich bin nicht vorbereitet auf die Wucht seiner Worte. Sie treffen mich hart und ich bin für einen Moment sprachlos. Ich kenne dieses Gefühl. Ich kenne es nur allzu gut.

»Möchtest du denn zur Schule gehen?«, frage ich vorsichtig.

Er strahlt über das ganze Gesicht. »Ja, und wie. Ich möchte unbedingt. Ich bin immer gern gegangen«, sprudelt es aus ihm heraus.

»Und wie gut warst du in der Schule?«

»Sehr gut. Einer der besten in meiner Klasse. Ich lerne schnell.«

»Dann solltest du damit weitermachen.«

»Würde ich ja gern, aber das geht nicht. Schon lange nicht mehr.«

»Don’t worry, Benjamin. Das wird sich jetzt ändern.«, sage ich und streichle ihm über die Hand.

»Wie? Ich verstehe nicht.« Er schaut irritiert erst Saraphina an, dann mich.

Saraphinas und mein Blick treffen sich. Ich weiß, was sie denkt, sie kennt mich sehr gut. Ich nicke ihr zu. Dann zögere ich kurz, auf der Suche nach den richtigen Worten.

»Du wirst ab jetzt wieder zur Schule gehen.«

»Das ist nicht …«, beginnt er.

»Das ist möglich. Weil ich für dich das Schulgeld zahlen werde. Jedes Quartal. So lange, bis du die Schule beendet hast. Auch die Senior Secondary School.«

Eine Weile sagt Benjamin nichts. »Warum solltest du das tun?«, fragt er schließlich unsicher. Seine Stimme bebt ein bisschen dabei. Sein Blick ist unruhig. Er hat Tränen in den Augen.

»Weil es dein Recht ist. Es ist dein Recht, in die Schule zu gehen. Es ist dein Recht, zu lernen. Es ist das Recht eines jeden Kindes!«

»Ja, aber warum du? Warum willst du die Schule für mich bezahlen?«

»Ich war auch mal in der Situation, in der du jetzt bist, Benjamin.«

* * *

Ich bin Gloria. Früher hieß ich Ama2. Ich war ein kleines Mädchen aus dem ghanaischen Dorf Pramso. Heute bin ich Gloria, Hamburgerin. »Mit Migrationshintergrund« würden viele Menschen in Deutschland hinzufügen. Erste Generation. Als ich 2003 auf Benjamin treffe, kehre ich zum ersten Mal seit meiner Auswanderung 1989 nach Deutschland in meine Heimat Ghana zurück. Die Begegnung mit Benjamin hat nicht nur sein, sondern auch mein Leben verändert: Er kann wieder zur Schule gehen und ich unterstütze seitdem noch mehr Kinder und Jugendliche auf ihrem Bildungsweg. In Ghana vor allem finanziell, in Deutschland überwiegend ideell. Es ist ein Privileg, das tun zu können und zu dürfen. So wie Bildung noch immer ein Privileg in den meisten Ländern dieser Welt ist. Sogar im reichen Deutschland. Inzwischen setze ich mich beruflich wie privat für Bildung, Teilhabe und Teilgabe von jungen Menschen ein. Mein Weg hierhin war lang und beschwerlich. Dies ist meine erlebte Geschichte. Folge mir auf meine biografische Reise, die sich über zwei Kontinente erstreckt, und erfahre, wie aus Ama Gloria wird.

  1Sprache, die in der Ashanti Region überwiegend gesprochen wird. Meine Erstsprache

  2Akan-Name für eine weibliche Person, die am Samstag geboren wird

TEIL EINSLebensschule – Meine Kindheit in Ghana

Zerrissene Familienverhältnisse

Irgendwo in einem kleinen Dorf namens Pramso1 in der Ashanti Region2 in Ghana stand ein buntes Haus an einer langen, nie enden wollenden Straße. Hier wurde ich – wie ich erst mit dreizehn Jahren erfahren sollte – 1979 geboren. Das Haus war in einem hell leuchtenden Pink gestrichen und befand sich direkt an der großen Hauptstraße, die im Grunde auch die einzige Straße dort war. Von hier aus gingen rechts und links einige Wege und Pfade ab, die wiederum zu anderen Häusern führten. Viele waren eher Ruinen. Der Bau der Häuser wurde zwar begonnen, aber die meisten von ihnen sind nicht fertig geworden. Das pinkfarbene Haus war eines der größten und schönsten in Pramso. Darin lebten ein älterer, erblindeter Mann, seine Frau, ihre sieben Kinder und ein Enkelkind. Das Enkelkind war ich. Damals hieß ich noch Ama Boaduwaa, Tochter von Afia Ofori, die bei meiner Geburt knapp fünfzehn Jahre alt war und Pramso wenige Jahre später verließ, um weit weg in einem Land, in dem nur Obronis wohnten, nach einem besseren Leben zu suchen.

Obronis, so nannten wir bei uns die weißen Menschen, deren Haut so hell war, so hell wie Kokosmilch oder wie meine Lieblingskekse, die es nur an besonderen Tagen für uns Kinder gab. Viele Jahre später habe ich erfahren, dass das Wort Obroni möglicherweise »the wicked one« bedeutet. Damit sollen die damaligen Kolonialherrschenden als »böse« Personen bezeichnet worden sein. Eine andere Untersuchung des Ursprungs besagt, dass es »those who come from the horizon« bedeutet und damit eine Person bezeichnet wird, die von weither kommt. In meiner Kindheit kannte ich nur die zweite Bedeutung. Das Wort wurde nie als Beleidigung oder Schimpfwort benutzt.

Damals stellten wir uns die Obronis immer alt vor, wie die drei, die als Einzige jemals nach Pramso gekommen waren. Beim Ersten – ich war etwa vier Jahre alt – handelte es sich um einen Arzt. Er gab mir eine Spritze und versuchte, Englisch mit mir zu sprechen. Leider sprach ich kein Englisch und meine Erstsprache Twi, die zur Gruppe der Akan-Sprachen gehört und so einzigartig klingt, wie keine andere Sprache, die ich je gehört habe, beherrschte er nicht. Aus Angst vor der Spritze habe ich wie am Spieß geschrien. Die anderen beiden Obronis kamen in einem großen Auto ins Dorf gefahren. Wir Kinder waren ganz schnell hingelaufen, um sie und vor allem ihr Auto anzuschauen. Denn in unserem Dorf hatte niemand ein Auto. Das war nur etwas für reiche Menschen. Deshalb waren wir jedes Mal fasziniert, wenn wir ein echtes Auto sahen. Das galt nicht nur für uns Kinder, auch die Erwachsenen versammelten sich auf der Straße, um den Wagen zu begutachten und womöglich die Aufmerksamkeit der Gäste zu bekommen. Denn ein großes Auto bedeutete, dass es jemand sein musste, der Geld hatte. Und wer Geld hatte, brachte meistens auch Geschenke mit. Jede Person versuchte, etwas abzubekommen, und je dichter wir uns zum Auto drängten, umso größer waren die Erfolgschancen – dachten wir zumindest.

Es waren aber nicht nur Obronis, die in ihren schicken Wagen nach Pramso kamen. Ab und an kehrten auch ehemalige Dorfbewohnerinnen oder deren Kinder zurück, die Pramso einst verlassen hatten und nun weiter entfernt wohnten.

Hätte meine Oma Abena3 mir nicht davon erzählt, so hätte ich damals nicht geahnt, dass es irgendwo auf der Welt noch viele andere Städte und Länder gab, die weit entfernt von Ghana lagen und in denen laut meiner Nana4 alle Menschen reich waren. Wer aus solch einem Land kam, der hatte ein Auto, ein schickes Haus und viel zu essen. Deshalb brachten die Rückkehrenden ihren Familien auch immer viele Geschenke: Kleidung, Schmuck und Geld. Wir Kinder bekamen mit ein bisschen Glück Süßigkeiten, z. B. köstliche Bonbons.

Aber zurück zu meiner Mutter. Lange Zeit wusste ich nicht viel von ihr. Sie war das älteste der insgesamt zehn Kinder meiner Nana. Meine Mutter stammt als Einzige aus Nanas erster Beziehung. Ihr Vater Yeboah und Nana Abena hatten sich wohl früh getrennt und er hatte das Land verlassen. Viele Jahre später erfuhr ich, dass er in den USA und in Europa gelebt und studiert hatte.

Obwohl Nana Abena und ihr neuer Mann ein Haus in Pramso besaßen, lebten wir in armen Verhältnissen. Oft kämpften wir um unser tägliches Brot, sodass meine Mutter schon in jungen Jahren viel Verantwortung übernehmen musste und ihre jüngeren Geschwister hütete.

Mein Vater Kwadwo Boateng spielte nie eine große Rolle in meinem Leben, erst als Grundschulkind habe ich ihn ein wenig kennengelernt. Auch an die ersten Jahre mit meiner Mutter kann ich mich nicht erinnern. Von der Kennenlerngeschichte meiner Eltern gibt es mehrere Versionen, sie weichen jedoch teilweise sehr voneinander ab: Mein Vater war ein Verwandter des Mannes meiner Großmutter mütterlicherseits. Mit 23 oder 24 Jahren war er auf der Suche nach einer Frau. Meine Großmutter und ihr Mann schlugen ihm meine Mutter vor, die zehn Jahre jünger war. Schon bei der ersten Begegnung habe meine Mutter meinem Vater gefallen. Wenige Monate später hat er offiziell »um ihre Hand angehalten«. Fragte ich meine Mutter, meinen Vater, meine Oma oder meine älteste Tante, was danach passierte, so schilderten alle eine andere Version.

Eine lautet, dass meine Mutter und mein Vater traditionell geheiratet hätten. Die Familie meines Vaters kommt aus Mim, in der Bono Region im Westen Ghanas. Nach der Heirat war meine Mutter zu meinem Vater gezogen. Als sie mit mir schwanger war, kehrte sie nach Pramso zurück, um mich im Kreise ihrer Familie im dortigen Krankenhaus auf die Welt zu bringen. Meine Mutter blieb von diesem Zeitpunkt an in Pramso und wollte nicht mehr zu meinem Vater zurück. Einige sagen, sie hätte einen anderen Mann kennengelernt und darum gebeten, von meinem Vater geschieden zu werden. Andere erzählen, dass mein Vater in der Zeit meiner Geburt eine Geliebte hatte und dass meine Mutter nicht zurückkehren wollte, als sie das herausgefunden hatte. Es ist alles sehr verworren.

Die längste Variante der Geschichte lautet, dass meine Mutter nach meiner Geburt über meinen Vater gesagt haben soll: »Ich liebe ihn nicht. Er ist ein Bauernsohn. Mit ihm habe ich keine Zukunft.« Meine Oma sei daraufhin sehr wütend geworden: »Schau dich hier um. Wir haben nicht viel. Ich kann nicht dich und dein Kind ernähren!«, sagte sie. »Ziehe zu ihm!« »Nein. Eher lebe ich allein«, insistierte meine Mutter.

»Dann zieh aus. Sieh zu, wie du dich und dein Kind ernährst. Du wirst sehen, wie schwer es ist, wenn du erst mal allein bist.« Meine Oma ließ ihren Worten Taten folgen und warf meine Mutter und mich aus dem Haus. Die folgende Phase schilderte meine Mutter mir als eine der brutalsten in ihrem Leben. Sie ging zunächst in die nächstgrößere Stadt Kumasi und suchte nach einer Unterkunft. Viele Tage lebte sie mit mir auf der Straße.

Nach einigen Wochen bekam sie Kontakt zu einem Onkel, der uns beide bei sich aufnahm. Sie versuchte, unser Überleben zu sichern, indem sie Produkte auf dem Markt verkaufte und von ihrem Kleinverdienst Lebensmittel einkaufte. Meistens gab es nur Reis. Manchmal pur, und wenn wir Glück hatten, Tomatensoße dazu. In besonders glücklichen Momenten gab es noch ein Ei. Meine Mutter erzählte mir, dass ich als kleines Kind Reis mit Ei liebte. Nach dem Essen hätte ich mir immer den Mund an der Kleidung derjenigen abgewischt, die sich gerade in meiner Nähe befanden. Sie musste lachen, als sie mir das erzählte. »Du warst schon immer schlau!«

Afia war ambitioniert, so schnell wie möglich – wie viele Menschen vor ihr – einen Weg nach Abrokyire5 zu finden, um der Armut und der Perspektivlosigkeit zu entkommen. Dort würden unbegrenzte Möglichkeiten warten. Es sollte ihr gelingen.

Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, lebte in Abrokyire – genauer gesagt in Gyaamani6 – und kehrte irgendwann nach Ghana zurück. Wenige Jahre später ist meine Mutter ihm dann nach Abrokyire gefolgt.

Als mein Onkel eines Tages – ich mag drei Jahre alt gewesen sein – nach der Arbeit nach Hause kam, fand er mich heulend und eingenässt alleine in unserer damaligen Wohnung in Kumasi. Von Afia keine Spur. Da er sich nicht um mich kümmern konnte, brachte er mich zu meiner Oma nach Pramso zurück.

Wie auch immer die Geschichten erzählt werden, meine eigenen Erinnerungen beginnen in etwa diesem Alter in Pramso.

Von allem, was vorher geschah, weiß ich nur aus Erzählungen und diese sind – wie bereits erwähnt – teils sehr unterschiedlich.

Die nächsten sechs oder sieben Jahre blieb ich überwiegend in Pramso. Was dann geschah, davon kann ich selbst berichten. Da bin ich auf keine Erzählungen angewiesen.

  1Ein Dorf im Bosomtwe-Distrikt

  2Ghana ist in 16 Regionen aufgeteilt. Eine davon ist die Ashanti Region. Die Ashanti (bei uns Asante geschrieben) waren ein mächtiges und kriegerisches Volk. Mit großem Widerstand widersetzten sie sich wie kaum ein anderes westafrikanisches Volk den europäischen Eindringlingen.

  3Akan-Name für eine weibliche Person, die am Dienstag geboren wird.

  4Oma, Opa

  5Ausland, meist war das transatlantische Ausland gemeint

  6Germany, Deutschland

Licht und Schatten in der frühen Kindheit

In diesen Jahren meiner Kindheit erlebte ich so viel in meinem Dorf. Ich muss schmunzeln, wenn ich heute daran denke. Ich sehe mich splitterfasernackt mitten auf der Straße. An einem dieser Tage zur Regenzeit war binnen weniger Minuten alles überflutet. Kinder liefen auf die Straße, zogen ihre Kleider aus und tanzten im warmen Regen. Ich hatte es mir nie nehmen lassen, das auch zu tun. Selbst als einige meiner Freundinnen allmählich ein Schamgefühl entwickelten und nicht mehr hinaus in den Regen wollten, lief ich auf die Straße. Ich fühle es noch heute, wie die großen Regentropfen auf meiner Haut landen und ein sanftes Druckgefühl hinterlassen, wie meine Füße in einem großen Bach stehen, in dem ich auf und ab hüpfe. Ich öffne meinen Mund und lasse den Regen hineintropfen, nehme einen großen Schluck und trinke, bis mein Durst gestillt ist. Ich drehe mich um meine eigene Achse. Immer schneller und schneller, sodass das Wasser um mich herum nur so spritzt.

In einigen meiner Erinnerungen ist die Zeit in Pramso voller Glück und Unbeschwertheit. Häufig traf ich mich nach der Schule mit meinen Freundinnen Akosua, Nana Yaw und einigen anderen Kindern aus dem Dorf, um Konservendosen zu sammeln. Hinter unserem Haus spielten wir Kochen. Dabei bereiteten wir ganze Menüs zu und taten, als wären wir sehr vornehme Leute. Mit den Fingern, wie wir es eigentlich im Alltag taten, aßen wir dabei natürlich nicht. »Die Leute in den Filmen essen immer mit Messer und Gabel«, informierte uns Akosua, spreizte dabei ihren linken Zeigefinger und Daumen. Sofort machten wir es ihr nach. »Frau«, sagte Yaw zu mir, »hole mir noch was zu essen.« Ich stand auf, bewegte mich einige Schritte fort, ließ dabei meine Hüfte und meinen kleinen Hintern kreisen und kam mit einem Teller voll beladen mit »Essen« zurück. »Mhhh … wie das duftet«, sagte Yaw lächelnd zu mir. »Das hast du aber gut gekocht, meine liebe Frau.« Ich nickte. »Aber die nächste Portion kannst du dir mal schön selbst holen, du fauler Mann«, erwiderte ich. Wir kugelten uns vor Lachen.

Dies waren die Momente, die das Leben in Pramso so unendlich schön machten. In solchen Augenblicken wollte ich nie von dort weg.

Es gibt aber auch unschöne Erinnerungen. Wie so oft spielten wir Kinder noch bis spät in den Abend hinein auf der Straße. Lange Zeit hatte es nie jemanden gekümmert, wie lange wir draußen waren. Doch eines Tages wurde im Dorf der Entschluss gefasst, diese Gewohnheit zu beenden. Wir Kinder wussten nicht, wem wir das zu verdanken hatten. Vielleicht waren es die Chiefs – das waren die Dorfältesten, die nach dem Rechten sahen und die wir in schwierigen Situationen um Rat fragen konnten. Es wurde bestimmt, dass Kinder nicht mehr so lange abends auf der Straße spielen sollten. Der Grund dafür lag nicht etwa in einer potenziellen Gefahr. Nein, angeblich würden wir nicht pünktlich aufstehen, um in die Schule zu gehen, wenn wir so spät noch draußen herumlungerten. Nachdem diese neue Regel eingeführt worden war, sahen wir immer mal wieder jemanden Patrouille laufen. Die Kinder, die noch draußen spielten, wurden nach Hause gescheucht. Wer nicht gehorchte und dennoch spät abends auf der Straße erwischt wurde, den erwarteten am nächsten Tag zu Hause oder in der Schule Schläge oder eine andere Strafe. Trotzdem nahmen wir Kinder diese Regel nicht wirklich ernst. Für uns war es ein Spiel und wir hatten Spaß daran, uns vor den Aufsichtspersonen zu verstecken, wenn sie mit ihren Taschenlampen durch die Straßen zogen.

Als wir eines Abends gerade O-M-O, eines unserer liebsten Straßenspiele, spielten, schrie plötzlich jemand: »Schnell weg. Da kommt einer!« Binnen Sekunden löste sich unsere Gruppe auf und jedes Kind rannte in eine andere Richtung. Nur ich reagierte nicht schnell genug und wurde schließlich eingefangen. Am nächsten Schultag erhielt ich meine Strafe: Nach der Ankunftszeremonie, bei der alle Schulkinder sich zum Singen und Beten auf dem Schulhof versammelten, wurde ich aufgerufen. »Geh nicht«, flüsterte mir meine Freundin Akosua zu. »Doch, sie muss gehen, sonst wird die Strafe nur größer«, hörte ich einen Jungen sagen. Ich wusste, dass er recht hatte. Mit geradem Rücken schritt ich auf unseren Schulleiter Herrn Addo zu, der mit seinem langen Stock in der Mitte des Platzes an einem großen Baum stand. Er war ein großer Mann. Um seine Augen hatten sich schon einige Falten eingegraben und er hatte viele graue Haare. Eigentlich mochte ich Herrn Addo immer, er war freundlich und lachte viel. Damals lachte er jedoch nicht, sondern wies mich ohne Erklärung an, meine Arme um einen Pfahl zu schlingen. Ich wusste, dass viele Augen auf mich gerichtet waren, mir war aber auch bewusst, dass ich meine Strafe mit Würde ertragen musste, sonst wäre die Schande noch größer gewesen als ohnehin schon. »Bloß nicht anfangen zu flennen«, sagte ich leise zu mir selbst, »du bist stark!« Der erste Hieb zerriss die Luft. Mit einem lauten Peitschenton landete der Schlag auf meinem Hintern. Ich verzog mein Gesicht vor Schmerz. »Zähne zusammenbeißen. Nicht weinen!« Irgendjemand fing vor lauter Schadenfreude an zu lachen. Ich versuchte herauszufiltern, aus welcher Richtung es kam. Ich wollte mich rächen. Doch so weit kam ich mit meinen Gedanken nicht, denn der zweite Schlag folgte nur wenige Sekunden später. Nummer drei fühlte ich schon fast nicht mehr. Na ja, fast. Ich sah auch nicht mehr die Gesichter der anderen Kinder. Als es vorbei war, durfte ich den Pfahl loslassen und wieder zurück in die Reihe treten. Meine Freunde wussten, dass sie mich nicht trösten durften, das hätte mich zu einer Verliererin gemacht. Sie hielten sich zurück. Als die Versammlung kurze Zeit danach aufgelöst wurde und die ersten Klassen ihre Räume aufsuchten, wollte ich mich in eine Ecke verkriechen. Akosua kam mir zu Hilfe: »Nicht jetzt«, sagte sie, »sie beobachten dich noch.« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung einiger Lehrerinnen, die auf der Veranda standen. Ich schaffte es, mit Akosua in meine Klasse zu gehen und mich hinzusetzen.

Schläge, Schläge, ständig Schläge. Sie dominierten meine Kindheit und die der meisten anderen Kinder, die ich kannte. In der Schule wurde ich von den Lehrkräften geschlagen, zu Hause von der Nana. Bei jeder Kleinigkeit, bei jedem Ungehorsam, bei jedem Fehlverhalten erhielten wir Schläge. Oft fühlte ich mich so ohnmächtig dabei, weil ich sie als unangemessen und unnötig empfand. Manchmal machten sie mich aber auch wütend. Am liebsten hätte ich zurückgeschlagen. In einigen Situationen beschlich mich das Gefühl, dass kein anderes Kind an meiner Schule so viele Strafen erfahren und Schläge einstecken musste wie ich. Baute ich mehr Mist als andere?

Eines Tages stieß ich erneut mit einem Lehrer zusammen, wieder mit schmerzhaften Folgen. Dieses Mal liefen wir Kinder in der Pause auf den Pausenhof und spielten Fangen. Ich war eine schnelle Läuferin, sprang über sämtliche Hürden und bekam jeden zu fassen. Auf der Veranda lagen einige Lehrkräfte auf ihren Liegen und nahmen ein Sonnenbad. Ein Lehrer hatte die Augen geschlossen und wurde erst aufmerksam, als ich zum Sprint ansetzte und mein rechtes Bein in seiner Liege verhakte. Er schimpfte: »Pass doch auf!« »Yes, Sir«, antwortete ich schnell. »Ihr sollt hier nicht herumlaufen. Wir wollen unsere Ruhe haben.« Ich wollte weiterrennen, doch er stand blitzschnell auf und packte mich. »Wenn ich dich noch mal hier erwische, kriegst du eine Strafe«, drohte er mir. Er meinte es ernst, keine Frage, aber mein Spiel war mir in diesem Moment wichtiger. Ich wollte unbedingt meinen Schulkameraden Kwesi7 fangen. Ich nickte dem Lehrer deshalb nur schnell zu und rannte weiter. Kwesi war inzwischen auf dem großen Platz und wartete dort mit wackelnden Hüften. Ich rannte auf ihn zu. Als ich ihn fast zu fassen bekommen hatte, lief er eine Acht in Richtung der Veranda. Ich überlegte nicht lange und rannte hinterher. Leider führte Kwesis Weg wieder an den gemütlich ruhenden Lehrkräften vorbei. Zwar war ich darauf bedacht, nicht allzu sehr in ihre Nähe zu kommen, aber ich wurde dennoch erwischt. »Wie heißt du«, wollte der Lehrer prompt wissen.

»Ama.«

»Ama wer?« Seine Augen funkelten böse. Erst jetzt bekam ich Angst angesichts der bevorstehenden Strafe.

»Ama Boaduwaa.«

»Gut, Ama Boaduwaa«, sagte er mit einem Lächeln. »Da du nicht nur langsam bist, sondern anscheinend auch Schwierigkeiten hast, zu verstehen, was wir Lehrer euch sagen, musst du jetzt Zwiebeln pflanzen«, ordnete er an.

»Aber ich habe doch nur …« Der Satz blieb mir im Halse stecken, als ich seinen Gesichtsausdruck sah. Widerstand war zwecklos. Diskussionen wurden nur noch höher bestraft. Ich sah über meiner linken Schulter, wie Kwesi mich aus einem sicheren Abstand beobachtete. »Es tut mir leid!«, schien er mit seinem Blick sagen zu wollen. Ich nickte nur. Der Lehrer führte mich in eine mir unbekannte Klasse, wo ich meine Strafe entgegennehmen sollte. Die dortigen Schülerinnen waren älter als ich. Das machten die Lehrkräfte besonders gern. Wir wurden nicht nur bestraft, sondern auch noch zur Schau gestellt, damit die anderen sich entweder über einen lustig machen konnten oder aber Angst bekamen und selber keinen Blödsinn machten. Zwiebeln pflanzen ist eine sehr harte Strafe, sie konnte schlimmer sein als jede Tracht Prügel mit dem Stock. Der Name beschreibt eigentlich nur eine Position, die du einnehmen und in der du für eine gewisse Zeit ausharren musstest: Du stehst auf einem Bein. Es war wichtig, das starke Bein zu nehmen, denn es musste einiges aushalten können. Ich entschied mich für mein linkes Bein. Du senkst den Oberkörper so weit, bis du nur mit dem Zeigefinger des gleichseitigen Armes – in diesem Falle des linken – den Fußboden berührt. Alles andere streckst du in die Luft. »Wie lange soll sie es durchhalten?«, wollte die Lehrerin der höheren Klasse wissen. »Eine halbe Stunde!«, rief mein Peiniger und verließ das Klassenzimmer. »Oh Mann, eine halbe Stunde. Wie soll ich das bloß schaffen?« Einige Jungs lachten: »Sie wackelt ja jetzt schon wie eine Feder im Wind.« Die Klassenlehrerin fauchte in den Raum: »Mach du bloß weiter so, dann stehst du gleich neben ihr.« Daraufhin wurde es plötzlich still im Raum. Ich hatte das Gefühl, dass mich niemand mehr anstarrte, und war der Lehrerin sehr dankbar dafür. Erst jetzt merkte ich, wie heiß es an diesem Tag war. Nach wenigen Minuten lief mir bereits der Schweiß über die Stirn. Wenn ich es nicht durchstand und zwischendurch auf die Hand fiel oder mich hinstellte, würde die Zeit verlängert werden. Das wollte ich auf jeden Fall vermeiden. Als ich nach wenigen Minuten nicht mehr konnte, wechselte ich mehrmals unbemerkt die Seite. Oder wurde das doch von jemandem bemerkt? Ich kann das nicht ausschließen. Aber wenigstens hat mich niemand verraten.

Ob mit oder ohne Seitenwechsel, eine halbe Stunde Zwiebeln pflanzen ist lang. Sie erscheint einem wie eine halbe Ewigkeit. Wie ich sie letztlich überstanden habe, weiß ich heute nicht mehr. Aber mein linkes Bein und mein linker Arm waren danach schwer wie Blei. Meiner rechten Körperhälfte ging es auch nicht viel besser. Ich konnte kaum laufen, alles tat mir weh. Gejammert oder gar geweint habe ich trotzdem nicht. Ich war ja schließlich kein Schwächling.

In meiner Kindheit war es völlig normal, mit Schlägen oder anderen Strafen sanktioniert zu werden, sobald wir gegen die Regeln verstießen, uns nicht artig verhielten oder gar den Anweisungen der Erwachsenen widersetzten. Je nach Schweregrad der »Tat« fielen die Strafen härter oder milder aus. Ich kann mich an kaum einen Streich erinnern, bei dem ich ohne Strafe davongekommen bin, verhängt von meiner Familie, den Lehrkräften oder anderen Personen. Ich fand die ständigen Strafen schon als Kind total schlimm. Ein bisschen Strenge hielt ich in vielen Situation für durchaus sinnvoll, denn die Angst vor Konsequenzen bewahrte uns Kinder davor, Dummheiten zu begehen, und führte zum respektvollen Umgang mit Erwachsenen. Vor meiner Oma hatte ich Respekt. Und Angst. Denn sie konnte sehr streng sein. Heute würde ich sagen militärisch streng. Sie war im Allgemeinen eine sehr fleißige und strukturierte Frau. So gut sie konnte, sorgte sie für uns alle und hielt das Haus sehr sauber. Aber sie hatte vor allem an uns Mädchen hohe Ansprüche und hat uns – insbesondere mich – ständig spüren lassen, wenn wir ihren Ansprüchen nicht gerecht wurden. Einerseits habe ich sie immer dafür bewundert, dass sie es geschafft hat, so viele Kinder großzuziehen, und das zum großen Teil allein, denn – soweit ich mich erinnere – ihr Mann war arbeitsunfähig. Wie machte sie das bloß? Das würde ich nie schaffen, dachte ich damals. Andererseits hatte ich kein gutes Verhältnis zu ihr. Sie bestrafte mich zu oft und zu heftig. Und dann konnte sie auch wieder lustig sein. Sie lachte gern. Das gefiel mir.

Aber es gab selten bei ihr etwas zu lachen. Ich erinnere mich an ein Erlebnis, bei dem es mich besonders hart traf: Da ich nachts immer zu spät von der Straße nach Hause kam, hatte Nana eine neue Regel eingeführt. Das große weiße Eisentor, das sonst offen stand, wurde von nun an abends abgeschlossen. War ich vor der vereinbarten Zeit nicht rechtzeitig zu Hause, musste ich allein eine Lösung finden. Das Tor erschien mir Dreikäsehoch als unüberwindbar. Dennoch war ich sicher, dass ich im Zweifelsfall schon einen Weg finden würde, um darüber zu klettern.

In den darauffolgenden Tagen schaffte ich es auch tatsächlich, ins Haus zu gelangen, obwohl das Tor geschlossen war. Doch eines Abends verlief alles anders. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass ich besonders müde war, vielleicht hatte ich auch einfach Pech. Und so kam es, dass sich der Drehhaken zum Öffnen der Tür beim Versuch, über das Tor zu klettern, auf halber Höhe in mein Bein bohrte und mir eine lange Wunde in die Haut schlitzte. Als wäre es erst heute passiert, höre ich mich vor Schmerz laut aufschreien. Nana war von meinem Geschrei aufgewacht, und als sie sah, dass ich mich am Tor verletzt hatte, weil ich nicht rechtzeitig ins Haus gekommen war, zeigte sie keinen Funken Mitleid. Im Gegenteil. Sie schrie mich an, während das Blut an meinem Bein nur so in Strömen herunterlief. Inzwischen hatte sich eine große Lache an meinen Füßen gebildet und ich hatte Angst, zu verbluten. Nach ihrem Wutanfall lief Nana plötzlich weg und ich fragte mich, ob sie mich zur Strafe verbluten lassen würde. Als sie wenige Minuten später zurückkam, hielt sie einen Kanister in der Hand. Anfangs war ich unsicher, welche Flüssigkeit sich darin befand, bis mir einfiel, dass es Alkohol war, der auf Verletzungen höllisch wehtat. Der Geruch triggerte eine frühere Verletzung an meinem Arm. Eine Wunde hatte sich total entzündet und meine Oma rückte mit dem Kanister Alkohol an. Ich hatte plötzlich mehr Angst vor dem Schmerz, den der Alkohol auslösen würde, als vor dem eigentlichen Verbluten.

Das Haus meiner Kindheit in Ghana, Frontansicht und Hinterhof, 1989

»Yɛ dinn!8«, befahl mir Nana. Dann hielt sie den Kanister hoch und kippte einen Schuss Alkohol direkt auf mein Bein. Mein Schrei durchdrang die Nacht. Ich heulte, wie ich in meinem Leben noch nie geheult hatte. Mein Körper zitterte, mein Bein knickte ein und ich landete auf dem harten Boden. Als Nana ein Tuch mit der Flüssigkeit durchtränkte und es auf mein Bein legen wollte, flehte ich sie nur an: »Nana, dabi9, dabi. Bitte nicht!«

Doch sie schaute mich nicht einmal an. Ich schrie erneut, als das Tuch mein Bein berührte.

»Was ist denn los?«, fragte eine schlaftrunkene Stimme von oben. Es war meine jüngste Tante, zu dem Zeitpunkt dachte ich, sie wäre meine Schwester. Aber dazu später.

»Nichts«, erwiderte Nana schulterzuckend.

»Ama ist nur über das Tor geklettert und hat sich verletzt.«

»Sie soll mal nicht so ein Theater machen.«

Die Nacht nach dieser Höllenprozedur war grauenvoll. Ich jammerte ununterbrochen und bekam vor Schmerz kein Auge zu. Wenn ich jedoch geglaubt hatte, dass die Alkoholbehandlung die Strafe für mein Vergehen war, so wurde ich schon bald eines Besseren belehrt. Denn den Alkohol hatte meine Nana nur zur Behandlung der Wunde eingesetzt. Die eigentliche Strafe erwartete mich am nächsten Tag. Kaum war ich nach unten gehumpelt, zog sie mich wortlos in die Küche. Dort hatte sie Ingwer gemahlen.

»Zieh deinen Rock aus!«, befahl sie mir.

Ich schüttelte den Kopf. Dem, was nun folgte, wollte ich mich auf keinen Fall aussetzen. Es handelte sich um eine der schlimmsten Strafen überhaupt. Zumindest für mich. Ich hatte sie schon länger nicht mehr erhalten und dabei sollte es meiner Meinung nach auch bleiben. Mit aller Kraft versuchte ich, mich dem Griff meiner Oma zu entziehen. Aber sie war stark und hatte mich mit einer Hand fest im Griff. Mit der anderen zog sie mir Rock und Unterhose herunter. Sie griff in die Schale und nahm eine kleine Menge Ingwer zwischen ihre Finger. Mit dem linken Ellenbogen drückte sie meinen Oberkörper fest nach unten, sodass ich gezwungen war, ihr meinen Hintern entgegenzustrecken. Schwupps, hatte ich Ingwer im Po. Ingwer! Kann sich jemand vorstellen, wie sich die Schärfe im Po anfühlt? Es brennt höllisch! Du hast das Gefühl, der Hintern löst sich auf. Und der Ingwer, den wir in Ghana verwenden, ist nicht vergleichbar mit dem, den die Leute in Deutschland kaufen können. Der Ingwer meiner Kindheit ist oft kleiner, dunkel und ein bisschen verschrumpelt. Er sieht harmloser aus. Aber er ist viel schärfer als der Ingwer, den wir in deutschen Geschäften kaufen können. Der Tag war für mich gelaufen. Die nächsten Tage und Nächte auch. Ingwer ist eigentlich das Allheilmittel in Ghana. Kaum eine Suppe oder Soße wird ohne frischen Ingwer gekocht. Vor diesem Vorfall war mir diese Tatsache kaum bewusst, ich hatte stets alles gegessen, ohne die Schärfe überhaupt zu merken, ich war geschmacklich mit Ingwer sozialisiert worden und ich liebte ihn. Doch seit diesem Vorfall mochte ich Ingwer nicht mehr und damit jedes Gericht, welches dieses Gewürz enthielt. Das bedeutete allerdings auch, dass ich mein Lieblingsgericht Omotuo nicht mehr genießen konnte. Diese leckeren Reisbällchen mit Erdnusssuppe, die meiner Oma so gut gelangen wie kaum einer anderen Frau. Ich hatte Nana immer dafür geliebt, für ihr Omotuo hätte ich sterben können. Nun hatte sie mir mit ihrer Ingwer-Strafe jede Freude daran verdorben. Erst zwanzig Jahre später, in einem anderen Land auf einem anderen Kontinent, sollte ich den Geschmack von Ingwer wieder lieben lernen.

No school today

Nach dem Ingwer-Vorfall folgten viele Monate, in denen ich nicht zur Schule ging. Nicht wegen der Schmerzen, diese waren zum Glück und ohne dass ich es mir zum Zeitpunkt meines Leidens hätte vorstellen können, irgendwann abgeklungen. Nein, laut Nana konnten wir – mal wieder – das nötige Schulgeld nicht bezahlen. Trotzdem stand ich weiterhin jeden Morgen so früh auf, als würde ich zur Schule gehen. Ich erledigte die mir zugeteilten Aufgaben, fegte den Hof und holte mit einer großen Wanne Trinkwasser aus einem recht weit entfernten Dorf. Für den Weg brauchte ich eine gefühlte Stunde, die Entfernung selbst war zwar nicht so groß, aber mit der schweren Wanne auf dem Kopf konnte ich nicht so schnell gehen. Schließlich sollte so wenig Wasser wie möglich herausschwappen, sonst hätte Nana mich gleich wieder losgeschickt, um noch mehr Wasser zu holen. Das war mir schon mehrfach passiert.

Nachdem ich das Wasser geholt hatte, wusch ich mich. Manchmal durfte ich Wasser im Topf erwärmen und mir eine lauwarme Mischung zubereiten. Meistens aber wusch ich mich mit kaltem Wasser, was ziemlich unangenehm sein konnte. Aber ich war daran gewöhnt. Die Zähne putzte ich, wie es in Pramso üblich ist, einfach mit einem Zahnputzhölzchen. Das ist ein ca. zehn bis fünfzehn Zentimeter langes Holzstäbchen, den Namen habe ich vergessen. Aber es wird auch heute noch verwendet, sogar von ghanaischen Migrierten. Wir kauen an einem Ende so lange auf dem Holzstäbchen herum, bis es fransig wird und quasi als Bürste verwendet werden kann. Dann schrubben wir die Zahnoberfläche damit und entfernt so den Zahnbelag. Die abblätternden Holzpartikel spucken wir einfach aus. Ich erinnere mich aber auch daran, dass wir oft auch auf Kohle und Blättern herumgekaut haben. Die Namen der Blätter habe ich leider auch vergessen. Aber Zähneputzen hat mir in Ghana immer Spaß gemacht, anders als die Benutzung von Zahnbürste und Zahnpasta viele Jahre später in meiner neuen Heimat. Das war todlangweilig. Wer bitte hatte sich so etwas ausgedacht und nannte es auch noch zivilisiert? Minutenlang auf der Stelle zu stehen, während man mit einem unförmigen Ding kreisende Bewegungen macht. Dabei nie zu wissen, ob der ausgeübte Druck zu schwach oder zu stark ist. Bei Kohle oder Holzstäbchen wussten wir immer: Das ist gut! Wir konnten das überall machen, sogar auf der Straße wurde das gemacht.

Nach dem Zähneputzen waren die Fingernägel dran. Jeden Morgen, bevor die Schulkinder in die Klassen gingen, wurden auf dem Hof die Nägel kontrolliert. Sie hatten sauber und kurz zu sein. Meine hätten die Prüfung oftmals nicht bestanden, wenn ich nicht mit Messer und Schere jeden Finger bearbeitet hätte. Meine Schuluniform überprüfte ich auch auf Flecken, bevor ich sie anzog. Sauber und gestriegelt wie ich war, setzte ich mich trotzdem jeden Tag, an dem ich nicht zur Schule ging, an den Straßenrand. Hinter mir lag unser Haus, vor mir die lange Pramso-Straße, die sich endlos ins Nirgendwo zu erstrecken schien. Nach wenigen Minuten erschienen einige der Dorfkinder, ebenfalls angemessen für die Schule vorbereitet. Sie gingen bis zur nächsten Schule drei Dörfer weit entfernt, das waren viele Kilometer Schulweg jeden Tag. Bis auf Yachie habe ich die Namen aller Dörfer heute vergessen, vielleicht habe ich sie aber auch nie gewusst. Einige Kinder gingen auch auf Schulen, die sie mit dem Tro-Tro10 erreichten. Dafür gingen sie zu Fuß ins nächste Dorf und warteten dort auf ein Tro-Tro. Diese Minibusse sind unterschiedlich groß; in einige passen acht Leute, dazu der Fahrer und ein Mate11, der abkassiert. Andere haben Platz für zwölf Fahrgäste. Du stehst an der Straße und wartet darauf, dass ein Tro-Tro vorbeikommt. Die Mate rufen dann immer die Richtung aus, in die sie fahren. Wenn du mitfahren willst, gibst du ein Handzeichen, der Tro-Tro hält an und du bezahlst beim Einstieg. Manchmal kann es sehr lange dauern, bis du von einem Tro-Tro mitgenommen wirst. Denn häufig sind sie überfüllt.

Ich durfte in dieser Zeit nicht mit. Bei dem Gedanken, dass die eine Kindergruppe gerade den langen Marsch zu Fuß ablegte um in die Schule zu gehen, und die anderen Kinder dafür in ein Tro-Tro stiegen, während ich noch immer am Straßenrand saß, rannen mir unmerklich Tränen die Wangen herunter. Wie gern wollte ich mit. Schule war doch so toll! Dort konnten wir etwas Neues lernen. Am meisten Spaß hatte ich an Mathematik, denn alles, was mit Zahlen zu tun hatte, faszinierte mich. Kurz vor meiner Ingwer-Erfahrung hatten wir im Unterricht eine Liste mit dem Einmaleins erstellt – Bücher gab es in meiner Schule keine. Höchstens mein Lehrer besaß eines. Alles, was für uns wichtig war, stand an der Tafel, und wir haben es abgeschrieben. Das Einmaleins wurde uns diktiert, und wir haben es auf Papier geschrieben und zum Lernen mit nach Hause genommen.

Am Straßenrand sitzend, holte ich die Liste manchmal hervor und ging im Kopf alles durch. Ja, ich konnte das kleine Einmaleins komplett. Witzig fand ich dabei, dass es keine Rolle spielte, in welcher Reihenfolge die Zahlen auftauchten. Dass dreimal vier das Gleiche ergab wie viermal drei. Komisch eigentlich, oder? In Deutschland sollte ich später lernen, dass es das Kommutativgesetz genannt wurde, in Ghana hatten sie uns kein Fachwort dafür gesagt. Oder ich habe es vergessen. Als ich den Lehrer damals fragte, warum das so ist, dass wir nur bei der Multiplikation Zahlen verdrehten und das Ergebnis trotzdem gleich blieb, hatten die anderen aus meiner Klasse laut losgelacht und die Augen verdreht. Sie wussten, was kommen würde: »Warum stellst du eigentlich immer diese Fragen, Ama? Welche Antwort willst du denn darauf haben?«, raunzte der Lehrer wütend. Mein ständiges Nachfragen ging allen auf die Nerven, das wusste ich. Aber wenn ich etwas nicht verstand, dann konnte ich doch nicht einfach den Mund halten. Wir hatten schließlich keine Bücher, in denen ich etwas hätte nachlesen können. Wir hatten nur unsere Lehrerinnen, die für uns allwissend waren. Alles, was wir lernten, kam einzig aus ihren Mündern, entsprang den Worten, die sie mit ihrer Kreide an die Tafeln schrieben. Wen hätte ich also sonst fragen sollen? Meine Nana und die anderen aus der Familie wussten von alldem ohnehin nichts. Doch alles, was mir mein Lehrer in diesen Situationen sagte, sobald er sich wieder beruhigt hatte, war: »Sieh mal, Ama, das ist einfach so. Das musst du so lernen.« Mit dieser Antwort war ich aber nicht zufrieden, dennoch gab ich erst mal Ruhe.

Während ich so meine Tage am Straßenrand verbrachte und an diese und ähnliche Schulsituationen dachte, musste ich manchmal schmunzeln. Ich wusste, dass nichts im Leben »einfach so war«. Irgendwoher musste doch alles kommen. Irgendjemand vor mir musste sich doch schon diese Gedanken gemacht haben. Aber diese Antwort musste mir für den Moment reichen. Und außerdem hatte ich meinem Lehrer nach dem Unterricht versprochen, nicht mehr so viel nachzufragen, obwohl ich schon damals wusste, dass ich mich nicht daran halten kann.

Ich verpasste so viel Unterricht in jener Zeit und befürchtete, den Anschluss zu verlieren. Wäre ich dann wieder in der Schule, würde ich oft nachfragen müssen und viele Sachen wieder nicht verstehen. Das war wirklich ein Dilemma. Merkwürdigerweise bekam ich es dennoch irgendwie immer hin, den Vorsprung der anderen aufzuholen, wenn ich nach längerer Abwesenheit wieder die Schule besuchen durfte. Ich arbeitete den verpassten Stoff nach, sodass ich nach kurzer Zeit wieder mit den anderen Kindern mithalten konnte und beim nächsten Mathetest sogar auf Platz neun kam. Noten für die einzelnen Schüler gab es bei uns nicht, stattdessen wurden wir durch eine Art Klassenranking bewertet. Es gab eine Namensliste, wer am meisten Punkte bei der Arbeit erhielt, landete auf Platz eins, wer am wenigsten hatte, auf Platz 50. Oder auf Platz 40, wenn weniger Schülerinnen die Klassenarbeit an dem Tag mitgeschrieben hatten. Ich hatte es schon mehrmals auf Platz drei geschafft.

Meine Jahre in Pramso vergingen fast unmerklich. Mein Dorf war meine Heimat und ich war mir sicher, dass ich mein ganzes Leben dort verbringen würde. Heute ist nun ein anderes Land meine Heimat geworden. Doch meine Wurzeln liegen hier, in diesem kleinen Dorf in Ghana. Und sie sind noch heute – 30 Jahre nach meiner Auswanderung – ein Teil von mir.

  7Akan-Name für eine männliche Person, die am Sonntag geboren wird.

  8Halt still!

  9Nein

 10Billiges Transportmittel für Personen und Frachten, dicht bestuhlt, wörtliche Akan-Übersetzung: Drei-Drei (früher: Fahrpreis 3 Pesewas)

 11Der Assistent des Fahrers

Me maame – Meine Mutter

Ich war etwa sechs Jahre alt, mein genaues Alter kannte ich damals nicht. Es spielte in Pramso keine Rolle, wann wir geboren waren, niemand zählte die Jahre oder Monate. Geburtstage wurden nie gefeiert. Wir führten im Vergleich zu dem, was ich später kennenlernen sollte, ein recht zeitloses Leben. Zwar besaßen manche Haushalte eine Uhr, wir richteten uns aber ebenso nach dem Sonnenstand oder nach dem Krähen des Hahns. Öffentliche Uhren gab es nicht, und ich kannte zu dieser Zeit auch niemanden, der eine Armbanduhr trug. Nur mein Wɔfa12Kweku13 trug manchmal eine, wenn er aus Accra zurückkam, aber er war auch ein Angeber. Er trug die Uhr nur, um gegenüber uns Dorfbewohnerinnen damit zu prahlen. Wahrscheinlich funktionierten seine Uhren nicht mal. In der Schule allerdings spielte die Zeit eine große Rolle. Wir mussten pünktlich zum Gebet und zum Unterricht erscheinen, sonst gab es Strafen.

In dieser zeitlosen Welt spielte ich – wie so oft – mit meinen Freunden hinter dem Haus des Dorfältesten. Eines Tages hatten wir mal wieder Dosen und Steine gesammelt, mit denen wir stundenlang spielten. Aus einer gewissen Entfernung versuchten wir, die Dosenpyramiden mit den Steinen umzuwerfen. Bei diesem Spiel gewann ich oft, denn ich vermochte sehr gut zu zielen.

Doch an jenem Tag hatten wir kaum eine Stunde gespielt, als wir von zunehmendem Lärm unterbrochen wurden. Wir sahen, wie viele Leute an uns vorbeirannten und zur Hauptstraße liefen. »Was ist los?«, wollte meine Freundin Akosua von den Vorbeilaufenden wissen. »Da ist jemand gekommen«, sagte eine Frau keuchend und lief weiter. Wir wussten sofort, was das bedeutete. Jemand aus America oder Europe war angekommen.

Jemand, der Geld besaß und vielleicht etwas mitgebracht hatte. »Komm, lass uns hin«, rief mein Schulkamerad Miensah. Ich schüttelte den Kopf. Obwohl der Gedanke verlockend war, vom Besuch etwas zum Naschen geschenkt zu bekommen, hatte ich keine Lust, mein Spiel zu beenden. Es machte gerade großen Spaß. Und mir ging der ganze Hype auf die Nerven, der entstand, wenn jemand aus dem Ausland kam. Das »Ausland« – oder wie wir es nannten Abrokyire – war sowieso so etwas Undefiniertes. Europe, America, niemand wusste, ob es diese Orte gab. Und wo sie lagen, konnte mir auch niemand erklären. »Es ist ganz weit weg«, wurde mir jedes Mal gesagt, wenn ich danach fragte. Vielleicht kamen diese Leute gar nicht aus dem Ausland. Vielleicht waren es nur solche Angeber wie mein Onkel Kweku, die nur hierherkamen, um uns zu zeigen, was wir nicht hatten und nie haben würden. Um uns neidisch zu machen. Ach, zum Teufel mit den Bonbons. Plötzlich war ich allein. Egal, ich würde hier sitzen bleiben und weiterspielen, bis die anderen zurückkamen. Ich weiß nicht, wie lange ich da so allein saß. Ganz in meine Gedanken versunken, überhörte ich die Stimmen, die allmählich immer lauter wurden. »Ama!« Ich schrak auf. Das war doch mein Onkel Kwesi! Die Stimmen kamen näher. Ich sah eine Menschenmenge in meine Richtung abbiegen. Was war denn los? Irgendetwas schien die Gruppe in Aufregung zu versetzen.

»Ama Boaduwaa, bra!14« Mit einer eiligen Handbewegung befahl er mir, ihm zu folgen.

»Nein, ich will da nicht hin.«

»Was ist los mit dir? Es ist jemand gekommen. Jemand aus Europe Abrokyire. Sie ist reich. Sehr reich. Sie ist mit einem schönen roten Auto gekommen. Und sie hat nach dir gefragt.«

Doch die Verlockungen meines Onkels ließen mich kalt.

»Ja, bestimmt. Und jetzt bin ich eine Prinzessin und werde auch reich«, sagte ich ironisch.

»Hör auf damit und komm endlich. Nana hat gesagt, ich soll nicht ohne dich kommen.«

Das wirkte. Ich wusste, wenn Nana etwas sagte, dann hatte es auch genauso zu geschehen. Ansonsten konnten die Folgen ziemlich unangenehm werden. Widerwillig stand ich auf. Mindestens 20 Kinder umringten meinen Onkel und mich, als wir zum Haus gingen. Auf der Straße und am Tor war eine große Menschenmenge versammelt. Die Menschen kamen kaum vorwärts.

Plötzlich hörte ich von irgendwoher eine mir unbekannte, aber laute Stimme fragen: »Wo ist jetzt meine Tochter?« Wer suchte hier seine Tochter?

»Komm schneller!« Mein Onkel trieb mich durch die Menschenmenge. So viele Leute hatte ich zuletzt in Kumasi auf dem Market gesehen. In der Mitte stand meine Oma, die Hände in die Hüften gestemmt. Ich merkte, wie sie ungeduldig umherblickte und mich dann fixierte. Plötzlich änderte sich ihr Gesichtsausdruck. »A-MA«, sagte sie mit einer langgezogenen Stimme und kam mit einem breiten Lächeln auf mich zu. Instinktiv machte ich einen Schritt zurück. Hier stimmte etwas nicht, die ganze Situation war mir nicht geheuer.

»Ama, me ba!15«, sagte die Frau neben meiner Oma, die mir bis dahin kaum aufgefallen war. Sie war ungefähr so groß wie meine Oma, aber etwas schlanker. Sie war wunderschön angezogen. Sie trug ein Kleid aus unserem Stoff, aber der Schnitt war ganz anders. So ein Kleid hatte ich noch nie gesehen. Ihre Haare waren glatt und lang, pechschwarz und glänzend. Sie trug Make-up und hatte lackierte Nägel, ihre Füße steckten in geschnürten Sandalen mit hohen Absätzen und sie trug viel Schmuck. Sie war so schön. Sie war bestimmt die schönste Frau, die ich jemals gesehen hatte. Sie sah aus wie einer dieser Stars, die du in den Filmen sahst und die ein großes Haus mit Garten und Personal hatten. Ob sie wohl gerade aus einem Film kam? Meine Gedanken wurden unterbrochen, als die unbekannte Schöne auf mich zukam, ihre Arme weit ausgebreitet. Nana Abena sah meine Unsicherheit und sagte mit fröhlicher Stimme: »Ama, ɛyɛ wo maame.« Ich verstand nicht. Das sollte meine Mutter sein? »Du bist doch meine Mutter!«, entgegnete ich unsicher und sah dabei Nana an. Die schöne Frau lächelte schwach, meine Oma schüttelte den Kopf. Was ging hier bloß vor? Egal, was es auch für ein Spiel war, es gefiel mir nicht! »Ich habe doch schon eine Mutter. Ich brauche keine andere«, protestierte ich weiter. »Ama, hör doch zu. Ich bin nicht deine Mutter. Ich bin deine Oma. Ich habe dich nur großgezogen. Das …«, sie nahm die Hand der Frau und führte sie näher zu mir, »… das hier ist deine Mutter. Ich bin deine Nana.«

Bei mir begann sich alles im Kopf zu drehen. Wenn Nana Abena nicht meine Mutter war, dann waren Kofi16, Kwesi, Kweku und die anderen auch nicht meine Brüder. Ich hatte sie zwar immer Wɔfa, also Onkel, genannt, aber nur weil alle anderen Kinder aus dem Dorf sie auch so riefen.

Schließlich nannten wir alle möglichen Leute Onkel, Tante, Mutter oder Oma. Auch wenn wir gar nicht mit ihnen verwandt waren. Das war bei uns so üblich. Wir redeten einen älteren Menschen nicht allein mit seinem Namen an, sondern nur mit einem Titel wie »Tante« oder »Onkel« oder mit einer Kombination aus Titel und Vornamen. Deshalb hatte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, dass meine Nana tatsächlich meine Oma sein könnte und dass meine Brüder in Wirklichkeit meine Onkel waren. In meinem Kopf wurde es auf einmal schummrig. »Ama«, sagte die schöne Frau ruhig, »bra me nkyɛn, wai?17« Sie lächelte sanft. »Du bist nicht meine Mutter!«, schrie ich. »Du bist auf keinen Fall meine Mutter!« Ich drehte mich um und lief davon. Ich wollte nur noch ganz weit weg. Die waren ja alle irre. Doch ich kam nicht weit. Am Tor wartete einer der Dorfältesten auf mich und ließ mich nicht durch. Ich wusste nicht, wie mir geschah, aber im nächsten Augenblick lag ich in den Armen der schönen Frau, die mich ganz fest hielt und immer wieder meinen Namen flüsterte.

Die nächsten Tage lebte ich ein Leben, das ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Zwischenzeitlich war ich mir unsicher, ob ich tot und das vielleicht schon der Himmel war.

Alles begann damit, dass mich die schöne Frau, die wirklich meine Maame war, am nächsten Tag mit ihrem schönen Auto und Chauffeur abholte. Wir fuhren nach Kumasi und wohnten in einem großen Haus mit Garten und vielen Bäumen. Ich kniff mich selbst in den Oberschenkel, bis es wehtat. Ich schien nicht zu träumen. Über eine große Veranda gelangten wir ins Haus. Meine Mutter führte mich durch die vielen Zimmer. Ich war mir sicher, ich würde mich da drin verlaufen. Es gab einen großen Salon mit einem Fernseher, der fast so groß wie ich selbst war, und viele Schlafzimmer. Ich bekam ein eigenes Zimmer. Wow! Darin stand ein Bett – ich hatte noch nie in einem richtigen Bett geschlafen. In Pramso hatte nur Nana eins, aber auch sie schlief meist nicht im Bett, sondern wie wir alle auf dem Boden. Manchmal, wenn sie außer Sichtweite war, hatte sich eines der Kinder kurz ins Bett gelegt. Ich hätte das auch mal gern ausprobiert, aber ich wusste, dass die Jungs mich dann verpetzt hätten, und meine Angst vor einer Strafe war einfach größer als meine Neugierde.

Hier aber wurde ich, so schien es mir, für meinen langjährigen Gehorsam belohnt. Ein eigenes Bett, sogar mit solch schöner Bettwäsche. Meine neue Mutter sah meinen Blick und deutete mit einer Kopfbewegung auf das Bett. Ich ließ mich mit meinem ganzen Gewicht darauf fallen. Oh meine Güte! Das musste der Himmel sein. Das konnte nur der Himmel sein …

Am nächsten Tag ging meine Mutter mit mir einkaufen, um mich neu einzukleiden. Ich bekam drei neue Kleider sowie drei Kostüme. Ein Zweiteiler aus Samt wurde mein Lieblingsstück. Es fühlte sich unglaublich sanft an, wenn ich mit der Hand darüberstrich. So einen Stoff hatte ich noch nie gesehen. Dazu gab es noch eine passende Jacke und ich bekam mehrere Paar Schuhe. Auf dem Nachhauseweg musste ich mich in meinem neuen Kostüm an verschiedenen Orten in Pose werfen, damit meine Mutter mit ihrer Kamera Fotos machen konnte. Ich fühlte mich wie ein Model, auch wenn ich bis dahin noch nie ein Model gesehen hatte, sondern nur das Wort kannte.

Bei meiner neuen, alten Mutter gab es jeden Tag so viel zu essen, wie ich wollte. Meistens aß ich dreimal am Tag und manchmal so viel, bis mein Bauch richtig prall gefüllt war. Und so einige Male hatte ich Angst, dass es bald schon wieder weniger zu essen geben würde. In Pramso aßen wir, soweit ich mich erinnere, meistens nur einmal am Tag, oft abends, kurz bevor die Sonne unterging. Wenn ich zur Schule ging, gab es in der Schule irgendeinen Snack, den mussten wir aber selbst bezahlen. Das Geld dafür hatte ich nicht. Was Nana kochte, musste gegessen werden. Meistens gab es Fufu mit einer Pepper soup, eine dünne scharfe Suppe. Die Fufu-Klöße wurden aus Cassava und Brɔdeɛ18 hergestellt. Manchmal gab es auch Omotou oder Yam19. Auch Gari mit Soße gab es oft. Gari ist so eine Art Mehl oder Pulver aus Cassava, das z. B. zu einem Kloß verarbeitet wird.

Bei meiner Mutter gab es nur, was ich essen wollte. Das hieß: jeden Morgen Eier, so viele ich wollte. Manchmal mit Toastbrot, aber meistens wollte ich Reis. Ich liebte Reis. An einigen Tagen gab es eine leckere Tomatensoße zum Reis mit Eiern. Fleisch oder Fisch wollte ich hingegen nie, denn das mochte ich überhaupt nicht, obwohl es in Pramso etwas Besonderes war. Das gab es selten und dann auch nur sehr wenig, weil es teuer war. Die anderen wollten Fleisch und Fisch essen, am liebsten jeden Tag. Nur bei Ziegenfleisch machte ich eine Ausnahme.

Das Essen für mich kochte eine Tante. Meine Mutter aß meistens Reis mit etwas, das sie »Salat« nannte. Das waren grüne Blätter mit Tomaten und Soße und einigen anderen Sachen drin, die ich nicht kannte. Obwohl es wie Ziegenfutter aussah, war er zu meiner Verwunderung köstlich, so knackig, würzig und vor allem frisch. Die folgenden Tage wollte ich zum Frühstück dann Ei, Reis und Salat haben. Dazu jeden Tag süßen Kakao.

Meine Mutter nahm mich überall mit hin. Wir besuchten viele Leute, die ich nicht kannte und bei denen sie mich stets als ihre Tochter vorstellte. Viele von ihnen wohnten auch in solch schicken Häusern und hatten Hauspersonal, das Tee für uns servierte.

Ich weiß nicht, wie viele Tage ich mit meiner Mutter in dem großen Haus in Kumasi verbrachte. Aber irgendwann waren sie einfach vorbei. Meine Mutter sagte mir, sie würde mich zurück nach Pramso bringen lassen, sie selbst könne leider nicht mit, sie müsse nach Abrokyire fliegen. Der Gedanke, wieder nach Pramso zu fahren, gefiel mir ganz und gar nicht. Ich wollte weiterhin mehrere Mahlzeiten am Tag verzehren, in einem weichen Bett schlafen, schöne Kleidung – und vor allem Schuhe – tragen. Schuhe, die nicht zu klein waren und so wehtaten wie die, die ich in Pramso manchmal bekam. Oder die viel zu groß waren und die ich fast immer verlor. Ich wollte weiter fernsehen können, wann immer ich wollte.

Der Chauffeur meiner Mutter packte an meinem letzten Tag nach dem Frühstück mein Gepäck ins Auto und kam in Begleitung meiner Mutter zurück. Sie verabschiedete sich von mir mit Tränen in den Augen, die ihr über die Wangen zu rollen drohten. Ich war ganz still, als sie mich fest in den Arm nahm und mich drückte. Es fühlte sich eigenartig an, warm, aber irgendwie gut. Sie nahm meinen Kopf zwischen ihre Hände, dann kam sie mit ihrem Gesicht ganz nah an meines heran und drückte mir ihre Lippen auf die rechte Wange. Diese Geste kannte ich nicht. Danach machte sie dasselbe mit meiner Stirn, nahm mich hoch und drückte mich fest in ihre Arme. Ich sah, wie sie den Kampf gegen die Tränen verlor. Das machte auch mich traurig. Leise fragte ich: »Sehen wir uns irgendwann mal wieder?« Sie nickte. Die Tränen liefen weiter. »Ich komme wieder. Dann hole ich dich ab und nehme dich mit. Dorthin, wo wir dann immer zusammen sein können, wie die letzten Tage. Ich komme wieder. Ganz bald.« Dann deutete sie auf die große Box im Auto. »Da sind Lebensmittel drin. Für dich und die Familie. Schokolade, Bonbons und andere Sachen. Geld ist da auch drin. In einem Umschlag. Der ist für Nana.«

»Meda wo ase. Danke für die schöne Zeit«, sagte ich.

»Nna ase20«, antwortete sie. Noch einmal umarmte sie mich. Noch einmal gab sie mir einen Kuss auf die Wange.

Die Fahrt nach Pramso verlief ruhig. Es war ein heißer Tag, niemand sagte ein Wort. Der Fahrer und ich hingen unseren Gedanken nach. Die Dorfbewohnerinnen wussten wohl, wann wir ankommen würden, denn das Begrüßungskomitee war groß. Nana stand am Eingangstor und kam auf mich zu, als ich ausstieg. Sie umarmte mich, was ich als sehr fremd empfand, da sie das zuvor noch nie gemacht hatte. Ich deutete auf die Box, die der Fahrer gerade ins Haus trug, und erklärte, was sich darin befand. Lächelnd nickte sie und führte mich in unseren kleinen Salon, wo die ganze Familie versammelt war und viele Leute aus dem Dorf. Ich musste alle Erlebnisse der letzten Tage schildern. »Oh du Glückliche«, stotterte Asik und konnte seinen Neid nicht verbergen. Die anderen nickten zustimmend. Ich musste auch meine neue Kleidung zeigen, die danach wieder in den Koffer gelegt wurde. Ich weiß nicht, was damit passierte, ich sah meine Sachen nie wieder.

Ich wartete lange darauf, dass meine Mutter zurückkommen würde. Doch sie kam nicht. Nicht in jenem Jahr, nicht im nächsten oder übernächsten. Irgendwann hatte ich die Hoffnung aufgegeben. Die Erinnerungen an sie verblassten im Alltag immer mehr. Doch etwas Gutes hatte ihr Besuch: Ich konnte danach für eine lange Zeit wieder die Schule besuchen.

 12Onkel

 13Akan-Name für eine männliche Person, die am Mittwoch geboren wird.

 14Komm!

 15Meine Tochter

 16Akan-Name für eine männliche Person, die am Freitag geboren wird.

 17Komm zu mir, o. k.?

 18Plantain, Kochbanane

 19Ein riesengroßes Wurzelgewächs. Gehört in Ghana zu den Grundnahrungsmitteln.

 20Gern geschehen; bitte

Me papa – Mein Vater

Von meinem Vater wusste ich als Kind nicht viel. Zur Erinnerung: Er entstammt wohl einer Bauernfamilie in der Bono Region21