Alles, was du wünschst - Anne Enright - E-Book

Alles, was du wünschst E-Book

Anne Enright

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Beschreibung

Lebenspralle Geschichten von der Booker-Preisträgerin

„Es ist das große Rätsel der Menschheit: Was Männer wollen. Und was sie anzurichten bereit sind, um es zu kriegen.“ „Alles, was du wünschst“ versammelt neunzehn Geschichten der Booker-Preisträgerin Anne Enright, Geschichten über das Chaos der Liebe und über den manchmal doch nicht ganz so kleinen Unterschied, Geschichten voller Lebenskraft, die ihren dunklen Kern meisterhaft hinter einer strahlenden Hülle zu verbergen wissen.

Kitty arbeitet in der Bettenabteilung eines Kaufhauses. Gerade wurden Rolltreppen installiert, eine große Neuerung, an die sie sich nicht so recht gewöhnen mag, aber es ist sowieso nichts mehr los bei den Betten. Die Kunden scheinen dringend Schlaf zu brauchen – von Verliebtheit keine Spur. Doch mit dem Auftauchen der Rolltreppen nimmt plötzlich auch Kittys Leben Fahrt auf: Sie, bereits über vierzig, ist noch einmal schwanger geworden! Da bleiben eines Tages die Rolltreppen stehen …

Die Irin Anne Enright spricht auf unerschrockene Art und Weise aus, wie es im Leben vieler Frauen aussieht. Frauen, die von den Geistern des Lebens verfolgt werden, das sie hätten führen können, die Möglichkeiten erahnen und doch zu sehr in ihrem Alltag gefangen sind, um sie zu ergreifen. Ein faszinierendes und zugleich verstörendes Leseerlebnis, so präzise und bildstark wie Enrights preisgekrönter Roman „Das Familientreffen“.

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Seitenzahl: 319

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
 
Blasse Hände, die ich liebte, neben Shalamar
Kopfkissen
 
Copyright
Für Theo und Eileen Dombrowski
Blasse Hände, die ich liebte, neben Shalamar
An einem Samstagabend vor Weihnachten hatte ich mit einem Typen Sex und gab ihm meine Nummer. Er hatte etwas an sich, was mich hätte ahnen lassen können, dass er genau die Sorte Mann war, die anruft. Als Fintan ans Telefon ging, war ich ausnahmsweise einmal fast dankbar. Durch die Schiebetür konnte ich ihn hören.
»Ja, sie ist da. Sie ist in der Küche und isst gerade was Totes.«
Dann: »Nein, ich bin kein Vegetarier.«
Und dann: »Was Totes eben. Ich meine Typen wie dich.«
Ich sagte: »Gib mir den Hörer, Fintan.«
Als das Gespräch beendet war, warf ich den Rest meines Abendessens weg, ging ins Wohnzimmer und setzte mich. Fintan sah sich einen Dokumentarfilm über Flughäfen an, der sich als ziemlich witzig erwies. Als der Film zu Ende war, stand ich auf, um ins Bett zu gehen, und Fintan blickte zu mir auf und sagte: »Geh du nicht sanft.«
Und ich antwortete: »Gute Nacht, Fintan. Gute Nacht, Liebling. Gute Nacht.«
 
Beinahe wäre ich mit Fintan gegangen, das war, bevor ihm die Diagnose gestellt wurde. Jetzt wohnen wir zusammen, und die Leute fragen mich: Ist das nicht ein bisschen zu gefährlich? Dabei ist er der sanftmütigste Mann, den ich kenne. Die Aschenbecher waren das größte Problem, immer dieser Dreck. Schließlich sagte ich es ihm eines Tages beim Abwasch, und er verschwand für eine Woche. Dann war er eines Abends wieder da und saß auf dem Sofa, in der Hand eine Messingdose mit einem abscheulichen Sprungdeckel. Ich fragte: »Wo hast du die denn her, aus Indien?« Er sah mich nur an. Jetzt hört man ihn überall im Haus klicken und klacken. Es ist, als asche jemand in eine Mausefalle hinein, was mich aber noch immer lächeln lässt.
Ansonsten kann ich nicht klagen. Zwar wäre es mir lieber, er würde seine Klamotten öfter mal waschen, aber ich glaube, mit dem Geruch fühlt er sich wohler. Ich mich im Grunde auch. Er erinnert mich an die Zeit, als ich ihn fast geliebt hätte, damals im College, als es den ganzen Tag regnete, als niemand Heizung hatte und man einem Mann als Erstes den Rüssel unter den Pullover steckte und schnüffelte.
Heute ist er dünner, und seine Hände zittern. Im Haus behält er seinen Mantel an und verbringt viel Zeit damit, mitten im Zimmer die Luft anzustarren - nicht die Decke oder die Wände, sondern die Luft selbst.
Aber auf so was darf man nicht vertrauen. Ich wäre die Letzte, die das tut. Persönlich glaube ich, dass er keiner Fliege was zuleide tun könnte, trotzdem überprüfe ich seine Medikamente, wenn er nicht da ist. Und doch stimmte, was er an dem Abend gesagt hat, als das Telefon läutete - ich aß gerade was Totes. Ich saß in der Küche, wo das Kondenswasser an der schwarzen Fensterscheibe herunterlief, und stocherte in der Carbonara herum, als handele es sich um sämtliche Männer, die ich verschlissen oder verpasst hatte. Sämtliche Männer, die ich verpasst oder denen ich den Laufpass gegeben hatte. Wenn’s ein Lied wär, könnte man’s singen. Wenn’s ein Lied wär, könntest du’s noch einmal spielen, Sam.
Ich ging raus, griff nach dem Hörer, sagte »Hallo?« und starrte Fintan so lange an, bis er die Diele räumte. »Tut mir leid.«
»Bist du’s?«, fragte der Typ am anderen Ende. »Bist du’s?«
Dann stellte er sich vor - ziemlich merkwürdig, wenn man bereits miteinander im Bett gewesen ist. Anschließend wollte er sich mit mir »verabreden«. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Als ich anfing auszugehen, gab’s so was nicht. Man traf die Leute ganz zufällig. Man blieb noch auf einen Drink, dann, wieder durch Zufall, bis zur Sperrstunde und schließlich, durch ein Wunder, durch ein Ungeschick, durch ein Versehen, einen Ausrutscher, die ganze Nacht. (Ich kann euch sagen, das war ganz schön schlimm, so ein Ausrutscher, ein richtiger Unfall. Genauso schlimm wie mit dem Auto.) Das ungefähr dachte ich in der Küche, während die Pasta durch Ei und Sahne glitschte. Wie bringe ich es bloß fertig? Wie baue ich mit dem gottverdammten Wagen einen Unfall?
»Wie wär’s mit Freitagabend?«, fragte er.
»Wie bitte?«
»Oder Mittwoch?«
In der Dunkelheit der Diele schaute ich in einem imaginären Kalender nach und lauschte dem Besetztzeichen noch eine Weile, nachdem der Typ aufgelegt hatte.
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn mochte. Das war alles.
Das Abendessen mit ihm war schon seltsam. Ich sollte aufhören, über mein Leben zu jammern, aber ich saß in einem Restaurant mit roten Samtvorhängen, weißen Leinentischdecken und teuren, geziert lächelnden Kellnern, spielte mit meinem Fischmesser und fragte mich: Wozu das alles? Danach gingen wir zu ihm, und ich spürte, wie mitten im Sex die Migräne einsetzte. Es hätte nett sein können - ich hab nichts gegen Sex -, aber mit der beginnenden Migräne kam es mir vor, als befinde er sich weit weg von mir, und jeder Stoß ließ mein Hirn flackern, bis ich ganz klein war und mich irgendwie auf dem Grund meines eigenen Brunnens zusammenrollte.
Natürlich war er sehr fürsorglich und bestand darauf, mich nach Hause zu fahren. Die Männer sagen immer, sie wollen zwanglosen Sex, aber wenn man Vielen-Dankgute-Nacht sagt, sind sie zutiefst beleidigt, meiner Erfahrung nach. Er strich mir über die Wange und fragte, ob er mich wiedersehen könne, und als ich Ja sagte, entsperrte er mit einem Fauchen und einem Klicken die Zentralverriegelung und ließ mich gehen.
In der Küche trank ich vier Tassen superstarken schwarzen Kaffee und ging ins Bett. Und wartete.
Am nächsten Tag kam irgendwann Fintan ins Zimmer und zog die Vorhänge zu, weil ein schmaler Lichtstrahl hereinfiel. Als er das Licht ausgesperrt hatte, war ich so froh, dass ich anfing zu weinen. Eine Migräne ist etwas Unglaubliches. Man liegt da und kann es nicht glauben. Man liegt da, starr vor Unglauben, wie ein Atheist in der Hölle.
Fintan machte es sich auf einem Stuhl neben dem Bett bequem und begann mir etwas vorzulesen. Ich hatte nichts dagegen. Ich hörte alles und verstand alles, trotzdem rauschten die Wörter an mir vorbei. Er hielt mein Exemplar von Alice im Wunderland aus Kindertagen in den Händen, und ich fragte mich, ob die Farben früher auch schon so kräftig gewesen waren: Alice’ Haar ein schreiendes Gelb, der Flamingo in ihren Armen rosa gefiedert.
Er kam zu der Stelle, an der es um die drei kleinen Schwestern geht, die auf dem Grunde eines Brunnens lebten - Hilde, Else und Trine. Und wovon lebten sie? Von Karamell.
»Das ist aber nicht gut möglich, oder?«, bemerkte Alice dazu sanft, »sie wären ja auf Dauer krank davon geworden.«
»Das waren sie auch«, sagte die Haselmaus; »sehr krank sogar.«
Ich lächelte, von Selbstmitleid überschwemmt. Und plötzlich roch ich es, klar und deutlich, es roch nach Karamell, es war wie ein Witz. Das ganze Zimmer war voll davon. Süß und verbrannt. Eine Erweiterung der Luft: ein Kieselstein, der in den Teich meines Hirns gefallen war und der dafür sorgte, dass, als die letzte Kräuselung sich geglättet hatte, der Schmerz verschwunden oder zumindest im Verschwinden begriffen war. Der Schmerz war wieder bloße Möglichkeit.
»Oh«, machte ich.
»Was?«, fragte Fintan.
Im Halbdunkel sah er mich an. Da läutete unten das Telefon. Ich wollte aus dem Bett steigen, doch Fintan hielt mich zurück, einfach durch die Art und Weise, wie er neben mir auf dem Stuhl saß.
 
Ein paar Wochen später hatte ich Streit mit ihm, schob lautstark sein schmutziges Geschirr in der Küche zusammen. Möglich, dass Fintan ein Problem mit Wasser hat. Möglich, dass alle Männer ein Problem mit Wasser haben. Eines Tages wird man das dafür verantwortliche Gen ausmachen, in der Zwischenzeit aber wünsche ich mir ein besseres Leben.
Natürlich verteidigt sich Fintan nie, sodass es bei dem Streit stets um etwas anderes geht - etwas, das sich nicht recht fassen lässt. Es geht um alles.
Ja, wollte ich sagen, er ist verheiratet. Allerdings lebt er ganz und gar - auch gerichtlich - getrennt von einer Frau, die immerzu krank ist; von einer Tochter, die intelligent ist, aber nicht essen mag; und von einer weiteren Tochter, die sein ganzer Stolz und seine ganze Freude ist. Ich mochte ihn, er gab sich Mühe. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, brachte er mir ein Geschenk mit, das zwar meist nicht nach meinem Geschmack, aber doch »geschmackvoll« war, klein und teuer, wie ein Moment aus einem Fünfzigerjahre-Film. Und im Bett herrschte erstaunliche Dunkelheit. Das musste einfach erwähnt werden. Wenn er sich von mir wegdrehte, hatte ich das Gefühl, dass er über nichts nachdachte, dass es keine Worte in seinem Kopf gab. Er rollte die Augen dann in ihren Höhlen, und die zunehmende Dunkelheit war ihm eine Wonne. Es war, als sähe man einem Mann beim Sterben zu. Es war, als hätte man Sex mit einem Tier.
Nichts davon erwähnte ich, als ich die Pfanne, in der Fintan sich Rührei gemacht hatte, auf das Abtropfbrett knallte. Auch die beiden zu intelligenten Töchter und die sich auflösende Exfrau erwähnte ich nicht. Stattdessen sagte ich, Fintan werde in den Weihnachtsferien eine andere Bleibe finden müssen, da ich mir keine Sorgen um ihn machen wolle, wenn er allein im Haus sei.
»Auf Weihnachten kommt es nicht an«, sagte er.
»Ja, klar.«
Natürlich nicht. Weihnachten fuhr ich zu meiner Familie. Worauf es ankam, war Neujahr, denn wenn es Mitternacht schlug, wäre ich in einem Hotel und würde vor scheußlich gemusterten Gardinen guten Champagner trinken. Würde mit meinem neuen Galan, meinem großen alten, behaarten alten Mister Daddy-O im Bett liegen.
Und. Und. Und.
»Und dein Geschirr, Fintan, stört mich nicht, aber Rührei geht entschieden zu weit.«
Schweigen.
»Spiegelei?«
»Spiegelei ist in Ordnung.«
Fintan hatte recht. Weder um den Champagner noch um die Gardinen sorgte er sich. Ich vermute, sogar der Sex kümmerte ihn nicht. Er sorgte sich um etwas anderes. Um eine kleine Flamme, um die er die Hände legte, die er aber nicht berühren konnte.
Er ist der sanftmütigste Mann, den ich kenne.
Aber ein sanftes Gefühl hatte auch ich. Ich wollte sagen, dass dieser Mann - dass dieser Mann irgendwie zu viel Geld und keinen Geschmack besaß, mich aber unbedingt haben wollte. Ich wollte sagen, wie hilflos mich das machte; wie stürmisch und dankbar er für mein Gefühl war. Ich wollte sagen, dass er trübe Wichtigtueraugen hatte, sein Nacken aber wie der Flaum eines Säuglings roch.
Als ich an dem Abend das Eingangstor öffnete, hörte ich aus dem Haus hinter mir die Klänge eines Klaviers. Es dämmerte. Der trunksüchtige Lehrer von gegenüber hatte seine Weihnachtslichter aufgehängt; in jedem der Fenster eine andere Form. Unten ein Quadrat und einen Kreis, oben ein Dreieck und etwas, das wir Rhomboid nannten, alles in fließendem, aufblitzendem Gold und Weiß. Aus einem Grüppchen Jungen drüben beim Briefkasten flog ein Gegenstand herüber und landete auf der Fahrbahn. Es war ein Skateboard. Die Hände am niedrigen kalten Torgriff, stand ich da und lauschte den ersten Takten der Pathétique.
Du spielst nur, wenn ich nicht gucke, dachte ich. Sobald ich gucke, hörst du auf.
Ich stand an der Bushaltestelle, doch als der Bus kam, hüllte ich mich in meinen Mantel und ging zurück zum Haus. Denn wenn er wieder spielte, hatten seine Hände aufgehört zu zittern. Und wenn das Zittern aufgehört hatte, nahm er keine Pillen mehr, und die Hölle war los - Flughafenpolizei, Fintan, der nackt durch Dublin rennt oder, wenn er Glück hat, durch Paris; Fintan, der auf den Brüstungen von Gebäuden oder Brücken balanciert, die Taschen voller Steine.
Ich hatte ihn nie so ganz im Leben stehend erlebt. Ich war nicht da, als es anfing, im Sommer nach unserer Abschlussprüfung, die er natürlich schamlos gut bestanden hatte. Wie sich später herausstellte, waren seine Notizen in verschiedenen Farben geschrieben, einige sogar verschlüsselt. Aus der Badewanne war blaue Tinte abgelaufen, die getrocknete Lache hatte das Emaille verfärbt. Als ich nach Hause kam, war sie noch vorhanden - zutiefst traurig. Das Blau seiner Gedanken, das Blau seines Geistes, dachte ich, während ich vergeblich versuchte, es wegzuschrubben, oder wenn ich im Badewasser hockte und es betrachtete.
Als er sechs Monate später aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war sein Zimmer noch da - selbstverständlich war es das. Niemand würde Fintan hängen lassen. Unser anderer Mitbewohner (und mein Ex) Pat baute irgendwas in Deutschland auf und war immer nur da und gleich wieder weg. Ich hatte einen Job. Im Lauf der Jahre machte sich unsere Wohngegend allmählich. Und dann gab es nur noch Fintan und mich.
Jetzt gab es nur noch mich, weinend auf dem Rückweg von der Bushaltestelle, angezogen vom Klang seines Klavierspiels, vorbei an den mit Rauputz überzogenen, blau, grau und dunkelgrün gestrichenen Reihenhäusern. Die Frau, die wir Bubbles nannten, stand in einem dünnen pfirsichfarbenen Morgenmantel in der Haustür und lauschte. Sie sah, wie ich mir die Nase putzte. Ich lachte und winkte sie fort. Ich wusste nicht, warum ich weinte. Wegen der Musik. Vielleicht wegen des Typen, den ich auf dem College gekannt hatte, mit dem knabenhaften Körper und dem königsblauen Pullover. Und wohl auch wegen der Tatsache, dass seine Hände die ersten waren, die ich je geliebt habe. Sie waren so weiß.
Als ich meinen Schlüssel ins Türschloss steckte, brach das Klavierspiel ab. Ich betrat das Wohnzimmer, und er saß auf dem Sofa, als hätte er es nie verlassen. Ich umarmte ihn leicht und etwas ungelenk, und so blieben wir sitzen; Fintan kuschelte sich an mich und drückte sein Gesicht gegen meine Brust, bis mein T-Shirt von seinem sabbernden Mund ganz durchnässt war. Lange saßen wir so da. Dieses Bild machten wir von uns. Diese Pietà. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich uns dort sitzen sehen - obwohl ich ihn aus irgendeinem Grund in meinen Armen nicht spürte.
In der Küche tranken wir gerade Tee, als das Telefon klingelte. Ich ging hinaus, um den Anruf entgegenzunehmen. Dann kam ich zurück und setzte mich.
»Ich war mal so gescheit, Fintan«, sagte ich. »Aber das nützt mir nichts mehr.«
»Ich weiß«, antwortete er.
Dann hätte ich ihm seine Pillen geben sollen. Ich hätte ihm eine in die Hand drücken, in den Mund oder in den Rachen schieben sollen - aber wir sind schon immer zu sanft miteinander umgegangen, selbst in der Wahl unserer Worte, also sagten wir lediglich Gute Nacht und gingen zu Bett.
Am ersten Weihnachtstag verkündete meine Mutter, Plumpudding mache ihr zu viel Mühe, und servierte eins dieser Eiscremedesserts aus dem Supermarkt. Mein Bruder hatte ein paar Flaschen guten Wein mitgebracht, und ich lieferte die Papierhüte. Nach der Plumpuddingerklärung stritten wir uns heftig über Weinbrandbutter, und ich brach in Tränen aus. Meine Mutter sah mich nur an.
Zu Silvester rief ich im Haus an, doch es meldete sich niemand. Und als ich am dritten Januar zurückkam, war Fintan verschwunden.
Am vierzehnten Februar wurden mir meine Valentinskarte und zwölf pralle dunkle Rosen an den Schreibtisch meines Arbeitsplatzes geliefert. Außerdem rief mich Fintans Gelegenheitsbruder aus Castleknock an, um mir mitzuteilen, sie hätten ihn endlich aufgespürt und wüssten, wo er sich aufhalte.
Ich nahm mir den Nachmittag frei, kaufte einen Discman und ein paar CDs und fuhr mit einem Taxi hinaus nach Grangegorman. Dort war ich noch nie gewesen: Es war ein Witz von einem Irrenhaus, bedrohlich und viktorianisch. In den kargen Zimmern murmelten und jammerten Leute vor sich hin, und überall hing ein Geruch nach Bleichmitteln und Sperma, der der eigenen Verrücktheit entsprach und nicht der ihren. Schließlich fand ich Fintan. Er lag so reglos im Bett, dass man unter der dünnen weißen Tagesdecke jede Erhebung und Vertiefung sah, von den Fingerknöcheln bis zur hohen, zarten Linie seines Penis. Er schlug die Augen auf und schloss sie wieder. Dann öffnete er sie abermals, schaute mich eine Weile an und drehte den Kopf weg. Bis zum Anschlag vollgepumpt mit Drogen.
Ich stöpselte ihm die Kopfhörer in die Ohren und schob Musik in den Discman. Er zuckte zusammen, und ich drosselte die Lautstärke. Dann drehte er sich um und sah mich an, während die Musik lief. Er nahm meine Hand, führte sie an sein Gesicht, über Mund und Nase, und küsste mir die Handfläche. Liebevoll sah er mich an. Ich weiß nicht, was seine Augen sagten, als sie mich über den sanften Knebel meiner Hand hinweg anstarrten. Ich weiß nicht, was sie sahen. Sie sahen etwas Schönes, etwas wahrhaft Schönes. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie mich sahen.
 
Die Hochzeit fand im November statt, als Fintan, leicht erschöpft, wieder in die Welt zurückgekehrt war. Immer wenn das geschah, fand ich, dass er von Mal zu Mal undeutlicher wurde, schwerer zu erkennen. Ich empfand vielerlei - vor allem Schuld -, aber der Gesundheitsfürsorger wollte ihn in einer Rehaklinik unterbringen, und außerdem zog ich aus. Wie immer man es betrachtet, mit dem Haus hatte es für uns jetzt ein Ende. Es würde keine zerbrochenen Aschenbecher mehr geben und keine Ausflüge in den Waschsalon, keine Abende auf dem kaputten Sofa mehr und keinen Plausch mit Bubbles auf der Captains Road.
Aber nicht ein einziges Mal dachte ich daran, ihm Lebewohl zu sagen. Ich heiratete doch nur. Sogar zu meinem Junggesellinnenabschied nahm ich ihn mit - vermutlich als eine Art Maskottchen.
Der Abend ließ sich langsam an. Meine erwachsenen Freundinnen tauschten Telefonnummern und Visitenkarten aus - mit den Tequila Slammers musste ich selbst anfangen. Zwei Stunden später waren wir dabei, uns den Rest zu geben, die letzte Nacht überhaupt. Ich erinnere mich vage an ein paar Pferdedroschken. Ich weiß auch noch, wie wir über die Mauer hinter dem Haus meines neuen, will sagen: meines zukünftigen Ehemannes kletterten. Keiner von uns kam es in den Sinn, meinen Schlüssel zu benutzen oder auch nur an der Haustür zu klopfen. In der Küche brannte Licht - daran erinnere ich mich. Wir befreiten eine Backsteinmauer von Efeu und steckten uns die Zweige ins Haar. Bei einem Ritual in den Blumenbeeten verlor ich mein Höschen. Meine älteste Freundin Cara machte Fotos, daher weiß ich das alles - zwei der Mädels versuchten, mir die Bluse auszuziehen, Breda zerfetzte die Dahlien (offenbar waren es »langweilige Blumen, langweilige Blumen!«), und irgendeine, es sieht ganz nach Jackie aus, knutschte mit Fintan an einem Baum. Auf dem Foto besteht er nur aus Hals. Den Kopf hat er für den Kuss nach hinten geneigt, sodass das Blitzlicht seinen Adamsapfel und die blauweiße Haut unter seinem Kinn erfasste.
Auch ich hatte ihn einmal geküsst, in meinem zweiten Jahr am College, bevor er verrückt wurde oder was auch immer. Bei einer Party saßen wir auf dem Fensterbrett, hüllten uns in die Vorhänge und unterhielten uns eine Weile miteinander, die Köpfe gegen die kalte Fensterscheibe gelehnt. Ich erinnere mich noch an die Stille draußen, an die Vorhänge, die auf uns ruhten, den Mief und das Gequassel im Raum. Irgendwann küsste ich ihn. Und das war alles. Die Haut an seinem Mund war entsetzlich dünn. Schon damals hielt Fintan es mit dem Augenblick. Als bewege er sich durch Flüssigkeit, während wir anderen uns mit Luft begnügten.
 
So, jetzt bin ich also verheiratet, was immer das bedeutet. Ich glaube, es bedeutet, dass ich nun Bescheid weiß.
Da ich ab sofort in diesem Haus mit den langweiligen Blumen und mit den von Efeu berankten Mauern wohne, weiß ich, dass ich Fintan nicht nur »fast« geliebt habe - ich habe ihn geliebt. Punktum. Und ich kann nichts dagegen tun - gegen die Tatsache, dass ich ihn jahrelang geliebt habe, ohne es zu wissen. Gar nichts wusste ich.
Ich schlafe ganz entspannt neben meinem Gatten, meinem gierigen alten Mann. Denn irgendwie hat er recht - Fintan hat immer irgendwie recht. So viele von den Männern, denen man begegnet, sind tot. Einige von ihnen sind auf nette Art tot, andere einfach nur tot. Das macht sie leicht verführbar. Das macht ihre Verführung gefährlich. Sie schenken einem ihre weiße Blindheit.
So ist es leicht, neben ihm unter den Laken zu liegen und nicht viel nachzudenken. Neben meinem behaarten alten Säugling. Der alles für mich tun würde. Er gibt Geld für mich aus, es scheint ihm Vergnügen zu bereiten - mehr Vergnügen als das, was er letztlich kauft, denn tote Männer kennen nicht den Unterschied zwischen Dingen, die leben (ich zum Beispiel oder gar Meine Möse), und Dingen, die tot sind, nämlich Sein Geld, das einfach nur ein getrockneter Haufen Scheiße ist und wofür sich ein Leben im Hause der Toten nicht lohnt. Also rede ich weiter, und er ist weiter tot und schenkt mir Dinge, die bereits verwest sind (einen »wunderschönen« Seidenschal, ein Auto, mit dem ich irgendwohin fahren könnte, zwei Bücher, die durchaus richtigen Büchern ähneln, die ich gern lesen würde). Ringsumher herrscht die Verschwörung der Toten, und die Oberkellner lächeln noch immer geziert, wie es Oberkellner eben tun, während die Gerichte auf der Tischplatte es auf ermutigende Weise miteinander treiben.
Inzwischen ist mir übel. Dieses Leben ist nichts für mich. Seine frühere Frau hat Probleme mit Zysten, irgendwas Schreckliches mit dem Rücken, Zerfallserscheinungen. Ich höre ihr Schweigen am anderen Ende der Leitung. Ich sehe das Scheckbuch mit ihrem Namen, der unter seinem gedruckt ist. Ich bin dünner, meine Garderobe ist kostspieliger geworden. An den Wochenenden trifft er sich mit seinen Töchtern, die in Mathe immer ein kleines bisschen besser werden, ihr Lächeln immer süßer, ihre Schleifchen ein kleines bisschen gerader; unter der Gesichtshaut treten bereits die Wangenknochen hervor, zu früh, zu schön und bestürzt.
An den Nachmittagen treffe ich mich mit Fintan, und wir haben Sex, süß wie Regenwasser. Ich brauche die Sonne mehr als alles andere, und wir ziehen uns in ihrem Licht aus. Ich öffne die Vorhänge und schaue aufs Meer. Inzwischen ist er verrückter denn je. Ich glaube, er ist ziemlich verrückt. Er ist kaum mehr vorhanden. Hinter meinem Rücken höre ich Fäden reißen. Ich drehe mich zu ihm um. Zusammengerollt liegt er im Nachmittagslicht auf dem Laken, auf seinem Rücken zeichnet sich die Linie seiner Wirbel ab, hinter seinen Knien biegen sich die Sehnen, und auf dem beiläufig hingeworfenen Kissen zittern die schönsten Hände der Welt.
Ich sage zu ihm: »Ich wünschte, ich hätte einen Namen wie du. Wenn ich mit dir rede, bist du immer ›Fintan‹. Immer heißt es: ›Fintan dies, Fintan das.‹ Doch meinen Namen sprichst du nie aus. Manchmal glaube ich, dass du ihn gar nicht weißt - dass niemand ihn weiß. Außer ihm vielleicht. Ich möchte ihn hören, verstehst du das?«
Kopfkissen
»Alison«, sagte sie.
»Ja?«
»Was ist ein Homosexueller?«
»Das ist ein Mann, der einen anderen Mann liebt.«
»Ja«, sagte sie. »Aber wie geht das?«
»Sie lieben sich«, antwortete ich.
»Aber wie?«, fragte sie. »Wie lieben sie sich?« Und da glaubte ich zu wissen, was sie meinte. Ich sagte, sie schöben sich gegenseitig ihr Ding in den Hintern, nein, ich benutzte das Wort »Anus«, damit es anatomischer klang.
»Aha«, sagte sie, und ich versuchte nachzuvollziehen, was sie wohl dachte.
»Danke«, sagte sie.
Doch irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl dabei, und als Karen am nächsten Tag ankam und sagte: »Was erzählst du Li da über schwulen Sex?«, kam ich mir schon ziemlich furchtbar vor.
»Die kennt doch nicht mal die andere Sache«, fuhr sie fort. »Die weiß doch nicht mal, wie normale Leute es miteinander anstellen.« Danach nahm sie mich in die Mangel. Wie ich mich dabei fühlte, war ihr total egal. So ist das wohl nun mal mit den Amerikanern: Wenn sie einmal beschließen, einem die Schuld an etwas zu geben, dann wollen sie auch, dass man sich dieser Schuld so richtig bewusst wird.
Karen hatte mich bei der Wohnungsvermittlung des College angefordert. Das erzählte sie mir, als ich ankam: Ihnen sei es wichtig, die richtige »ethnische Mischung« zu haben, deshalb habe sie um jemanden aus Irland gebeten. Ich litt noch etwas unter Jetlag. Ich erklärte ihr, dienstags könne ich gern die Irin für sie spielen, aber dürfte ich den Rest der Woche freihaben? Ganz ehrlich, ich konnte es nicht fassen, wie groß dort alles war. Als es hieß: »dorm«, hatte ich nicht mit einem Wohnheim gerechnet, sondern mit einem Schlafsaal, mit lauter Betten in Reihen. Ich stellte meinen Koffer ab und fragte, wann es heißes Wasser zum Duschen gebe. Karen verstand meine Frage nicht. Sie antwortete, sie hätten immer heißes Wasser, es sei denn, etwas wäre kaputtgegangen - auf dem Hahn stehe ein »H«, weil das Wasser, das herauslaufe, »heiß« sei.
Vom Wohnzimmer, das in der Mitte lag, gingen vier Schlafzimmer ab, und sie sagte, ich solle mir eins davon aussuchen. In jedem Schlafzimmer befand sich ein Hochbett mit einem darunter eingebauten Schreibtisch. Als Lichtquelle waren an der Unterseite des Bettes schicke Punktstrahler angebracht. Ich entschied mich für das Zimmer gleich neben dem Flur, kletterte vollständig bekleidet die kleine Leiter hinauf und legte mich hin, das Licht unter mir eingeschaltet. Ich war am College. Ich war in Amerika. Fliegt mich zum Mond.
Wochenlang blieb ich auf meinem Zimmer. Im Wohnzimmer konnte ich nicht sitzen, und die Küche gehörte Li
Originaltitel: Taking Pictures Originalverlag: Jonathan Cape, London
Verlagsgruppe Random House
 
1. Auflage
Copyright © 2008 by Anne Enright Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Alle Rechte vorbehalten
Typografie und Satz: DVA / Brigitte Müller Gesetzt aus der Berling
eISBN : 978-3-641-03424-5
 
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Leseprobe
 

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