Alles, was ich über die Liebe weiß - Michela Marzano - E-Book

Alles, was ich über die Liebe weiß E-Book

Michela Marzano

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Beschreibung

Liebe beglückt und verstört, heilt und vernichtet. Sie kennt keine Regeln und hält doch alles zusammen. Anhand ihrer eigenen Lebens- und Liebesgeschichten spinnt Michela Marzano den Faden einer unendlichen Geschichte weiter.

Was ist Liebe? Die Antworten füllen Bibliotheken, und doch bleibt das Rätsel dieses alle(s) beherrschenden Gefühls ungelöst. Warum verzehren wir uns nach ihr, scheitern an ihr und beginnen doch immer wieder aufs Neue? Wie in einem facettenreichen Roman erzählt Marzano von ihren Liebeserfahrungen, befragt Dichter und Philosophen, deren Werke sich seit Jahrtausenden aus diesem beglückenden, verrückten, riskanten Gefühl speisen.

Ein Buch, in das man sich fallen lässt, in der Gewissheit, dass Liebe das ist, was sie ist.

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Seitenzahl: 188

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Zum Buch

Liebe beglückt und verstört, heilt und vernichtet. Sie kennt keine Regeln und hält doch alles zusammen. Anhand ihrer eigenen Lebens- und Liebesgeschichten spinnt Michela Marzano den Faden einer unendlichen Geschichte weiter.

Was ist Liebe? Die Antworten füllen Bibliotheken, und doch bleibt das Rätsel dieses alle(s) beherrschenden Gefühls ungelöst. Warum verzehren wir uns nach ihr, scheitern an ihr und beginnen doch immer wieder aufs Neue? Wie in einem facettenreichen Roman erzählt Marzano von ihren Liebeserfahrungen, befragt Dichter und Philosophen, deren Werke sich seit Jahrtausenden aus diesem beglückenden, verrückten, riskanten Gefühl speisen.

Ein philosophisches Liebesbrevier voller Poesie, scharfsinniger Analyse und Zuversicht, denn Liebe hält alles zusammen.

Zur Autorin

Michela Marzano, geboren 1970 in Rom, studierte Philosophie in Pisa, Rom und Paris. Sie ist Professorin an der Universität Paris Descartes. Sie nimmt häufig zu aktuellen Debatten Stellung und verfasste zahlreiche philosophische Bücher. Das vorliegende Werk wurde mit dem renommierten Premio Bancarella ausgezeichnet. Die Autorin lebt in Paris.

Michela Marzano

Alles, was ich über die Liebe weiß

Philosophie eines Gefühls

Aus dem Französischen von Michaela Meßner

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Tout ce que je sais de l’amour« bei Éditions Stock, Paris.
© 2014 bei Éditions Stock, Paris© der deutschsprachigen Ausgabe 2018 beim C. Bertelsmann Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Jorge Schmidt, MünchenSatz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-15740-1V002
www.cbertelsmann.de

Für Jacques, der mich so liebt, wie ich bin

That love is all there is,Is all we know of love;It is enough, the freight should beProportioned to the groove.

Emily Dickinson

Die Vollkommenheit lieben, weil sie die Schwelle ist. Aber sie negieren, sobald man sie erreicht hat, sie vergessen.

Das Höchste ist Unvollkommenheit

Yves Bonnefoy

1Als Kind träumte ich von der Liebe

Als Kind träumte ich von der Liebe. Stundenlang steckte ich meine Nase in Bücher, in denen es von vollkommenen Liebesgeschichten nur so wimmelte. Ich stellte mir ein Leben vor, in dem jeder Tag makellos war. Träumte davon, die Geschichte meiner Eltern umzuschreiben.

Das Leben durfte nicht aus Streit und Zerwürfnissen bestehen. Es sollte funkeln. Wie die Meeresoberfläche im Frühling.

Als gäbe es tatsächlich so etwas wie Harmonie.

Ich war mir sicher, ich würde eines Tages einem Mann begegnen, der alles wieder heil machen könnte. Und hielt stur an meinem Glauben fest. Nichts konnte mich davon abbringen.

Nicht einmal das Geschrei bei uns zu Hause.

Ich hatte das Gefühl, anders zu sein. Anders als meine Mutter, die nicht mehr an die Liebe glaubte. Anders als mein Vater, der nie daran geglaubt hatte. Und auch anders als mein Bruder, der mir zwar ähnlich war, aber beschlossen hatte, Türen und Fenster zu schließen und alle Liebe aus seinem Leben zu verbannen.

Ich war überzeugt, dass mir das niemals passieren würde.

Dass ich kraft meines Willens alle Hindernisse aus dem Weg räumen könnte. Mir bloß Mühe zu geben brauchte.

Selbst wenn Traurigkeit mich übermannte. Selbst im Angesicht der Angst.

Der Angst vor dem Großwerden. Der Angst vor der Perfektion. Der Angst, ich verdiente die unermesslich große Liebe vielleicht gar nicht, mit deren Schilderung ich die Seiten meines Tagebuchs schwärzte, indem ich mir aus Romanen und Gedichtbänden, die sich neben mir auf dem Nachttisch stapelten, Sätze und Wendungen borgte.

Nicht fünfzig Grautöne, sondern tausend. Oder sogar eine Million. Denn in Pastellfarben ließe sich niemals schildern, wie viel Mühe es kostet, die unerträgliche Traurigkeit aus seinem Blick zu vertreiben.

»Und überhaupt, wer hat eigentlich gesagt, es gebe gar keine Märchenprinzen?«, brüllte ich meinen Vater an, der nicht verstand, was da in meinem Kopf vorging. Was erwartete ich denn vom Leben? Warum gab ich mich nicht mit dem zufrieden, was ich hatte?

»Du machst dich lächerlich. Sei zufrieden mit dem, was das Leben dir schenkt!«

»Was geht dich das an, ob ich mich lächerlich mache oder nicht?«

»Wenn du groß bist, wirst du schon sehen, dass ich recht habe.«

So endete es immer. Als Nächstes schloss ich mich im Zimmer ein. Saß dann auf dem Boden vor dem Fenster. Verbarrikadierte mich hinter meinen Träumen und meiner Zerbrechlichkeit.

So endete es immer. Und wenn mein Vater recht hatte? Was wusste ich denn schon von der Welt der Erwachsenen?

Heute weiß ich, dass vieles von dem, was mir im Leben widerfahren ist, auf diese Nachmittage zurückzuführen ist, in denen ich mir meine papierenen Königreiche erschuf. In denen ich noch an den Märchenprinzen glaubte. Und darauf wartete, in seinen Armen aufzuwachen. Endlich glücklich.

Wenn sie und er sich begegnen, wie könnte man blind sein dafür, dass hier die Antwort ist auf jedes Warum, unmittelbar gegenwärtig?

Heute weiß ich, dass das Leben mit Märchen nichts gemein hat. Dass der geliebte Mensch uns nicht alles geben kann, was wir nicht bekommen haben. Dass es nicht ausreicht, sich Mühe zu geben und seine Pflicht zu tun.

Sich anstrengen und seine Willenskraft einsetzen, das hat mit Liebe nichts zu tun. Im Gegenteil. Wenn wir alles tun, um die Liebe an uns zu reißen, wird der Mensch, den wir lieben, uns früher oder später vorwerfen, was wir getan haben. Wird eine endlose Liste all dessen aufstellen, was wir gesagt, behauptet, erhofft, gewollt, beklagt haben.

Und dann wissen wir gar nichts mehr. Weder, was wir sagen, noch, was wir behaupten sollen, weder, was wir uns erhoffen, noch, was wir wollen oder beklagen sollen.

Wir bleiben allein mit unseren Ängsten. Allein mit einer anderen Liste, die auch endlos ist, lauter Fragen ohne Antwort.

Was hätte ich denn sonst noch tun sollen? Was habe ich nicht begriffen?

Heute weiß ich, dass das Leben nichts mit einem Märchen zu tun hat. Das »für immer« der Liebe erinnert an das »für immer« des weißen Kaninchens aus Alice im Wunderland: Es dauert nur einen Augenblick.

Diesen Augenblick, in dem man einander begegnet und viele Versprechen macht. Diesen Augenblick, in dem er oder sie auf den Grund jener Leere sinkt, die wir alle in uns tragen. Diesen Augenblick, der ein ganzes Leben andauern kann, »bis dass der Tod uns scheidet«, wirklich »für immer«. Aber nur wenn wir auch akzeptieren, dass niemand seine Versprechen halten kann.

»Hast du deinem Vater schließlich recht gegeben?«, fragt mich Francesca, meine Freundin aus Kindertagen, die diesmal nicht ganz versteht, worauf ich hinauswill.

»Aber wieso denn? Ich habe doch der Liebe gar nicht abgeschworen.«

»Aber von welcher Liebe sprichst du denn?«

»Von der Liebe, die uns überfällt, wenn wir keine Erwartungen mehr haben. Dann macht sie sich plötzlich in deinem Herzen breit, wie eine Bombe mit Zeitzünder.«

»Wovon redest du da? Vom Märchenprinzen?«

2Ohne große Überzeugung

Als die Beziehung mit Jacques ihren Anfang nahm, war ich zuerst gar nicht so überzeugt. Es begann eines Abends im Juni, ein wenig aus Zufall.

Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, was mich ursprünglich bewogen hatte, auf dieses Fest zu gehen. Wo ich doch sonst nie ausgehe. Wo ich doch damals eigentlich mit einem anderen Mann zusammen war. Wer weiß?

Ich war gewiss nicht wunschlos glücklich. Aber wer ist das schon? Vor allem in der Liebe.

»Halt«, sagte ich also zu ihm, als er näher kam, um mich zu küssen. »Ich bin schon in einen anderen verliebt.«

Ich habe immer schon gerne die Dinge beim Namen genannt, ohne um den heißen Brei herumzureden. Bin immer sehr direkt gewesen, fast schon rücksichtslos, habe Klartext geredet, »cash« wie die Franzosen sagen, die aber eigentlich nie Klartext reden. Weil sie der Meinung sind, dass man den Leuten die Wahrheit nicht einfach so ins Gesicht schleudern darf. Die Wahrheit sagt man so gut wie nie. Es sei denn, man hat nichts begriffen vom Leben.

Will man in der Gesellschaft bestehen, muss man den äußeren Schein wahren und zeigen, dass man gute Manieren hat. Denn man darf die anderen ja nicht in peinliche Situationen bringen. Und was war das für ein Benehmen, einem Mann, den man gerade erst kennengelernt hat, zu sagen, man liebe wahrscheinlich einen anderen?

Aber an jenem Abend scherte Jacques sich nicht groß um gute Manieren. Im Gegenteil. Dass es in meinem Leben noch einen anderen Mann gab, passte ihm ganz wunderbar in den Kram. Er hatte sich gerade erst getrennt. Wieso hätte er sich ernsthaft in eine Beziehung stürzen sollen?

Eine Affäre unter anderen, kurz bevor er in Urlaub fuhr. Ein flüchtiges Liebesabenteuer, ganz ohne Reue und Rechtfertigungen. Das gefiel ihm außerordentlich gut.

Und so begann meine Liebesgeschichte mit Jacques. Vielleicht auf die denkbar schlimmste Art. Zum Scheitern verurteilt, wie viele andere auch.

Denn ich hatte zwar mit allen Märchen abgeschlossen, verliebte mich aber in den erstbesten Märchenprinzen, der mir über den Weg lief.

Das Leben hält viele Überraschungen bereit. Und es lässt sich nicht kontrollieren. Die Liebe taucht auf, wenn du es am wenigsten erwartest. Vielleicht weil sie nicht selbstverständlich und offenkundig ist.

Und dann steht sie vor dir.

Sie öffnet diese Tür, die schon so lange fest verschlossen ist. Nötigt dich zu der Frage, wonach du eigentlich suchst. Zwingt dich, deine Rechnungen mit der Vergangenheit zu begleichen.

Sie kommt. Stellt Gewissheiten und Vorhaben infrage. Obwohl nichts im Leben schwieriger ist als die Veränderung.

Wie kann man erzählen, was man durch die Liebe erfahren hat? Wie sollten wir nicht bedingt sein durch die Liebe, die wir als Kind erfahren oder auch nicht erfahren haben? Wie ist es zu erklären, dass nichts sich ändert und doch alles sich ändert, wenn man verliebt ist?

»Komm!«

Das war alles, was Jacques an jenem berühmten Abend zu mir sagte. Er wollte nur, dass ich ihm folgte, dabei wusste nicht einmal er, wohin.

»Warum?«

Mir, die immer alles verstehen will, sagte dieses schlichte »komm« nicht allzu viel.

»Weil das Leben flüchtig ist.«

Für Jacques gibt es nicht viele Gewissheiten. Es ist ihm meist lieber, sich nicht zu entscheiden, denn er könnte ja etwas tun, was er anschließend bereut. Er wartet fast immer ab, bis ein anderer für ihn eine Entscheidung trifft.

Doch an jenem Abend war alles anders. An jenem Abend traf er für mich die Entscheidung. Nachdem er mich beobachtet hatte, wie mir das Leben durch die Finger glitt, wie ich mir die Haare zauste. In der festen Überzeugung, etwas gefunden zu haben, noch ehe er darum wusste.

3Ohne Gegenleistung

Das Drama mit den Märchen ist, dass dieser verflixte Prinz nirgendwo beschrieben wird. Er ist charmant, klar. Mit anderen Worten: vollkommen. Aber was heißt das schon? Woran erkennt man Vollkommenheit?

Im Grunde weiß das niemand, auch wenn alle darüber reden und schreiben und jeder seine eigenen Theorien aufstellt. Und die meisten sind nichts als idiotische Rezepte. Und nutzlos. Denn niemals wird man die Alchemie einer Begegnung erklären können, bei der jeder versucht, die eigene Vergangenheit umzuschreiben, ohne auch nur das geringste Augenmerk auf die Eigenschaften zu richten, die dazu angetan sind, einen Menschen liebenswert zu machen – oder auch nicht.

In der Liebe erwählt man den anderen niemals ohne Grund. Der andere entspricht immer dem, was wir seit unserer Kindheit suchen, wenn wir uns das erste Mal in den Mann oder die Frau verlieben, der oder die unser »Ein und Alles« ist. Die stillende Mutter. Der Vater, der uns ein Schlaflied singt. Die behagliche Wärme der Wiege.

Alles, was wir viel zu früh verloren haben und was wir nun wiederfinden möchten, in der fälschlichen Annahme, es könnte diese Leere in uns füllen.

Denn selbst die größte Liebe ist nicht bedingungslos. Sie kann uns nicht ohne Gegenleistung zufriedenstellen. Sie wird uns niemals die Erfüllung bringen.

Und das ist sehr gut so.

Denn wie sonst könnten wir fortan etwas begehren und uns lebendig fühlen? Wie sonst könnten wir immer wieder den Neuanfang wagen und anschließend erneut in die Irre laufen?

Es ist wie das Echo einer fernen und verlorenen Sehnsucht. Weil wir die Worte vergessen haben. Und nur die Melodie übrig bleibt.

Die Melodie, die wir in uns tragen.

Wie ein Schluchzen.

Wir alle haben sehr früh unsere größte Liebe verloren. Sind gefangen im Leid über den Verlust des Blicks, der uns Halt gab. Vielleicht weil Mama zu sehr mit sich selbst oder mit ihrer Arbeit beschäftigt gewesen war. Oder weil Papa schon viel zu verliebt in Mama gewesen war. Oder weil nach uns viel zu schnell ein Brüderchen geboren wurde. Und so weiter und so fort. Bis in alle Ewigkeit.

Oft klemmt etwas. Etwa ein Wort, das sich ganz tief in uns verhakt hat.

Immer fehlt uns etwas.

Wie eine Zärtlichkeit, die uns zu spät erreicht.

Wir hätten gekonnt. Wir hätten gemusst. Wir hätten einfach nur …

Und dann verbringen wir Jahre damit, diesen Riss zu flicken und die Wunde wieder zu schließen. Ohne zu begreifen, dass Verluste zum Leben dazugehören und dass der andere uns niemals alles geben kann, was wir brauchen.

Wir reden uns dann ein, er habe uns betrogen mit dieser charmanten Maske, die er am Tag unserer Begegnung aufgesetzt hatte. Wir führen uns selbst hinters Licht, wenn wir denken, er sei derjenige, der lügt, und er könnte doch plötzlich, wie durch Magie, wieder ein ganz reizender Mensch werden, ließe er sich doch nur von seiner Verletzlichkeit leiten, die wir ganz tief in ihm verborgen wahrgenommen haben, ließe er doch nur seine Gefühle sprechen.

Und dann entdecken wir, dass er schon verheiratet ist. Oder ein eingefleischter Junggeselle. Was auch immer, auf alle Fälle unerreichbar.

Im Grunde ist das Leben immer eine Tragödie. Und der Charme unseres Märchenprinzen wird über kurz oder lang verblassen. Auch wenn wir uns das nicht eingestehen wollen und uns lieber weiter etwas vormachen.

Nicht dass der andere schlecht wäre – nur vielleicht Gefangener seiner Kindheit, ein Opfer der schwarzen Ungeheuer, die uns in der Nacht quälten. Oder dass der andere nicht die richtige Person wäre – nur glauben wir vielleicht, dass sich irgendwo unser Märchenprinz versteckt hält und auch wir ihn eines Tages finden werden.

Einfach nur, weil der andere, genau wie wir, auf der Suche nach etwas ist. Dem Ursprung der Unruhe. Dem Ende des Begehrens.

Warum also nicht einfach den Menschen lieben, mit dem wir uns wohlfühlen? Warum uns weiter quälen, indem wir der Vergangenheit hinterherlaufen?

Jeder wehrt sich gegen den Verlust dieses Paradieses, in dem alles noch so zart und unbestimmt war. Dieser Glücksmomente, in denen wir glaubten, alles zu haben und alles zu sein.

Alles, was die Mutter uns gab und was uns am Leben erhielt. Alles, was wir brauchten. Alles.

Wen könnten wir um dieses wunderbare »alles« bitten, jetzt, da wir keine Kinder mehr sind? Wer könnte uns diese Illusion der Vollständigkeit vermitteln und diese Leere füllen, unter der wir so leiden?

Die Trauer über den Verlust kennt kein Ende. Und genau das ist das Problem mit der Liebe. In Fragmente einer Sprache der Liebe sprichtRoland Barthes von der Angst, die jeder empfindet, wenn er liebt: das Drama einer Liebe, die unermesslich ist und die uns zurückgeben kann, was wir verloren haben. Der Augenblick der Verschmelzung, in der die Freude ein beständiger Funke war.

Und dann verstehen wir auch, dass die Liebe das ist, was bleibt, wenn wir glauben, alles verloren zu haben. Und dass sie für alle Menschen gleich ist. Und dass wir dagegen machtlos sind, auch wenn uns das noch so wenig gefällt.

4Eine Minute noch

Meine Liebesgeschichte mit Jacques hätte sein können wie alle anderen auch. Unglücklich und zum Scheitern verurteilt. Und sie hätte fein säuberlich dem Drehbuch einer abgeschmackten Liebesschmonzette folgen können.

»Ich wünschte, es könnte ewig dauern.«

Ich sage ihm das, wie verliebte Jugendliche es tun, bevor ihnen dämmert, dass alles sie trennt.

»Was soll das heißen – ewig? Was ist Ewigkeit?«

In seiner Antwort schwingt leichter Sarkasmus mit, wie er allen eigen ist, die nichts von Liebe hören wollen.

»Bitte, geh noch nicht! Eine Minute noch!«

Meine Worte sind dahingehaucht. Aber er ist schon woanders.

»Was hast du denn nur, weinst du etwa? Warum machst du so ein Drama daraus?«

Das bekomme ich jetzt schon seit Jahren zu hören. Obwohl Jacques genau weiß, dass wir uns dann streiten.

Mit der Liebe ist es wie mit dem Leben: Man sollte nie zu große Erwartungen haben. Vielleicht sollte man überhaupt nichts erwarten, schließlich geschehen die schönsten Dinge völlig unerwartet.

Wenn man nicht länger versucht, alles kontrollieren zu wollen, ohne Reue.

Wenn man sich verhaspelt und alles andere vergisst – das Lächeln und die vorgefertigten Sätze; die Tränen und die Klagen.

Aber wie hört man auf, alles kontrollieren zu wollen? Wie wartet man ab, bis irgendetwas passiert?

Der andere ist nie genau so, wie wir ihn uns wünschen. Er ist immer anders als in den Träumen, die wir in uns tragen. In den schönen Geschichten, die wir als Kinder so gern hatten und die uns hinwegtrösten sollten über all das, was wir nicht besaßen und dessen Fehlen wir so tief bedauerten.

Dabei nutzt es in der Liebe gar nichts, sich zu beklagen. Im Gegenteil. Klagen sind wie ein Gefängnis.

Wie damals, als wir klein waren und dachten, Liebe sei etwas, das man sich verdienen muss. Und dass es genügte, »brav und nett« zu sein, damit Mama uns anlächelt, damit Papa uns übers Haar streicht, damit die Lehrerin uns einen Belohnungsstempel ins Heft macht und damit unser Schutzengel uns in der Nacht im Arm hält.

Klagen führen nie zu etwas. Im Gegenteil.

Sie hindern uns daran, zu verstehen, dass wir, um lieben zu können, das Risiko eingehen müssen, uns nicht mit dem Offensichtlichen zufriedenzugeben. Bevor wir dann entdecken, dass nichts im Leben offensichtlich ist.

Mittlerweile weiß ich es, ich habe es verstanden, ich sage es noch einmal.

Er ist sinnlos, Liebe einfordern zu wollen.

Selbst wenn das Herz ins Stocken gerät. Weil er nicht da ist. Oder er ist da, hört aber nicht zu. Oder er hört zu, versteht es aber nicht.

»Der Himmel ist nicht genug, auch der Mond nicht oder die Erde. Nur deine Liebe zählt«, sagt die Prinzessin im Märchen, während er sich anschickt, sie zu verlassen.

»Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben«, antwortet der edle und kühne Ritter, bevor er sie verlässt.

»Wie kann ein einziger Felsen das Meer eindämmen?«

Dass er immer wieder zurückkehrt, geschieht nur im Märchen. Nur in den Träumen ist die Liebe schlüssig.

Selbst wenn die Kohärenz sich oft in ein erdrückendes Gefängnis verwandelt.

Mit der Liebe ist es immer das gleiche Problem: Idealisiert man sie, dann verrät man sie, geht man ihr ins Netz, verfängt man sich darin.

Es gibt keine Worte, sie zu beschreiben.

Und auch nicht den Wunsch, sich ihrem Sog entgegenzustemmen.

Intermezzo Nr. 1

Unbewusst hat die Seele es satt, zu leben, ohne zu lieben, wider Willen lässt sie sich von dem Beispiele der anderen Frauen überzeugen, überwindet alle Besorgnisse, gibt sich mit dem traurigen Glücke des Stolzes nicht zufrieden und erschafft sich, ohne es zu merken, ein ideales Musterbild. Dann begegnet sie eines Tages einem Wesen, das diesem Bilde ähnlich sieht; die Kristallisation erkennt ihren Gegenstand an der Verwirrung, die er einflößt, und sie weiht für immer dem Meister ihres Schicksals, was sie seit Langem träumte.

Stendhal, Über die Liebe

Mit Stendhal verwandelt sich die Geschichte vom Märchenprinzen in eine Theorie: die Theorie der Kristallisation. Laut dieser Theorie geht es, wenn ein Mensch sich verliebt, niemals um eine Person aus Fleisch und Blut, sondern einzig und allein um ein Ideal.

Wenn man sich verliebt – »in die Liebe fällt« (tombe amoureux), wie man im Französischen sagt, denn in dieser Sprache fällt man immer in etwas, auch wenn man krank wird (tombe malade) oder schwanger (tombe enceinte), man fällt also in die Liebe, man fällt und steht wieder auf, zumindest solange man noch die Kraft dazu hat –, dann nur, weil der Liebende das geliebte Wesen durch das verzerrende Prisma seines eigenen Begehrens sieht: alles, was man gerne hätte, was man aber nicht hat; alles, was uns glücklich machen könnte, woran es uns aber mangelt.

Selbst wenn das Liebesversprechen sich nie erfüllt. Im Übrigen: Jedes Mal, wenn das der Fall zu sein scheint, werden wir zu wortkargen und unzufriedenen Wesen.

In der Liebe gibt es nur das Unmögliche und das Unerreichbare. Durch die Liebe geraten wir in Gefahr, die Tragödie des Lebensüberdrusses erleiden zu müssen.

Wenn wir lieben, wird unsere Fantasie angestoßen: Lieben bedeutet, dem Objekt unserer Leidenschaften alle nur denkbaren Vollkommenheiten anzudichten. Talente und Eigenschaften, die der andere in Wahrheit gar nicht besitzt. Bei der Kristallisation geht es definitionsgemäß nicht darum, wer oder was der andere ist, sondern nur darum, was er sein sollte. Ein Edelstein mit vielen glänzenden Eigenschaften. Selbst wenn es sich nur um ein einfaches, bestoßenes Stück Glas handelt.

Durch die Kristallisation erscheint der andere uns als vollkommen, ganz wie der Märchenprinz, verwandelt durch eine blinde Leidenschaft, die selbst die belanglosesten Details in einzigartige und erhabene Wesensmerkmale umwandelt.

Stendhal schreibt: »Die Liebe ist wie das Fieber, sie entsteht und erlischt, ohne dass der Wille daran den geringsten Anteil hat. Dies ist einer der Hauptunterschiede zwischen der Liebe aus Geschmack und der Liebe aus Leidenschaft, und man kann sich über die guten Eigenschaften des geliebten Wesens nur freuen als über einen glücklichen Zufall.«

Doch wenn die Liebe nichts anderes ist als eine eingebildete Leidenschaft, was bleibt von ihr übrig, wenn wir erst einmal erreicht haben, wonach wir uns sehnten? Wie sollte uns nicht die Enttäuschung übermannen, wenn wir den anderen plötzlich so sehen, wie er ist?

Wäre die Liebe einzig und allein eine Frucht unserer Idealisierung, wie Stendhal glaubte, würde sie die Konfrontation mit der Wirklichkeit nicht überdauern. Sie würde verschwinden, sobald die Maske fällt, und an der Banalität der Realität zerbrechen wie ein zersplitterndes Kristallglas: Er, der immer alles wusste und niemals zögerte, jetzt ist er wie gelähmt und erinnert sich nicht einmal mehr an meine Lieblingsfarbe. Und welche Blumen sind mir die allerliebsten? Nein, doch nicht weiße Rosen! Die machten meiner Mama solche Freude, wenn ich ihr am Sonntagmorgen nach der Messe auf dem Heimweg welche kaufte. Nein, Mimosen auch nicht! Das waren meine Lieblingsblumen, als ich noch ein Kind war und sie immer in der kleinen Grünanlage auf dem Platz pflücken ging.

Solange der andere uns nicht verlässt, idealisieren wir ihn notgedrungen in einer weiteren Kristallisation.

Aber es ist nicht die Liebe, die den anderen verklärt. Es ist unsere Unfähigkeit, eine Person so zu sehen, wie sie ist, was uns der Realität gegenüber blind und taub macht.