Allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens - Hermann Lotze - E-Book

Allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens E-Book

Hermann Lotze

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Beschreibung

Der Verfasser, bekannt durch seine allgemeine Pathologie und seine Abhandlungen über Seele und Lebenskraft in Wagners physiologischem Wörterbuch, bietet hier eine allgemeine Physiologie, welche in demselben Geiste gehalten ist als jene früheren Schriften. Sie zeichnet sich wie diese in formeller Hinsicht durch scharfes kritisches Urteil, sichtende Klarheit, Festhaltung des exakten Standpunkts in naturwissenschaftlichem und philosophischem Sinn und einen mustergültigen Stil aus, und zielt mit Vorliebe darauf ab, einerseits die mechanischen Zusammenhänge aufzusuchen, welche die Lebenserscheinungen vermitteln, andrerseits die Kombination mechanischer Mittel, deren die Natur sich zur Erzeugung des Lebens zu bedienen pflegt, in ihren eigentümlichen allgemeinen Formen hervorzuheben, den Organismus gleichzeitig als Maschine und diese Maschine als eine organische darzustellen; sie erhebt dabei aber nicht den Anspruch, durch ungeahnte Prinzipien der Untersuchung die Wissenschaft selbst plötzlich neu umzugestalten, oder durch umfassende Vollständigkeit der Einzelheiten dem Kundigen neue Gesichtspunkte der Vergleichung zu geben. Sie erklärt sich vielmehr als gänzlich dem Zweck der Schule gewidmet. In der Tat wird man, zum Teil durch die früheren Bemühungen des Verfassers selbst, das Verdienst dieser Schrift weniger in Aufstellung durchgreifend neuer fruchtbringender Gesichtspunkte, welche die Wissenschaft in positiver Weise förderten, oder neue Aussichten eröffneten, als in konsequenter Durchbildung jener organisch-mechanischen Ansicht des Lebens durch alle allgemeinen Fragen der Physiologie und in kritischer Beleuchtung des Vorhandenen zu suchen haben.

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Seitenzahl: 898

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens

 

HERMANN LOTZE

 

 

 

 

 

 

Allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens, H. Lotze

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783988681843

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

Inhalt:

Vorwort.1

Erstes Buch. Grundbegriffe und Grundsätze der allgemeinen Physiologie. 3

ERSTES KAPITEL. Von den verschiedenen Arten der Naturauffassung.7

ZWEITES KAPITEL. Vergleichungen des Lebendigen und des Unlebendigen.55

ZWEITES BUCH. VON DER MECHANIK DES LEBENS UND DEM HAUSHALT DER LEBENDIGEN KÖRPER.133

ERSTES KAPITEL. Vom Chemismus des Stoffwechsels.133

ZWEITES KAPITEL. Mechanismus des Stoffwechsels.181

DRITTES KAPITEL. Von der Mechanik der Gestaltbildung.234

VIERTES KAPITEL. Von den Leistungen der lebendigen Körper.285

FÜNFTES KAPITEL. Vom Zusammenhang der physiologischen Prozesse.334

DRITTES BUCH. VON DEM REICH DER LEBENDIGEN WESEN UND SEINER ERHALTUNG.390

ERSTES KAPITEL. Von dem System der organischen Geschöpfe.390

ZWEITES KAPITEL. Von der Fortpflanzung der Lebensformen.433

DRITTES KAPITEL. Von der Wechselwirkung der Organismen mit der Außenwelt.475

Vorwort.

Einer weitläufigeren Darstellung des Gesichtspunktes, von dem aus die vorliegende Arbeit unternommen worden ist, überhebt uns die Ausführlichkeit, mit welcher im ersten Buche die theoretischen Grundlagen der Betrachtung auseinandergesetzt worden sind. Vielen wird diese Entwicklung allzu weitschweifig erscheinen, und auch mir selbst ist sie eine unerfreuliche Arbeit gewesen, deren Notwendigkeit jedoch für den Leserkreis, den ich voraussetzte, mir gewiss war. Denn dass dieses Buch nicht den Anspruch macht, durch ungeahnte Prinzipien der Untersuchung die Wissenschaft selbst plötzlich neu zu gestalten, oder durch umfassende Vollständigkeit der Einzelheiten dem Kundigen neue Gesichtspunkte der Vergleichung zu geben, wird Jeder sich selbst sagen, der die Unmöglichkeit der ersteren Leistung überhaupt, die der zweiten auf dem Raume, den ich dieser Schrift bestimmt hatte, bedenkt. Sie ist gänzlich dem Zwecke der Schule gewidmet und bestimmt, der lernenden Generation über eine Anzahl von Zweifeln hinwegzuhelfen, über welche eignes Nachdenken nicht immer und nicht ohne Aufopferung vieler Zeit zur Klarheit bringt. Ist sie außerdem geeignet, über einzelne Punkte neues Licht zu verbreiten, oder eine allgemeine Anschauung des Lebens zu erwecken, die für den Fortgang der Wissenschaft von Nutzen sein kann, so würde mir dies eine angenehme Entschädigung für die Missstimmung sein, welche bei vielen anderen Gelegenheiten die Unmöglichkeit erweckt, mit dem bisherigen Stande unserer Erkenntnisse den notwendigen Aufgaben einigermaßen zu genügen. Über die Auswahl dessen, was ich zur Darstellung gebracht habe, wird man mich im Allgemeinen, wie ich hoffe, nicht tadeln. Niemand, außer einem gebildeten Publikum von Laien in der Medizin, dem ich nicht absichtlich durch Weglassung aller Beschreibung von Formen und Tatsachen ein mir erfreuliches Verständnis erschweren wollte, wird meine Schrift lesen, ohne daneben und vorher sich aus den speziellen Lehrbüchern der Wissenschaft über die Einzelheiten der Beobachtung detailliert zu unterrichten. Ich habe daher benutzt, was mir einige Ausbeute versprach, und je empfindlicher es mir früher oft fiel, in anderen ähnlichen Schriften da, wo ich allgemeine Reflexionen erwartete, immer wieder nur dem leicht zu habenden Detail vergleichender Anatomie zu begegnen, aus dem bis jetzt größtenteils nichts zu schließen ist, umso weniger habe ich auf deskriptive Vollständigkeit Rücksicht genommen. In anderen Fällen entschieden andere Gründe. Arbeiten, wie die von Dubois über Elektrizität, von Volkmann über Hämodynamik, von Wagner über die primitiven Elemente der Nerven und ihre Funktion und viele von ähnlicher Vortrefflichkeit und von gleichem Wert für die spezielle Physiologie gewähren doch noch wenig für die Allgemeine. Namentlich würde sich der unmittelbare Vorteil, den die Physiologie von dem entscheidendsten Beweis der Identität von Nervenprinzip und Elektrizität haben würde, gewiss unerwartet gering herausstellen. Ich kann jedoch diese Rechtfertigung abbrechen; meine Schrift ist nicht das letzte Wort in der allgemeinen Physiologie, sondern kaum ein kleiner und sehr unvollkommener Anfang; was ihr mangelt, werden Andere mit glücklicherem und umfassenderen Blick ersetzen, und besonders wird die Zeit, indem sie meine Bemühungen in Vergessenheit bringt, neue Ansichten, Kenntnisse und Methoden entstehen lassen, die den vorhandenen konkreten Aufgaben in viel höherem Masse gewachsen sind, als was wir jetzt besitzen.

Göttingen Ostern 1851.

H. Lotze.

Erstes Buch. Grundbegriffe und Grundsätze der allgemeinen Physiologie

Allgemeine Betrachtungen beschäftigen zu verschiedenen Zeiten den menschlichen Geist; sie erfüllen mit lebendigen Ahnungen die bedürftige Kindheit der Wissenschaft und leiten die fortgeschrittene Untersuchung durch den Reichtum einzelner Kenntnisse, der sie zu verwirren droht. Aber während der langen Zeit, welche dieser Entwicklungsgang einer Wissenschaft füllt, hat sich der Inhalt des Allgemeinen, welches wir suchen, allmählich für uns verwandelt; es sind nicht mehr dieselben Rätsel, welche die beginnende Wissenschaft bewegten, und von denen jetzt die zweifelnde Untersuchung einen Abschluss ihrer Bestrebungen erwartet. Dem Wandernden enthüllt der Fortschritt seines Weges nicht nur nach und nach die Teile der Gegend, die seinen früheren Standpunkten unsichtbar waren; auch das schon Durchwandelte gewinnt oft eine neue Beleuchtung durch die plötzlichen Verschiebungen, mit denen eine Wendung des Weges den Anfängen der Landschaft einen unvermuteten Abschluss gibt, oder eine anscheinende Begrenzung in einen neuen Fortschritt auflöst. Wert des Gefundenen, Ziel der weiterstrebenden Sehnsucht wird in der Wissenschaft wie im Leben häufig Schritt für Schritt neu bestimmt, und nur selten erteilt eine ungewöhnliche Gabe der Voraussicht schon unserem Anfang eine Richtung, welche die Ergebnisse des Fortschrittes nicht zu verändern nötigen.

Diese Verwandlung unserer Ziele empfinden wir auch bei dem Überblick des Gebietes, dem jetzt unsere Bemühungen gelten sollen. Auch die Betrachtung des Lebens wird erst in ihrer Fortbildung ihrer wahren Aufgabe sich völlig bewusst, und indem ihre jetzige Entwicklung zur Wiederaufnahme allgemeiner Betrachtungen auffordert, erweckt sie zugleich das Gefühl des Unzulänglichen nicht in den Ergebnissen allein, sondern auch in den Bestrebungen, die frühere Zeiten auf dasselbe Ziel gerichtet uns hinterlassen haben. Die Tatsachen, deren Erkenntnis unsere Wissenschaft bereichert hat, weisen uns nicht mehr in dieselbe Gegend hinaus, in der jene die Quelle der Erklärung vermuteten; manche einzelne Entdeckung hat plötzlich neue Gebiete von Aufgaben aufgeschlossen; mancher allmählich erreichte Standpunkt hat die Gewohnheiten selbst des Fragens und der Untersuchung völlig verändert. So fühlen wir uns mannigfach unbefriedigt durch das, was die Vorzeit überliefert hat, und was einzelne Zeitgenossen uns wiederholen, ohne doch damit unsere neu entstandenen Bedürfnisse decken oder uns den Sinn für Betrachtungsweisen wieder geben zu können, deren Richtung und Ziel wir mit Klarheit für Täuschungen erkannt haben.

So weit ist diese Veränderung der wissenschaftlichen Gewohnheiten nur die natürliche Gerechtigkeit, mit der stets entwickeltere Standpunkte die anfänglichen Versuche richten. Aber durch eine unvermeidliche menschliche Unvollkommenheit knüpft sich an sie eine ungerechte Unterschätzung mancher Bestrebung, die wir im Gegenteil in unserer Wissenschaft lebendig erhalten sollten. Je schärfer die Bildung einer Zeit einen bestimmten Punkt hervorhebt und nach allen Seiten beleuchtet, umso achtloser pflegt sie andere Teile ihres Gegenstandes in das Dunkel zurückfallen zu lassen. Nie ohne irgendeine Einseitigkeit, begünstigt jede Zeit eines lebhaften wissenschaftlichen Aufschwungs eine Richtung der Forschung vor anderen, je nach der minderen Schwierigkeit, welche die Gegenstände für den Augenblick nach irgendeiner Seite hin der Untersuchung entgegenstellen. Je mehr aber der Einzelne von dieser herrschenden Strömung fortgezogen wird, desto fremder wird ihm jeder seitab liegende Gedankenkreis früherer Ansichten, dem er keine bestimmte Beziehung zu dem Ziele seiner eigenen Bewegung zu geben weiß. Und dennoch wird auch er nicht umgehen können, auf alle jene Anforderungen des Gemüts eben sowohl als des wissenschaftlichen Geistes zu hören, aus denen viele jener Ansichten, längst veraltet in den Augen unserer Zeit, entsprungen sind; denn jene Forderungen bestehen eben nicht in einfachen wissenschaftlichen Vorurteilen, sondern in unaustilgbaren Sinnesarten und Voraussetzungen, mit denen nun einmal von jeher die Menschen sich den eindrucksvollen Erscheinungen der Natur gegenüberstellen. Während jedoch die langsame Entwicklung der Wissenschaft jedem dieser Standpunkte eine volle und allseitige Entfaltung gestattete, wird in dem Einzelnen, der in die Kürze seiner eignen Entwicklung zusammendrängen muss, was dort geraume Zeiten füllte, die hastige Wiedererzeugung dieser verschiedenen Betrachtungsweisen schwerlich jede derselben zur Klarheit reifen und in ihre natürlichen Beziehungen zu anderen eintreten lassen. umso störender, je mehr ihnen ihr rechtmäßiger Anteil an der Gestaltung unserer Überzeugungen abgeschnitten wird, drängen sie sich heimlich wieder ein, und unfähig, sich zu dem Ganzen einer abgeschlossenen Ansicht zu vereinigen, durchkreuzen sich auf die ungeeignetste Weise die einzelnen Gedankenkreise, die aus verschiedenen gleich unabweisbaren, aber unvermittelt gelassenen Bedürfnissen unseres Geistes entspringen. So sehen wir es wohl geschehen, dass den Einen, nahe vielleicht dem Ende einer wissenschaftlichen Laufbahn, plötzlich die verspätete Ahnung überwältigt, wie das, was er aus klarster Überzeugung als Traum verfolgte, nun doch seine Wirklichkeit hat. Aber unfähig, dieser neuen Macht eine bestimmte Beziehung zu dem zu früh abgeschlossenen Kreise seiner Ansichten zu geben, muss er sich mit dem begnügen, was der Andere von Anfang an vorzog, mit einer doppelten Beurteilung derselben Dinge nämlich, über die er anders in der Wissenschaft und anders im Leben denkt; in jener einem einseitigen Vorurteil folgend, in diesem widerstandslos allen wechselnden Anregungen hingegeben, mit denen die Tiefen unseres Gemüts unser Urteil über die Dinge bestimmen.

Gewiss irren wir deshalb nicht, wenn wir meinen, dass das Misslingen allgemeiner Untersuchungen viel seltener von den Schwierigkeiten herrührt, die sich zwischen uns und einem deutlich gesehenen Ziele erheben; viel öfter dagegen von der Unkenntnis und der Vermischung der Bedürfnisse, die überhaupt zur Stellung der Fragen und zur Führung einer Untersuchung veranlassen. Gilt dies im Allgemeinen, so dürfen wir davon in nicht geringem Grad die Anwendung auf unseren besonderen Gegenstand, die Natur des Lebens, machen. Wer das, was in den Betrachtungen über diese höchste Form des natürlichen Daseins geirrt worden ist, auf wenige Fehler der Erkenntnis zurückführen wollte, würde gewiss nur die geringsten Quellen dieser Irrungen und sicher diejenigen nicht auffinden, aus denen mancherlei falschen Meinungen ihre kaum zu vertilgende Überredungskraft stets wieder neu zuwächst. Gar viele Quellen fließen hier zusammen; mit Forderungen des Denkens haben sittliche Voraussetzungen, Bedürfnisse des Glaubens, ästhetische Stimmungen sich zur Erzeugung der Ansichten verbunden, und der vereinigten Kraft, mit der diese großenteils unbewusst wirkenden Mächte unser Gemüt bald in Wahrheit, bald in Irrtum beherrschen, soll die richtige Erkenntnis ihre Sicherheit verdanken, und verdankt in Wirklichkeit auch der Irrtum jene Unverwundbarkeit für alle Widerlegung, die wir so oft an ihm zu bewundern finden. Man darf diese Umstände nicht zu geringschätzen, indem man vielleicht einwendet, dass die Betrachtung einer Naturerscheinung, wie das Leben eine darstellt, zu weit von dem eigentümlichen Gebiete jener geistigen Mächte abliege, um ihnen einen beträchtlichen Einfluss auf die Gestaltung der Ansichten zu gestatten. Ihnen allen gebührt vielmehr an derselben ein nicht unbedeutender, obgleich sehr mittelbarer Anteil; die nachteiligen Wirkungen aber, die ihre verkehrte Herrschaft herbeiführen kann, würden sich viel leichter auf ihrem besonderen eigentümlichen Gebiete beseitigen lassen, als gerade auf einem solchen, auf welches sie nur mittelbar und in schwer fassbaren Zügen ihren Einfluss ausdehnen.

Unsere erste Mühe muss daher darauf gerichtet sein, zu zeigen, wie viele und wie verschiedenartige Bedürfnisse der ungeduldige Wunsch nach Aufklärung einschließt, und auf welche Weise die Untersuchungen, die von so verschiedenen Gesichtspunkten ausgehen, auseinandergehalten, ihre Ergebnisse aber in eine Gesamterkenntnis vereinigt werden müssen. Sind wir nun genötigt, bei diesen Betrachtungen Manches zu berühren, was den besonderen Zwecken der Heilkunst, in deren Dienst diese Untersuchungen geführt werden, ferner steht, so mögen uns zwei Gründe entschuldigen. Zuerst die Erinnerung, dass eine allgemeine Lehre vom Leben nicht nur der fruchtbare Boden für die einzelnen Anwendungen der Heilkunst, sondern auch ein Gebiet sein soll, auf welchem die Ansichten eines begrenzten Berufes mit all demjenigen Verkehr haben, was von umfassenderem Wert auch das übrige menschliche Leben bewegt. Einmal wenigstens, am Anfange der Wissenschaft, ziemt es sich, auch das zu bedenken, was rings umher liegt, und worauf die Richtung, in der jeder sich zu den einzelnen Bedürfnissen des Lebens verliert, seinen Blick nicht so leicht wieder lenken wird. Dann aber bestimmt uns zu der ausführlichen Erwägung dieser Vorfragen die Rücksicht auf den gegenwärtigen Zustand der Wissenschaft, der unfähig, wie er ist, allgemeine Betrachtungen von großem Inhaltsreichtum zu gestatten, umso mehr eine umfassende Bildung des Urteils im Ganzen erheischt. Was nun alles dazu beitragen kann, unter den Schwierigkeiten, die jetzt uns schon drücken, und die der Fortschritt der Beobachtungen täglich mehren kann, in dem Streit ferner der Ansichten, die sich jetzt von den entgegengesetztesten Standpunkten bekämpfen, eine sichere Grundlage der Beurteilung zu gewinnen, das wollen wir hier zu vereinigen suchen. Und selbst wenn wir nichts lernten, als Fragen zu stellen, deren künftige Beantwortung der Wissenschaft Dienste leisten kann, wollen wir für die zahlreichen Lücken entschädigt zu sein glauben, die unsere mangelhaften Kenntnisse im Einzelnen noch ungefüllt übriglassen.

ERSTES KAPITEL. Von den verschiedenen Arten der Naturauffassung.

§. 1. Übersicht der möglichen Standpunkte.

1. Bei allen Völkern haben die Betrachtungen über die Natur bei jenem schwierigsten Punkte begonnen, den die allmählich aus ihnen erwachsene Wissenschaft fast in jeder Beziehung noch unaufgehellt gelassen hat: Träume über den ersten Ursprung der Schöpfung gingen stets dem Versuch voran, das Bestehende aus seinem bestehenden Zusammenhange zu erklären. Diese Neigung der Gedanken ist nicht wunderbar; sie wiederholt sich vielmehr in dem Bildungsgange jedes Einzelnen. Je weniger noch der Eindruck, den das Ganze der Welt auf uns macht, durch vielseitige Kenntnis ihrer verschiedenen Teile zersplittert wird, umso weniger wird das lebendige Bestreben des Gemüts gehemmt, Alles, woran es Anteil nimmt, in eine große Einheit zusammenzufassen. So wird die Betrachtung geneigt, jede Aufklärung über einen einzelnen Gegenstand nur in seinem Verhältnis zu dem Ganzen zu suchen. Anstatt jedoch dieses zusammenfassende Band des Vorhandenen in einem stets ebenso gegenwärtigen und unvergänglichen Zusammenhange der Gesetze und Kräfte zu finden, nimmt diese Bestrebung aus einem natürlichen Hange des Geistes zuerst die Wendung, das Bestehende in seinem Werden aufzusuchen und aus ihm zu erklären. Denn am nächsten liegt dem menschlichen Geiste die Betrachtung des geistigen Lebens; Handlungen aber, aus Gesinnungen entspringend und in Veränderungen äußerlicher Zustände auslaufend, bedürfen stets eines Zurückgehens auf jene ihre inneren Quellen, um in ihrer vollen Bedeutung erkannt zu werden, die sich nie in dem durch sie erzeugten neuen Tatbestande völlig erschöpft. Deshalb ist es uns natürlich, dass wir das wahrhaft Wesentliche auch eines unbeseelten Gegenstandes zuerst nur in der Art seiner Entstehung, gewissermaßen auf die Gesinnung zurückgehend, die ihn gebar, einzusehen meinen, und nur schwer gewöhnen wir uns für die Betrachtung der physischen Welt an den Glauben, dass die volle Natur eines Dinges sich in dem gegenwärtigen Bestande seiner Eigenschaften und Beziehungen erschöpfen könne, ohne eine Ergänzung durch die Geschichte seines Ursprungs zu bedürfen.

2. Einen anderen Hang des Geistes müssen wir hinzufügen. Rätselhaft erscheint uns zunächst das Einfache, Unvermittelte, das ferner, dessen innere Verknüpfung keine anschauliche Wahrnehmung gestattet. Je mehr Glieder einer Vermittlung, je mehr Einzelheiten überhaupt irgendeiner Art sich einer sinnlichen Anschauung darbieten, umso begreiflicher erscheint uns der Gegenstand. Beschäftigt durch die wachsende Menge dessen, was es an ihm wahrzunehmen und zu sehen gibt, durch den Reichtum und den allmählichen Übergang der Bilder, vergisst die Einbildungskraft gern, dass ihr durch dies Alles doch eigentlich nur ein größerer Stoff der Betrachtung gegeben ist, dass dagegen das Rätsel des inneren Zusammenhangs zwischen je zwei nächsten Gliedern einer solchen Kette meist noch ebenso unaufgelöst da liegt, wie es zwischen dem Anfangs- und Endglied, nur vielleicht in auffallenderer Gestalt, vorhanden war. Stets wird daher ein noch unbefangenes Gemüt über jede solche Frage am leichtesten durch eine Erzählung befriedigt, die den gegenwärtigen Tatbestand der Erfahrung als das Ende einer mannigfaltigen Geschichte darstellt, deren einzelne Bilder die Kluft zwischen Anfang und Ende freilich nur täuschend ausfüllen, indem sie die Schroffheit des Überganges durch Teilung des Abstandes mildern. Spät erst lernen wir begreifen, dass das Werden der Dinge schwieriger einzusehen ist als ihr Bestehen, und wenden uns dann von den Geschichten zur Beobachtung der Gegenwart.

3. Wie wenig wir nun auch dem menschlichen Geiste verargen können, seine Kräfte auch an dieser Frage nach der Herkunft aller Dinge zu versuchen, und wie gewiss auch ohne irgendeine Beantwortung derselben unsere Weltansicht unvollständig bleiben muss, so ist doch leicht einzusehen, dass solche Bemühungen nie den Anfang der Wissenschaft bilden können, und dass jede Zeit, die sich ihnen ohne Vorbereitung hingibt, in der Geschichte sowohl als in der Bildung des Einzelnen nur als eine vorwissenschaftliche zu betrachten ist. Welche Überzeugung man sich nämlich auch immer über den Umfang und den Inhalt der unserm Geiste eingeborenen Wahrheit gebildet haben mag, so viel räumt dennoch Jeder ein, dass nur allgemeine Wahrheiten von uns mit unmittelbar zwingender Notwendigkeit erkannt werden. Dagegen finden wir in unserm Innern keine ursprüngliche Erleuchtung über die Geschichte der Welt, weder über ihren Tatbestand, noch über seinen Ursprung, noch über die Richtung seiner weiteren Umwandlungen; wir finden vielmehr nur allgemeine Grundsätze, nach denen alle Ereignisse der einmal bestehenden Welt sich für unsere Erkenntnis richten müssen; und nur mit ihrer Unterstützung können wir aus der gegenwärtigen Erfahrung die Zukunft voraussagen, oder Tatsachen der Vergangenheit rückwärts erraten. In beiden Richtungen wird mithin der Gedanke nur soweit fortschreiten, als ihm die jetzige immer anwachsende Erfahrung oder die Überlieferung von Tatsachen der Vorzeit einen festen Boden verschafft; aber weder die erste wird uns bis an das Ende der Dinge hinab, noch die andere bis an ihren Anfang zurück begleiten. Alle Hoffnung, über die Ursprünge der Schöpfung eine irgend begründete Auskunft zu erlangen, beruht deshalb auf der vorangehenden Kenntnis des Gegenwärtigen, aus dessen Lage und Gestaltung wir allein vermöge allgemeiner Grundsätze die Richtung bestimmen können, in welcher die Mannigfaltigkeit der Welt nach einem gemeinsamen Anfangspunkt konvergiert. Die eigentliche Wissenschaft der Natur beginnt mit der unerlässlichen Voraussetzung, dass das Bestehende aus sich selbst in seinem Bestehen und seinen Bewegungen erklärlich ist, und diese innere Gesetzlichkeit eines abgeschlossenen Ganzen, das unserer Erfahrung offensteht, umfasst ihre wahren Gegenstände. Jene Fragen dagegen, welche den Zusammenhang des Gegebenen mit vorausgesetzten Gründen betreffen, denen keine Erfahrung nachkommen kann, müssen wir als ein Gebiet betrachten, an dem wir zwar von allen Seiten mit Hilfe anderer Kenntnisse mehr und mehr Teile wissenschaftlich abzubauen versuchen dürfen, das wir aber nicht hoffen können, jemals ganz in Wissenschaft zu verwandeln.

4. Diese Bemerkungen können überflüssig erscheinen, weil die Gegenwart diesen Standpunkt unwissenschaftlicher Betrachtung für ganz überwunden hält. Allerdings kommt man selten offen auf ihn zurück; die einzelnen Erscheinungen des Lebens glaubt Niemand durch die Geschichte der Schöpfung aufklären zu können. Aber das Ganze des Lebens unterscheidet sich durch so merkwürdige Züge von dem übrigen Gebiet der Natur, dass es häufig aus diesem unerzeugbar erscheint. In der ununterbrochenen Kette der Generationen unterhalten, wird es leicht als etwas der übrigen Natur Fremdartiges angesehen, dessen Vorhandensein in ihr sich nur aus einer alle Gegenwart übersteigenden Überlieferung begreifen lasse. Ein gewisser Hang ist uns daher zurückgeblieben, die Betrachtung gerade des Lebens durch Vermutungen über seine erste Entstehung einzuleiten. Nun können solche Versuche verschieden angesehen werden. Man kann sie ausführen als einer Frage von eigentümlichem Interesse geltend, aus deren Beantwortung sich erst die volle Bedeutung des Lebens im Ganzen des Weltlaufs entwickeln würde. So aber aufgefasst ist eben diese Beantwortung gewiss nur möglich unter der Voraussetzung genauer Kenntnis des gegenwärtigen Daseins dessen, dessen Ursprung wir suchen wollen; sie bildet das Ende, nicht den Anfang der Wissenschaft. Man kann aber auch meinen, durchdie Auflösung jenes Rätsels in der Erkenntnis des Lebens in seinem gegenwärtigen Bestande gefördert zu werden. Auch dies jedoch mit Unrecht. Denn welches auch sein Ursprung sein, welche Kräfte oder Elemente sich zu seiner Begründung in irgendwelcher Form verbunden haben, oder welcher geheimnisvolle Keim auch immer sich in seine bestehenden Erscheinungen entfaltet haben mag, fortdauernd erhalten kann sich das Leben doch nur durch Mittel, deren Wirksamkeit in die Zeit fällt, in der es sich erhält, und den Gesetzen untertan ist, die in dieser Zeit so wie in dem Kreise der Stoffe und der Umstände gelten, mit denen zusammentreffend es diese Erhaltung vollzieht. Die Erscheinungen des Lebens bilden für unsere Beobachtung einen abgeschlossenen Kreis der Keimung, Entfaltung und neuer Keimbildung; so wie es aus dieser zusammenhängenden Kette nicht heraustritt, haben auch wir zuerst nicht nötig sie zu verlassen. Indem wir vielmehr ihren einheimischen Zusammenhang und ihre Verknüpfung mit der gegenwärtigen umgebenden Welt erforschen, dürfen wir uns die Frage nach der ersten Entstehung dessen, was in diesem Kreislaufe sich entwickelt, als Gegenstand einer abgesonderten Betrachtung aufsparen.

5. Naturansichten von wissenschaftlicher obgleich sehr verschiedenwertiger Bedeutung beginnen da, wo der Grund, auf welchen die Erscheinungen zurückgeführt werden, sich als eine die wirkliche vorhandene Natur beständig beherrschende Macht aufzeigen und den Blicken der Erfahrung darstellen lässt. Auch hier können die verschiedenartigsten Bedürfnisse des Geistes bei der Gestaltung der Ansichten noch tätig sein. Ohne die Mannigfaltigkeit der daraus entstehenden Auffassungen schon hier, wo wir ihnen keine nähere Beziehung zu unserm eigentlichen Gegenstande geben könnten, aufzählen zu wollen, müssen wir doch drei hauptsächlich hervorstechende Sinnesarten bezeichnen, aus denen verschiedene Gruppen von Meinungen und wissenschaftlichen Richtungen hervorgehen. Wie wir im Leben bald durch Eingebung, bald durch Erfahrung, bald durch Berechnung uns leiten lassen, so wiederholen sich diese Weisen, die Dinge anzusehen und mit ihnen umzugehen, auch in den Ansichten der Natur.

6. Die Geschichte der Wissenschaft beginnt mit derselben Stellung des Bewusstseins gegenüber der Natur, mit der auch unser eigner Bildungsgang im Einzelnen anhebt. Bedürfnislos und noch zweifelfrei den Erscheinungen gegenübergestellt, haben wir am Anfange keine wissenschaftliche Fragen über sie aufzuwerfen, sondern geben uns empfänglich nur dem Eindrucke hin, den sie auf unser Gemüt ausüben. Wie tiefes Dunkel auch noch den Zusammenhang der einzelnen Ereignisse und die Art ihrer Verwirklichung decken mag, die großen Umrisse des Ganzen und ihre sinnvolle Bedeutung drängen sich schon früh in unzähligen sprechenden Zügen auf, und regen zu dem Unternehmen an, die sinnliche Wahrnehmung als Erscheinung einer übersinnlichen Wahrheit auszudeuten. So sehen wir die erste Zeit des menschlichen Geschlechts sagenhaft ein Bild der Welt entwerfen, in welchem aus jeder einzelnen Gestalt der Natur der bedeutungsvolle Gedanke hervorblickt, zu dessen Verkörperung sie berufen ist, und eben so weiß der jugendliche Geist immer viel eher die entlegensten Erscheinungen in einem inneren Zusammenhange ihres Sinnes aufzufassen, als er noch die Wege kennt oder aufzusuchen ein Bedürfnis fühlt, auf denen der Zusammenhang ihrer gegenseitigen Wechselwirkung entsteht. Mit jenem sorglosen Selbstgenuss des jugendlichen Gemüts, das der lebendigen Folgsamkeit gelenker Glieder gewiss, noch nicht ahnt, welchen Widerstand die Gebote derselben Seele einst an der Gebrechlichkeit ihres natürlichen Werkzeugs finden werden, lassen diese Ansichten auch in der äußeren Natur Alles den Befehlen eines vorbildenden Gedankens unmittelbar folgen und von seinem Hauch die Last der Wirklichkeit leicht und widerstandlos bewegt werden. Ohne Zweifel verdanken wir alle solchen Auffassungen eine Reihe der glücklichsten Anregungen, und die Geschichte der Wissenschaft würde nicht so viele wiederholte Versuche zählen, die Erscheinungen der Natur aus einem beseelenden Gedanken nacherzeugend zu erklären, wenn nicht ein unaustilgbares Bedürfnis des Geistes immer wieder zu ihnen aufforderte. Dass dies Reich von Gestalten und Bewegungen, das uns umgibt, nicht das letzte Ziel der Natur sei, dass vielmehr alle diese räumlichen und zeitlichen Zusammenhänge nur andeutende Zeichen eines wertvollen Gedankens sind, der den wahren Inhalt der Welt bildet, dies ist dem unbefangenen Geiste eine gewisse Zuversicht, deren Gutes wir nicht verloren geben wollen, wie sehr auch vereinzelte Betrachtungen des Verstandes zweifelnd und zerstörend sich gegen sie kehren.

7. Aber die meisten jugendlichen Bestrebungen bedürfen einer Umgestaltung, wenn sie dem Ganzen unserer späteren Entwicklung bleibend angehören wollen, und jene Auffassung zeigt allerdings viel von der allgemeinen Weise des jugendlichen Geistes, von dem sie ausging und von dem sie stets wieder am lebhaftesten aufgenommen wird. Denn der Sinn der Jugend schreitet vom Einzelnen nicht zum Allgemeinen, sondern zum Ganzen fort; er scheut es, die unteilbare Lebendigkeit einer Erscheinung durch zergliedernde Zurückführung auf allgemeinere und darum weniger anschauliche Bedingungen zu verletzen; er liebt desto mehr, jedes Ereignis, jede Gestalt mit der vollen unauflösbaren Eigenheit ihres Wesens dem sinnvollen Plan eines Ganzen bedeutungsvoll einzureihen. Unbekümmert überall um die Mittel, schöne Träume zu verwirklichen, kennen diese Ansichten auch hier nur ein freiwilliges Entgegenkommen des Einzelnen, das sich zum Ganzen fügt, keinen allgemeinen Weltlauf, der dies Ergebnis durch die Anstrengung wirkender Mittel zu der Stande bringt. Dies ist der märchenhafte Sinn der Jugend, eine Welt kennt, in der die Dinge an Orten erscheinen, wohin ihr Zweck sie ruft, ohne dass sie nötig hätten, zwischenliegende Entfernungen zu durchlaufen, in der dem Wunsche die Erfüllung folgt, ohne dass klug benutzte Kräfte sie zu vermitteln brauchten, eine Welt überhaupt, in der der Gedanke allmächtig ist und die Wirklichkeit willig und folgsam seinen Geboten gemäß sich verwandelt. Und man muss gestehen, dass dieser Sinn aus manchen der Ansichten, welche die Welt aus Ideen entstehen lassen, nicht spurlos verschwunden ist; unbesorgt um die bestimmtere Art des Daseins, die diesen Ideen zukommen soll, lassen sie dieselben oft nur auf unangebbare Weise das Wirkliche durchduften und es doch nicht nur als Vorbilder, sondern als wirkende Kräfte beherrschen. Müssen wir nun diese Unmittelbarkeit der Gegenwart von Ideen in den letzten Verzweigungen der Wirklichkeit freilich tadeln, so werden wir uns doch schon hier heimlich gestehen müssen, dass in dieser kindlichen Auffassungsweise ein großer Teil der Wahrheit verborgen liegt, nur übertragen auf Verhältnisse, in denen er unwahr wird. Irgendwo muss, wenn nicht in dem Gezweige, so doch in den Wurzeln der Wirklichkeit jene Unmittelbarkeit des Wirkens und Gestaltens sich finden, die durch unmittelbare Eingebung sie in Bewegung setzt, so wie wir sie durch gleiche Eingebung in den Gebilden der Welt anschauen, und glücklich werden wir sein, wenn trotz der Gewöhnung an die Betrachtung mittelbarer Folgen unser Blick unbefangen genug für die Anerkennung des Unmittelbaren geblieben ist, das ihnen allen zu Grunde liegt.

8. Die Jugend will nichts von der Macht der Verhältnisse wissen; ihr liegt die Zukunft vor als ein schönes sich abrollendes Ganzes, das sich aus sich selbst entwickelt, ohne von dem Äußern mehr als ein natürlich zu erwartendes Entgegenkommen zu bedürfen. Die Erfahrung zögert indessen nicht, sie zu belehren, dass, um solche Entfaltungen zu sichern, Arbeit und bestimmte Regeln der Lebensführung nötig sind, und dass nicht minder alle Bedeutsamkeit der Naturerscheinungen doch nur durch eine günstige Übereinstimmung allgemeinerer Bedingungen begründet wird. Jene Selbständigkeit des Einzelnen, das mit Wahrung seines eigentümlichen Wesens einem größeren Ganzen sich nur einordnete, geht in eine Unterordnung über unter gewisse gleichbleibende und in aller Mannigfaltigkeit beständig wiederkehrende Handlungsweisen der Natur; das Einzelne erscheint herabgedrückt zu einem zufälligen und unwesentlichen Beispiele allgemeinerer Grundereignisse, die nach der Art ihrer gegenseitigen Beziehung bald diesen bald jenen Erfolg, aber keinen mit mehr Vorliebe als den anderen, begründen. Einer so kalten Abstreifung alles des Eigentümlichen, das den wahren Wert einer einzelnen Naturgestalt zu enthalten schien, widerstrebt jugendlicher Sinn immer auf gewisse Weise und ist dadurch ein natürlicher Gegner der besonnenen Erfahrung. So wie er sein eignes Leben als ein außerordentliches betrachtet und es ungern nach einem Masse gemessen sieht, das auch auf Anderes passt, so versteht er die anregende Schönheit nicht, die der Betrachtung dennoch verbleibt, auch wenn sie jenen schwindelnden Standpunkt aufgibt, auf dem sie in genießender Beschaulichkeit den Sinn der Welt mühelos zu respirieren vermeinte. Denn einmal belehrt, dass Träume von selbst nicht ausgehen, verlässt sie ihn freilich und stellt sich als beobachtende Kunst der Erfahrung den Erscheinungen gegenüber; gesteht zu, dass es ursprüngliche Tatsachen der Wirklichkeit gibt, deren. Dasein aus keinem Gedanken notwendig fließt, vor denen vielmehr als vor geheimnisvollen Urerscheinungen unsere Vorstellung anerkennend innehalten muss, und auf deren stillen großen Verschlingungen doch das veränderliche Bild des Naturlaufes ruht. Grade hierin besteht das eigentümlich fesselnde und fromme Gefühl, das so oft dichterische Gemüter zu dieser Weise der Naturauffassung hinführt, dass wir jenen aus den bunten Erfahrungen schonend ausgelösten Grunderscheinungen wie einer unausdenkbaren Wirklichkeit zuschauen, die sich fremd und still, eine ewige Tatsache, vor uns entwickelt. Es liegt ein gemischter Reiz von Entsagung und Selbstgefühl in dieser enthaltsamen Verehrung des Tatsächlichen. Finden wir in ihm eine Schranke unseres Wissens, so finden wir in ihm auch eine Hindeutung auf einen ähnlichen unauflöslichen Kern im eignen Innern, und das Gefühl eines unsicheren Daseins mildert sich, das uns nicht erspart bleibt, wenn wir uns mit der Aufopferungslust der Jugend nur als selbstlose Durchgangspunkte für die Entwicklung eines weltschöpferischen Gedankens ansehen.

9. Dennoch gewährt auch diese Weltauffassung keinen Abschluss, und vergebens hat einer der größten Geister unseres Volkes ihren dichterischen Glanz der Notwendigkeit des Weiteren wissenschaftlichen Fortschrittes entgegengestellt. Wohl ist es anregend, dem Verlaufe der Erscheinungen zuzusehen und ohne ihn durch künstliche Vermutungen oder durch gewaltsame Eingriffe zu stören, nur beobachtend diese Urtatsachen der Entwicklung, diese ewigen Gewohnheiten der Natur zu erforschen; wohl ist bedeutsam und wichtig für die Ausbildung der Wissenschaft eine solche Zeichenlehre, die ruhig anschauend das erfahrungsmäßig Zusammengehörige zusammenstellt, ohne durch künstliche Zwischenglieder der Erklärung den Tatbestand des Wirklichen zu verunreinigen; dennoch wird nur der glückliche Geist eines Einzelnen diesen Standpunkt naturwissenschaftlicher Forschung hinlänglich von dem anderen entfernt halten, auf dem mit sehr verkehrtem dichterischen Scharfsinn jeder Glaube an Zaubereien, selbst an den Spuk des Hexenwesens sich entwickelt. Alle diese Vorstellungsweisen wissen von urtatsächlichen Hindeutungen der Dinge aufeinander, von geheimnisvollen Zusammenhängen, und alle hegen dieselbe sehr gegründete Scheu, das Wesen dieser Verknüpfungen näher zu untersuchen. Auch dem gereiften Verstande freilich werden die letzten Tatsachen der Natur immer in demselben Sinne Geheimnisse bleiben, wie jene vorgeblichen Zauber; aber eben darauf kommt es an, den Wert dieser Benennung nicht an Ungeeignetes zu verschwenden. Dazu ist der Schritt von den allgemeinen Tatsachen zu den allgemeinen Gesetzen nötig.

40. Ihn hat die neuere Zeit in der Betrachtung der Natur ebenso entschieden, wie im geselligen Leben getan. In dem letzteren ist die Achtung vor den Ansprüchen erloschen, die im Mittelalter jede einzelne Genossenschaft auf Anerkennung ihrer eigensinnigen Einzelvorrechte erheben durfte; in allgemeinen Verfassungen, gemeinsam verbindlichen Rechten und Pflichten gehen diese beschränkten örtlichen Rechtsbildungen immer mehr unter, während sie sich sonst als unumstößliche Tatsachen benahmen. Auch die Naturwissenschaften sprechen jetzt in einem anderen Sinne von allgemeinen Gesetzen als jene frühere Zeit. Denn für jene war das Allgemeine noch immer ein Trieb, der auf eine bestimmte Gestalt des Erfolges gerichtet war, und eben durch diese Anschaulichkeit ihres Ergebnisses so wie durch die Mannigfaltigkeit zusammenstimmender Mittel, die sie zu seiner Verwirklichung in Bewegung setzten, regten diese Allgemeinheiten die lebhafte Teilnahme jeder dichterisch erregten Einbildungskraft an. An ihre Stelle treten jetzt allgemeine Kräfte, deren ganze Eigentümlichkeit in einer sehr einfachen, allenthalben sich gleichbleibenden Wirkungsweise besteht, die unendlicher Größenunterschiede und der mannigfachsten Verkettung mit anderen fähig, nach Maßgabe dieser wechselnden Umstände bald diese bald jene Erscheinung gleich absichtslos bedingt. Eine solche Ansicht entbehrt natürlich der Zartheit, mit welcher die zurückhaltende Beobachtungskunst, deren wir oben gedacht haben, jede einzelne Erscheinung in ihrer ganzen Eigentümlichkeit aufzufassen strebt; für sie ist jedes noch so bedeutungsvolle Erzeugnis nur ein gleichgültiges Beispiel allgemeiner Gesetze neben tausend anderen, die bei geringfügiger Veränderung der bedingenden Nebenumstände ebenso wohl zur Wirklichkeit gelangt sein würden. Die eigentümlichen Gestalten der natürlichen Entwicklung werden daher hier um desto mehr in ihrem Wert herabgesetzt, je begreiflicher ihre Entstehung aus einer Verknüpfung der Grundkräfte ist. Diese selbst bilden zwar noch immer Tatsachen, die nur anerkannt, nicht abgeleitet werden können, aber sie sind am häufigsten nicht selbst Gegenstände der wirklichen Beobachtung, sondern aus dieser durch Vermutungen entwickelt, die nur durch Übereinstimmung ihrer Folgen mit dem Tatbestande des Beobachteten sich als wahrscheinlich ausweisen. So wird aus dem, was eigentlich nie gesehen wird, der Tatbestand der Wirklichkeit erklärt und alle ihre bedeutungsvollen Gestalten sinken zu beiläufigen Beispielen dessen herab, was alles aus einem fruchtbaren Grundvorgang durch passende Nebenbedingungen werden kann.

11. So haben wir drei sehr verschiedenartige Weisen der Naturauffassung kennen gelernt. Keine von ihnen ist, die nicht das Gemüt des Einzelnen zu irgendeiner Zeit oder die Wissenschaft in irgendeinem Einzelnen bewegte; aber nirgends sind zur Ausbildung einer jeden von ihnen so große und edle geistige Kräfte aufgeboten worden, wie wir sie in Deutschland noch jetzt in dieser Bemühung tätig sehen. Den Anfang dieses Jahrhunderts beherrschten mit großem Übergewicht die Versuche einer idealen Deutung der Welt und des Lebens, mit allem Feuer, das solchen Bestrebungen gebührt, aber unstreitig mit weniger Klarheit, als sie bedürfen. Eine Neigung zu vorsichtiger Erfahrung hat einzelne begünstigte Geister geleitet und ist in der Menge zu jenem bequemen Geltenlassen der nächsten Tatsachen geworden, das so wenig den Namen wissenschaftlicher Beobachtung verdient. Mit großer Schnelligkeit endlich ist in der letzten Vergangenheit eine mechanische Betrachtungsweise des Lebens herrschend geworden und droht, jede andere Auffassungsart der Dinge völlig zu ersticken. So haben alle diese Ansichten unter uns nicht nur ihre Vertreter, sondern ihr lebhafter Streit untereinander ist es, der am Eingange unserer Betrachtungen notwendig unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Welche von diesen Arten, die Sache anzusehen, Recht behalten solle, oder ob sie alle Unrecht tun sich zu bekämpfen, anstatt durch ihre angemessene Verbindung einen günstigen Erfolg zu sichern, eine Verständigung über diese Frage muss notwendig unseren ferneren Untersuchungen vorangehen. Gewiss lernen dadurch die Gegner sich nicht verstehen, dass sie bald im Gefühl der Anwendbarkeit und Handlichkeit ihrer mechanistischen Ansichten das Traum und Einbildung nennen, was ein beschaulicheres Gemüt noch außerdem in der Natur zu finden glaubt, bald umgekehrt aus der Wärme ihrer ästhetischen Begeisterung heraus geringschätzig auf die Versuche verstandesmäßiger Erklärung herabsehen. Wir versuchen deshalb sowohl den Wert als auch die Ausführbarkeit jeder dieser Bestrebungen für menschliche Kräfte, endlich ihr gegenseitiges Verhältnis zueinander in den folgenden Betrachtungen zu schildern.

§. 2. Ideale Naturansichten.

12. Welcher Anteil von Wahrheit in jener Ansicht liegt, die von einem bedeutungsvollen Gedanken die Wirklichkeit durchdrungen und geordnet glaubt, dies besonders hervorzuheben ist kaum nötig. Denn wie sehr auch nach so vielen misslungenen Versuchen, jenen in allen Dingen schlummernden Gedanken auf menschliche Ausdrücke zu bringen, unsere Zeit abgestumpft für diese Voraussetzung ist, auf einem tiefen und lebhaften Bedürfnisse des Gemüts beruht sie dennoch fest und sicher für den, der weder den vereinzelten Aussprüchen des Verstandes gestattet, sich als einzige Quelle der Wahrheit zu benehmen, noch das, was er als unantastbare Gewissheit voraussetzt, dennoch bis zu tastbarer Deutlichkeit ausführen zu müssen meint. Aber ganz unmöglich würde es auch anderseits sein, diese Überzeugung von einer die Welt durchdringenden Zweckmäßigkeit demjenigen wissenschaftlich zu beweisen, der nur die Möglichkeit des Gegebenen einzusehen verlangt, und für die verschiedenen Wahrscheinlichkeiten völlig blind ist, die mehreren gleich denkbaren Annahmen zukommen. Sich die Welt als einen ewig vorhandenen Wirbel von Dingen vorzustellen, deren zufällige durch keinen Gedanken vorher bestimmte Begegnungen bald diese bald jene Erscheinung bedingen, führt nicht auf so bestimmte Widersprüche des logischen Denkens, dass die Unannehmbarkeit einer solchen Ansicht hierdurch sich erweisen ließe. Unmöglich sind daher diejenigen zu überzeugen, die nach einem offenen und unbefangenen Blick auf die Ordnung der vorhandenen Welt die Ansicht von einer gedankenlosen Entstehung derselben festzuhalten im Stande sind, und um sie zu verteidigen, vor der gewaltsamsten Umkehrung aller natürlichen Meinungen nicht zurückschrecken. Umgekehrt aber werden auch alle Angriffe mechanischer Auffassungsweisen die ästhetische Überzeugung, auf welcher der Glaube an den idealen Gehalt der Natur beruht, nicht zu erschüttern vermögen, wie siegreich sie auch gegen die unvermeidlichen Unvollkommenheiten sind, die jedem Versuche, jene Überzeugung wissenschaftlich zu entwickeln, anhängen müssen.

13. Denn ebenso deutlich, als das allgemeine Recht jener idealen Naturansicht, liegt wohl auch die Unmöglichkeit ihrer wissenschaftlichen Ausführung von unserem menschlichen Standpunkt aus vor Augen. Allgemeine Gesetze der Natur können wir aufzufinden hoffen, indem wir in unserm eignen Innern einen Maßstab notwendiger Wahrheit besitzen, dessen Forderungen sich deutlich ausdrücken lassen; die allgemeineren Tatsachen der Natur ferner könnte wenigstens eine fortschreitende Beobachtung ihr mit Sicherheit abgewinnen; viel spröder aber als Gesetze und Tatsachen verhält sich gegen unsere Erkenntnis die sinnvolle Bedeutung der Dinge. Denn sie ist kein gegebener, mitten unter den Tatsachen der Erfahrung vorliegender Gegenstand, den eine unbefangene Beobachtung gleich diesen nur aufzufassen hätte. Die Natur zeigt vielmehr nur Gestalten und Ereignisse; aber keine Gestalt kann den Beobachtenden zwingen, mehr wahrzunehmen, als eben sie selbst, und etwa über sie hinaus oder durch sie hindurch auch noch das zu bemerken, was ihre innerliche Bedeutung ist. Statt bloß empfänglicher Auffassung bedarf es daher selbsttätig erzeugender Ahnung, und die Bedeutung der Natur wird nur durch ein geistiges Nachschaffen ihrer Gestalten gefunden. Wo wir aber auf eine solche Quelle der Erkenntnis angewiesen sind, wie groß auch immer für den Geist der Wert der neuen Welt ist, die sie eröffnet, das Gebiet der Wissenschaft hört jedenfalls damit auf. Denn nicht nur das beständige Kennzeichen desselben, die Möglichkeit des Beweises und Gegenbeweises, geht uns hier ab, und damit die Fähigkeit, unseren Anschauungen Allgemeingültigkeit und genaue Mitteilbarkeit zu verschaffen, sondern gewiss stehen wir auch nicht von selbst auf jenem hohen weltschöpferischen Standpunkt, von dem aus, wenngleich unsagbar und unbeweisbar, auch nur für uns selbst der Grundgedanke der Welt in einem einfachen Ausdrucke und die Fülle der Gestalten als seine notwendige Folge sich fassen ließe.

14. Aber selbst dann, wenn es uns gelänge, durch irgendeine künstliche Vorbildung unserer Erkenntnis jenen Standpunkt zu erklimmen, würde doch die Fähigkeit, den höchsten Grund nun auch umgekehrt bis in die kleinsten Einzelheiten der Wirklichkeit hinab zu verfolgen, damit noch keineswegs gegeben sein. Denn jedes Ziel erlaubt uns zwar, rückwärts aus ihm gewisse Vorbedingungen abzuleiten, denen zu seiner Erreichung genügt sein muss. Aber diese Bedingungen werden doch aus ihm nur in einer wesentlich allgemeinen Gestalt ableitbar sein, und die Dinge, die zur Verwirklichung eines Zweckes führen sollen, finden sich durch ihn nur gewisse allgemeine Pflichten zweckmäßigen Verhaltens auferlegt, denen sie noch immer auf sehr verschiedene Weisen nachkommen können. So gewährt jeder Zweck seinen Mitteln eine gewisse Freiheit ihrer Gestaltung nach allen den Seiten hin, nach welchen sie zu ihm in keiner zwingenden Beziehung stehen. Deswegen wird nun auch aus einem als Weltgrund anerkannten Gedanken sich nie die volle Wirklichkeit ableiten lassen, sondern nur gewisse allgemeine Formen des Zusammenhangs und der Entwicklung, ein Grundriss gleichsam, den die Erscheinungen allerdings, um von jenem Gedanken sich nicht zu entfernen, einhalten müssen. Welche der vielen möglichen Gestalten aber, die gleichmäßig gut jenen Grundriss, obwohl mit unendlich verschiedener Zeichnung und Farbe erfüllen können, der Vorzug der Wirklichkeit getroffen hat, dies bleibt aus jenem höchsten Grunde noch unerklärt. Beziehen wir diese Betrachtung auf unseren besonderen Gegenstand, so gibt wohl Jeder zu, dass in den beiden Stufen des pflanzlichen und des tierischen Lebens nicht nur eine gedankenvolle Bedeutung, sondern selbst ein Fortschritt in der Tiefe und dem Reichtum dieser Bedeutung liegt. Nun mag es wohl einem die Welt nachschaffenden Nachdenken leicht gelingen, in demjenigen, was es als den höchsten Weltgrund betrachtet, irgendeinen inneren Trieb nachzuweisen, der sich notwendig in die Bildung entwicklungsfähiger, vielfach innerlich gegliederter Naturgestalten ergießt. Und so mögen sich etwa zwei Reiche der Natur als gefordert durch die Entwicklung des höchsten Grundes darstellen lassen, deren eines durch gesetzmäßige Umwandlung der Gestalt, das andere durch willkürliche Benutzung eines bald zu völliger Ausbildung gelangten Körpergebäudes sich auszeichnet. Aber wie weit ist von da noch bis zu der wunderbaren Zeichnung, den Düften, der Farbenpracht und der eigentümlichen Lebendigkeit, womit die wirkliche Pflanzen- und Tierwelt jene einfachen Aufgaben des Begriffs, wir möchten sagen, jene noch leeren Aufgaben erfüllt! Die Erfahrungen, die man über solche Versuche nun hinlänglich gemacht hat, zeigen uns, dass diese Ansichten nie mehr als jene dürftigen Grundrisse des Vorhandenen aus ihrem höchsten Prinzip abzuleiten vermocht haben. Dann aber wenden sie sich zu der Erfahrung, und indem sie die gegebene Wirklichkeit überblicken, finden sie in ihr Erscheinungen, die, einmal gefunden, sich dann freilich leicht als Verkörperungen jener leeren Begriffe fassen lassen, nur dass ohne ihre vorhergegangene erfahrungsmäßige Anschauung die Ableitung schwerlich auf den Weg gekommen sein würde, sie zu suchen oder ihr Dasein zu verlangen.

15. Diese Unfähigkeit, an die volle Wirklichkeit der Naturgestalten durch solche Ableitungen heranzureichen, wächst noch, je richtiger an sich die Aufgabe dieses Versuches gestellt wird. Wer die Welt von einem Gedanken durchdrungen und belebt sein, wer sie etwas bedeuten lässt, will gewiss nicht, dass sie das Unbedeutende bedeute, sondern das Bedeutende. Der Grund zu all diesem Hinausgehen, über das unmittelbar Gegebene kann nur in der Voraussetzung liegen, dass ein unendlich und unaussprechlich Wertvolles allein mit voller Beruhigung für den letzten zusammenschließenden Kern der Welt gehalten, ihm allein die Anerkennung eines unbedingten und unabhängigen Daseins nicht verweigert werden könne. Aber alle Begriffe des Wertes sind zu unvergleichbar mit dem Räumlichen und Zeitlichen der Natur, als dass wir noch eine gegründete Hoffnung hegen dürften, so leicht aus ihnen zu erklären, warum sie sich mit Notwendigkeit gerade nur in diesen empirisch wahrnehmbaren Formen der wirklichen Schöpfung ausdrücken könnten. Welches Wertvolle, Selige man auch als das Höchste der Welt betrachten mag, es wird schwer sein, in ihm einen bestimmten gestaltenden Trieb zu finden, der uns zu der Mannigfaltigkeit der Tier- und Pflanzenwelt, ja nur zu deren allgemeinen Urbildern hingeleitete. So ist auch unsere durchaus nur sittlich ausgebildete Vorstellung von dem Wesen Gottes unfähig, in irgendeiner anderen seiner Eigenschaften, als in einer unergründlichen Weisheit den Beweggrund zur Schöpfung dieser bestimmten Gestaltenwelt zu finden.

16. Diese Schwierigkeiten haben die meisten hierher gehörigen Ansichten veranlasst, lieber den ganzen Standpunkt, von dem sie ausgehen, zu verderben, als etwas von der scheinbaren wissenschaftlichen Ertragsfähigkeit desselben nachzulassen. Wenn es uns nicht gelingt, in der Natur einen Gedanken nachzuweisen, der, in Klarheit gefasst, noch immer dieselbe Begeisterung erweckt, mit welcher dem noch unklaren die schwärmerische Stimmung unserer Jugend nachstrebte, dann können wir uns nur zugestehen, dass unser Ziel zwar groß und wahr, aber unerreichbar war; nicht aber dürfen wir nun uns dahin herabstimmen, der Natur selbst geringere Ziele zuzuschreiben, damit wir sie erreichen können. Dies ist es, was uns so häufig begegnet. Wir alle haben wohl dem Liede nachgesonnen, das in allen Dingen schläft, wie so viele Dichter sagen, aber auch ohne es erwecken zu können; indem wir jedoch inne wurden, wie wenig das, was wir ausdrücken konnten, dem geahnten Vorbilde entsprach, haben wir diese Versuche zurückbehalten und uns begnügt, sie in unserm inneren Leben zu besitzen; aus demselben Stoffe haben Andere wissenschaftliche Lehren gebildet, die eine scheinbare Befriedigung nur gaben, weil sie in jedem empfänglichen Gemüte das Bessere, das sie nicht mitteilten, vorfanden und anregten. Wie oft haben wir so gesehen, dass dem höchsten Weltgrunde irgendeine tatsächliche Eigenschaft zugeschrieben, irgendeine bestimmte völlig gleichgültige Entwicklungsweise zugeteilt wurde, aus der dann freilich wenigstens die Umrisse der Schöpfung sich mit leichter Mühe ableiten ließen, sobald dies nur einmal zugestanden war, dass eine Form, in der wir an sich keine Bedeutung entdecken können, das Uranfängliche der Welt bilden soll.

17. Manches werden wir hierüber in unseren späteren Betrachtungen noch zu erwägen haben; im Allgemeinen aber möchten wir, wenn Bestrebungen solcher Art irgendein Gedeihen haben sollen, auf die Notwendigkeit einer Vorarbeit hindeuten, deren Bewältigung noch lange Anstrengungen erfordern wird. Wenn wir in unser Leben hineinblicken, so finden wir uns zwar bald über gewisse allgemeine sittliche Pflichten zur Gewissheit gebracht, allein wenn wir das Ganze unseres Daseins zu gestalten und zu lenken versuchen, fühlen wir uns nicht selten gepeinigt durch eine Ungewissheit darüber, was als endliches Gut, was als Mittel zu seiner Erreichung gelten soll, worin ferner ein Teil des Wertes, den wir verwirklichen wollen, noch innewohnen muss, und was Anderes im Gegensatz dazu an sich gleichgültig ist und in jeder Form gestaltet werden darf, ohne in seiner Ausprägung an die Züge des höchsten Zweckes erinnern zu müssen. Die Ungewissheit der Wertverteilung ist es, was im Leben selbst nur durch lange Lebenserfahrung überwunden wird; sollte in Bezug auf die Natur, wenn wir in ihr Ziele und Mittel unterscheiden, diese Ungewissheit geringer sein? Die bisherigen Bearbeitungen der Naturwissenschaft in diesem Sinne heißen uns diese Frage verneinen. Man hat sehr wenig nach den Kennzeichen gefragt, durch welche sich ein Begriff auszeichnen müsse, der mit Zutrauen als der Mittelpunkt einer Organisation, als die erklärende Formel für den Zusammenhang ihrer Erscheinungen angesehen werden soll, und im Gegensatz zu welchem alles andere, was wir in einem Organismus bemerken, nur entweder als vermittelnde Vorbedingung oder als Folge zu betrachten ist. Deshalb ist es gekommen, dass man Formen des Daseins, wie Duplizitäten, Polaritäten, Differenzen und Indifferenzen, d. h. Verhältnisse, die uns, wenn wir sie realisieren sollten, kaum als würdige Ziele für die spielende Tätigkeit eines Kindes vorkommen würden, nicht zu geringgehalten hat, um das innerste Wesen der natürlichen Schöpfungen auszudrücken. Das dagegen, was jedem Unbefangenen zunächst als der wahrhafte Gedanke jedes Organismus erscheint, nämlich die eigentümliche Form seines Lebens und seines Lebensgenusses hat in solchen Meinungen nur insoweit eine Stelle gefunden, als es sich für eine Potenzierung eines jener törichten Verhältnisse ansehen ließ. Eine Lehre von den Werten, und den Orten, auf welche sie fallen, ist deshalb eine noch zu erwartende Vorarbeit, die jeder mit Bedacht ausgeführten idealen Ausdeutung der Natur vorangehen muss; ihr bisheriger Mangel wird uns später zu einem Kampfe gegen manche üblich gewordene Meinung nötigen.

18. Wir haben bis hierher gesehen, wie wenig die idealen Naturansichten das zu leisten vermochten, was sie doch noch mit Recht für ihre Aufgabe hielten; noch weniger werden sie das vermögen, was sie mit Unrecht für ihre Pflicht halten. Jener höchste Gedanke konnte zunächst nur der Schlüssel sein sollen für das Verständnis der einzelnen Erscheinungen, ihrer Bedeutung und ihres Zusammenhangs, sofern diesem selbst ein durch ihn auszudrückender Sinn zukam. Schon diese Aufgabe überstieg die Kräfte unserer menschlichen Stellung; aber ganz unberührt bleibt noch die andere Frage, wie diesen durch den Inhalt des höchsten Gedankens geforderten Erscheinungen ihre Wirklichkeit zuwachse. Jede noch so tiefe Bedeutung, die wir der Welt im Ganzen zuschreiben, lässt uns noch völlig im Unklaren über ihren Ursprung, und wo wir im Einzelnen den Sinn einer Erscheinung oder des Zusammenhangs mehrerer nachweisen könnten, würden wir damit einen gewissen Anspruch wohl gefunden haben, durch den sie ihr Dasein verdienten, ohne darum zugleich die verwirklichenden Mittel kennen zu lernen, durch die es ihnen gegeben ward. Immer wird daher diese idealistische Auffassungsweise unvollständig sein und jederzeit von Neuem jenen schon geschilderten Übergang zu einer zweiten Ansicht verlangen, die hauptsächlich darauf ausgeht, jene ursprünglich vorhandenen Wirkungskräfte aufzusuchen, auf denen der Lauf der Ereignisse in der Welt beruht.

19. Man kann leicht die Notwendigkeit dieses Schrittes durch die Behauptung zu vermeiden suchen, dass ja nur der menschliche Gedanke und Zweck ein leeres lebloses Vorbilden sei, das von einem Aufgebot ihm fremder Kräfte seine Verwirklichung erwarte, während jener wesenhafte Gedanke der Natur, der den bedeutungsvollen Sinn der künftigen Erscheinung vorbildlich enthält, als lebendige Existenz zugleich die Macht seiner Selbstverwirklichung und Entwicklung besitze. Indem man jedoch diesen Begriff eines schöpferischen Gedankens anwendet, dessen Schwierigkeiten wir noch später zu erwähnen haben werden, vermeidet man doch nicht sowohl jenen Übergang von idealer zu dynamischer Auffassung der Natur, sondern vollzieht ihn vielmehr auf eine unvorteilhafte Weise. So lange nämlich die Idee, die wir in einer Naturerscheinung voraussetzen, in der Tat ein Gedanke, und nicht nur irgendeine an sich gedankenlose Form räumlich zeitlichen Daseins sein soll, so lange wird dieser innerlichen Idee die Kraft, sich in anschaulichen Formen des Raumes und der Zeit auszuprägen, doch nur in Folge eines Entwicklungstriebes zukommen, den wir gleichsam als eine reale Mitgift ihr mehr beigelegt denken, als dass er aus dem Gedankeninhalt der Idee flösse. Als sich verwirklichende Macht ist diese Idee dem Begriff des Triebes unterzuordnen, dessen Eigentümlichkeiten wir noch näher zu betrachten haben. Aber hierdurch mindert eine solche ideale Auffassung nicht, sondern verschlimmert die Schwierigkeiten, in die sich dynamische Ansichten ohnehin leicht verwickeln; denn indem sie sich des Begriffes der Triebe bedient, stellt sie ihm nicht, wie die letzteren, die Aufgabe, ein bestimmtes anschauliches Resultat, eine Form des Daseins zu verwirklichen, sondern belastet ihn mit der schwereren Forderung, einen Sinn, einen Gedanken, d. h. etwas an sich Unanschauliches und Formloses, in Erscheinungen auszugestalten.

§. 3.Dynamistische Naturansichten.

20. Dass wir eine Reihe von Tatsachen, die sich nicht mit Notwendigkeit aus einem höchsten Gedanken ableiten lassen, zugeben müssen, und zwar ebenso wohl eine Gruppe ursprünglich vorhandener Stoffe, als eine andere der zwischen ihnen wahrnehmbaren Kräfte, sowie eine dritte von Verhältnissen, in denen sie beim Anfange ihrer Wirkungen standen, dies hat jede einigermaßen über den Umfang ihres Leistungsvermögens aufgeklärte Naturwissenschaft stets gewusst. So sind wir, um die Erscheinungen der Himmelsbewegungen zu verstehen, nicht nur die Existenz der Himmelskörper als eine nicht weiter ableitbare Tatsache hinzunehmen genötigt, sondern auch die Anziehungskraft zwischen ihnen erscheint uns als eine zweite, neue Tatsache, die durch die bloße Wahrnehmung der Himmelskörper weder schon mitgegeben ist, noch auch mittelbar so leicht sich als notwendige Folge ihrer Natur erweisen lässt. Die gegenseitige Stellung und Entfernung der Sterne endlich, sowie die ursprüngliche Richtung ihrer Bewegung ist das dritte von jenen beiden erwähnten unabhängige Element, das zur Erklärung der Erscheinungen notwendig hinzukommen muss. Eine Ableitung dieser Elemente aus einem gemeinsamen höheren Prinzip ist überhaupt nicht, am wenigsten aber eine Ableitung aus einer Idee bisher gelungen. Gleichwohl, da es die natürliche Neigung der Menschen ist, zu Vieles als sich von selbst verstehende Tatsache hinzunehmen, haben wir für die Zwecke der Wissenschaft, welche Erklärungen verlangt, darauf zu dringen, dass wir mit einer solchen Anerkennung nicht zu früh kommen, und nicht das schon für ein Letztes ansehen, was einer Zersetzung in zusammenwirkende Bedingungen allerdings noch fähig ist.

21. In dieser Beziehung wollen wir nun jene eigentümliche Art der dynamistischen Ansicht prüfen, welche die spezifischen Triebe zum Prinzip ihrer Erklärungen macht. Die erste Aufforderung zu ihr lag ohne Zweifel in der Wahrnehmung, dass die Reihe der Ereignisse in der Natur nicht eine regellos ins Unendliche vorwärtsschreitende ist, sondern dass einzelne Erscheinungen in abgemessenen Zeiträumen wiederkehren und sich so gewisse Kreisläufe von Begebenheiten bilden, deren Gestalt und Aufeinanderfolge bestimmt ist, und die ein zusammengeschlossenes, bald auf bald zu blühendes Ganzes darstellen. In einzelnen Fällen, wie in dem regelmäßigen Umlaufe der Gestirne oder in dem gleichförmig fortschreitenden Wachstum der Pflanzen sah man diese Entwicklung ohne bemerkbare Abweichung von ihrem gewohnten Wege geschehen; in anderen, wie in dem Leben der beseelten Wesen, traten unter wechselnden Umständen verschiedenartige Weisen des Benehmens, mannigfache Ablenkungen von der gewöhnlichen Bahn der Ereignisse auf, die doch zuletzt wieder zu der Herstellung des vorigen Zustandes oder auf anderem Wege zu der Erreichung desselben Zieles führten. Solche Wahrnehmungen leiten auf eine sehr natürliche Weise zu der Ansicht, dass in einem so abgeschlossenen Ganzen der Entwicklung auch nur eine zusammengehörige, diese Entwicklung und die Selbsterhaltung des Gebildeten bedingende Macht vorhanden sei. Die Vorstellung der Triebe gehört daher wesentlich diesem Standpunkt der Naturauffassung an. Denn sie sind Mächte, die keineswegs an eine einzige, einfache und unabänderliche Wirkungsweise gebunden sind; vielmehr bringen sie eine große Mannigfaltigkeit verschiedener Ereignisse hervor, nur so, dass alle diese sich zu dem vernünftigen Ganzen einer Entwicklung zusammenordnen, in welcher die wesentliche Natur ihres Trägers zum Vorschein kommt.

22. Beispiele dieser Auffassung sind nicht selten. Noch Keppler ließ von der Kraft der Sonne allein die Bahn der Planeten bestimmt werden; sie war ihm nicht nur eine anziehende, sondern auch eine Richtung bestimmende; in jedem Augenblick war ihre Wirkung eine andere als im anderen; aber alle diese wechselnden Wirkungen schlossen sich zu dem in sich zurückkehrenden Ganzen der Planetenbahn zusammen. Bildet die Pflanze sich in einer bestimmten Gestalt aus, der sie durch mancherlei Entwicklungsstufen zustrebt, so leitet sie hierbei ein Bildungstrieb, eine Macht nicht von einförmiger Wirkungsweise, sondern ihren Gang und ihre Richtung häufig nach den Umständen und nach den schon erreichten Erfolgen wechselnd; und hierin nur durch den zu verwirklichenden Zweck, durch die Rücksicht auf die zukünftige Gestalt des Ganzen, nicht aber durch ein allgemeines beständiges Gesetz geleitet. Die meiste Veranlassung aber zur Ausbildung solcher Ansichten hat man stets in der Betrachtung des tierischen Lebens gefunden, und längst hat man auch für die verschiedenartigen, aber innig zusammenstimmenden Vorgänge desselben als erklärende Gründe Lebenstriebe und Lebenskräfte angenommen. Gegen keine Vorstellungsweise der älteren Physiologie ist der Kampf neuerer Ansichten so ernstlich geführt worden, als gegen diese. Ihren Wert und Unwert auf einige allgemeine Gesichtspunkte zurückzubringen, ist auch noch jetzt für uns eine notwendige Aufgabe; nicht minder unerlässlich aber wird es sein, in einem späteren Zusammenhange die einzelnen Bedenken zu erwähnen, die sich gegen die verschiedenen Formen erheben, unter denen diese Vorstellungsweise noch jetzt aufzutreten pflegt.

23. Die Abneigung, die einzelnen Erscheinungen des Lebens stückweis aus dem Zusammentreffen bald dieser bald jener Bedingungen entstehen zu sehen, das Verlangen vielmehr, alle Einzelheiten, die sich zu dem bedeutsamen Bilde des Lebens verflechten, auch als ein einziges Ganzes von einem einzigen wirksamen Mittelpunkt ableiten zu dürfen, bildet deutlich den Beweggrund, aus welchem man so oft wieder zu dieser Annahme einer Lebenskraft zurückkehrt. Mag in anderen Erscheinungen die Einheit, die wir in ihnen zu sehen glauben, nur für unsere zusammenfassende Vergleichung vorhanden sein, hier verlangen wir, dass sie auch objektiv in dem Gegenstande der Betrachtung liege; das Leben würde nicht Leben sein, wenn die innerliche, aus sich selbst quellende Regsamkeit, die wir bei diesem Namen denken, nur ein Schauspiel für unsere subjektive Auffassung, nicht aber in Wirklichkeit eine treibende Macht in ihm selbst wäre. Eifersüchtig auf jeden Einfluss des Äußeren hat man deshalb die Lebenskraft als einen selbstgenügsamen Trieb gefasst, aus dem sich die ganze Reihe der Erscheinungen entwickelt; sowie etwa die frühere Chemie in einen Inbegriff der feinsten Säfte, in ein wesentliches Öl die ganze innerste Natur eines Stoffes einzuschließen dachte, darin ein Bild findend für die unteilbare Wesenheit desselben. Die Vorstellung einer Lebenskraft erfüllt diese Wünsche nur zu sehr, denn es ist leicht zu sehen, wohin diese Begriffe bewirkender Triebe für ganze Gruppen von Erscheinungen führen, und welche Bedingungen gegeben sein müssten, wenn sie ohne weitere Einschränkung Recht haben sollten. Sie führen notwendig zur völligen Isolierung jeder Gruppe und machen sie unvergleichbar mit anderen. Jede beruht auf ihrem Trieb, dem Bildungstriebe der Gesteine ist der des Lebendigen, dem Triebe des Tierlebens die Lebenskraft der Pflanze fremd, und je bestimmter wir jede dieser Mächte als eine abgeschlossene Einheit fassen, desto mehr wird uns jeder Boden der Vergleichung entzogen für die Zusammenhänge, die zwischen den Tätigkeiten verschiedener Gruppen stattfinden. Diese Auffassungsweise ist daher nur tauglich für eine nicht vorhandene Welt; für eine solche nämlich, in welcher jedes dieser Geschöpfe sich völlig für sich selbst entwickelte, ohne von Seiten der Außenwelt eine Einwirkung zu gestatten oder zu bedürfen. Weder im geistigen noch im natürlichen Dasein tritt jemals dieser Fall ein; jedes Geschöpf hat entweder materielle Grundlagen seiner Existenz aus einer ihm fremden Welt zu entlehnen oder Bedingungen seiner Entwicklung in Gestalt mannigfacher Reize von ihr zu erwarten. Nie hat man daher den Begriff eines Triebes in dieser Abgeschlossenheit festzuhalten vermocht, oder ihn anzuwenden gewusst, aber aus dem Versuch, ihn mit der Forderung einer Erregbarkeit von außen oder einer Wirkungsfähigkeit nach außen zu vermitteln, sind Vorstellungsweisen hervorgegangen, welche notwendig mit der gänzlichen Auflösung des Begriffes selbst endigen müssen.

24. Zuerst nämlich können die Reize der äußeren Welt, denen das Lebendige unterliegt, unmöglich auf dasselbe einen Einfluss ausüben, ohne dass es eine Angreifbarkeit oder Verletzlichkeit für sie besäße, die allein auf einer Vergleichbarkeit des Lebenstriebes mit der Wirkungsweise der Reize beruhen kann. Es muss deshalb, wenn das Lebendige etwas soll leiden können, auch möglich sein, dem Begriffe seiner Lebenskraft, welche geschlossene Einheit sie auch sonst bilden möchte, einen anderen Ausdruck zu substituieren, in welchem wenigstens einzelne auch der übrigen Natur angehörige Kräfte als Glieder auftreten. Soll zweitens die Lebenskraft auf die äußere Natur zurückwirken, wie bezwingt sie dann die Stoffe dieser letzteren, um sie ihren Bedürfnissen dienstbar zu machen? Wohl schreibt man ihr eine große Neigung zu, Kräfte, Zustände und Eigenschaften des unlebendigen Materials zu ändern, aufzuheben oder zu benutzen; aber wird je dieses Material darein willigen, solche Veränderungen zu erleiden, solange sie ihm nicht durch Kräfte abgezwungen werden, welche seinen eigenen entgegengesetzt und eben deswegen genau mit ihnen vergleichbar sind? Auch die Rückwirkung des Lebendigen also auf das Unlebendige erfordert, dass in ihm Kräfte wirksam sind, die denen der übrigen Natur vollkommen gleichen. Kaum hat man deshalb jemals den Begriff der Lebenskraft angewandt, ohne dieses Zugeständnis ausdrücklich zu machen. Zwar eine gewisse geistige Überlegenheit über die physischen Kräfte hat man ihr stets zugeschrieben, teils aus reinem Aberglauben, teils aus besseren Gründen, deren sogleich Erwähnung zu tun sein wird; immer aber hat man zugleich zugegeben, dass Einiges im Leben sich den gewöhnlichen Gesetzen der physischen Natur füge. Wäre diese Ansicht je dazu fortgeschritten, deutlich anzugeben, was zu diesen physisch erklärbaren Teilen des Lebens gehöre, was nicht, so würde sie einer ernsten Bekämpfung wert sein; aber die schwankende Halbheit, zwei Quellen der Erklärung anzunehmen, ohne im Mindesten ihre Grenzen zu bestimmen, macht eine solche unmöglich. Doch finden wir leicht selbst den Gedanken auf, der dem hartnäckigen Festhalten der Vorstellung eines Lebenstriebes zu Grunde liegt.

25. Das Lebendige besitzt nicht nur Erregbarkeit und Fähigkeit zur Rückwirkung im Allgemeinen, sondern es gestaltet sowohl die Eindrücke, die es erfährt, als auch seine Tätigkeiten zu einem zusammenhängenden Ganzen, in welchem es zweckmäßig wirkend, immer auf einen bestimmten Erfolg, auf die Selbsterhaltung seiner Natur, gerichtet ist. Eine solche Einheit des Wirkungsplanes mit ihrer zweckgemäßen Anbequemung an die jedes Mal vorhandenen Umstände schien nicht wohl aus einer Summe einzelner Kräfte, sondern nur aus einer einzigen Quelle aller Wirkungen hervorgehen zu können. Die Angemessenheit der Wirkungsweise zur Erreichung eines bestimmten Zieles, das wesentliche Merkmal jedes Triebes, blieb daher der fortdauernde Beweggrund zu der Annahme, dass auch das Leben auf einem solchen beruhen müsse. Inwiefern nun jene Zweckmäßigkeit vorhanden ist, darüber haben wir im Einzelnen noch Vieles den späteren Betrachtungen vorzubehalten; an diesem Orte fügen wir nur Weniges hinzu, um den allgemeinen Gesichtspunkt ihrer Beurteilung zu bezeichnen. Eben damit irgendwo eine zweckmäßige Anbequemung einer wirkenden Kraft an gegebene Umstände möglich sei, müssen die Umstände auf das Substrat der Kraft irgendeinen Einfluss wirklich ausüben; denn nur ein in der Tat eingreifender Reiz vermag eine ihm angemessene Rückwirkung hervorzurufen. Jener Einfluss kann nun entweder in einer Veränderung irgendeines Zustandes bestehen, durch welche das Substrat des Triebes nach allgemeinen physischen Gesetzen zu der Entfaltung einer Rückwirkung gezwungen wird, so dass seine zweckmäßige Tätigkeit in diesem Falle zugleich eine physische Notwendigkeit wäre; oder auch es bleibt dem Triebe nach jener empfangenen Anregung die Freiheit der Wahl zwischen mehreren Arten der Rückwirkung, und er wählt die, die unter den gegebenen Umständen zur Selbsterhaltung seiner Natur passend ist. Es ist nicht möglich, ein drittes Glied zwischen die beiden dieser Alternative einzuschalten; sehen wir nun, welches Vorteile, Nachteile und unmittelbare Folgen jeder dieser Annahmen sind.

26. Die erste kann keinem Zweifel an ihrer Richtigkeit im Allgemeinen unterliegen, da sie den klarsten Gedanken, den einer ausnahmslosen Herrschaft allgemeiner Gesetze über alle Erscheinungen und über ihren gegenseitigen Zusammenhang voraussetzt. Sie eröffnet dagegen allerdings die Aussicht auf mühselige und ausgedehnte Untersuchungen, indem sie unmittelbar zur Aufgebung des Begriffs eines Triebes und zu der Notwendigkeit führt, das was man sonst aus diesem einen Quelle ableitete, aus dem Zusammentreffen vieler Bedingungen zu erklären. Wie wenig auch die Zweckmäßigkeit der Lebenstätigkeiten eine unbedingte genannt werden kann, so groß ist sie doch immer, dass die Aufgabe schwierig und mühevoll ist, das was einerseits der weisesten Berechnung einer planmäßig wirkenden Kraft anzugehören scheint, zugleich als eine aus den Umständen sich von selbst ergebende physische Unvermeidlichkeit darzustellen. Dass nun aber dieser Versuch in Bezug auf alle Erscheinungen des Lebens gemacht werden müsse, lässt sich leicht dartun. Denn sie bestehen alle in Benutzungen, Gestaltungen und Veränderungen von Massen, die das Leben nicht eigentümlich erzeugt, sondern die auch in der übrigen Natur vorhanden sind und hier unter Gesetzen stehen, denen sie durch keine Lebenskraft entzogen werden können. Das Leben kann ihnen nichts zufügen, als was sie nach dieser ihrer Natur zu dulden fähig sind; sie umgekehrt können für das Leben keine Reize und keine bestimmenden Bedingungen seines Benehmens sein, außer durch die gewohnten Wirkungen, die sie dieser ihrer Natur nach auszuüben vermögen. Entwickelt sich daher irgendein lebendiges Geschöpf einem vorbestimmten Plane nach durch mancherlei vermittelnde Stufen hindurch, so ist in jedem Augenblicke die Summe der in ihm vorhandenen physischen Wirkungen der Reiz, welcher die Richtung der bildenden Kraft nach der nächsten Stufe hin ausreichend und unvermeidlich bestimmt; wirkt ein Geschöpf in irgendeiner Art zweckmäßig oder unzweckmäßig nach außen zurück, so ist es ebenso die Summe früher empfangener Einwirkungen, was jetzt diese Tätigkeit hervorruft. In diesen beiden Fällen ist alles enthalten, was wir am Leben bemerken; es reicht deshalb nicht hin, der Lebenskraft einige Seiten zuzuschreiben, nach denen hin sie allgemeineren physischen Gesetzen sich fügt, sondern sie muss auch im Ganzen einem anderen Ausdrucke gleichgeltend gesetzt werden, in welchem nur mancherlei Massen und Kräfte der allgemeinen Natur vorkommen, unter einander in solchen Zusammenhangsformen verknüpft, dass innerhalb gewisser Grenzen aus ihnen eine stetige Entwicklung einem bestimmten Plane gemäß, und zugleich eine Selbsterhaltung gegen äußere Störungen mit unvermeidlicher Notwendigkeit hervorgeht. Dem Begriff des Triebes als einer besonderen Wirkungsquelle im Gegensatz zu dem gewöhnlichen Begriff der Kraft bleibt dann gar kein Spielraum der Anwendung mehr übrig; er bezeichnet vielmehr nur noch eine bestimmte Benutzungs- und Anordnungsweise zusammengefasster Einzelkräfte.

27. Vergeblich würde man durch die Annahme des zweiten Falles dieser Zerstörung des Begriffs vom wirkenden Triebe zu entgehen suchen. Zugegeben, dass äußere Umstände durch die Veränderungen, die sie in seinem Substrat bedingten, dieses doch noch nicht zu einer Rückwirkung nötigten, sondern ihm die Wahl zwischen mehreren ließen, so kann doch eine zweckmäßige Wahl dann nur noch unter der Voraussetzung einer vergleichenden, überlegenden und wählenden Intelligenz gedacht werden. Man muss sich entschließen, von der Halbheit eines zweckmäßig wirkenden Triebes zu der entschiedenen Annahme einer vernünftig handelnden Seele überzugehen. Ob diese Annahme, an sich möglich, passend für unseren besonderen Gegenstand, die Erklärung der Lebenserscheinungen sein würde, haben wir ebenso einer späteren Betrachtung zu überlassen, als es dahin gestellt bleiben mag, ob sie mit Notwendigkeit die Voraussetzung eines freien, allgemeinen Gesetzen nicht unterworfenen Handelns mit sich führt. Unsere Absicht war jetzt nur der Nachweis, dass der Begriff eines spezifischen, dynamischen Triebes, d. h. einer einzigen wirkenden Macht, deren Wesentliches nicht in einer unveränderlichen Wirkungsweise, sondern in einer unveränderlichen Tendenz nach einer bestimmten Gestalt des Erfolges besteht, ein sich selbst aufhebender ist. Solche Triebe würden hinreichen, wenn jedes Geschöpf in seiner besonderen Welt lebte, dem Äußern verschlossen; leben aber verschiedene in derselben Welt, sind sie dem Einfluss derselben offen oder verlangen ihn gar, soll überhaupt ein Zusammenhang der verschiedenen Glieder der Welt zu einem Ganzen entstehen, dann müssen diese hemmenden Schranken besonderer Triebe schwinden, und die wirkenden Kräfte müssen für alle unter gleiche allgemeine Gesetze fallen; jedes Einzelne kann sich von dem Anderen nur noch durch die ihm eigentümliche Benutzungsweise der allgemeinen Wirkungsmittel unterscheiden.

28. Geht nun in diesen Begriff einer solchen Benutzungsweise der des spezifischen Triebes unter, so bildet er doch in dieser neuen Gestalt nicht nur fortdauernd bis zu gewissen Grenzen ein Prinzip der Erklärung, sondern anderseits auch ein Objekt derselben. Gerade die Aufsuchung der spezifischen Anwendungsweisen, in welchen die Natur ihre allgemeinen Mittel zusammenfasst, ist eine sehr wichtige Aufgabe, deren Wert wir später noch deutlicher zu bezeichnen haben werden; andernteils bildet der Begriff jener Triebe einen unentbehrlichen Durchgangspunkt in der Entwicklungsgeschichte der Wissenschaft. Unmöglich können alle Gebiete der Erfahrung gleich schnell zu jener Durchbildung gelangen, vermöge deren wir die letzten Erscheinungen sogleich auf ihre ersten bewirkenden Ursachen zurückzuführen wüssten. Sehr häufig werden wir uns mit der Betrachtung und der einstweiligen Zugrundelegung der zusammengesetzten Fähigkeiten begnügen müssen, welche ein Körper durch mancherlei vereinigte, aber noch unbekannte Gegenwirkungen seiner eigenen Bestandteile und seiner Umgebungen erwirbt. Aus ihnen lassen seine weiteren Leistungen nach außen häufig im Ganzen und Großen sich überblicken, auch ehe man noch weiß, durch welche inneren Einrichtungen der Körper eigentlich zu diesen Fähigkeiten gelangt. Die Natur des Körpers also erklären uns diese freilich nicht, wohl aber einen großen Teil seiner Wirkungen, denn mit jenen zusammengesetzten Fähigkeiten, die wir vor der Hand als nicht weiter analysierbare betrachten, tritt er in die Reihe der übrigen Naturgegenstände und ihrer Gegenwirkungen ein. So wie daher die Physik mit vollem Recht etwa den Begriff der Elastizität benutzt, um aus ihr die Wirkungen der Körper zu erklären, obgleich sie umgekehrt aus der Natur der Körper nicht ebenso wohl die Gründe der Elastizität zu entwickeln vermag, so werden wir auch in der Betrachtung des Lebendigen aus Begriffen ähnlicher Triebe die weiteren Entwicklungen desselben mit ziemlicher Genauigkeit zu übersehen im Stande sein. Eine vollständige Genauigkeit wird meist dadurch verhindert, dass jene Triebe uns größtenteils nur ungefähr die Gestalt ihres Erfolges, nicht aber sein Maß vermuten lassen. Sind wir nun genötigt, solche Begriffe noch anzuwenden, so sind sie doch andererseits stets zugleich Gegenstände der Erklärung, und immer wird man streben müssen, an ihre Stelle die ganze entwickelte Kette einfacher Kräfte zu setzen, aus deren Ineinandergreifen nicht bloß jene allgemeine charakteristische Gestalt, sondern auch die ganz bestimmte Richtung und Größe der Erfolge sich ergeben würde.

29. Dies Letztere beständig hervorzuheben, obgleich wir im Allgemeinen dem Begriff der Triebe eine gewisse Anwendbarkeit zugestanden haben, veranlasst uns der Rückblick auf die Geschichte der Wissenschaft, die sehr wenig glückliche Anwendungen desselben kennt. Das Bedürfnis der Erklärung wird nur befriedigt, wenn wir Erscheinungen auf eine Verknüpfung ihrer einfachsten Bedingungen zurückführen können; je früher wir in dieser Bemühung anhalten, und je vielfachere, buntere Ereignisse wir im Ganzen von einer und derselben Ursache ableiten, desto mehr einzelne zusammenwirkende Bedingungen verbergen sich noch in dieser, und ein desto größerer Teil der Aufgabe der Erklärung bleibt ungelöst. Bezeichnen wir daher mit dem Namen eines Triebes irgendeine selbst noch aus einfacheren Ursachen hervorgebrachte Gewohnheit eines Naturprodukts, in gewisser Weise tätig zu sein, so ist davon nur ein Gewinn zu erwarten, wenn diese zusammengefassten Tätigkeiten eine formelle Ähnlichkeit oder Gleichheit haben, oder untereinander so verwandt sind, dass man Hoffnung hat, auch Gesetze aufzufinden, nach denen sich die Gewohnheit des Wirkens richtet. Sind sie aber nur eine Mannigfaltigkeit verschiedener Ereignisse, deren Zusammenhang nur darin besteht, dass sie alle aus demselben Trieb fließen sollen, so würde es einfacher sein, anstatt jedes solchen Triebes sogleich den allgemeinen Weltlauf als die bewirkende Kraft zu bezeichnen; aus ihm fließt in der Tat ja Alles, obwohl dies erkannt zu haben, für keine Tiefe der Erkenntnis gilt. Die üblichen Vorstellungen einer Lebenskraft leisten jedoch in der Tat kaum mehr. Aus einer und derselben Kraft leiten sie die allerverschiedenartigsten Leistungen, Wachstum, Formbildung, Bewegung und chemische Tätigkeiten her, ohne doch irgend die zweiten Prämissen anzugeben, die für jeden dieser besonderen Fälle noch hinzukommen müssen, um jener einen Kraft bald diese bald jene Richtung des Handelns vorzuschreiben. Die Lebenskraft, sagt Mulder (physiol. Chemie. Braunschw. 1844. S. 67.) sehr treffend, gibt in diesem gewöhnlichen Sinne eine ebenso unrichtige Vorstellung, als wenn man bei einer von Tausenden gelieferten Schlacht eine schlachtenliefernde Kraft annehmen wollte, durch welche die Geschosse sich entlüden, die Waffen gegeneinander schlügen, und alle die Tausende der Menschen und Pferde liefen und ständen. Dieses drastische Bild zeigt, in welche Tautologien sich eine dynamische Ansicht dieser Art zu verlieren Gefahr läuft.