Alpenleuchten - Michelle C. Ahrens - E-Book

Alpenleuchten E-Book

Michelle C. Ahrens

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Beschreibung

Wenn jetzt nicht der Zeitpunkt für einen Neuanfang ist, wann sonst? Nach der Trennung von ihrem treulosen Ehemann beschließt Hamburgerin Clara ihr Leben komplett umzukrempeln: Mit ihrer pubertierenden Tochter Marie und dem launischen Kater Harry im Schlepptau zieht sie in das bayerische Dörfchen Hintersee, um sich endlich einen langgehegten Traum zu erfüllen: Sie fängt als Bierbrauerin in der örtlichen Gamsbockbrauerei an – sehr zur Freude von Besitzer Andi, der jede Hilfe gebrauchen kann, um das Familienunternehmen zu retten. Sein Bruder Tom würde die Brauerei jedoch viel lieber verkaufen und neu anfangen. Schon bald gerät Clara zwischen die Fronten der beiden Männer, ohne zu wissen, wo ihr der Kopf steht – oder ihr Herz …  Der gemütlich-romantische Einstieg in die neue Feelgood-Reihe »Neuanfang in Hintersee« – für alle Fans von Sophie Oliver und Sophie Zach. Im zweiten Band, »Gipfelglück«, muss Claras Freundin Anna um ihre Hütte »Fritty Woman« fürchten, als ein arroganter Sternekoch ein nobles Restaurant eröffnen will. Alle Bände der Reihe: Band 1: Alpenleuchten Band 2: Gipfelglück Die Bände sind unabhängig voneinander lesbar.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

Nach der Trennung von ihrem treulosen Ehemann beschließt Hamburgerin Clara ihr Leben komplett umzukrempeln: Mit ihrer pubertierenden Tochter Marie und dem launischen Kater Harry im Schlepptau zieht sie in das bayerische Dörfchen Hintersee, um sich endlich einen langgehegten Traum zu erfüllen: Sie fängt als Bierbrauerin in der örtlichen Gamsbockbrauerei an – sehr zur Freude von Besitzer Andi, der jede Hilfe gebrauchen kann, um das Familienunternehmen zu retten. Sein Bruder Tom würde die Brauerei jedoch viel lieber verkaufen und neu anfangen. Schon bald gerät Clara zwischen die Fronten der beiden Männer, ohne zu wissen, wo ihr der Kopf steht – oder ihr Herz …

Originalausgabe August 2025

Copyright © der Originalausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Monia Pscherer

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (ah)

 

ISBN 978-3-98952-798-0

 

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Michelle C. Ahrens

Neuanfang in Hintersee: Alpenleuchten

Roman

 

Kapitel 1

 

Clara blickte in die lodernden Flammen, die aus der Feuerschale schlugen, und versuchte, das Zittern in ihren Händen unter Kontrolle zu bringen. Dieser verdammte Dreckskerl! Sie griff neben sich und schnappte sich den Joop-Anzug, den sie auf ihrem Heimweg aus der Reinigung geholt hatte. Ohne zu zögern, warf sie ihn in die Flammen und sah angewidert zu, wie er langsam Feuer fing. Viel zu langsam. Genau deswegen hatte sie die Bügelstärke, die Markus so sehr liebte, mit auf die Dachterrasse genommen! Höhnisch lachte sie auf, während sie sich die Spraydose griff und aus sicherer Entfernung einen ordentlichen Schub dieses Zeugs auf die Flammen sprühte, die daraufhin kraftvoll mit einem lauten Zischen aufloderten. Ein Gefühl der Euphorie durchströmte ihre Brust. Diesen Anzug hatte er immer so gerne getragen! Tja, jetzt wohl nicht mehr.

Immer noch hielt sie in ihrer linken Hand das zerknitterte Blatt Papier mit den Worten, die sie zwar erfasst hatte, jedoch immer noch nicht richtig verstand. Er war einfach gegangen, hatte Marie und sie verlassen. Eine kalte Windböe peitschte von der Alster kommend über die Dachterrasse ihres gemeinsamen Hamburger Penthouses. Wie konnte er ihnen das antun?

Clara starrte auf den braunen, glühenden Klumpen, der einmal Markus’ Lieblingsanzug gewesen war, und erneut wallte die Wut in ihr hoch. Sie bückte sich wieder und diesmal war es ihr Hochzeitsfoto, das all die Jahre hinweg an der Wand des Wohnzimmers gehangen hatte. Markus’ strahlendes Lächeln verblasste, als die Ränder des Fotos sich in der Hitze wellten, um sich dann einzurollen. Scheißkerl!

Was sollte sie Marie nur sagen? Wie ihr erklären, wofür es keine Erklärung gab?

Ohne groß nachzudenken, griff sie die Flasche Lafite Rothschild, nahm Markus’ so geliebten Hebelkorkenzieher, entkorkte seinen Lieblingswein und löschte mit ihm die Flammen. Und egal, wie unreif es auch war, erfasste Clara eine Woge hämischer Freude. Alles verbrannt, zerstört, in nur wenigen Minuten, genau wie ihre Ehe und all die gemeinsamen Jahre, die sie mit diesem Mann verbracht hatte. Erneut bückte sie sich, nahm ihr selbstgebrautes Pale Ale, prostete der Feuerschale zu und führte die Bierflasche an die Lippen. Sie trank nie um diese Zeit, doch heute war nun mal kein normaler Tag! Doch das hier, das versprach sie sich, war nicht das Ende, sondern ein Neuanfang. Ihr Blick fiel durch die Glasfront auf die Uhr im Wohnzimmer. Schon 16 Uhr? Dann wurde es jetzt höchste Zeit, das Chaos zu beseitigen, bevor Marie von der Schule nach Hause kam und sie endgültig für verrückt erklärte.

Kapitel 2

 

Der kleine Mini hoppelte über die Straße und das Hämmern in Claras Kopf wurde immer stärker. Das langgezogene, klagende Miauen von Harry, das sie jetzt schon beinahe 990 Kilometer nonstop begleitete, raubte ihr den letzten Nerv. Sie konnte den Katzenjammer nicht mehr ertragen und beneidete Marie neben sich um ihre geräuschunterdrückenden Kopfhörer. Mit jedem Kilometer wurden ihre Augenlider schwerer und schwerer. Aber zumindest kommunizierte Harry mit ihr. Ganz im Gegensatz zu ihrer Tochter.

Marie, die unangefochtene Teenie-Weltmeisterin im eiskalten Ignorieren, lief zu neuer Höchstform auf. Bei ihrem kurzen Stopp an einem Rastplatz vor drei Stunden hatte sie sich sogar auf eine andere Bank gesetzt, um den Kontakt zu ihr auf ein Nötigstes zu beschränken. Clara seufzte entnervt. Sie wollte diese einmalige Chance, in ihrem alten Beruf zu arbeiten, einfach beim Schopfe packen. Schließlich hatte sie lange genug zurückgesteckt. Die Stelle war nun mal die einzige, die sie bekommen konnte. Das musste selbst Marie akzeptieren. Es ging nicht immer nur um andere, sondern auch mal um sie, Clara.

Markus war seit über vier Wochen wie vom Erdboden verschluckt und wenn sie den Briefen des Finanzamtes Glauben schenken konnte, hatte er alle Vorkehrungen getroffen, um auf keinen Fall gefunden zu werden. Nichts, aber auch gar nichts hatten sie von ihm gehört. So, als hätte es ihn nie gegeben, wie eine Spiegelung auf dem Straßenasphalt vor ihr.

Egal, wie miserabel ihr neuer Job auch bezahlt wurde, beinhaltete er doch eine freie Wohnung. Das Penthouse, das Markus vor drei Jahren gemietet hatte, war für sie, als Alleinverdienerin, unbezahlbar. Denn an dem Doomsday, als er auf Nimmerwiedersehen verschwand, hatte sie morgens auch noch ihre Stelle im Callcenter verloren.

Frustriert schlug sie mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Klar, das brachte und änderte auch rein gar nichts, doch sie würde doch wohl noch wütend sein dürfen.

Harry maunzte weiter ohrenbetäubend und Clara drehte das Radio auf, in der Hoffnung, das Klagelied des Katers zu übertönen. Doch Fehlanzeige, dieser versuchte nur noch mehr Miley Cyrus’ Flowers zu übertreffen, doch das konnte sie besser! Laut stimmte sie in das Lied ein, denn Miley hatte so recht, sie konnte sich ihre Blumen selbst kaufen, definitiv brauchte sie dafür keinen Mann. Mit jedem Wort, das sie mitgrölte, wurde ihre Laune besser. Singen, auch wenn es noch so krumm und schief war, machte sie schon von jeher glücklich.

Endlich tauchte am Straßenrand ein kleiner Wegweiser auf, der sie aufforderte, rechts abzubiegen, und in fünf Kilometern sollten sie ihr Ziel erreicht haben. Seit der Autobahnausfahrt Bad Reichenhall wurden die Straßen immer enger und steiler, die Berge um sie höher und die Dörfer kleiner. O mein Gott, wo war sie hier nur gelandet? Keine Frage, ihr neues Zuhause Hintersee, 1.006 Kilometer von ihrem früheren entfernt, lag verdammt weit ab vom Schuss. Sie hatte schon seit dem Verlassen der Autobahn gemerkt, dass ihre Tochter immer wieder kurz den Kopf hob und die Landschaft um sich herum verächtlich betrachtete, schnaubte und sich dann wieder ihrem Smartphone widmete. Mit jedem Kilometer auf der engen, kurvigen Landstraße nahm sogar bei Clara der dumpfe Druck auf ihre Brust zu. Hatte sie das wirklich gut genug durchdacht?

Andi, ihr neuer Chef, war ihr bei dem Vorstellungsgespräch per Videocall von seiner Art her sofort sympathisch gewesen, weshalb sie seine vorsichtige Frage, ob sie es sich gut überlegt habe, von Hamburg hierher zu ziehen, ohne groß darüber nachzudenken mit ja beantwortet hatte. Doch je näher sie ihrem Ziel kam, desto deutlicher wurde ihr vor Augen geführt, weshalb er sie das sogar drei Mal gefragt hatte. Seine Begeisterung für die kleine Brauerei hatte sie so mitgerissen, dass sie keine weiteren Gedanken daran verschwendet hatte. Seine Kreativität, mit der er ihr erklärte, welche neuen Biersorten er auf den Markt bringen wollte, überzeugten sie so sehr, dass sie gar nicht bedacht hatte, was für weitreichende Konsequenzen ihre Entscheidung haben würde. Schließlich hatte sie nur drei Stellenangebote gefunden, zwei von einer namhaften Großbrauerei und die von Andis kleiner Mikrobrauerei. Wie sollte es auch anders sein, hatte sie von der Großbrauerei schon nach wenigen Stunden eine Absage erhalten, doch Andi wollte ihr eine Chance geben und die musste sie einfach ergreifen!

Nach mehr als 16 Jahren würde sie die Möglichkeit bekommen, wieder als Brauerin zu arbeiten. Vorher hatte sich immer alles um Markus, seine Karriere und Maries Bedürfnisse gedreht, doch ab jetzt würde es anders laufen. Nun konnte sie beweisen, was in ihr steckte. Sie biss sich auf die Unterlippe, denn jede Faser in ihr freute sich darauf, endlich wieder in den Geruch nach Malz und Gerste einzutauchen und Bier zu brauen.

Bierbrauen – das war seit ihrer Jugend ihre große Leidenschaft. Markus hatte dafür jedoch lediglich ätzende Bemerkungen übrig gehabt: »Wenn du meinst, dass man davon als Frau leben kann. Glaube nicht, dass die ausgerechnet auf dich gewartet haben. Ich denke, Männer haben da einfach ein besseres Gespür für die Materie. Außerdem bist du doch gar nicht mehr auf dem neuesten Stand. Ich denke, das läuft jetzt alles ganz anders ab als früher.« Seine Standardfloskeln brachte er immer dann an, wenn sie mit ihm über ihren Wunsch sprach, wieder in ihrem Beruf arbeiten zu wollen.

Leise schnaubend verdrehte Clara die Augen. Seine Meinung war ihr egal, die hatte sie sich jahrelang angehört, und was hatte es gebracht? Nichts. Er war mit dem Ersparten verschwunden und hatte sich sonst wohin abgesetzt. Auf die Ansichten eines solchen Idioten konnte sie verzichten. Am Anfang war sie perplex von seinem Egoismus gewesen, doch mittlerweile zog sich ihr Magen nur noch vor Wut zusammen, sobald sie an ihn dachte. Natürlich war er immer noch Maries Vater und ihre Tochter vergötterte ihn, aber er benahm sich wie ein aufgeblasener Egoist, den Clara nicht mehr in ihrem Leben brauchte.

Ihr Blick glitt zu ihrer Tochter auf dem Beifahrersitz. Die dunkelgrauen Gewitterwolken über ihrem Kopf waren fast schon sichtbar.

Eins war klar, beide mussten sich wieder annähern, und Clara wusste, dass dieser Prozess ein steiniger und steiler Weg werden würde. Natürlich liebte sie Marie, doch oft machten sie die Stimmungsschwankungen, das permanente Gezeter und ihre Ignoranz hilflos und wütend. Das Leben war eben kein Ponyhof! Und leider musste auch Marie das jetzt erfahren. Klar war das schmerzhaft, doch es ging nicht anders.

Ungläubig hörte sie die Stimme von Google Maps, die sie aufforderte, in 200 Meter links abzubiegen. Das war doch keine Straße? Lediglich ein breiter Forstweg, der von einem Schild Anlieger bis Badesee frei, kein Winterdienst flankiert wurde, war da zu sehen. Laut Andi lag die Wohnung zwar etwas abseits, doch er hatte nichts von mitten im Wald gesagt. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, setzte mit zitternden Händen den Blinker und fuhr in Schrittgeschwindigkeit den schmalen Kiesweg entlang, der immer weiter anstieg und sich in engen Kurven nach oben schlängelte. Mit jedem Meter raste ihr Puls mehr. Das konnte doch nicht die korrekte Zufahrtstraße sein? In Gedanken wiederholte sie Andis Worte, mit denen er ihr die Wohnung angepriesen hatte. »Sie liegt zwar nicht im Zentrum, dafür ist sie wahnsinnig ruhig und bietet den schönsten, vollkommen unverbauten Blick von ganz Hintersee auf die Berge und unseren beliebten Badesee. Man kann gar nicht ruhiger und schöner wohnen als dort oben bei Anna.«

Am Nebensitz reckte Marie kämpferisch ihr Kinn nach vorne und starrte aus dem Seitenfenster. »Nicht dein Ernst. Hoffe, du hast dich verfahren, denn hier bleib ich bestimmt nicht.«

Sofort gab Harry ein zustimmendes langgezogenes Miauen von sich.

»Ich bin mir selbst nicht sicher. Aber hier kann ich jetzt sowieso nicht wenden. Schauen wir mal bis zur nächsten Kurve.«

Claras schweißnasse Hände umklammerten das Lenkrad. Die neben der Straße wachsenden Tannen und Fichten schienen bedrohlich näher zu rücken und bei jeder der engen Serpentinen hoffte sie inständig, dass kein Gegenverkehr käme.

Doch als sie restlos davon überzeugt war, sich verfahren zu haben, öffnete sich der Wald zu einer großen Almwiese hin. Ein Schild mit der Aufschrift Vorsicht, Weidegatter ermahnte Clara zur Schrittgeschwindigkeit. Sie vernahm das Klingen der Kuhglocken und starrte ungläubig auf eine Herde von zehn hellbraunen Kühen, die gemächlich neben der Straße grasten und ihren Mini gelangweilt beobachteten. Clara schüttelte ungläubig den Kopf und betrachtete nervös das Vieh.

Der Weg führte mitten durch die Weide. Vor ihnen lag eine saftig grüne Almlandschaft mit blühendem Mohn und irgendwelchen blauen, leuchtenden Blumen, dahinter erstreckte sich ein See, der im Licht der Frühlingssonne türkis glitzerte. Im Hintergrund erhoben sich raue, hohe Berge, die sich mit rötlichem Schimmer in den dunkelblauen Himmel reckten. Die Szenerie sah fast schon kitschig schön aus. Clara wollte gerade ihre Begeisterung mit Marie teilen, brachte aber angesichts der versteinerten Miene ihrer Tochter kein Wort heraus.

»Dort hinten am See ist eine Hütte, da frage ich mal nach.« Clara deutete auf das kleine Gebäude und die roten Sonnenschirme, die sich im klaren, fast schon smaragdgrün glitzernden Wasser spiegelten.

Marie zuckte lediglich mit den Schultern.

Clara fuhr langsam weiter, passierte das nächste Weidegatter, bevor sie vor einer kleinen alpinen Berghütte parkte. Das schien ein Kiosk und die Anmeldung für die Camper des angrenzenden Zeltplatzes zu sein. Der Schlagbaum neben der Hütte forderte zumindest mit einem Schild alle Übernachtungsgäste auf, sich hier bei einer Anna anzumelden. Clara stieg aus, doch Marie blieb im Auto sitzen und schenkte ihr lediglich einen grimmigen Blick. Clara schob sich an einem mannshohen Aufsteller für Magnum-Eis vorbei und steuerte auf ein Verkaufsfenster zu, über dem eine rote Markise leicht im Abendwind flatterte.

Pommes gibt es hier schon mal definitiv, schoss es Clara unvermittelt durch den Kopf. Der unverkennbare Geruch stieg ihr in die Nase und ihr Magen begann zu knurren. Essen wäre nach dieser Odyssee wahrlich eine gute Idee.

»Servus, wollt ihr hier übernachten? Habts ein Zelt dabei? Da muss ich mal schnell schauen, ob heute noch ein schöner Platz frei ist. Die Hütten sind nämlich alle schon belegt.«

Noch bevor Clara ihr Anliegen äußern konnte, kam ihr die Frau im Kiosk, die etwa in ihrem Alter war, zuvor. Sie hatte dunkelblondes lockiges Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel. Energisch pustete sie sich eine Locke aus der Stirn und griff nach einem abgewetzten Notizbuch.

»Entschuldigen Sie, ich will hier gar nicht übernachten. Ich glaube, wir haben uns verfahren. Andi, der Besitzer der Gamsbockbrauerei hat mir diese Adresse gegeben. Aber ich glaube nicht –«

Weiter kam Clara nicht.

»Ach, du bist die Frau aus Hamburg, die beim Andi anfängt? Na dann, herzlich willkommen in Hintersee! Hoffe, das ist okay, aber ab 1.000 Meter sind wir alle per du.« Die Frau im Kiosk bemerkte wohl Claras verwirrten Gesichtsausdruck. »Sorry, hier kennt jeder jeden. Und der Andi ist mein Cousin. Ich bin die Anna und du bist schon goldrichtig hier.«

Clara blinzelte fassungslos. Unmöglich konnte das goldrichtig sein! Sicher würde Andi, ihr neuer Chef, sie von diesem Ort abholen und sie zu ihrem richtigen neuen Zuhause bringen.

»Ich zeige euch die Wohnung gleich, ich muss nur noch eine Portion Currywurst fertigmachen. Stimmt’s, Kilian?«

Erst jetzt bemerkte Clara einen kleinen Jungen, der ein großes Badehandtuch um seine schmächtige Gestalt geschlungen hatte und geduldig im Schatten einer Ulme stand.

Keine fünf Minuten später trat Anna aus der Tür. »Bestimmt seid ihr völlig geschafft von der Fahrt.« Prüfend ließ sie ihren Blick über Claras Jeans, das T-Shirt mit der Aufschrift Moin und ihren zerzausten schwarzen Bob gleiten. »Also, die Wohnung grenzt direkt an den Kiosk. Drei Zimmer, das Dach ist ausgebaut und ihr habt den besten Blick über den ganzen See.«

»Sorry, dass ich unterbreche«, stoppte Clara Annas Informationsfluss. »Wir sollen wirklich hier wohnen? Ich dachte, die Wohnung wäre irgendwie … ähm, zentraler?«

»Na, weit ist es ja nicht bis in den Ort. Mit dem Fahrrad sogar kürzer als mit dem Auto. Schau, da hinten kannst du schon die Kirchturmspitze sehen, da ist dann auch der Marktplatz.«

Clara reckte sich und tatsächlich, von den vier roten Liegestühlen konnte man doch tatsächlich die Kirchturmspitze erkennen.

Wie zur Bestätigung wehte der Glockenschlag der Kirchturmuhr durch das Wäldchen vom Tal hinauf. Vier Mal. Und dann noch unzählige Male.

»Andi brauchte eine Wohnung für euch und ich habe Platz. In der Familie halten wir zusammen. Schön hier, oder?« Mit ausholender Geste umfasste Anna mit leuchtenden Augen den Kiosk, den Badesee und den kleinen Campingplatz, auf dem einige Holzhütten und eine Handvoll bunte Zelte zu sehen waren. Neben den Kühen entdeckte Clara auf einer angrenzenden Wiese ein paar wuschelige Alpakas, die gelangweilt mit etwas Heu im Maul kauend zu ihnen hinübersahen.

Clara nickte schwach. Ihr Blick fiel auf ein Holzschild, das über der Tür angebracht war und in das in dunklen Buchstaben ein Name eingelassen war. Sie prustete los. »Fritty Woman? Heißt das hier so?«

Anna zog irritiert die Nase kraus. »Ja, ich bin sozusagen ›Fritty Woman‹. Ich weiß nicht, ob du den Film kennst, aber –«

»Wer in meinem Alter kennt bitte schön nicht Pretty Woman mit Julia Roberts und Richard Gere?«, fiel diesmal Clara Anna ins Wort. »Ich liebe diesen Film!«

»Echt? Na, dann werden wir uns sicher gut verstehen. Und schließlich müssen wir hier nicht alle Namen wie Alpenrose oder Alm-Edelweiß haben und im Dirndl rumrennen, oder?«

Clara schluckte. In was war sie da nur hineingeraten? Anna schob indes einen großen Blumentopf zur Seite und holte darunter einen Schlüssel hervor. Um Himmels willen, diese Anna hatte ja echt ein naives Vertrauen in ihre Mitmenschen.

»Bei uns kommt nichts weg. Wir sperren nie ab.« Als hätte Anna ihre Gedanken gelesen, deutete sie auf den Schlüssel, und Clara zuckte leicht zusammen.

Sie öffnete eine blau gestrichene Holztür und die beiden Frauen betraten das Haus. Das Erste, was Clara auffiel, war der durchdringende Essensgeruch.

»Manchmal riecht man den Kiosk ein bisschen, aber ich finde das nicht weiter dramatisch.« Wieder schien Anna Claras Gedanken erraten zu haben. Sie rollte die Augen. »Früher wollte ich das hier als Ferienwohnung vermieten. Aber du glaubst nicht, wie wählerisch diese Stadtleute sind.« Anna schnaubte hörbar. »Sorry, nix gegen dich, aber ich habe wegen des Geruchs vom Kiosk doch tatsächlich miese Bewertungen auf Trivago bekommen. Saublöd einfach.«

Clara, die gerade den Geruch des Häuschens bemängeln wollte, biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht konnte sie das Thema dezent später anbringen oder sich im nächsten Supermarkt einen Lufterfrischer besorgen.

Neugierig schweifte ihr Blick umher. Von einem kleinen Flur gelangte man in ein geräumiges Wohnzimmer mit integrierter Küche, einem kleinen angrenzenden Bad und einem winzigen Schlafzimmer. Durch die kleinen Holzsprossenfenster fiel schräg das Sonnenlicht in den Raum und warf ein helles Muster auf den Holzboden. Zahllose kleine Staubpartikel tanzten im Licht. Eine große graue Couch mit vielen rot-weiß und blau-weiß karierten Kissen stand in einer Ecke des Wohnzimmers, in der Küche befand sich eine Eckbank um einen Esstisch aus massivem Holz.

»Das sieht aber sehr gemütlich aus.« Clara drehte sich zu Anna um, die sich in die Wohnzimmertür gelehnt hatte und sie interessiert beobachtete.

»Das freut mich! Das große Schlafzimmer ist oben, zum kleinen geht es vom Wohnzimmer aus ab, gleich neben der Badezimmertür. Brauchst du Hilfe beim Ausladen deines Autos? Kimi ist leider schon weg, aber ich bin ja da.«

»Danke, aber Marie, meine Tochter, sitzt noch im Auto. Sie hilft bestimmt gerne.« Ja, sie wird ganz begeistert sein.

»Wie alt ist sie denn?«

»Sie ist 16. Es ist für sie nicht leicht, Hamburg und ihre Freunde zurückzulassen.«

Clara war selbst überrascht von ihrer Offenheit, doch Anna hatte einfach etwas an sich, das man sofort liebenswert finden musste.

»Das kann ich mir vorstellen. Kimi ist ja nun schon 18, aber ich kann mich noch gut an das Alter erinnern.« Anna sah Clara mitfühlend an.

»Ist Kimi deine Tochter oder dein Sohn?«

»Weder noch. Er ist der Sohn einer guten Freundin und da er sich immer so schwertat, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen, hat sie ihn zu mir geschickt, damit er arbeitet. Er ist ein echt Lieber, halt nur schüchtern. Na ja, dann will ich dich mal in Ruhe ankommen lassen. Kommt doch später einfach rüber, ich mach euch was zum Abendessen, ich bin bis 18.30 Uhr da. Geht heute natürlich aufs Haus.«

Mit diesen Worten drehte sich Anna um und Clara stand allein in ihrem neuen Zuhause.

Sie seufzte tief. Das hier war wirklich kein Vergleich zu ihrer alten Wohnung in Hamburg. Andi und sie hatten vereinbart, dass sie während der Probezeit nur ein kleines Gehalt, dafür aber eine mietfreie Unterkunft bekommen sollte. Und was konnte man da schon erwarten? Schließlich musste sie schon froh sein, dass er sie mit ihrer nicht vorhandenen Berufserfahrung überhaupt eingestellt hatte. Und Jammern und Lamentieren half schließlich niemandem. Energisch pustete sie sich eine widerspenstige dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht, drückte den Rücken durch, drehte sich um und verließ ihre neue Bleibe, um Marie, Harry und ihre Sachen aus dem Auto zu holen. Ihr Herz sank, als sie sah, dass ihre Tochter noch immer mit verschränkten Armen grimmig im Auto saß und den Blick starr nach vorne gerichtet hatte.

»Marie, wir sind da. Komm, lass uns erstmal Harry und unsere Koffer ins Haus bringen. Anna macht uns dann nachher etwas zu essen.«

»Vergiss es, Digga«, fauchte Marie. »In diesem Scheißkaff bleibe ich nicht. Ich nehme heute noch den Zug zurück nach Hamburg.«

Als ob hier heute noch ein Zug nach Hamburg fahren würde. Clara atmete tief durch. »Ich weiß, dass das schwer für dich ist. Aber lass uns doch bitte versuchen, gemeinsam das Beste aus der Situation zu machen.«

»Gemeinsam? Ich glaube bei dir hackts! Du hast die ganze Scheiße doch allein beschlossen. Weil Papa es mit dir nicht mehr ausgehalten hat, muss ich jetzt hier sein! Mit dir! Hau einfach ab!«

»Dann bleib halt im Auto sitzen.« Claras Stimme zitterte. Sie konnte zwar die Wut und Trauer ihrer Tochter gut verstehen und wünschte sich nichts sehnlicher, als die richtigen Worte zu finden, um durch die dicken Mauern, die Marie um sich herum errichtet hatte, zu dringen. Doch es erschien völlig aussichtslos.

Marie hatte sich indes bereits wieder die Kopfhörer in die Ohren gesteckt und würdigte ihre Mutter keines weiteren Blickes.

Clara nahm Harrys Katzenkäfig von der Rückbank. Sogar der Kater warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Sie atmete erneut tief durch und trug den rot-braunen Stubentiger ins Haus.

 

Eine Stunde später hatte sie die Betten bezogen, Harry mit einer Dose Thunfisch besänftigt und das Badezimmer eingeräumt. Vieles hatte sie in Lübeck in der leeren Garagenhälfte ihrer Eltern untergebracht, den Rest hatte sie verkauft, da Markus ja so ziemlich jeden Cent mitgenommen hatte.

Der Blick des oberen Stockwerks über den glitzernden See und die schroffen Berge dahinter war so friedlich. Das leise Bimmeln der Kuhglocken hatte etwas ungemein Beruhigendes und Clara spürte, wie der enorme Druck in ihr etwas nachließ, obwohl Marie immer noch nicht aufgetaucht war. Nur der Hunger machte sich immer bohrender bemerkbar. Clara linste auf ihre Uhr. Jetzt musste sie sich sputen, um noch etwas bei Anna zu bekommen. Irgendeinen Vorteil musste es ja haben, neben einem Imbiss zu wohnen.

Die meisten Tagesgäste waren bereits gegangen, die Sonnenschirme eingeklappt und der Wald warf seine immer längeren Schatten auf den gekiesten Vorplatz von Annas Kiosk. Vom Zeltplatz drang immer wieder lautes Lachen herüber und es duftete nach Gegrilltem.

»Hey, was möchtest du denn gerne haben?« Anna strahlte Clara an und warf dann einen fragenden Blick über deren Schulter. »Hat Marie gar keinen Hunger?«

»Die ist immer noch nicht aus dem Auto ausgestiegen.« Clara hörte selbst, wie mutlos ihre Stimme klang.

»Lass sie einfach. Sie wird kommen, wenn sie so weit ist. Wie heißt es so schön in Forrest Gump: ›Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie, was man bekommt.‹ Ich hab noch Kaspressknödel, die kannst du ihr später noch warm machen. Möchtest du eine Portion?«

»O ja, auch wenn ich nicht weiß, was das ist. Ich bin am Verhungern.«

Anna verdrehte die Augen und lachte. »Das schmeckt lecker. Magst ein Radler dazu?«

»Ja, gerne. Obwohl ich es immer schade finde, ein Bier mit irgendetwas zu mischen.«

»Na, dann bekommst du natürlich ein bayerisch Helles vom Andi. Mach’s dir gemütlich. Dein Essen kommt gleich.«

Kurze Zeit später hörte Clara Anna geschäftig mit Töpfen und Pfannen klappern und es dauert nicht lange, da hatte sie einen vollen Suppenteller vor sich stehen.

»Darf ich?« Anna hatte sich ein Radler geholt und deutete auf den Platz gegenüber.

Clara lächelte, zum Reden war gerade keine Zeit, da sie viel zu sehr damit beschäftigt war, die Kaspressknödel zu probieren. Sie schmeckten himmlisch.

Anna wartete geduldig, bis Clara schließlich ihren Löffel beiseitelegte und genüsslich seufzte. »Fängst du am Montag dann gleich beim Andi an?«

Clara nickte und griff nach ihrem Glas. »Ja, ich bin schon echt aufgeregt deswegen.«

»Ach wo! Da musst du nicht aufgeregt sein. Andi ist wirklich ein Netter. Er war die vergangenen Jahre in Kanada, weil er mit Josef, seinem Vater, einfach nicht mehr ausgekommen ist. Aber Josef ist kürzlich verstorben und da kam der Andi zurück. Ich mag Tom ja auch sehr gerne, aber die zwei können halt grad nicht miteinander.«

Clara schwirrte der Kopf von Annas Worten, von denen sie nur die Hälfte verstand. »Entschuldige, ich verstehe nur Bahnhof. Also Andis Vater ist verstorben. Das weiß ich, denn das hat er mir während des Vorstellungsgespräches erzählt. Aber einen Tom hat er mit keinem Wort erwähnt.«

»Das wundert mich nicht.« Anna schob sich eine Locke, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte, hinters Ohr. »Der Tom ist sein Halbbruder und wegen der Brauerei streiten die ständig. So ist das halt manchmal.« Anna streckte sich. »Sei mir nicht böse, aber ich bin seit heute Morgen um halb fünf auf den Beinen. Ich fahr jetzt heim und falle ins Bett. Morgen früh bin ich wieder da. Du kannst dir bei mir dann Semmeln holen. Ich bringe eh immer welche für die Camper mit. Schlaf gut in deiner neuen Heimat. Das Essen für Marie stell ich dir vorne hin. Damit machst du ihr ein Angebot, das sie nicht ablehnen kann.« Mit diesem Filmzitat aus Der Pate stand Anna auf und wandte sich zum Gehen.

»Gute Nacht und vielen Dank für alles.«

»Kein Ding. Und schau nicht so frustriert zu deinem Auto rüber, sie wird schon rauskommen. Wie heißt es so schön: Ein Neuanfang kann schmerzhaft sein, aber deswegen muss er nicht schlecht sein.«

Das war bestimmt ebenfalls ein Filmzitat, aber Clara wusste beim besten Willen nicht, aus welchem Film. Anna lächelte und verschwand hinter der Hütte, um wenig später mit einem orangenen Quad den kleinen Weg runterzubrettern.

Nachdenklich winkte Clara ihr und trank die letzten Schlucke ihres Biers. Sie war also in Bayern angekommen, wohnte neben einer Kuh- und Lama-Herde über einem Kiosk, der von einer Frau betrieben wurde, die sich Fritty Woman nannte und die gerne Filme zitierte. Ihr neuer Chef schien Zoff mit seinem Halbbruder zu haben, ihre Tochter weigerte sich, das Auto zu verlassen, und in ihrem Portemonnaie befanden sich noch ganze 150 Euro. Ein gelungener Neustart sah anders aus.

Kapitel 3

 

Frustriert fixierte Marie das Display ihres Handys. 5.30 Uhr und die verdammte Turmuhr schlug schon wieder. Spinnen hier alle? Sie tippte auf den Instagram-Button, doch es tat sich einfach nichts. So ein Dreck, nicht einmal Handyempfang gab es in diesem Scheißkaff. Sie hörte wieder das Sirren einer Stechmücke. Blitzschnell schlug sie zu und stellte triumphierend fest, dass sie wenigsten diesen miesen kleinen Mistkerl erwischt hatte. Warum musste ihre Mutter sie ans andere Ende Deutschlands verschleppen? Sie ballte ihre Hände zusammen und starrte an die weiße Zimmerdecke über ihr, während warme Sonnenstrahlen auf ihr Bett fielen. Ihr Magen grummelte laut. Sie hätte etwas essen sollen, es hatte verdammt gut gerochen. Allerdings hätte ihre dämliche Mutter dann bestimmt gedacht, dass es jetzt für sie okay wäre, hier zu sein. Spoiler-Alarm: Das war es nicht!

Sie drehte sich frustriert um und zog die Bettdecke bis fast über den Kopf. Aber das mit der Welt aussperren funktionierte eben nicht. Der Wecker ihres Smartphones piepte unablässig. Heute war der erste Tag in ihrer neuen Schule. Und weil sie hier am Arsch der Welt wohnte, musste sie auch noch mitten in der Nacht aufstehen.

Durch das Fenster drang, wie schon die ganze Nacht, das nervige Gebimmel der Kuhglocken. Warum? Mit einem lauten Stöhnen schaltete sie den Wecker aus, setzte sich auf und tapste die hölzerne Wendeltreppe vom ausgebauten Spitzboden, in dem ihr neues Schlafzimmer lag, hinunter zum winzigen Badezimmer. Na super, sie hörte noch auf der Treppe das Rauschen der Dusche. Nicht mal ins Bad konnte man in Ruhe, wann man wollte. In ihrem coolen alten Hamburger Loft hatte sie sogar ein eigenes Bad. Missmutig stapfte sie zur Küche und schaute sich um. Zum Glück fand sie etwas Kaffeepulver und eine Maschine. Sobald sie am Küchentresen stand, sprang auch schon laut maunzend Harry auf die Anrichte und drückte seinen warmen, weichen Kopf gegen ihre Hand.

»Zum Glück bist du noch da. Hast du Hunger?« Bestätigend miaute der Kater und biss ihr leicht in die Finger. »Hey, nicht so stürmisch. Ich muss schauen, was wir dahaben.«

Hastig durchwühlte sie die Tasche mit Harrys Näpfen. Zum Glück fand sie darin schnell seine geliebten Tütchen mit Geleehappen, öffnete eins und schüttete es in die kleine Metallschüssel. Sie hatte das Futter noch nicht richtig abgestellt, da drückte Harry den Napf bereits mit seinem Kopf nach unten und begann gierig zu fressen.

»Du hast wohl gestern Abend auch nichts zu essen bekommen.«

»Hat er schon. Eine ganze Dose Tunfisch.«

Die Stimme ihrer Mutter genügte, um Maries Blut zum Kochen zu bringen.

»Und für dich war auch noch eine Suppe da.«

Warum musste sie immer so verdammt rechthaberisch sein? Ein lauter Seufzer entfuhr ihr.

»Hör zu, ich weiß, dass das nicht einfach für dich ist, aber könntest du dich nicht etwas bemühen? Nur ein klitzekleines bisschen?«

»Hast du sie noch alle? Einen Scheißdreck könnte ich! Du entscheidest einfach, dass ich mit dir in dieses Dreckskaff ziehen muss, und ich soll jetzt auch noch so tun, als wäre alles supi? Lass mich einfach in Ruhe!«

Schnaubend ging sie an ihrer Mutter vorbei und knallte die weiße Holztür hinter sich zu. Definitiv würde sie dieses Bad so schnell nicht wieder verlassen.

Clara zuckte bei dem lauten Schlag zusammen und auch Harry sprang verschreckt von der Küchenanrichte, raste zur Couch und versteckte sich unter ihr. Was für ein wundervoller Start in den Tag. Clara versuchte, ruhig ein- und auszuatmen. Ihre Tochter würde sich bestimmt beruhigen. Sie ging zum Fenster in die Küche, füllte das Kaffeepulver, das Marie schon geöffnet hatte, in die Filtertüte und schaltete die Kaffeemaschine an. Ohne eine Tasse Kaffee hatte sie noch nie klar denken können.

Die Morgensonne spiegelte sich auf der türkisenen Oberfläche des Sees, ebenso wie die Silhouette der Bergkette. Sie ging durch die Terrassentür und sog den Geruch von frischem Gras und Blumen ein. So roch es in der Stadt nie. Zumindest hatte Andi in diesem Punkt nicht übertrieben: Die Aussicht war wirklich einmalig schön und wurde untermalt von lautem Vogelgezwitscher, den Kuhglocken und Insektensummen. Die Ruhe wurde leider aber auch durch die penetrante Kirchturmuhr gestört, deren Schall trotz der Entfernung laut und deutlich hochgetragen wurde. Diese Uhr war der Grund dafür, dass sie heute Nacht kein Auge zugetan hatte. Nicht der einzige, so ehrlich musste sie sein. Ihr Magen zog sich vor Aufregung und Nervosität vor ihrem ersten Arbeitstag zusammen. Sie betete, dass es keine Schnapsidee gewesen war, hierherzukommen, alles hinter sich zu lassen und in ihrem alten Beruf wieder neu anzufangen. Gestern hatte sie noch eine vorwurfsvolle Nachricht ihrer Mutter erhalten, die es besser gefunden hätte, wenn Clara sich im Norden nach einer neuen Stelle umgesehen hätte. Nicht einmal antworten konnte sie ihr, da sie in ihrer Wohnung überhaupt kein Netz hatte.

Frustriert stöhnte Clara, ging zurück in die Küche, öffnete den Küchenschrank und suchte zwei Tassen. Erst einmal einen Kaffee, vielleicht würde dieser auch Marie besänftigen.

Doch Fehlanzeige. Marie kam lediglich kurz in die Küche, schnappte sich einen Kaffeebecher und stapfte wieder die Treppe hinauf.

»Marie, wir müssen gleich los. Heute fahre ich dich, aber ab morgen musst du den Bus nehmen.«

Keine Reaktion. Und so war es wieder sie, die nach einer Viertelstunde leicht genervt nach ihrer Tochter rief.

Als diese die Treppe hinunterpolterte, seufzte Clara erneut. Marie trug ihre geliebten schwarzen Doc Martens und dazu mikroskopisch kurze Shorts und ein bauchfreies Top.

»Marie, möchtest du vielleicht eine Hose zu deinem Gürtel anziehen?«

Aus kajal-umrandeten Augen blitzte Marie sie an.

»Du bist so unlustig! Entweder ich gehe so oder eben gar nicht. Kannst es dir aussuchen.« Provokativ baute sich Marie vor ihrer Mutter auf und stemmte die Hände in die Hüften.

Clara stöhnte leise auf und versuchte gedanklich bis zehn zu zählen. Wenn sie pünktlich zur Arbeit erscheinen wollte, konnte sie sich eine Grundsatzdiskussion mit ihrer Tochter über deren Klamottenwahl jetzt schlichtweg nicht leisten.

»Also komm. Wir müssen los.«

Triumphierend zog Marie die Augenbrauen hoch, ignorierte die Brotbox, die Clara ihr hinhielt, und folgte ihr.

»Wo ist diese fucking Bushaltestelle?«

Clara musste zugeben, sie hatte bis dato auch keine gesehen. »Da vorne an der Hauptstraße.« Clara deutete auf das Halteschild und das kleine hölzerne Bushäuschen, das am Ende eines Weizenfeldes stand.

»Und wie soll ich da hinkommen?« Ungläubig riss Marie die Augen auf. »Kannst du vergessen, dass ich so weit laufe. Entweder fährst du mich oder ich gehe an den Tagen, an denen du früh aus dem Haus musst, eben nicht in die Schule.« Kämpferisch reckte sie ihr Kinn nach vorn.

»Marie, jetzt schalte mal einen Gang zurück. Anna hat uns ja angeboten, die zwei alten Fahrräder in ihrem Schuppen nutzen zu können. Damit bist du in Nullkommanichts an der Bushaltestelle.«

Das entnervte Schnauben, das sie als Antwort erhielt, wertete Clara mal als Zustimmung, getreu dem Motto Think positive.

Kurze Zeit später parkte ihr kleines Auto vor dem Bertold-Brecht-Gymnasium, das Marie ab jetzt besuchen würde.

»Boah, schaut das scheiße aus. Und schau dir mal diese Leute an. Was tragen die denn für Klamotten? Ich finde es jetzt schon scheiße.«

Marie starrte düster auf das Gebäude und die ankommenden Schüler. Für einen kurzen Augenblick sah Clara Unsicherheit im Blick ihrer Tochter aufflackern und hörte, wie diese tief einatmete.

»Das wird schon, Schatz. Die sind bestimmt alle nett und du findest schnell Anschluss.« Kurz legte Clara ihre Hand auf Maries Knie und zuckte zusammen, als diese sie wegstieß.

»Genau. Und nett ist die kleine Schwester von scheiße. Brauchst nicht mit reinkommen. Das blöde Sekretariat finde ich auch allein. Um 13.05 Uhr stehst du hier und holst mich ab.«

»Marie, das geht nicht. Ich arbeite bis 17 Uhr. Du bekommst deine Schülerkarte und fährst mit dem Bus zurück. Denn, ob du es glaubst oder nicht, ich muss das Geld für unseren Lebensunterhalt verdienen.«

Ohne ein weiteres Wort stieg Marie aus und knallte die Beifahrertür hinter sich zu. Clara sah ihr nach, wie Marie kurz verloren auf dem Schulhof stand, während die anderen Kinder plaudernd oder tief in ihre Smartphones versunken an ihr vorbeiströmten. In diesem Augenblick tat sie ihr unendlich leid. Es war nicht einfach, mit 16 Jahren aus dem Freundeskreis und dem gewohnten Umfeld gerissen zu werden. Zu gerne hätte sie ihre Tochter an dem heutigen Tag unterstützt und ihr zur Seite gestanden. Am Abend mit ihr gemütlich eine Pizza gegessen und sich über ihre ersten Eindrücke und die neuen Klassenkameraden unterhalten. Aber eher würde die Hölle zufrieren, als dass Marie Lust auf einen entspannten Mutter-Tochter-Abend hatte. Clara schluckte hart. Dabei waren sie immer ein Herz und eine Seele gewesen, was sich jedoch schlagartig mit dem Einsetzen der Pubertät geändert hatte. Doch Marie war auch immer schon ein Papa-Kind gewesen. Es traf sie daher umso härter, dass auch sie seit seinem Verschwinden nichts mehr von ihm gehört hatte. Er hatte sogar seine Profile auf Facebook und Instagram gelöscht. Clara konnte die Wut und Trauer ihrer Tochter nur zu gut nachvollziehen. Sobald ihre Gedanken zu Markus schweiften, flammte diese alles umfassende Wut ebenso in ihr auf. Clara blickte ihrer Tochter hinterher, bis diese von dem Schulportal verschluckt wurde, und wendete dann ihren Mini.

Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Jetzt würde sie in wenigen Minuten ihren neuen Chef live treffen und die Gamsbockbrauerei endlich von innen kennenlernen.

Kapitel 4

 

Claras Magen zog sich mit jedem Meter, den sie sich ihrem neuen Arbeitsplatz näherte, schmerzhafter zusammen. Was, wenn sie gar keine Ahnung mehr von dem hatte, was in einer Brauerei vor sich ging? Was, wenn es wirklich nur eine völlige Spinnerei war, zu denken, dass man nach über 16 Jahren wieder in den alten Beruf einsteigen konnte? Was, wenn sie versagte?

Die unzähligen Telefonate mit ihren Eltern in Lübeck gingen ihr nicht aus dem Kopf. Beide hatten mit ihrer Meinung über Claras Veränderung nicht hinterm Berg gehalten:

»Bist du nicht zu alt für einen Neuanfang?«

»Zieh doch wieder in unsere Richtung, dann können wir dir vielleicht mal etwas abnehmen.«

»Traust du dir das wirklich zu?«

»Was, wenn es nicht klappt?«

Doch sie wollte noch einmal neu durchstarten, mit allen Konsequenzen. Mit einem flauen Gefühl parkte sie ihren Mini auf dem kleinen Gästeparkplatz vor einem altehrwürdigen, zweistöckigen, hellrosagestrichenen Gebäude. Jedes der kleinen Sprossenfenster zierten üppige Blumenkästen, aus denen weiße und rote Hängegeranien wuchsen. Es lag der unverwechselbare Geruch von Malz und Bier in der Luft. Ein paar urige Holzbänke standen im Schatten einer riesigen alten Eiche auf dem Platz vor der Brauerei, neben der ein breiter Gebirgsbach rauschend entlanglief. Ihr Herz raste, nicht nur vor lauter Aufregung, sondern weil dieser Ort einfach aussah, als wäre er aus einer anderen Zeit in die Gegenwart gefallen. Ein schmiedeeisernes Schild prangte stolz über der großen Eingangspforte: Gamsbockbrauerei – Braukunst seit 1881.

Claras Knie wurden immer weicher und sie wischte sich ihre verschwitzten Hände notdürftig an ihrer hellblauen Jeans ab, fuhr sich noch einmal durch ihren kurzen schwarzen Bob, atmete tief durch und trat durch den großen Rundbogen in das offene Sudhaus, das durch einen wunderschönen alten kupfernen Kessel, einen dunklen Holztresen und eine große Tafel, auf der das neuste Bier angepriesen wurde, gemütlich wirkte.

»Hallo?« Claras Stimme war unüblich hoch und sie merkte, wie ihr Puls weiter beschleunigte. Ihr Blick glitt durch den Raum und blieb an einer kleinen Tür im hinteren Teil der urigen Verkostungsstube hängen, an der ein Holzschild mit der Aufschrift Büro angebracht war. Je näher sie kam, desto deutlicher hörte sie zwei Männerstimmen, deren tiefer, rauer Dialekt für sie fast wie eine Fremdsprache klang.

Sie nahm all ihren Mut zusammen, hob ihre Hand und wollte gerade an die Tür klopfen, als diese von innen aufgerissen wurde und ein großer, breitschultriger Mann mit einem »Du wirst schon sehen, was du davon hast« in sie hineinrannte. Dieser war zum Glück geistesgegenwärtig genug, um Clara, die durch den Aufprall nach hinten stolperte, aufzufangen.

»Entschuldigung.« Schnell ließ er Clara los, fast so, als habe er sich gerade seine Finger verbrannt, und sein Blick glitt über sie.

»Nicht so schlimm, normalerweise ist um diese Zeit wohl noch nicht mit Besuchern zu rechnen.«

Verlegen rückte sie ihre Handtasche zurecht, musterte den großen, braungebrannten Mann vor ihr, der mit seinem Dreitagebart, den kurzen braunen Haaren und den breiten Schultern wirkte, als wäre er direkt einem Sportmagazin entsprungen.

»Andi, ich denke, du hast eine Kundin da. Die Brauerei ist um diese Zeit noch geschlossen.«

Seine Stimme war jetzt viel wärmer und er bemühte sich offensichtlich auch darum, deutlich und möglichst Hochdeutsch mit ihr zu sprechen.

»Ich wollte mir nicht um 8.30 Uhr mein erstes Bier genehmigen, sondern habe heute meinen ersten Arbeitstag.« Clara lächelte breit, während sich die Augen ihres Gegenübers verdunkelten und der warme Glanz von eben verschwand.

»Soso. Na dann, der Andi ist da. Ich bin Tom, der zweite Eigentümer der Brauerei. Schön, dass ich so auch mal erfahre, dass wir Personal aufstocken.«

Dieser Nachsatz war definitiv nicht an Clara gerichtet, sondern er knurrte ihn mehr über die Schulter zu Andi, der mittlerweile ebenfalls durch die Tür getreten war.

»Grüß Gott, Clara!« Schon beim Videocall hatte Clara gesehen, dass Andi groß und massig war, doch jetzt, da er ihr gegenüberstand und ihr seine riesige Hand entgegenstreckte, kam sie sich mit ihren 1,60 m ihm gegenüber fast wie ein Zwerg vor. Obwohl er im Vergleich zu ihr ein Hüne war, erinnerte er sie sofort an Balu, den Bären aus dem Dschungelbuch, denn seine karamellfarbenen Augen funkelten warm und er fuhr sich verlegen mit seiner rechten Hand durch die wirren braunen Locken. Sein Händedruck war fest und Clara zählte gedanklich danach ihre Finger ab, während ihr ein verlegenes »Moin« herausrutschte. »Ich meine natürlich Grüß Gott! Sorry, daran muss ich mich erst noch gewöhnen.«

Andi und sogar der mürrisch dreinblickende Tom lachten herzhaft, ein tiefes, kehliges, sehr sympathisches Lachen war das. Die beiden schienen zwar große Differenzen zu haben, wirkten jedoch bodenständig und nett.

»Das lernst du schon noch«, erklärte ihr Andi augenzwinkernd und fuhr sich dann mit der Hand über seinen Bart.

»Dann lass ich euch zwei Mal in Ruhe. Nett, dich kennengelernt zu haben.« Tom verabschiedete sich mit einem warmen Händedruck und einem freundlichen Grinsen von ihr, während er seinem Bruder lediglich einen finsteren Blick zuwarf.

»Tut mir leid, dass er dich fast über den Haufen gerannt hat, aber Tom ist manchmal ein bisschen stürmisch.«

»Kein Problem. Ich hoffe, ich störe nicht. Wir hatten am Telefon 8.30 Uhr vereinbart und hier bin ich.«

Clara versuchte sich an einem verlegenen Lächeln, denn die Situation war unangenehm und ungewohnt für sie. Schließlich war offensichtlich, dass sie mitten in einen Familienstreit geplatzt war.

»Mach dir keinen Kopf. Der kriegt sich schon wieder ein. Freu mich echt, dass du da bist. Seid ihr gut hier angekommen? Wie gefällt euch die Wohnung bei Anna?«

Obwohl er sich bemühte, keinen Dialekt zu sprechen, musste sich Clara konzentrieren, ihm zu folgen.

»Ja, die Wohnung ist toll.« Sie würde ihm besser ein anderes Mal sagen, dass die Wohnung nach Pommes stank und zu weit ab vom Schuss lag.

»Tut mir leid, dass ihr so weit draußen wohnen müsst, nur im Zentrum hatte ich leider keine Möglichkeit, euch unterzubringen, aber für die nächsten Monate wird es schon gehen. Wie gefällt deiner Tochter euer neues Zuhause und die Schule?«

Clara schluckte.

»Heute ist ihr erster Schultag.« Kurz stockte sie. »Der Blick von der Wohnung auf den See und die Berge ist einfach traumhaft. Und wo hat man schon direkt einen Badesteg vor der Haustür?«

Clara setzte ihr strahlendstes Lächeln auf und hoffe, dass Marie bald Anschluss finden würde. Denn das gesamte Dorf war wahrscheinlich eine eingeschworene Gemeinschaft, die sich bereits das ganze Leben kannte.

»Dein Madl wird sich bestimmt schnell bei uns wohlfühlen.« Danach räusperte er sich verlegen. »Ich würde sagen, wir fangen gleich mal mit einer Brauereiführung an, damit du weißt, wo alles ist.«

»Ja, das wäre super.«

Dankbar folgte sie Andi und musste sich mächtig anstrengen, mit ihm Schritt zu halten. Stolz trat er auf den großen Platz hinter der Brauerei und deutete auf die drei großen Silos, die zwar nicht mehr neu aussahen, jedoch in der Sonne hell glänzten.

»Da lagern wir die Gerste und den Hopfen zwischen, bis wir sie zu Bier verarbeiten. Wir beziehen unseren Hopfen von Biobauern aus dem Tettnang und der Hallertau, einem der größten zusammenhängenden Hopfenanbaugebiet der Welt.« In seiner tiefen Stimme schwang Stolz und volle Begeisterung für dieses Naturprodukt mit. »Der Hopfen von dort hat das perfekte Aroma für helle Biersorten. Er gibt dem Hellen ein frisches, fruchtiges und leicht herbes Aroma. Ihr im Norden steht ja eher auf herbe Biere, aber wir hier im Süden trinken gerne leichtere, dafür zwei, drei mehr.«

Wieder hörte Clara sein tiefes, sympathisches Lachen. Sie nickte und versuchte, sich die unzähligen Infos zu merken, und hatte dabei das Gefühl, als würde ihr Kopf gleich explodieren.

»Jetzt kommen wir zum Herzstück unserer Brauerei, dem jetzigen Sudhaus«, erklärte Andi ihr über die Schulter hinweg, während sie in ein großes Nebengebäude traten und eine Edelstahltreppe hinauf hasteten. Besser gesagt, Andi lief ganz gemütlich, nur durch seine schiere Schrittgröße musste Clara ihm fast schon hinterherjoggen.

Oben angelangt, fand sie sich in einem großen, warmen Raum wieder, in dem die verschiedenen Edelstahlkessel untergebracht waren.

»Da ist unser Maischebottich.« Andi blickte mit einem verträumten Blick auf die fröhlich vor sich hin gärende Maische und legte seine riesige Hand fast schon liebevoll auf dem großen Tank ab. »Unser Getreide beziehen wir ebenfalls von regionalen Biobauern, die wiederum oft noch die traditionelle Milchkuhhaltung auf ihren Alpen betreiben. Wir bekommen gute Preise von ihnen, da unser Treber ein hervorragendes Rinderfutter ist und sich positiv auf die Milchproduktion der Kühe auswirkt.«

In Claras Kopf setzte sich alles zu einem stimmigen Bild zusammen. Ein freudiges Kribbeln durchlief sie. Endlich roch sie wieder die würzige Maische und konnte mit den Rohstoffen arbeiten, die sie schon immer geliebt hatte.

»Wenn die Enzyme mit ihrer Arbeit, Stärke in Zucker umzuwandeln, fertig sind, dann kommt die Maische hier in den Läufer und danach, wenn alle festen Stoffe draußen sind, in die Würzpfanne. Dort kühlen wir sie dann auf die Anstelltemperatur und setzen die Hefe zu. Aber wem erzähl ich das, du bist ja vom Fach.« Wieder lachte er kehlig und klopfte Clara leicht auf die Schulter.

Ja, das war sie, seit sie von Kindesbeinen an jeden Sommer zusammen mit ihren Großeltern deren Freunde besucht hatte, die hinter der dänischen Grenze eine Brauerei betrieben. Mit jeder Minute, die sie dort verbrachte, wuchs ihre Begeisterung für dieses Handwerk, die dazu führte, dass sie Jahre später eine Lehrstelle zur Bierbrauerin in Jever angenommen hatte. Leider arbeitete sie nach ihrem Abschluss lediglich zwei Jahre in ihrem heißgeliebten Beruf, bevor dann Marie ihr Leben ordentlich durcheinanderwirbelte. Gerade fühlte sie sich jedoch völlig überfordert von den Eindrücken, die wie eine Maschinengewehrsalve auf sie einprasselten.

Über eine breite Treppe stiegen sie hinunter in den Keller. Dort standen unter einem hohen Steingewölbe fünf Reifetanks für die einzelnen Biersorten. Hier war es kühl, da das Bier beim Reifen keine hohen Temperaturen vertrug.

Andi nahm einen kleinen Krug, zapfte aus dem ersten Tank einen kleinen Probeschluck ab und hielt ihn Clara entgegen. Sobald Clara das feinherbe, helle Bier auf der Zunge schmeckte und es im Mund hin und her bewegte, um auch wirklich alle Aromen herauszufiltern, durchflutete sie eine Welle des Glücks. Andi betrachtete sie so eingehend, als wolle er jeden einzelnen ihrer Gesichtszüge analysieren. Clara schluckte verlegen.

»Wow, das ist ein wirklich leckeres Lager. Sehr mild, mit einem feinen Citrus-Aroma und leicht hopfigem Abgang. Ein perfektes Bier für einen lauen Sommer- und schönen Grillabend.«

Andis Augen begannen zu funkeln und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als hätte sie nicht sein Bier, sondern sein Baby bewundert.

»Genau so! Ich liebe es. Es ist ein obergäriges Bier, der Winterweizen gibt ihm einfach ein leichtes Aroma.« Bei diesen Worten fuhren seine Finger wieder fast schon liebevoll über den Edelstahltank. Er nahm Clara das Glas ab, wusch es kurz am Spülbecken aus, und ging dann zu einem nächsten Tank. Dort zapfte er einen neuen Schluck ab, schwenkte ihn stolz im Glas und betrachtete ihn eingehend mit fast schon verliebtem Blick.

»Das hier ist unser Ur-Helles. Es ist ein leichtes hellgelbes Bier, mit einem feinen Hopfenaroma, einem dezenten Malzgeschmack und für mich, dank des feinwürzigen, frischen Aromas, ein richtig bayerisch klassisches Helles. Es wird im Sommer gerne in den Biergärten der Region ausgeschenkt.«

Aufmerksam glitt Andis Blick über Claras Gesicht, während er ihr das Bier reichte, sie den kleinen Probierschluck in den Mund nahm und ihn auf ihrer Zunge hin und her bewegte. Ja, dieses Bier entsprach jedem Kriterium eines bayerisch Hellen, wie sie es für ihre Abschlussprüfung gepaukt hatte: frisch, spritzig und leicht im Malzgeschmack. Wenn sie so ein Bier probierte, kam sie nicht umhin zu bewundern, was Bierbrauer aus aller Welt in der Lage waren, aus Wasser, Gerstenmalz und Hopfen zu kreieren.

»Wow, das ist wirklich lecker. Davon trinkt man wohl gerne mal eins mehr.«

Andi entfuhr wieder ein dunkles, kehliges Lachen. Und am warmen Glanz in seinen Augen sah sie, wie glücklich ihn das Lob über sein Bier machte.

»Dann wollen wir mal weiter in den Lagerkeller für unsere dunklen Biersorten gehen.«

Clara ging kurz zu einem Waschbecken, wusch ihr Glas aus und folgte ihrem neuen Chef einige Treppenstufen hoch, durch eine weitere schwere Stahltür. In diesem Teil des Kellers war es deutlich wärmer.

»Wir brauen schon lange und sehr traditionell. Das hier ist unser dunkles Festbier, das schon seit unserer Gründung zum Herbstfest und dem Viehscheid, oder Almabtrieb, wie es auf Hochdeutsch heißt, ausgeschenkt wird. Es ist ein untergäriges Bier, seine Stammwürze ist so um die zwölf, natürlich ist es deutlich schwerer als mein neu kreiertes Lager, aber es hat einen weichen karamelligen Geschmack und eine sanfte Note zwischen dem Hopfen und der Gerste. Probier mal.«

Wieder zapfte er Clara einen winzigen Schluck in den Krug und reichte ihn ihr. Dunkles Bier war noch nie ihr Ding gewesen, da die meisten Sorten einfach nur stark waren und sie von ihnen leicht Kopfschmerzen bekam. Doch überrascht schwenkte sie die dunkle Flüssigkeit in ihrem Mund und bewunderte den weichen, ausgewogenen Körper dieses Bieres. Ihr neuer Chef verstand sein Handwerk. In diesem Bier steckte so viel Liebe, Tradition und Freude an der Braukunst, dass man förmlich die Begeisterung für seine Berufung auf der Zunge schmecken konnte. Herrlich weich, mit einem vollen Abgang und einem leichten Nachgeschmack von Karamell. Das beste dunkle Bier, das sie seit langem gekostet hatte. Genussvoll seufzte sie.

 

Andi konnte seinen Augen kaum trauen und den Blick nicht von dieser zierlichen Frau abwenden, wie sie so dastand, die Augen vor Genuss geschlossen, und das Bier kostete. Klar, sie entsprach nicht wirklich dem Bild einer Brauerin und sie würde es definitiv nicht leicht mit seinen doch teilweise sehr engstirnigen und altbackenen Kollegen haben, doch bestimmt hatte er mit ihr einen Glücksgriff getan. Zwar waren da immer noch Zweifel, ob er sich wirklich eine weitere Vollzeitkraft leisten konnte, doch wenn die Brauerei zu einer modernen Mikrobrauerei umgebaut werden sollte, dann brauchte er dringend Verstärkung, die frische Ideen einbrachte. Schon bei ihrem Vorstellungsgespräch hatte sie mit so viel Begeisterung erzählt, wie sie selbst immer wieder verschiedene Sorten daheim braute und wie sehr sie sich über die Gelegenheit, in ihren alten Beruf zurückzukehren, freute. So, wie sie vor ihm stand, genüsslich das Bier kostete und dabei die Augen schloss, verriet dies ihre Einstellung zu diesem Naturprodukt und wenn sie nicht seine Angestellte wäre, hätte er sie sofort nach Feierabend auf ein Bier eingeladen. Verlegen nahm er ihr den Krug ab und hoffte, dass sie nicht gemerkt hatte, wie er sie angestarrt hatte. Sie war in natura noch hübscher als bei der verpixelten Videoübertragung des Vorstellungsgespräches.

»Chef, ich brauch dich mal. Wir haben einen Lieferanten da.« Manfreds Stimme hallte durch den Keller und riss Andi aus seinen Gedanken.

»Klar. Ich komm gleich hoch!« Er wandte sich erneut Clara zu. »Das ist Manfred, er arbeitet hier schon seit über 40 Jahren und gehört quasi zum Inventar. Er kann dir gerne alles weitere zeigen, während ich mich schnell um den Lieferanten kümmere.«

Auch wenn es unhöflich war, sie nicht persönlich herumzuführen, durfte sie das Gespräch nicht mitbekommen. Seit er vor drei Monaten aus Kanada zurückkommen musste, bekam er Magenschmerzen, sobald ein Lieferant ihn sprechen wollte, denn es handelte sich immer um fehlende oder überfällige Zahlungen, denen sein Vater offensichtlich vor seinem plötzlichen Tod nicht mehr nachgekommen war. Sein Magen zog sich zusammen, sobald er die Verkostungsstube betrat und Gerhardt Mayfelder erblickte. Dem wollte er eigentlich die nächsten Tage, bis er das Bierfest der Freiwilligen Feuerwehr in Traunstein belieferte, nicht über den Weg laufen. Er hatte vor, die offenen Rechnungen des Hopfenlieferanten mit dem Gewinn des Festes auszugleichen.

»Hallo Gerhardt, schön, dass es dich mal in unsere Gegend verschlägt«, bemühte er sich um eine bewusst freundliche Stimmung. Doch Gerhardt sah ihn lediglich missmutig an.

»Hör zu, Andi. Ich weiß, dass euer Vater völlig überraschend gestorben ist und man soll nix Schlechtes über Tote sagen, aber er hat noch eine Menge Schulden bei mir und wenn ihr die Außenstände nicht ausgleicht, dann kann ich euch leider bis auf weiteres keinen Hopfen mehr liefern.«