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Das Buch beruht auf dem Unterrichtsalltag in Alphabetisierungskursen mit erwachsenen Migrant:innen und bietet Lehrkräften eine fundierte Einführung in die Fachliteratur. Der theoretische Teil wird mit einer Handreichung für die Praxis erweitert und durch online verfügbare Zusatzmaterialien ergänzt. Gedacht als Kopiervorlagen für den Unterricht, eignen sie sich für die Arbeit mit Zweitsprachlernenden auf allen Alphabetisierungsstufen und können lehrwerksunabhängig eingesetzt werden. Im Fokus jedes thematischen Aufgabensets steht jeweils ein kurzer Text. Dieser kann in der Endphase als Diktat oder zur Diagnostik verwendet werden. Die Texte und die Farbgebung der Schrift beruhen auf Erkenntnissen zur Behebung von Leseschwächen. Die Materialien bieten Übungsmöglichkeiten vom Laut über Silbe und Wort bis zum Text sowie zur Strategieanwendung für die Kontrolle der eigenen Lese- und Schreibkorrektheit und des eigenen Textverständnisses. Illustrationen helfen eine Brücke zu bauen zwischen den realen Lebenswelten und ihrer abstrakten Abbildung in Form von Texten.
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Seitenzahl: 176
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Zsófia Lelkes / Anna Maja Misiak
Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch
mit Illustrationen von Zofia Laura Misiak
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DOI: https://doi.org/10.24053/9783381128129
© 2025 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Lektorat und Korrektorat: Wulfhard Stahl
ISSN 2509-6036
ISBN 978-3-381-12811-2 (Print)
ISBN 978-3-381-12813-6 (ePub)
Dieses Starter-Buch richtet sich an alle Personen, die in die DaZ-Alphabetisierung mit Erwachsenen einsteigen möchten, und an Lehrkräfte, die Lernende mit Lese- und/oder Schreibschwierigkeiten fördern oder Personen mit Lese- und Schreibblockaden gezielt methodisch begleiten.
Lesen und Schreiben zu lernen ermöglicht Erwachsenen die soziale und kulturelle Teilhabe am schriftdominierten Alltag. Für viele, die diese Kompetenzen erstmals erwerben, bedeutet die Alphabetisierung zudem den Übergang zu einer neuen Art der Wahrnehmung. Lesenlernen erfordert, abstrakte visuelle Zeichen miteinander und mit Lauten zu kombinieren sowie diese Fähigkeit als notwendige Basis fürs Denken und Verstehen zu automatisieren. Schreibenlernen erfordert dasselbe sowie feinmotorische Fertigkeiten, die das sinnstiftende Festhalten von Strichen, Kreisen und Halbkreisen in einem linearen Ablauf auf einem Blatt ermöglichen.
Der Schriftspracherwerb in einer Fremdsprache ist für Erst- und ZweitschriftlernendeZweitschriftlernende eine Herausforderung, da sie ihre auditiven und, je nach Muttersprache, visuellen Wahrnehmungskanäle neu ausrichten müssen. Nicht nur Laute, die sie ihrem muttersprachlichen Muster getreu bisher auszublenden lernten, gewinnen plötzlich an Wichtigkeit; geprägt werden müssen neue grammatische und semantische Paradigmen wie auch ein aktiver Wortschatz als Basis aller Lernprozesse.
Erläuterungen zu hermeneutischen Schichten des Nicht-VerstehenNicht-Verstehens in der DaZ-Alphabetisierung (Kapitel 1) sowie zu neurobiologischen und kognitionspsychologischen Grundlagen der Schriftsprachaneignung (Kapitel 2) gehen dem praxisorientierten Überblick zu den Eigenschaften und Methoden des DaZ-Schrifterwerbs (Kapitel 3) voraus. Einen alltagsnahen und mit Tipps versehenen Einblick in den DaZ-Alphabetisierungsunterricht geben Kapitel 4 und 5; Kapitel 6 skizziert einen größeren curricular bestimmten Rahmen.
Online-Materialiensammlung
Auf https://files.narr.digital/9783381128112/Zusatzmaterial.pdf finden Sie Kopiervorlagen, die lehrwerkunabhängig auf allen Stufen der DaZ-Alphabetisierung eingesetzt werden können. Die Materialien werden in zwei unterschiedlichen Fassungen für Deutschland / Österreich und für die Schweiz zur Verfügung gestellt. Einer Beschreibung der Online-Materialien (Kapitel 7.1) folgen Handreichungen zu einzelnen Kopiervorlagen für Aufgabenset 1 der Stufe 1 (Kapitel 7.2), konzipiert als Einstieg in die Unterrichtspraxis.
In einer fremden Sprache eine unbekannte Schriftsprache zu erlernen gleicht dem Betreten und Erforschen von Neuland ohne Vorbereitung und geeignetes Werkzeug. Einerseits können die Teilnehmenden in Alphabetisierungskursen in der Regel Deutsch nicht verstehen und sprechen, andererseits sind sie mit dem Medium Schrift ungenügend oder gar nicht vertraut (fehlendes technisches Wissen), zudem kennen sie kulturbedingte sprachliche Situationen nicht (fehlendes Handlungswissen). Sie sind gehalten, gleichzeitig zwei miteinander verwobene Sprachsysteme zu entschlüsseln: das mündliche und das schriftliche Deutsch.
Das Lernen einer Fremdsprache bedeutet die AneignungAneignung einer stark normgeleiteten SchriftspracheSchriftsprache, normgeleitete. Der Unterschied zwischen gesprochenem und geschriebenem Deutsch ist herausfordernd, da das Gesprochene viele Varietäten aufweist, die sich in Syntax und Morphologie sowie auf der Phonemebene von der normgeleiteten StandardspracheStandardsprache, normgeleitete unterscheiden. Im Schrifterwerb werden Lernende damit konfrontiert, dass das dialektal und umgangssprachlich gefärbte Gehörte dem Geschriebenen nicht entspricht. Sie müssen Ausdrücke der Alltagssprache revidieren und durch schriftsprachliche ersetzen. Sprachenlernen kann, im Sinne von Dietrich Krusches hermeneutischer Erklärung, als das Erfahren von Unbekanntem und Unüblichem gedeutet werden (Krusche 1985, 44). Laut Pakos und Akhmadeeva (2016, 91) determiniert die Herkunft der Lernenden die Fähigkeit, bestimmte PhonemPhoneme zu differenzieren und zu erkennen. Im Fremdsprachenunterricht vergleichen sie fremde Phoneme mit muttersprachlich ähnlichen – ähnlich heißt aber nicht gleich. Solche Vergleiche führen oft zu falschen Hypothesen und Generalisierungen.
In der Klassensituation der Alphabetisierung erwachsener Zweitsprachlernender (in der Fachsprache als L2-Lernende bezeichnet) sind im besten Fall mehrere Sprachen vertreten, ohne dass Personen mit derselben Muttersprache dominieren. In dieser für die Lernsituation günstigen Konstellation fehlt den Lehrkräften die Kenntnis der in der Klasse vertretenen verschiedenen Sprach- und Schriftkonventionen. Im Alphabetisierungsunterricht entsteht oft der Eindruck, dass Kursteilnehmende das Medium Schrift unter wesensverschiedenen Konditionen zu gebrauchen gewohnt sind: Ihre Textnachrichten sind häufig konzeptionell mündlich oder Mischformen mündlicher und schriftlicher Kommunikation (siehe Kapitel 1.2). In der Regel sind ihnen Prinzipien der Textgestaltung (Planen, Schreiben, Revidieren) unbekannt. Die meisten L2-Lernenden greifen bevorzugt auf das ihnen Bekannte zurück, d. h. auf muttersprachliche Normen, Textstrukturen und Textkohäsion konstruierende Sprachmittel, ohne sich näher mit dem FremdeFremde, dasn zu beschäftigen. So entstehen der Lehrkraft unverständliche Produkte – Texte oder Dialoge, die einen Versuch darstellen, sich auf Deutsch mit Hilfe vertrauter, abrufbarer Muster auszudrücken. Wer in den Alphabetisierungskursen für erwachsene Migrantinnen und Migranten unterrichtet, muss sich daher die Unmöglichkeit des Verstehens anderer Kulturen bewusst machen. Man hat in einer gewöhnlichen Kurssituation mit Menschen zu tun, die in unterschiedlichen Sprachen sozialisiert wurden, aus einem breiten Spektrum soziokultureller Umgebungen kommen und in für die Lehrperson fremden kulturellen Praktiken geübt sind. Der Kursraum ist der Ort des Nicht-VerstehenNicht-Verstehens, im besten Fall des zwischen Kursteilnehmenden und -leitenden gemeinsamen Verstehen-Wollens. Er ist zugleich aber ein Ort, an dem Missverständnisse so weit wie möglich der Klärung bedürfen, in einem Lernprozess, der in einer den meisten Beteiligten unbekannten Sprache verläuft. Bevor man mit der praktischen Alphabetisierungsarbeit beginnt, ist es daher ratsam, sich mit der Komplexität des (Nicht-)Verstehens auseinanderzusetzen.
Hermeneutiker wie Bernhard Waldenfels definieren das FremdeFremde, das aus soziologischer Sicht als die Nicht-Zugehörigkeit, als Distanz zu einer Gruppe; kulturelle FremdheitFremdheit bedeute daher Handlungssituationen, denen unser Wissensstand nicht gewachsen sei (Waldenfels 1998, 14). Der Fremdsprachenunterricht lässt sich demnach als Transfer für Wissen auffassen, das nötig ist, um handlungsorientiert zu agieren. Wie kommt aber der Transfer zustande: durch Vermittlung oder Übersetzung? Letztere bezieht sich nicht nur auf Wörter in der Fremd- und Muttersprache, sondern auch auf die jeweilige Situation, auf Artikulationsprobleme und Kulturtechniken. Nach Homi K. Bhabha (2010, 234f., 244f.) ist Übersetzung als Eins-zu-eins-Reproduktion einer originalen Idee unmöglich, denn bei jeder Übersetzung gebe es Fehler, Missinterpretationen oder nichtoptimale Lösungen. Übersetzen ist nach Bhabha die Auseinandersetzung mit einer anderen Kultur und mit Interpretationen.
Umfang der Alphabetisierungsarbeit mit fremdsprachigen Erwachsenen
L2-Lernende haben in Alphabetisierungskursen mit einem vielschichtigen hermeneutischen Problem des FremdeFremde, dasn zu tun:
Schriftsprachaneignung in einer fremden Sprache.
Meist fehlt die Erfahrung vom Entdecken des Fremden (Schriftsprache) in der Muttersprache.
Lateinische Schriftsprache als unbekannte Kulturtechnik.
Was höre ich? Wie schreibe ich es?
Deutsch als das Unbekannte im konzeptionell mündlichen Bereich (Sprachregister).
Wie spreche ich angemessen in der gegebenen Situation?
Deutsch als das Unbekannte im konzeptionell schriftlichen Bereich (Textkonventionen, Textkohäsion).
Wofür benutze ich die Schrift?
Fremde Textschemata als gedankliche Herausforderung. Unkenntnis des Handlungsablaufs.
Was soll ich in einer gegebenen Situation tun?
Fremdes Lernsetting (fehlende Kenntnisse der Metasprache, andere Vorstellung von der Aufgabenaufteilung zwischen Lernenden und Lehrenden und von der Evaluation eines Lernprozesses).
Lernsituation und vorausgesetzte Lernkonzepte entsprechen nicht dem, womit ich umzugehen weiß oder ggf. bereits Schulerfolge erzielte.
Unterschiedliche Auffassungen der Lehrkräfte und der Lernenden von dem, was Schule ist, führen oft zu Kategorisierungen wie „lern(un)gewohnt“ oder „schul(un)gewohnt“.
MissverstehenMissverstehen resultiert laut kulturwissenschaftlichen Theorien aus dem Verstehen-Wollen von etwas Unbekanntem, dem Interpretieren. Das reicht jedoch zur Erklärung des Miss- oder Nicht-Verständnisses in einer Unterrichtssituation nicht aus. Lernende und Lehrende einer (Zweit-)Schriftsprache haben die Aufgabe, ihr Wissen über die jeweils eigenen Herkunfts- und Ankunftskulturen zu reflektieren und, wenn nötig, zu korrigieren. Dies setzt ein bewusstes Wahrnehmen von fremden Phänomenen voraus. Unklar bleibt dabei, warum manche Phänomene einer Fremdsprache oft nicht einmal wahrgenommen werden.
Ein gängiges Beispiel für das Nicht-VerstehenNicht-Verstehen bzw. Nicht-Wahrnehmen-Können aus der Praxis der Alphabetisierung sind Artikulations- und Unterscheidungsprobleme vokalischer PhonemPhoneme. Für die meisten Deutschlernenden bereitet die Unterscheidung zwischen /ø/ und /o/ wie in den Worten „schön“ [ʃøːn] und „schon“ [ˈʃoːn]; bzw. zwischen <u> /u/ und <ü> /ʏ/ wie in den Worten „Kuchen“ [ˈkuːxn̩] und „Küche“ [ˈkʏçə] Probleme. Einerseits verleitet das Schriftbild zu falschen Folgerungen, andererseits fehlen diese Laute in vielen Sprachen wie im Italienischen, Portugiesischen oder im Persischen. Je nach Herkunftsland verschieben sich die Ausspracheprobleme. Kursteilnehmende z. B. mit kurdischer Muttersprache können nur mit Mühe und trotz intensiven visuellen und auditiven Trainings /o/ in „kochen“ und /u/ in „Kuchen“ bzw. /e/ „essen“ und /i/ „isst“ nur dann unterscheiden, wenn sie WortbildWortbilder im Gedächtnis im Detail speichern können. Auch in der Muttersprache alphabetisierte Lernende können trotz visueller Anleitung (unterschiedliche Buchstaben; Abbildung von Mund- und Lippenartikulation) die Lautbildung von /o/ und /u/ nicht mit Sicherheit und intuitiv unterscheiden.
Eine mögliche Erklärung dafür lautet: Das unbekannte PhonemPhonem wird durch ein bekanntes oder/und ähnliches ersetzt – ein Akt der sogenannten Substitution. In unserem Beispiel sind /o/ und /u/ bzw. /e/ und /i/ jeweils zwei sehr ähnlich klingende Phoneme, die ähnlich gebildet werden und wovon jeweils eines den Lernenden bereits bekannt ist. Laut strukturalistischer Linguistik gibt es auf der phonologischen Ebene Regelmäßigkeiten bei Substitutionen, d. h. ein phonologisches Merkmal oder mehrere entfallen, andere bleiben. Genauer gesagt: In unserem Beispiel wird die Unterscheidung „close“ – „close-mid“ – „open“ zwischen den velaren, gerundeten hinteren Vokalen /o/ (back, close-mid) und /u/ (back, close) bewusst oder unbewusst zwar wahrgenommen, kann jedoch mündlich nicht reproduziert werden; folglich wird sie jeweils mit dem bekannten gerundetem /o/ wiedergegeben.
Wenn die Artikulationsunterschiede doch in unserer unbewussten Wahrnehmung existieren, warum hapert es dann in der Unterrichtspraxis? Die Antwort aus didaktischer Sicht heißt: Weil man unterscheidende phonologische Merkmale (hier close – close-mid – open) nicht ausmachen kann. Daher sollten diese auf dem Papier oder anhand der Mundbewegungen hervorgehoben werden. Grundsätzlich bleibt aber das Wesentliche ungeklärt: Wird der Vokal /u/ als fremd oder als unbekannt oder gar nicht wahrgenommen? Ist die Wahrnehmung von Unbekanntem nur dank der Vermittlung im Fremdsprachunterricht möglich?
Viele der methodischen Grundideen zur Schulung der Wahrnehmung, wie z. B. die AnlautmethodeAnlautmethode, stützen sich auf Erfahrungen und Forschungsergebnisse mit Kindern. Letztere zeigen (z. B. Pakos/Akhmadeeva 2016, 91), dass Alter und Herkunft der Lernenden eine wesentliche Rolle beim Ausspracheunterricht in jeder Fremdsprache spielen; sie determinieren den Prozess der Distinktion fremder Laute (d. h. solcher, die im muttersprachlichen Lautsystem nicht vorkommen) und des Generierens, d. h. der Fähigkeit, diese Laute zu reproduzieren. Mehrsprachige Kinder können zunächst nur die phonologischen Elemente in der Zweitsprache wahrnehmen, die auch in ihrer Muttersprache vorhanden sind (vgl. Jeuk 2018, 53). Mit anderen Worten: Im Spracherwerbsprozess der Kinder soll in der ersten Phase die Identifizierung des Bekannten im Vordergrund stehen, erst dann folgt die Auseinandersetzung mit dem Unbekannten.
In der gesprochenen Sprache lassen sich Laute, Melodie, Prosodie nicht assoziationsfrei wahrnehmen. Eine unbekannte Sprache nimmt man zunächst als abstrakten Lautstrom wahr. Um diesen zu segmentieren und zu entschlüsseln, hat man weder ein geschultes Ohr noch ein minimales Wissen über die sprachlichen Regelmäßigkeiten (vgl. Beller/Bender 2010, 178–181). Dazu kommt, dass sich aus bloßen Lauten und Regeln keine oder nur wenige Bedeutungen erschließen lassen; man muss gleichzeitig über einen minimalen Wortschatz verfügen und diesen aktiv und gekonnt in diversen Situationen anwenden. Im optimalen Fall werden Laute von geübten Zuhörenden aus demselben Sprachraum automatisch im Kontext entziffert und rufen die intendierte Vorstellung hervor. Die ideale in Abb. 2a gezeichnete Sprechsituation ist im Alphabetisierungsunterricht mit Erwachsenen ohne Sprachkenntnisse kaum möglich.
Situationen des Verstehens im Sprachkurs (nach Schnitzler 2008, S. 8)
Lernende haben auch kein implizites Wissen über die unterrichtete Schriftsprache. Die laut Fachpersonen für die Schriftsprachenaneignung nötige phonologische Bewusstheitphonologisch-e Bewusstheit (dazu mehr im Kapitel 4.1) muss am Anfang mit geringstem Sprachmaterial aufgebaut werden. Eine im Sinne der phonologischen Bewusstheit ideale, in Abb. 2b gezeigte Reaktion auf das Gehörte findet daher in der DaZ-Alphabetisierung nie oder nur sehr selten statt. Um die Lautstrukturen zu fokussieren, braucht man hier einen Quereinstieg, eine Balance zwischen empirischem Erkunden und theoretischem Wissen. Neue Zugänge zum Formalen der Sprache, die auch das Inhaltliche mittragen, sind vonnöten.
Die Unterrichtsrealität in der DaZ-Alphabetisierung besteht wesentlich aus Situationen des Nicht-VerstehenNicht-Verstehens. Auch wenn Wörter korrekt herausgehört werden, fehlt den Lernenden die Kenntnis der Kontexte und Konventionen, um den vermittelten Sinn zu entschlüsseln. Bis die transportierten Inhalte erklärt werden, bleibt das Gehörte ein Klangknäuel (Abb. 3a). Oft kommt es auch vor, dass die Lernenden aus dem für ihre Ohren fremden Lautstrom nicht das entziffern, was sie hören, sondern das, was sie zu hören glauben (Abb. 3b). Das ergibt sich aus dem, was und wie sie wahrnehmen können. Wer „Hut“ als „gut“ verstanden hat, bleibt bei diesem Inhalt und fragt nicht mehr nach. Daher ist es im DaZ-Alphabetisierungsunterricht äußerst wichtig, dass die Lehrperson immer mitbedenkt, dass sie a priori nicht verstanden wird. Daraus folgt in der Praxis die Notwendigkeit, das (Nicht-)Verständnis immer wieder zu überprüfen. Erstens: Es gibt keine „einfachen“, international gebräuchlichen Wörter, die alle verstehen. Auch „Situation“ oder „sympathisch“ müssen kontextuell geklärt werden. Zweitens: Viele neue Wörter enthalten einen „vertrauten“ Kern, was zu Missverständnissen geradezu einlädt, wie im Fall von „gehören“ vs. „hören“.
Situationen des Nicht-VerstehenNicht-Verstehens im Sprachkurs
Sprachen zu unterrichten heißt, die Grenzen der Sprache, die Wittgenstein (2003, 86) so markant mit den Grenzen der jedem Individuum eigenen Welt gleichsetzte, auszudehnen und zu überschreiten. Lehrkräfte sind gehalten, die phonetischen Grenzen der Lernenden nicht zu akzeptieren und sie dadurch zur Wahrnehmung und (aktiven) Anwendung des Unbekannten zu zwingen. Dazu gehören nebst unbekannten PhonemPhonemen, MorphemMorphemen, syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen der Sprache auch neue LerntechnikenLerntechniken oder Methoden des Spracherwerbs sowie fremde Konzepte von Sprachhandlungen. Die meisten LehrwerkLehrwerke, die sich an die im Deutschen zu alphabetisierenden Erwachsenen richten, gehen von den häufigsten GraphemGraphemen des Deutschen aus und sollen durch unterschiedliche methodische Konzepte (siehe Kapitel 3.2) zur Erweiterung des zielsprachlichen Lautinventars führen. Für L2-Lernende ist dabei eine Erkenntnis wichtig: Die Beherrschung der Schrift allein genügt nicht zum Textverständnis; es braucht eine Übersetzung aus dem Schriftlichen ins Mündliche und eine Beschäftigung mit Unbekanntem.
Fremdsprachige Erwachsene lernen mit unterschiedlichen Kompetenz- und Kenntnisprofilen in einer Gruppe oder Klasse. Die RahmenbedingungenRahmen-bedingungen in der fremdsprachlichen Alphabetisierung erlauben in den allermeisten Fällen nicht, primäreprimärer Analphabetismus und sekundäre Analphabetensekundärer Analphabetismus, Erst- und ZweitschriftlernendeZweitschriftlernende in getrennten Gruppen zu fördern. Auch ist keine gemeinsame Vermittlungs- oder UnterrichtsspracheUnterrichtssprache gegeben, auf die Lehrkräfte zurückgreifen können, um vorhandene Schriftkenntnisse, Lese- und Schreibstrategien und Kenntnisse von Konventionen zu erkennen. Sowohl die Unterrichtssprache als auch die Kompetenzprofile müssen im Unterricht, d. h. während der Alphabetisierungsprozesse mit den Lernenden erarbeitet werden. Die Alphabetisierungsklasse ist nie homogen. Zaghaftes Vorankommen im Schrifterwerb der Zielsprache kann oft darauf zurückgeführt werden, dass Lernende aus soziokulturellen Kontexten mit vorherrschender MündlichkeitMündlichkeit kommen, weshalb sie bisher nur wenig oder keine Berührung mit dem Medium Schrift hatten. Grundsätzlich bildet daher, methoden- und lehrwerkunabhängig, die gesprochene Sprache die Ausgangsbasis für den Lernprozess (vgl. Bachtsevanidis 2022, 119). Auf der MündlichkeitMündlichkeit aufbauend, sollte der Alphabetisierungsunterricht Lernende in die Komplexität der SchriftlichkeitSchriftlichkeit einführen.
In der Geschichte der Sprachwissenschaften änderte sich die Auffassung über das Verhältnis von Schrift- und gesprochener Sprache. Die Schriftsprache wurde nicht selten priorisiert, auch weil in ihr Regelmäßigkeiten ausgeprägt sind. Dank der Forschung zu angewandter Linguistik und Soziolinguistik rückte der mündliche Charakter der Sprache wieder in den Vordergrund. Eine sehr gute Analyse dieser Neubewertung lieferte Walther J. Ong (1987, 13–17). Sein Vergleich von MündlichkeitMündlichkeit und SchriftlichkeitSchriftlichkeit, der sowohl für die Literatur- als auch für die linguistische Forschung maßgebend war, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Mündlichkeit
Schriftlichkeit
flüchtig in Raum und Zeit
dauerhaft in Raum und Zeit
zyklisch wiederkehrend
linear – je nach Kulturkreis von links nach rechts, von rechts nach links, von oben nach unten
paralleler Klang möglich
Paralleles kann visuell nicht gleichzeitig wiedergegeben werden
aggregativ – Formeln, Bündel von Einheiten
und
additiv – Teile werden z. B. häufig mit „und“ verbunden
analytisch und subordinierend;
Schrift ermöglicht:
Zurückblicken (zurückblättern im Buch)
Zerlegen (von Sätzen und ihrer Bedeutung)
Strukturieren (zeitlich und logisch)
wiederholend und nachahmend,
Kontinuität voraussetzend
individuell (Original vs. Plagiat)
situativ und nah, unmittelbar mit dem Publikum interagierend
abstrakt und distanziert
entfernt vom Publikum
subjektiv und einfühlend
objektiv
Gegenwartsirrelevantes entfällt
Wissen, auch irrelevantes, wird bewahrt
Auch wenn MündlichkeitMündlichkeit in der heutigen Sprachförderung Priorität genießt, fällt es Lehrpersonen, die selbst versierte Lesende sind, besonders am Anfang ihrer Unterrichtspraxis schwer, sich vorzustellen, wie eine primär mündliche Kultur funktioniert; eine Kultur, in der man sich nur auf Klang verlässt, keine visuellen Zeichen (auch keine Piktogramme oder die im Evaluationsprozess so beliebten Emoticons) kennt und weder digital noch analog etwas nachschlägt. Sprachliche Handlungen sind flüchtig, denn Laute existieren nur im Moment, in dem sie entstehen, Schrift hingegen überdauert diesen und kann Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte später gelesen werden. Mündliche Kulturen besitzen keine Textarchive (Wörterbücher, Regelwerke, Tabellen oder Inserate). Sie bedürfen der Kommunikation und setzen mnemotechnische Muster voraus für ihre Wissensvermittlung und -überlieferung sowie für das Konstruieren eines kollektiven Gedächtnisses (vgl. Assmann 2011, 62–66). Solche Muster können Reime (Alliteration, Assonanz), formelhafte Ausdrücke („es war einmal“), Wiederholungen (z. B. Refrains in Liedern, wiederkehrende Beschreibungen in Erzählungen) und standardisierte thematische Anordnungen sein.
Seit den 1990er Jahren geht man in der Forschung weniger von der Gegenüberstellung von MündlichkeitMündlichkeit und SchriftlichkeitSchriftlichkeit und mehr von epochenspezifischen Mischformen aus. Auch die Praxis unterstützt die Annahme von Mischformen. Die an den DaZ-Alphabetisierungskursen Teilnehmenden stammen meistens aus mündlich dominierten soziokulturellen Umgebungen. Nicht selten handelt es sich um Personen, die bereits in ihrer ersten Sprache alphabetisiert wurden, aber Schrift nicht für sprachliche Handlungen benutzen, oder um solche, die noch in keiner Sprache alphabetisiert wurden, obwohl ihre Muttersprachen eine Schriftsprache vorweisen. In diesem Sinne entsprechen die Kulturen der Heimatländer nicht vollständig den bei Ong so plastisch beschriebenen primär mündlichen oder schriftlichen Kulturen. Sprache und Schrift stehen im Umfeld der L2-Lernenden in einem bestimmten Verhältnis zueinander, das ihnen aber im Wesentlichen fremd geblieben ist. Das heißt, dass solche Lernende Schwierigkeiten haben werden, wenn sie sich Sprache als lineares Kontinuum (von regelgetreu aneinandergereihten Worten und Sätzen sowie von Lauten) vorstellen müssen. Trotz phonologischer Sensibilisierung (Anlaut- und Auslauttraining) werden sie sich wohl erst im Akt des Schreibens die Linearität der Schriftsprache verbildlichen können. Ohne Zweifel sind auch die mnemotechnischen und sprachstrukturellen Unterschiede von Bedeutung, vor allem, wenn wir im hermeneutischen Sinne davon ausgehen, dass Schriftlernende beim Verstehen auf bereits eingeübte Konzepte zurückgreifen. Wenn die hermeneutische Annahme und Ongs Beschreibung mündlicher Kulturen zutreffend sind, können Anlaut- und Auslautreime (Alliteration in Form von Leseteppichen; Assonanzen in Form von Wortketten wie Fisch-Tisch, oder Hose-Dose-Rose) den Schrifterwerb mnemotechnisch tatsächlich entlasten.
SchriftlichkeitSchriftlichkeit und MündlichkeitMündlichkeit lassen sich als Kontinuum auffassen, denn es ist durchaus möglich, dass ein Mensch mündliche Formen in der Schriftlichkeit verwendet. Dieser Gedanke liegt dem Modell von konzeptionellerSchriftlichkeit bzw. Mündlichkeit zugrunde (Koch/Oesterreicher 1985). Schriftlichkeit wird hier in Ongs Sinne als Sprache der Distanz, Mündlichkeit als die der NäheSprache der Nähe und der Distanz charakterisiert. Demnach unterscheiden sich sprachliche Äußerungen je nachdem, wie sie realisiert werden: lautlich (phonisch), d. h. medial mündlich (Reklamation am Schalter), oder visuell (graphisch), d. h. medial schriftlich (Reklamationsbrief), oder danach, ob den sprachlichen Äußerungen auch verschiedene Konzepte (Vortrag eines Juristen über Reklamation; Beratung eines Nachbarn) zugrunde liegen.
Die BuchstabensyntheseBuchstabensynthese ist die technische, die Kenntnis der Sprachregister die soziale Annäherung an SchriftlichkeitSchriftlichkeit. Versierte Lesende und Schreibende können nicht nur die Technik der BuchstabensyntheseBuchstabensynthese anwenden, sondern benutzen souverän ein der Situation und dem verwendeten Medium angemessenes Register schriftlicher und mündlicher Kommunikation. Die ÜberforderungÜberforderung mit schriftsprachlichen Konzepten zeigt sich oft im fehlenden Verständnis der Aufgabenstellung. Lernende produzieren zwar Schriftstücke, in denen sich jedoch nur ihre eigene inhaltliche Orientierungslosigkeit offenbart (Abb. 4). Das geforderte Agieren in einer Als-ob-Situation, auf dem jeder Fremdsprachenunterricht basiert, wird hier nicht erfüllt, da die/der Schreibende nicht imstande ist, sich in eine imaginierte Situation hineinzuversetzen und nach vorgegebenem Schema zu handeln oder das Vorgegebene zu variieren.
Fehlende Konzeptkenntnisse der Schriftsprache