Alphaluchs (Alpha Band 3) - Sandra Henke - E-Book

Alphaluchs (Alpha Band 3) E-Book

Sandra Henke

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Beschreibung

Als ein Werluchs Dr. Camille Brass überfällt, fühlt sie sich trotz Angst zu diesem wilden atemberaubenden Gestaltwandler hingezogen. Doch Luca ist ein Killer! Er hat die blutrünstige Seite der Raubkatze nicht unter Kontrolle. Ihn zu lieben, brächte Camille in Lebensgefahr. Aber er kann genauso wenig von ihr lassen, wie sie von ihm. Plötzlich verschwindet Kristobal, und Luca gerät ins Visier von Claws Rudel und den Vampiren. Sandra Henke weiß auch in diesem dritten Band der Alpha-Reihe zu fesseln und zu begeistern!

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Sandra Henke

Alphaluchs

Teil 3 der Alpha-Reihe

1. Auflage März 2012

Titelbild: Agnieszka Szuba

www.the-butterfly-within.com

©opyright 2011 by Sandra Henke

Lektorat: Franziska Köhler

Satz: nimatypografik

ISBN: 978-3-939239-91-8

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder

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www.ubooks.de

Inhalt

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Sandra Henkelebt in der Nähe von Düsseldorf. Sie schreibt für mehrere große Verlagshäuser und gehört zu den beliebtesten Liebesroman- und Erotikautorinnen Deutschlands. Besonders mit ihren Spannungsromanen bei Heyne und der Alpha-Reihe bei Ubooks hat sie sich eine große Stammleserschaft erschrieben.

Ihre Bücher handeln zum Beispiel von dominanten Vampiren und Gestaltwandlern, romantischen Erziehungsspielen und Krimihelden, die undurchschaubar und genauso unwiderstehlich sind. Eine spannende Handlung liegt der Autorin ebenso am Herzen, wie ein starkes Knistern und eine abwechslungsreiche Erotik, die den Weg sexueller Selbstfindung erzählt.

Prolog

Wie ein Alpha thronte Luca über den Werkatzen.

Aber nur weil er auf einem Felsbrocken stand. In ihren Augen las er keineswegs Unterwürfigkeit oder gar Ergebenheit, sondern Misstrauen und Groll. Er musste überlegt vorgehen, seine Worte mit Bedacht wählen, denn die Diskussion war so hitzig wie nie zuvor. «Wir müssen vorsichtiger sein.»

«Schreib uns nicht vor, was wir zu tun und zu lassen haben!» Drohend machte Ruud einen Schritt auf ihn zu. Seine Boots knirschten auf dem sandigen Untergrund, den normalerweise Ende März Schnee und Eis bedeckten. Doch die Temperaturen waren auf ungewöhnliche vier Grad plus gestiegen und die weiße Landschaft schmolz ebenso wie die Vernunft einiger Therianthropen.

Wegen der Klimaerwärmung spielt die Natur verrückt, dachte Luca zerknirscht, und die Gestaltwandler spüren das am eigenen Leib. Selbst sein Pardelluchs reagierte gereizt, er begehrte, die ständigen Reibereien mit Ruud endgültig zu klären. Aber wenn es eben ging, vermied Luca gewalttätige Auseinandersetzungen, schließlich waren die Clanmitglieder Menschen und in demokratischen Staaten aufgewachsen, keine Barbaren, die jeden Zwist mit den Fäusten regelten.

Er ließ sich auf sein rechtes Knie nieder, um mit den versammelten Werbrüdern und -schwestern auf Augenhöhe zu sein. Der eiskalte Wind, der vom Amundsen-Golf über die Klippen zu ihnen wehte, brannte in seinen Augen, sodass er blinzeln musste. «Das will ich gar nicht, sondern appelliere an eure Vernunft.»

«An unseren Menschenverstand, meinst du wohl.» Abfällig lachte der Mann, der erst vor einem Monat aus Südafrika nach Kanada eingewandert war und sich für etwas Besseres hielt, weil er sich in einen Kaplöwen verwandeln konnte, eine Rasse, die im neunzehnten Jahrhundert ausgestorben war. «Aber wir sind keineHomo sapiens, begreif das endlich, Luca.»

«Wenn ihr weiterhin wahllos Mensch und Tier anfallt, wird die kanadische Regierung über kurz oder lang auf unsere Kolonie aufmerksam werden.» Auf Victoria Island, der zweitgrößten Insel Kanadas, die doppelt so groß wie Neufundland war, gab es nur die Ortschaften Cambridge Bay und Ulukhaktok – gut für die Katzen, da sie viel Auslauf brauchten, aber schlecht, wenn man schnell von der Insel flüchten oder untertauchen musste. Zudem sanken die Temperaturen im Winter manchmal auf bis zu dreißig Grad minus und das Eiland zeigte sich von einer kargen Schönheit. Viele der Werkatzen vermissten zunehmend die Wälder, das zerrte an ihren Nerven. Auch Luca sehnte sich danach, stundenlang durch die Algarve zu streifen, übermütig auf Oliven-, Mandel- und Johannisbrotbäume zu springen, während die Sonne auf sein Fell schien. In Faro war es um diese Jahreszeit bereits an die fünfzehn Grad warm. Eine kalte Brise ließ Luca erschaudern und sein Luchs gab einen Klagelaut von sich.

«Wir sind nun mal Raubkatzen.» Ein dunkles Grollen stieg aus Ruuds Kehle auf. «Auch du.»

«Aber keine Schlächter!» Lucas Blick glitt zu Tiago, der ihm zunickte. Madalena dagegen kniff die Lippen zusammen und schaute ihren Gefährten eindringlich an.

«Wir haben uns nach Fort Collinson zurückgezogen, um unsere Natur auszuleben, und das tun wir.» Ram Avtar Singhs Bengaltiger lauerte nah unter der Oberfläche, was Luca an seinen Katzenaugen erkannte. Er glaubte, die Gattung Königstiger würde ihn privilegieren, die Kolonie zu regieren. Seinen wahren Namen kannte niemand. Als er dem Clan vor sechzehn Wochen beigetreten war, hatte er sich nach dem Gott Rama benannt und Singh – König – angefügt, angeblich um seinem Tier zu huldigen, doch Luca wusste es besser.

Stöhnend erhob sich Luca. Die Menschen hatten das Fort verlassen, nachdem man die Post 1939 nach Ulukhaktok umgezogen hatte, und die Insel zählte nur um die eintausendachthundert Bewohner, aber die Bevölkerung wurde langsam skeptisch, da sie hie und da Kadaver fand, darunter auch menschliche Überreste. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie das Fort aufsuchten. «Das bedeutet nicht, dass ihr euren Trieben freien Lauf lassen dürft. Ihr seid zu kaltblütigen Mördern geworden.»

«Auch du tötest», warf Ruud triumphierend ein. Eine Brise fuhr von hinten durch sein blondes Haar, sodass es für einen Moment von seinem Kopf abstand wie eine Löwenmähne.

«Aber keine Menschen, wie ihr es tut. Großkatzen töten, um zu überleben. Ihr dagegen tötet aus reiner Jagdlust.» Luca wusste, dass er sich zu weit vorwagte. Er stand bereits auf dünnem Eis, aber vielleicht würde die nackte und brutale Wahrheit einigen ihrer Gefolgsleuten die Augen öffnen. «Die Macht, die ihr spürt, wenn ihr euer Opfer hetzt, ist wie eine Droge. Ihr seid süchtig danach geworden und habt eurem Tier mehr und mehr die Gewalt über euch überlassen. Eines Tages wird es eure menschliche Seite unterdrücken und seinen Wirt übernehmen.»

«Das behauptest du nur, weil der Luchs in dir dich anwidert, sonst würdest du ihn nicht mit einem Parasiten vergleichen.» Rams spitze Bemerkung traf nicht nur Luca mitten ins Herz, sondern ließ die umstehenden Clanmitglieder aufgeregt tuscheln. Lediglich eine Handvoll wagte es, der Diskussion am Kliff zu lauschen, ausgerechnet diejenigen, die Ruuds und Rams Gesinnung teilten. Der Großteil jedoch hatte sich scheu ins Fort zurückgezogen, weil die Aggressionen ihre Katzen zu sehr beunruhigten.

«Ich lehne mein Tier nicht ab! Ich behalte es nur im Griff.» Lucas Luchs wollte sich behaupten, er verlangte zu kämpfen, aber Luca presste die Lippen fest aufeinander, sodass das Knurren nicht nach außen drang, und erinnerte ihn daran, dass seine kleine Rasse einem Bengaltiger und einem Kaplöwen nicht viel entgegensetzen konnte.

Verständnislos schüttelte Ruud den Kopf. «Man kann Raubkatzen nicht zähmen, du Narr.»

«Ihr müsst sie kontrollieren!» Lucas Tier fauchte. Er versuchte es zu besänftigen, doch das funktionierte nicht, also unterdrückte er es mit Gewalt. Eine Katze ließ sich zu leicht herausfordern, sie brauchte eine starke Hand, um ihren Trieben nicht nachzugeben. Der Mensch mit seinem Verstand und Willen musste die Oberhand behalten, fand er, sonst verwilderte der menschliche Anteil mitsamt seiner Eigenschaften wie Vernunft, Mitleid und vor allen Dingen dem Gewissen.

Ruud stellte sich breitbeinig vor den Felsblock und baute sich in seiner vollen Größe vor ihm auf. «Ist das ein Befehl?»

«Du bist nicht unser Alpha!», fauchte Ram Avtar Singh und erntete Kopfnicken von den Umstehenden.

«Nein, das bin ich nicht», gab Luca zu, auch wenn er sich mehr für die Kolonie einsetzte als jeder andere. «Feliden sind keine Rudeltiere.» Wer konnte das besser wissen als er selbst? Sein Pardelluchs drängte heraus, weil er Gefahr witterte und sich verteidigen wollte. Aber Luca durfte sich nicht verwandeln, da die Werkatzen das als Vorbereitung auf einen Angriff deuten würden.

«Warum versuchst du dann, aus uns ein Rudel zu machen?», fragte Ruud provozierend.

Luca vermied es, ihn darauf hinzuweisen, dass Löwen die einzige Großkatzenrasse war, die in Gemeinschaftsverbänden lebte, denn Ruud ging es nicht um die Kolonie, sondern er vertrug es nicht, dass viele Gestaltwandler Luca aufgrund seines Engagements für den Clan folgten und zu ihm aufschauten. Jeden Verbesserungsvorschlag wertete er als Affront. Von Anfang an war Luca ihm ein Dorn im Auge gewesen. «Wir verfolgen doch alle dasselbe Ziel – in Ruhe und Frieden zu leben.» In diesem Moment waren sie weit entfernt davon.

Ruud schob seine Lippen zurück. Zum Vorschein kamen die spitzen Fangzähne seines Kaplöwens. «Du willst uns beherrschen.»

«Unsinn!» Luca bestand nicht darauf, den Clan anzuführen, aber keinesfalls überließe er die Führung Ruud oder Ram, weil sie ihren Tieren zu viele Freiheiten gewährten. Unter ihrer Leitung würden die Werkatzen bald zu Wilden werden, ohne Gesetz und Moral.

Wie ein Tiger in einem Käfig lief Ram vor dem Felsblock auf und ab. «Du führst dich auf wie ein Gott.»

«Jetzt übertreibst du aber», warf Tiago zaghaft ein. Doch da der Südafrikaner neben ihm knurrte, wich er einen Schritt zurück, stellte sich vor Madalena und schwieg. Unterwürfig senkte er seinen Blick. Seine Gefährtin legte ihre Hände an seine Oberarme und zog ihn zurück an den Rand der Versammlung.

Luca spürte Lenas Furcht. Nie hatte er geplant, den Clan der Werkatzen anzuführen. Er hatte sich lediglich mehr engagiert als jeder andere, und da war es halt passiert – er war in die Führungsrolle hineingewachsen und hatte versucht, die Gestaltwandler aus allen Nationen und Gattungen zu vereinen. «Weil es der einzige Weg ist, um unerkannt zu bleiben. Wir müssen an einem Strang ziehen.»

«Nur weil dir die Weibchen zu Füßen liegen, macht das noch keinen Cristiano Ronaldo aus dir. Dieses Team braucht keinen Kapitän.» Ruuds Blick schweifte durch die Runde. Er lächelte zufrieden, da er Zustimmung erntete. «Du verleugnest dein wahres Wesen und verhältst dich wie ein Mensch, der mit seinem Tier ab und zu Gassi geht.»

Luca war sich sicher, dass einige ihm nur aus Angst beipflichteten. «Ihr missversteht mich.»

«Du siehst dich getrennt von deinem Tier. Aber wir sind nicht zwei.» Abrupt blieb Ram stehen und tippte mit dem Zeigefinger auf seine Brust. «Wir sind eins.»

Ein tiefes Knurren stieg aus Lucas Kehle auf. Er wollte einen Kampf vermeiden, nicht aus Furcht, sondern weil eine gewalttätige Auseinandersetzung ein falsches Zeichen setzte. Aber er schreckte vor einer Konfrontation auch nicht zurück! Nicht umsonst sahen manche ihn als Alpha an. Er konnte nicht nur verbal für seine Ziele einstehen, sondern hatte auch zahlreiche Zweikämpfe gewonnen. «Ihr wollt mich wohl falsch verstehen.»

«Hüte deine Zunge», ermahnte ihn Ruud. Haare wuchsen aus seinem Kinn, die man im ersten Moment für einen Bart hätte halten können, doch sie waren Teil seiner Mähne.

Ram fuhr mit dem Handrücken über seinen Mund, wie eine Katze, die ihre Pfote leckt. Von unten herauf schaute er Luca an, in seinem Blick lag Verschlagenheit. «Du möchtest, dass wir unsere Pantherinae unterdrücken.»

«Dass wir uns dir unterwerfen.» Bei Ruuds Worten nahm Luca wahr, dass der Duft, den er aussonderte, beißender wurde. Alarmiert stellte sein Luchs das Fell auf.

Rams Schopf bekam bereits die rotgelbe Färbung seines Tigers. Immer stärker traten schwarze Streifen hervor. «Du betrachtest die Kolonie als deinen Staat.»

«Uns als Untertanen.» Ruud gab ein markerschütterndes Löwengebrüll von sich. «Aber Katzen fügen sich nicht. Sie haben ihren eigenen Kopf.»

Mit Besorgnis bemerkte Luca, wie Unruhe unter den stummen Zuhörern entstand. Ihre Mienen wurden immer feindseliger. Er erhob sich und seine Schultern fühlten sich an, als stemmte sich ein Riese darauf. «Alles Lügen!»

Ruud fuhr seine Krallen aus. Pelz spross aus seinem Handrücken, während sein Arm noch menschlich war. «Klagst du uns an, zu lügen?»

«Forderst du uns heraus?» Kaum hatte Ram Avtar diese Frage ausgesprochen, wuchs sein Kinn nach vorne, und so wusste Luca – der diese Verwandlung oft genug selbst vollzogen hatte –, noch bevor sich die Fangzähne des Bengaltigers aus dem Kiefer schoben, dass sich gerade das Diastema bildete, eine Furche, in der die dolchartigen Eckzähne ihren Platz fanden, wenn die Katze ihren Mund schloss. Rams Mimik verzerrte sich grotesk.

Sein Luchs zeigte sich kämpferisch, aber nicht Luca – er kannte seine Grenzen. Er und sein Pardelluchs konnten Ruud, der in der Gestalt des Kaplöwens an die zweihundertfünfzig Kilo wog und mit einem Hieb seiner kräftigen Tatzen ein Genick brechen konnte, und Ram, der als Bengaltiger zwei Meter hoch und acht Meter weit sprang, nicht viel entgegensetzen. Außerdem formierten sich ihre Freunde hinter ihnen wie eine Armee.

Doch keinesfalls würde er wie ein Feigling fliehen! Starrköpfig blieb er stehen, obwohl die Meute vor ihm hin- und herstreifte und er nicht den Hauch einer Chance besaß. Auch er hatte Krallen und scharfe Zähne. Auch er war von Natur aus ein Kämpfer. Und er war bereit, seine Ansichten zu verteidigen, notfalls mit Gewalt.

Plötzlich sprang ein junger Rotluchs auf den Felsbrocken vor Luca, machte einen Katzenbuckel und fauchte.

«Wie niedlich!» Zuerst belächelte Ruud ihn, dann holte er aus, um ihn mit einem einzigen Schlag vom Felsen zu wischen.

Im letzten Moment fing Luca seine Hand ab, aus der bereits spitze Klauen ragten. «Hey! Miss dich gefälligst mit deinesgleichen.»

«Meinst du damit etwa dich?» Deutlicher Spott lag in Ruuds Reibeisenstimme. Mit einer Kralle seiner freien Hand ritzte er ein X in die Stelle hinter Lucas Ohr.

Noch während Lucas Luchs an die Oberfläche schoss, spürte er, wie Blutstropfen an seinem Hals herabliefen. Die Wunde brannte, als wäre Ruuds Kralle mit Gift bestrichen gewesen. Er ahnte, dass sein Gegner das Clanzeichen durchgestrichen hatte. Ruud, Ram und einige andere verweigerten die Tätowierung – eine Pfote, die brüderlich auf einer zweiten ruhte als Zeichen der Gemeinschaft –, genauso wie sie prinzipiell alles infrage stellten, was Luca vorschlug. Drohend knurrte er.

Ram schnalzte und sagte abfällig, ja, beinahe mitleidig: «Du und deine Ideale. Behalte sie für dich. Wir wollen sie nicht.»

«Denn du bist nicht wie wir. Wir stehen zu unserem Tier und gewähren ihm genauso viel Freiheit wie unserer menschlichen Seite.» Blitzschnell riss Ruud sich los und schlug Luca gegen die Schultern, sodass er auf dem Rücken landete.

Aus dem Augenwinkel heraus sah Luca, dass ein Rotluchs zum Angriff ansetzte. Die anderen würden ihn zerfetzen. Er ignorierte den Schmerz in seinem Rückgrat, blendete die sich heranpirschenden halb verwandelten Werkatzen aus und achtete nicht auf den Druck, der sich in seinem Brustkorb aufbaute, als würde dieser jeden Moment bersten, weil sein Luchs herausdrängte.

«Verzeih, Lynx», rief er, bevor er seine Beine anzog, sie kraftvoll ausfuhr und den einzigen Gefährten, der ihm zur Unterstützung herbeigeeilt war, vom Felsen stieß.

Indem Luca ihn aus der Gefahrenzone brachte, schenkte er seinen Gegnern einen Vorteil. Sofort stürzten sie sich auf ihn. Sie knieten sich neben ihn auf den Fels und schlugen wie von Sinnen auf ihn ein. Verzweifelt versuchte Luca sich zu verwandeln, aber durch die Hiebe zog sich sein Luchs tief in sein Inneres zurück. Er wusste, er war gegen diese Übermacht chancenlos, ebenso wie Lynx. Dennoch kämpfte Luca um sein Leben. Er wehrte sich, so gut er konnte, musste dadurch aber auch seine Deckung aufgeben. Als ein Boxhieb seine Stirn traf, lag er einige Sekunden benebelt einfach nur da. Erst einige Zeit später merkte er, dass die Schläge und Tritte aufgehört hatten. Doch seine Kontrahenten ließen keineswegs von ihm ab. Sie setzten sich auf seine Beine und Arme und fesselten ihn dadurch an den Stein.

«Ausgerechnet du willst uns anführen, du, der sein Tier geißelt, vor der Welt versteckt und seine Triebe unterdrückt.» Ruud spuckte ihm ins Gesicht.

Rechtzeitig konnte Luca sein Gesicht abwenden, sodass der Speichel ihn nur am Ohr traf. Aber das war schon Schande genug. Er rief seinen Luchs, befahl ihn an die Oberfläche, doch er hatte ihn so oft in sein Inneres zurückgedrängt, dass sein Kater sich nun weigerte hervorzukommen. Verräter, dachte Luca und konnte es ihm gleichzeitig nicht verübeln.

Sein ausgezeichnetes Katzengehör befähigte ihn, Schritte zu hören, die sich entfernten. Sie gehörten zu zwei Personen. Eine trat so leicht auf, dass das Geröll unter ihren Boots kaum knirschte, die andere war schwerer, eindeutig ein Mann, der sich davonschlich, haderte und dann von der Frau weiter in Richtung Fort gezogen wurde.

Zwei Freunde verloren, dafür eine Handvoll Feinde gewonnen – was für eine scheiß Bilanz, dachte Luca. Sein Herz krampfte sich zusammen. Er musste allein mit einer Horde wild gewordener Therianthropen fertig werden.

Plötzlich tauchte eine Nadel in Ram Avtars Hand auf. Überrascht und verunsichert weiteten sich Lucas Augen. Die Härchen auf seinem Körper stellten sich auf, doch sein Tier verkroch sich in den hintersten Winkel seines Ichs.

Der Rotluchs gab ein Gejaule von sich, das Luca durch Mark und Bein ging und selbst seinen Kuder tief in seinem Inneren erreichte. Danach hörte Luca Lynx nicht mehr. Wütend lugte sein Luchs aus seinem Versteck. Er knurrte drohend und diesmal hielt Luca ihn nicht zurück. Zornig versuchte er sich loszureißen, aber die Werkatzen hielten ihn fest.

Ram holte ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche und drückte auf den Zünder. Provozierend schwang er die Flamme hin und her. Er lächelte Luca über das Feuer hinweg an. In aller Seelenruhe erhitzte er die Spitze der Nadel.

Lucas Zorn schwang in Panik um. Was hatten diese Monster vor? Jawohl, Monster! Beleidigt heulte sein Luchs auf, doch Luca beruhigte ihn, denn er meinte keineswegs ihre animalische Seite, sondern ihre menschliche.

Die Männer hielten sein Gesicht wie in einem Schraubstock. Langsam senkte Ram die heiße Nadel nieder. Er hielt Lucas rechtes Lid hoch. Luca roch Angstschweiß – seinen eigenen!

«Seid ihr von Sinnen?», brüllte er und zerrte an seinen menschlichen Fesseln. Die Nadel schwebte dicht über seinem Auge. Sein Körper verkrampfte sich. Sein Herz schlug so schnell, dass es drohte, sich zu überschlagen. «Was ist nur in euch gefahren?»

«Raubkatzen.» Ram kicherte und hielt noch einmal die Feuerzeugflamme an die Nadel. «Genauso wie in dich. Wir werden dir jetzt Katzenaugen machen, damit du deine wahre Natur nie wieder verstecken und dein Tier nie wieder verleugnen kannst, nicht einmal in Menschengestalt.»

In einem Moment spürte Luca noch die Hitze des Feuers, im nächsten stach die Nadelspitze auch schon in seine Pupille. Er schrie. Und schrie. Und schrie. Der Schmerz war mehr, als er ertragen konnte. Doch er war außerstande, seinen Kopf auch nur einen Millimeter zu drehen oder sein Lid zu schließen, und war seinen Peinigern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Während Ram die Nadel nach oben führte und sie seine Iris durchstieß, brüllte Luca sich die Seele aus dem Leib. Er drohte wahnsinnig zu werden. Tränen liefen aus seinen Augenwinkeln, sein Körper verkrampfte sich und er biss seine Zähne so fest aufeinander, dass er Angst hatte, sie könnten zersplittern.

Plötzlich schoss sein Pardelluchs an die Oberfläche.

Nie zuvor hatte sich Luca so schnell verwandelt. Normalerweise brauchte er Ruhe dazu, als müsste sein Unterbewusstsein regelrecht überlegen, welche Veränderungen es Schritt für Schritt in der richtigen Reihenfolge und behutsam einleiten musste. Doch durch die Qualen, die den Menschen schwächten, übernahm sein Tier so rasch die Kontrolle, dass sein Körper beinahe auf magische Weise zerfloss, ihm Krallen, ein mörderisches Gebiss und Fell wuchs.

Durch die geringe Größe seines Luchses entwand sich Luca seinen Angreifern. In Windeseile schlüpfte er aus seiner Kleidung und zerfetzte dem ersten das Gesicht. Dieser taumelte rückwärts, ebenso wie der Mann neben ihm, der schließlich kreischend floh.

Luca zögerte keine Sekunde und stürzte sich auf den nächstbesten. Es dauerte keine Minute und Rams Hände waren nur noch blutige Stümpfe.

Ruud, der inzwischen die Gestalt seines Kaplöwen angenommen hatte, griff ihn brüllend an. Als wäre er tollwütig, hakte Luca seine Krallen in seinen Kiefer, zog seinen Kopf hoch und riss ihm die Kehle heraus. Blut tropfte von seinem Maul. Er schüttelte sich, rote Tropfen besprenkelten den Felsblock.

Knurrend wand er sich an Ram Avtar Singh, der rückwärts stolperte. Er fiel zu Boden, die blutigen Stümpfe erhoben. Dann verwandelte auch er sich. Gnadenlos attackierte Luca den Königstiger, der so viel größer war als sein Pardelluchs, doch an diesem Tag konnte Ram nur verlieren. Denn der Schmerz hatte etwas hervorgelockt, vor dem sich Luca mehr fürchtete als vor seinen Feinden – die Bestie in sich. Sie war stärker als er, brutaler, jähzorniger und folgte kompromisslos ihrem Rachedurst.

Luca fiel in einen Blutrausch.

Eins

Lupus musste über Nanouks sauertöpfische Miene lächeln. «Beziehungen sind nie einfach.»

«Wie bitte?» Sie schüttelte die Regentropfen aus ihrem Schopf, als wäre sie in der Gestalt ihrer Timberwölfin.

Die Eingangstür des Nostalgia Playhouse fiel hinter Nanouk ins Schloss. Caleb, der menschliche Wächter der Vampire, verriegelte die Pforte des Theaters. Beiläufig strich er über seine Glatze, die durch die Hitze im Gebäude vor Schweiß glänzte, und verschwand im Bühnensaal, um die nächste Aufführung vorzubereiten.

Theodore trat aus dem Schatten der Garderobe, in die er sich zurückgezogen hatte, damit das Tageslicht, das bei Nanouks Eintreten ins Foyer gefallen war, ihn nicht erfasste. Draußen regnete es zwar in Strömen und das diffuse Licht tötete ihn nicht gleich, dennoch konnte er sich Verbrennungen zuziehen, wie er bereits am eigenen Leib erfahren hatte. «So gut sie auch sind, irgendwann gibt es immer Unstimmigkeiten. Wichtig ist, miteinander darüber zu reden.»

«Kristobal und ich verstehen uns blendend», ließ sie fallen, während sie ihr langes braunes Haar auswrang und es mit den Fingerspitzen auflockerte.

Lässig lehnte er sich gegen den Tresen vor der Garderobe. «Ich sprach von Claw und dir.»

Nanouk schnaubte. «Er sagt nichts, wirft mir nicht einmal böse Blicke zu, aber ich spüre dennoch, dass ihm meine Liaison mit einem anderen Alpha nicht passt. Ich gehöre weder richtig zu seinem Rudel noch zu Kristobals dunkler Gefolgschaft.»

Theo nickte. Er verstand sie gut. Nanouk saß zwischen den Stühlen. «Er wird sich damit arrangieren, dass du nicht nur zu ihm, sondern auch zu Kristobal gehörst. Tala gibt ihr Bestes, um ihn abzulenken.»

«Das kann ich mir gut vorstellen.» Sie grinste frivol und errötete darauf, woraus er schloss, dass es ihr mit Kristobal ähnlich ging.

«Mir gefallen deine neuen roten Strähnchen.»

«Hat Tala gefärbt.»

In letzter Zeit trug Nanouk ihre Haare immer öfters offen, anstatt zu einem strengen Zopf zurückgebunden. Sie lachte viel, betonte ihre mandelförmigen Inuit-Augen mit einem schwarzen Kajal, verteilte Topfpflanzen im Theater und trug sogar ab und zu farbenfrohe Oberteile.

Doch heimlich hatte sie Theodore zugeraunt: «Falls ich irgendwann mal mit einer pinkfarbenen Bluse auftauche, schlag mich einfach k.o. und bring mich in die Klapse. Haben wir einen Deal?»

Die beiden Frauen hatten Freundschaft geschlossen, nun da die Fronten geklärt waren. Obwohl es nie einen Kampf um die Hierarchie gegeben hatte, sondern lediglich Gespräche, war Tala zur Alphawölfin des Rudels aufgestiegen und Nanouk zu einer Art Alphaweibchen der Vampire, die immerhin früher einmal ebenfalls Lykanthropen gewesen waren.

Claw stand dieser Entwicklung kritisch gegenüber, weil er die Überzeugung vertrat, dass sich ihre Tiere auf lange Sicht nicht damit zufriedengeben würden, weil diese Ordnung gegen ihre Natur war.

Die beiden Gestaltwandlerinnen ergänzten sich. Während Talas Weiblichkeit auf Nanouk abfärbte, brachte diese Tala das Kämpfen bei. Bisher hatten ihre Wölfinnen sie erstaunlicherweise nicht dazu gedrängt, sich miteinander zu messen. Theo hoffte so sehr, dass der Friede sich nicht als trügerisch entpuppte.

Apropos trügerisch, dachte er – warum fiel ihm in diesem Moment ausgerechnet Arctos ein? Der alte Inuit glaubte wohl, er könnte seinen Platz im Rudel einnehmen, nun da Theodore ein Vampir war und seinen Rudelnamen Lupus ablegen musste. Aber das würde niemals geschehen! Er mochte seinen Rang geerbt haben, aber er genoss nicht dasselbe Ansehen.

Du bist nur neidisch, dass sein dunkles, volles Haar lediglich von einzelnen grauen Strähnen durchwoben ist, seine Haut gesund aussieht und er Steaks genießen kann, während du von Blut lebst, stichelte eine Stimme in ihm.

Instinktiv fuhr er seine Krallen aus, doch als er sah, wie filigran – er bezeichnete sie als kümmerlich – sie im Gegensatz zu seiner Zeit als Werwolf waren, zog er sie wieder ein und ballte lediglich seine Hände zu Fäusten. Zugegeben, er hatte ein Problem damit, dass sein Schopf weiß wie Schnee leuchtete, ebenso wie sein Teint, wodurch seine Altersflecken hervortraten. Außerdem standen seine Knochen genauso hervor wie sein Adamsapfel. Herrgott noch mal, im Profil sah er ja aus wie ein Albino-Truthahn!

Besser ausgemergelt als tot, sagte er sich, denn hätte Kristobal ihn nicht in einen Blutsauger verwandelt, wäre er an dem Virus der Skua gestorben oder über kurz oder lang an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Dank des Alphavampirs erfreute er sich bester Gesundheit – soweit man davon sprechen konnte. Er kam nur noch nicht damit klar, dass er seinen Wolf dafür hatte opfern müssen!

Unauffällig blinzelte er die Feuchtigkeit aus seinen Augen.

Arctos und sein lebendiges Aussehen konnten ihn mal kreuzweise! Doch was Theodore wirklich – wirklich! – störte, war, dass der alte Polarwolf Elise schon zweimal aufgesucht hatte, natürlich am helllichten Tag, wenn Lupus im Theater bei den anderen dunklen Lords und Ladys schlief. Kristobal bestand darauf, weil Theo nun unter seinem Schutz stand.

«Er soll ja die Finger von ihr lassen», murmelte Theodore und glättete das Foto, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten und versehentlich zerknüllt hatte.

Nanouk legte ihren Kopf schräg. «Du hast zugenommen, habe ich recht?»

Ihr Kompliment war nur eine Höflichkeit, wusste er und lächelte müde. Seine Gier nach Blut wuchs mit jedem Tag. Aber wie konnte er sich damit zufriedengeben, sich nur von Flüssigkeit zu ernähren? Wo blieb der Spaß beim Essen?

Verschwörerisch schaute sich Theo im Nostalgia Playhouse um, prüfend, ob jemand sich in der Nähe aufhielt, der die Unterhaltung mit anhören konnte. «Ich musssiein unser Geheimnis einweihen», flüsterte er.

«Wen?»

«Camille», formte er tonlos mit den Lippen.

«Deine Nichte?» Nanouk hielt ihn am Arm fest. «Das wird Claw nicht gefallen.»

«Er ist nicht länger mein Alpha, sondern Kristobal», stellte er klar und streifte sanft ihre Hand ab. «Der Alphavampir befürwortet mein Vorgehen. Er befürchtet, Camille könnte eine zweite Meinung einholen, weil das Blut der Gestaltwandler und Vampire sie misstrauisch gemacht hat.»

Nanouk hatte sich als eine der Ersten im Rudel mit dem Virus angesteckt, das die Skua – eine Gruppe von sechs morallosen Jägern – ausgesetzt hatten. Es war um Leben und Tod gegangen, nicht nur bei den Rudelgefährten, sondern allen Caniden in Anchorage. Hunde, Wölfe, Füchse, Kojoten – sie alle verdankten Dr. Camille Brass, die als Kuratorin am Alaska Zoo arbeitete, ihr Leben, denn die Biologin hatte mithilfe von Kristobals Blut das Gegenmittel hergestellt.

«Außerdem ist sie in Gefahr.» Nervös strich er über den Schnappschuss, der Elise, Camille und ihn zeigte, wie sie mit Puderzucker bestäubten Mündern auf dem Sommerfest von Camilles Highschool in Berkeley standen. Damals hatte er noch als Arzt praktiziert und zwanzig Kilo mehr gewogen. Sunbeam, wie er Camille nannte, hatte sich für ihre Zahnspange in Grund und Boden geschämt und er hatte noch keinen blassen Schimmer von der Existenz übernatürlicher Geschöpfe gehabt. Nun musste er auch Camille einweihen, dabei war Unwissenheit manchmal ein Segen. Was hatte er Elise in den letzten Jahren alles zugemutet? Vielleicht spülte er sie selbst in Arctos’ Arme.

«Weil sie die Spuren einer Werkatze im Chugach State Park entdeckt hat?» Nanouk zog ihre Outdoorjacke aus und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn.

Ein verrückter Wunsch, aber Lupus sehnte sich danach, auch mal wieder zu schwitzen, denn Vampire froren ständig, weil sie keine eigene Körperwärme produzierten. Alle Heizkörper im Theater waren ständig voll aufgedreht und trotzdem empfand er die Temperatur als mäßig. «Als sie neulich bei uns vorbeikam, hat Rufus die Raubkatze an ihr gerochen. Sie muss Camille näher gekommen sein, als meine Nichte weiß. Wahrscheinlich hockte sie in den Büschen um das Eagle River Nature Center, als Camille den Tatort untersuchte, weil die Polizei sie um ihren professionellen Rat gebeten hatte. Der Werkater …»

Überrascht riss Nanouk die Augen auf. «Kater?»

«Er hätte sich jederzeit auf sie stürzen und sie ebenfalls …» Lupus wagte es nicht, seine Befürchtungen auszusprechen. Die fünf Skua waren förmlich in Stücke gerissen worden. Nur ein sechster konnte entkommen. Die Cops suchten noch nach ihm. Seltsamerweise hatte er sich nicht, wie das Anchorage Police Department erwartet hatte, auf dem Revier gemeldet, sondern war einfach untergetaucht. Nur die Dark Defence – die Gemeinschaft der Werwölfe und Vampire – kannte seinen Namen: Montalbán. «Was für ein Monster muss dieser Kuder sein?»

«Noch hat Camille keine Erklärung dafür, dass Tatzenspuren zum Tatort hinführen, aber nicht mehr davon weg, stattdessen Spuren von nackten Füßen, oder?» Nachdenklich legte Nanouk ihre Jacke auf den Tresen.

«Das weiß die Bestie aber nicht.» Liebevoll strich er mit dem Daumen über die Fotografie. «Er hat fünf Männer umgebracht. Eine Frau mehr oder weniger macht für solch eine rücksichtslose, brutale Raubkatze keinen Unterschied. Erinnere dich an Dante.»

«Beziehe ruhig alle Übernatürlichen ein», korrigierte Nanouk ihn. «Jarek ist ein Vampir, aber ebenso gewissenlos. In welchem Loch mag er hausen, seit Kristobal ihn rausgeworfen hat?»

Lupus ging nicht darauf ein, seine Gedanken waren bei seiner Nichte. «Hauptsache, ihre Identität bleibt anonym. Der Werkater könnte ihr gefolgt sein oder ihre Witterung aufnehmen und sich auf die Suche nach ihr machen oder längst in ihrem Haus …»

«Beruhige dich, mein alter Freund.» Nanouk drückte ihn kurz, ging zum Ausgang und lugte hinaus. Schwungvoll drehte sie sich um und ließ die Tür einen spaltbreit offenstehen. «Durch den Regen setzt die Dämmerung bereits ein. Geh und suche Camille auf. Dann siehst du mit eigenen Augen, dass es ihr gut geht.»

«Wenn ich auch nur den Geruch des Katers an ihr oder ihrem Haus wahrnehme, verfolge ich die Bestie und reiße sie in Stücke.» Erneut fuhr er seine Krallen aus. «Selbst mit diesen lächerlichen Waffen.»

«Betrachten Vampire es nicht als Verschwendung, Blut zu vergießen?» Sie gluckste.

«Ach, Nanouk.» Theodore wischte sich eine Träne von der Wange. «Ich vermisse meinen MacKenzie-Wolf so schrecklich! Diese Leere in meinem Inneren macht mich depressiv. Ich weiß nicht, ob ich ohne ihn leben kann.»

«Denk an deine Frau.» Sie kam zu ihm, streifte mit dem Handrücken seine Wange und zeigte auf das Foto. «Du bist für sie damals zum Werwolf geworden und neulich erst zum Vampir, damit das Pankreaskarzinom und das Virus dich nicht umbringen und der Tod euch trennen konnte. Gib jetzt nicht auf. Außerdem braucht Camille dich. Und ich erst recht. Du bist doch wie ein Großvater für mich. Nicht der Werwolf oder der Vampir in dir, sondern du, Theo.»

Nun konnte er seine Tränen nicht länger zurückhalten. Er legte die Stirn auf Nanouks Schulter und weinte bitterlich, während sie die Arme um ihn schlang und über seinen Rücken streichelte. Aus Verzweiflung, Ratlosigkeit und einer beißenden Einsamkeit, die nur Werwesen nachvollziehen konnten, formte sich ein hässlicher Gedanke in seinem Hinterkopf.

Vielleicht sollte er Arctos ermutigen Elise auszuführen.

Zwei

Schnuppernd hielt Luca seine Nase inihreRichtung. Woher kannte er diesen Geruch?

Schon im Chugach State Park hatte er Lucas Aufmerksamkeit erregt. Weil er ihm vertraut vorkam, ohne zu wissen woher, war er dem Duft bis an den Rand von Anchorage gefolgt. Nun hockte er verdeckt von einem Strauch im Garten eines der kleinen Einfamilienhäuser, die die Elk Road säumten, atmete tief ein und versuchte sich zu erinnern, doch es wollte sich einfach kein klares Bild vor seinem geistigen Auge formen.

Selbst der dank eines zusätzlichen Organs im Gaumen viel ausgeprägtere Geruchssinn seines Tieres half ihm nicht. Luca kam sich wie ein Idiot vor, als er in Menschengestalt seinen Mund öffnete, um das Jacobson-Organ hinzuzuziehen. Doch anstatt den seltsamen Geruch verstärkt wahrzunehmen, lenkte ein anderer Duft, ein weitaus köstlicherer, seinen Pardelluchs ab.

«Ja, ja, sie fällt in dein Beuteschema, ich weiß», schließlich spürte er es auch, «aber sie ist kein Weibchen, das für uns infrage kommt, sondern unsere Feindin.»

Sein Luchs, der so leicht seinen Trieben nachgab, anstatt seiner Vernunft zu folgen, drängte ihn dazu, zu ihr zu gehen, seine Zähne in ihren Nacken zu schlagen und sie von hinten zu besteigen.

Wütend über diese Gedanken, die sein Kater ihm schickte, stieß Luca die Fingernägel in seine Handballen, bis es wehtat, doch das Ziehen in seiner Lende blieb. Um seinem Tier zu beweisen, dass noch immer er die Kontrolle hatte, bewegte er sich keinen Millimeter vom Fleck. Drei Schritte von der Terrassentür entfernt schienen ihm nah genug.

Ziellos wandelte die junge Frau von einem Raum in den anderen, während sie ihre Haare bürstete. Die Bürste blieb immer wieder in ihren Locken hängen. Die Blondine musste ständig daran zerren, um sie wieder loszubekommen. Überraschenderweise machten der himmelblaue Morgenmantel, die beige-blau-gestreifte Schlafanzughose und die Hausschuhe, die wie dicke rosafarbene Wattebäusche aussahen, sie nur noch attraktiver.

«Vergiss es!», zischte Luca seinem Luchs zu. «Sie steht nicht auf unserem Spiel-, sondern unserem Speiseplan.»

Wie konnte eine Frau, die so zerstreut wirkte, als Biologin und Kuratorin im Alaska Zoo arbeiten? Er schnalzte und schüttelte den Kopf. Es machte ihn verlegen, als ihm auffiel, dass er lächelte.

Ein leises Grollen stieg aus seiner Kehle auf. Es galt nicht seinem Opfer, sondern seinem Tier. «Reiß dich gefälligst zusammen.»

Dr. Camille Brass. Er hatte den Namen auf ihrem Klingelschild gelesen, war ihr morgens bis zum Zoo und abends zuerst zur Post, dann zur 5th Avenue Shopping Mall gefolgt und hatte unruhig umherlaufend darauf gewartet, bis sie das Police Department an der East Tudor Road wieder verließ.

Obwohl er dem Zeitungskasten auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Polizeireviers ein Exemplar derAlaska State Newsentnommen und Camille abgewandt so getan hatte, als würde er lesen, hatte er beobachtet, wie ihr eine Packung Zigaretten aus der Hand gefallen war, als sie ihr Auto aufschloss, denn sein Luchs ermöglichte ihm einen Sichtwinkel von zweihundert Grad.

Wie durch ein Wunder hatten Ruud, Ram und die anderen mit der Nadel den Gelben Fleck – der Teil der Netzhaut mit der größten Dichte an Sehzellen – in seinem Auge nicht verletzt.

«Glück im Unglück.» Luca schnaubte. Durch diesen Zufall und dank der übernatürlich schnellen Heilung seiner Katze war er nicht erblindet. Nur ab und zu litt er unter Sehstörungen. Sie traten plötzlich auf, meistens wenn er sich unwohl fühlte, und verschwanden genauso schlagartig.

Angewidert betrachtete er seine Hände. Blut klebte für immer an ihnen, auch wenn man es nicht mehr sah. Wie hatte er auch so naiv sein und daran glauben können, dass es im Bereich des Machbaren lag, Raubkatzen in einer Art Rudel zu vereinen. Sie waren und blieben Einzelgänger!

Die Kolonie selbst hatte sich als fixe Idee herausgestellt, im Grundgedanken bereits zum Scheitern verurteilt. Lediglich ein Traum.

Für Luca war er geplatzt. Er verachtete sich für das Massaker, das er angerichtet hatte. Hatte er wirklich geglaubt, sie wie ein Alpha auf einen gemeinsamen Pfad führen zu können? Wie dumm von ihm! Ruud und Rama hatten recht gehabt. Endlich erkannte auch Luca seine wahre Natur.

Er war zur Hälfte ein Wildtier! Unzähmbar. Sein Luchs machte ihn unberechenbar, weshalb Luca beschlossen hatte, alleine zu bleiben. Keine Bindungen, keine Bleibe, kein Ärger – nur so konnte er unerkannt und unbehelligt leben.

Wäre nur nicht dieser unerwartete Zwischenfall im Chugach State Park gewesen! Sein Blick, der sich in die Vergangenheit gerichtet hatte, klärte sich wieder.

Er hatte Victoria Island schnellstmöglich verlassen und war als blinder Passagier mit einem Güterzug nach Westen gereist. Hauptsache weg, egal wohin. Allerdings mied er Menschenmengen, weil er nicht wusste, ob die Bestie in ihm nicht jederzeit wieder ausbrechen könnte, was eine Reise mit dem Flugzeug oder Schiff ausschloss.

Wie sich inzwischen gezeigt hatte, war Lucas Entscheidung richtig gewesen, denn in Anchorage hatte er ein zweites Mal die Kontrolle über sein Tier verloren. Er konnte sich so oft einreden, wie er wollte, dass die sechs Jäger, die sich lautAlaska State Newsden Namen Skua gegeben hatten, ihn gnadenlos durch den Chugach State Park gehetzt, auf ihn geschossen und ihn am Eagle River Nature Center in die Enge getrieben hatten.

Das alles entsprach der Wahrheit, aber es war keine Rechtfertigung dafür, erneut in einen Blutrausch zu fallen.

Fünf der Männer hatte er kaltblütig niedergemetzelt. Es war erschreckend leicht gewesen. Auch diese Gegner waren stärker als er, groß und kräftig gebaut und mit zahlreichen hochmodernen Waffen ausgestattet. Doch am Ende hatte er über sie gesiegt, weil er eben nicht nur ein Pardelluchs war, sondern ein übernatürliches Wesen, ausgestattet mit einer Kraft, die man solch einem kleinen Tier nicht zutraute.

Wenn er in einen Blutrausch fiel, konnte ihn niemand stoppen! Nicht einmal er selbst.

Der sechste Skua, der ihm entkommen war, hatte nicht gesehen, wie Luca sich in einen Menschen verwandelt, entsetzt über all das Blut, die abgerissenen Glieder und verstreuten Innereien in den Wald getaumelt und sich in einen Bach erbrochen hatte.

Aber Camille waren die seltsamen Spuren im Schnee aufgefallen. Nur sie konnte ihm gefährlich werden.

Lauernd beobachtete Luca, wie sie die Bürste auf die Treppe legte, die ins Obergeschoss führte, und das Wohnzimmer durchquerte, um etwas in der obersten Schublade des Sideboards zu suchen. Wie würdevoll sie immer ging. Langsam und elegant wie eine Königin. Ihr Gang wirkte beeindruckend erhaben auf Luca.

Doch er durfte nicht beeindruckt von ihr sein, denn die Spuren, die er am Center hinterlassen hatte, hatten sie skeptisch werden lassen. Glücklicherweise war der Schnee geschmolzen, bevor die Polizei brauchbare Abdrücke hatte nehmen können.

Dennoch blieb ein Risiko, und das hieß Dr. Brass. Nicht auszudenken, wenn Camille weitere Hinweise auf die Existenz von Gestaltwandlern fand – auf seine Existenz – und diese an die Cops weitergab. Das musste er unter allen Umständen verhindern! Wild fauchte er.

Unerwartet öffnete sie die Terrassentür und trat hinaus.

«Nicht», flüsterte Luca und wich zurück, als wollte er sie vor sich selbst schützen. Hatte sie das Knarzen seiner Lederjacke gehört? Dann besann er sich und stellte sich auf alle viere, um sich jederzeit verwandeln zu können. Der Druck in seiner Jeans wuchs. Fest presste er die Lippen aufeinander, um einen Ranzruf zu unterdrücken. Camilles weiblicher Duft erregte seinen Luchs noch stärker, und wenn sein Kater erregt war, war Luca es auch.

Sie steckte sich eine Zigarette an, ließ das Feuerzeug in die Tasche ihres Morgenmantels gleiten und rieb sich schlotternd über die Oberarme. Als sie zum Thermostat, das an der Hauswand hing, schlenderte, trat sie auf den Saum ihrer viel zu langen Hosenbeine.

«Sieben Grad», las sie laut ab. «Fühlt sich aber an wie null.»

Menthol- und Nikotingeruch stachen in Lucas empfindliche Nase und dämmten sein Verlangen nach ihr erfreulicherweise etwas. Kaum hatte sie zwei Züge gemacht, klingelte es an der Haustür.

«Mist!», sagte sie, als fühlte sie sich ertappt. Rasch drückte sie die Zigarette an der Wand aus, ging ins Haus und zog die Terrassentür hinter sich zu. Sie legte die Zigaretten zurück in die Schublade, warf die Kippe in den Mülleimer und schritt zum Eingang, immer noch langsam und erhaben, obwohl ihr Gast ein zweites Mal läutete.

Wer mochte das sein? Doch wohl nicht ihr Freund? Wen sonst würde sie in dem Aufzug ins Haus lassen? Leise knurrte Luca. Sie hatte sich doch wohl nicht für einen Typen eine gefühlte halbe Stunde gekämmt? Bürsteten Frauen nicht ihre Haare, damit sie mehr glänzten? Irgendwo hatte er das aufgeschnappt, ob es stimmte, wusste er nicht.

Warum fühlte sich das Blut in seinen Adern auf einmal an wie glühende Lava?

Just als ihm auffiel, dass Camille die Terrassentür zwar zugezogen, aber vergessen hatte zu verriegeln, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Mit einem Mann! Lucas Knurren schwoll an, klang bedrohlich, und es war ihm sogar egal, dass jemand ihn hören könnte, vielleicht sogar Camille durch die Scheibe hindurch.

Unbewusst rieb er sich an dem Strauch, hinter dem er hockte, und merkte erst einige Sekunden später mit Schrecken, wie die Äste hin und her wiegten. Abrupt hörte er auf. Der Drang zu urinieren war übermächtig. Luca erhob sich, blieb jedoch geduckt stehen. Ohne zu zögern öffnete er seinen Hosenschlitz und lenkte seinen Strahl mal hierhin und mal dorthin.

Auf leisen Sohlen zog er sich etwas weiter nach hinten in den Garten zurück, fuhr seine Krallen aus und kratzte so lange an dem Stamm des einzigen Baumes, einer Kastanie, bis ihm bewusst wurde, warum er sich so seltsam verhielt.

Lucas Pardelluchs markierte sein Revier.

Drei

«Hallo Patenonkel, schön dich zu sehen.» Camille wagte kaum, ihn an sich zu drücken, wie sie es üblicherweise tat, weil er so dünn geworden war. Er sah blass und erschöpft aus, als würde er an Blutarmut leiden.

«Sag doch nicht Onkel, sondern Theo zu mir.» Kraftvoller, als sie es erwarte hatte, schob er sie an den Oberarmen von sich fort. «Ich komme mir sonst alt wie Methusalem vor.»

Aber dubistalt, konnte sie sich gerade noch verkneifen zu sagen und atmete unauffällig nach unten aus, damit er den Nikotingeruch nicht wahrnahm. In den letzten Wochen schien er um zwanzig Jahre gealtert zu sein, stellte Camille bedrückt fest. Sie liebte ihn, genauso wie ihren Vater. Doch während Eugene Brass ständig versuchte, ihr in ihr Leben reinzureden, ließ Theo sie gewähren und unterstützte sie bei allem, was sie tat.

Fast allem, korrigierte sie sich selbst, denn er zeigte keinerlei Verständnis dafür, dass sie rauchte. Sie bemühte sich ja redlich, ihre Sucht in den Griff zu bekommen – Nikotinpflaster, Akupunktur und jetzt Mentholzigaretten –, und sie rauchte auch tatsächlich schon weniger ... selten ... fast kaum noch, aber noch hielt das Laster sich hartnäckig.

«Dein Haar ist so schnell silbergrau geworden, wie ich es noch bei niemandem gesehen habe», eigentlich strahlte es sogar so weiß wie der Schopf des Papstes, «beinahe über Nacht.»

Er verzog das Gesicht und trat ein.

Camille schloss die Haustür hinter ihm, führte ihn durch die Diele ins Wohnzimmer und bemerkte, wie locker sein grauer Wollmantel an ihm hing. Sie bot ihm an, den Mantel an die Garderobe zu hängen, doch er behielt ihn lieber an. Dabei hatte sie die Heizung aufgedreht. Da sie noch baden wollte, hatte sie nach der Arbeit nur rasch die Schlafanzughose und den Morgenmantel übergestreift.

Unschlüssig blieb er mitten im Raum stehen. Hatte er etwas auf dem Herzen?

Tee lehnte er genauso ab wie Kaffee und Wasser. Die Unruhe in Camille wuchs. «Was macht das Karzinom?»

«Ist nicht schlimmer geworden.» Ein zarter, rosa Schimmer ließ seinen Teint etwas gesünder aussehen. Oder fiebrig. Camille war sich nicht sicher.

«Wie ist das möglich?» Sollte sie ihm glauben? Oder belog er sie, damit sie sich keine Sorgen um ihn machte?

«Wunder sollte man nicht infrage stellen.» Lapidar zuckte er mit den Achseln. «Was machen Esther und Eugene?»

Camille verdrehte die Augen. «Mom ruft einmal wöchentlich an und will wissen, was zum Henker ich in Alaska will. Im Hintergrund meckert Dad jedes Mal, dass die Smuggler’s Lodge ausgebucht sei, sie immer älter werden und ihnen die Arbeit über den Kopf wächst.»

«Dieser Kindskopf von Bruder hat immer noch nicht aufgegeben, dich zu überreden, die Pension zu übernehmen? Das nenne ich hartnäckig.»

«Wohl eher stur. Ich werde im Sommer zweiunddreißig und bin schon vor acht Jahren aus der San Francisco Bay Area weggezogen.» Camille brauchte nicht zu erwähnen, dass ihr Vater, so sehr sie ihn auch liebte, einer der Gründe dafür war. Es gab zwei Dinge, in denen er erfolgreich war: Hotellerie und Nörgeln. Für ihn stellte es eine Selbstverständlichkeit dar, dass Camille in seine Fußstapfen trat und die Lodge übernahm, obwohl es überhaupt nicht ihrem Wunsch entsprach, bis ans Ende ihrer Zeit Betten zu beziehen und Frühstück zu servieren.

Als sie an der University of California studierte, hatte ihr Dad ihr die Hölle heiß gemacht und gemeint, sie denke ebenso wie Theodore sie sei etwas Besseres. Nach dem Studium arbeitete sie für Zoos in Phönix, Denver und Indianapolis. Er kam in jeder Stadt vorbei und ließ abfällige Bemerkungen über ihre Unterkunft, ihre Arbeitsstätte und das Wetter fallen. Die Menschen im Alameda County seien aufgrund der vielen Sonnentage und der unmittelbaren Nähe zum Pazifik viel freundlicher und das Essen besser. Schließlich floh Camille nach Alaska.

«Das liegt doch am Arsch der Welt. Dort können wir dich nicht einmal besuchen. Ich fahre nicht durch Kanada, um von Amerika nach Amerika zu kommen. Das ist doch krank! Warum spricht ein Teil von denen überhaupt Französisch? Die spinnen total! Und deine Mom steigt in kein Flugzeug», hatte ihr Vater durchs Telefon gezetert, was Camille in ihrer Entscheidung bestätigt hatte.

Außerdem wollte sie in Theos Nähe sein. Wer wusste schon, wie lange er noch zu leben hatte? Der Krebs hatte ihn gezeichnet, auch wenn seine Krankheit in den letzten Jahren, entgegen der Prognose der Ärzte, kaum fortschritt. Leider schien sie in letzter Zeit einen regelrechten Sprung gemacht zu haben.

Er sieht beschissen aus, brachte Camille es mit den Worten ihres Dads auf den Punkt.

«Ich bin nur erschöpft», sagte Theodore, als hätte er ihre Gedanken erraten, und nahm auf dem Sofa Platz. «Die vergangene Woche hat mich viel Kraft gekostet. Aber ich brauche nur ein wenig mehr …», er leckte sich über seine Unterlippe, «Nahrung und ich werde mich rasch erholen, versprochen.»

«Iss mehr, versprich mir das.»

«Ich muss vor allen Dingen mehr trinken.» Seine rosafarbenen Wangen färbten sich rot.

«Heißt das, du möchtest doch einen Kaffee?» Das Koffein würde seinen Kreislauf anregen und vielleicht sähe er dann weniger wie eine Figur aus dem FilmCorpse Brideaus.

«Nein, nein, das ist es nicht.» Er klopfte auf den Sitz zu seiner Rechten. «Setz dich bitte. Ich muss mit dir reden.»

Besorgt folgte Camille seiner Aufforderung, drehte sich zu ihrem Onkel und nestelte an ihrem Frotteemantel. «Ist etwas mit Tante Elise?»

«Ihr geht es gut. Sie überlegt, sich einen Hund zu kaufen, einen mit einem langen, dichten Fell, durch das sie mit den Händen streichen kann, das warm und weich ist, richtig schön pelzig und …»

Stirnrunzelnd unterbrach sie seine Schwärmerei. «In eurer Etagenwohnung? Besser nicht.»

Theo seufzte. Für einen Moment wirkte er traurig und abwesend, dann klärte sich sein Blick, er tätschelte ihr Knie und schaute sich im Raum um. «Überall Tierfotos an den Wänden und auf dem Sideboard. Keine Schnappschüsse deiner Familie oder von Freunden.»

«Ich hatte ein Bild von Dads letzter Geburtstagsfeier aufgestellt, aber seine vorwurfsvolle Miene hat mich in meinen Träumen verfolgt, daher habe ich es in die Schublade gelegt.» Über Freunde wollte sie lieber nicht sprechen. Das war ihr wunder Punkt.

Obwohl sie wusste, dass der Fehler bei ihr lag, schaffte sie es nicht, sich zu ändern. Im Alaska Zoo war es wie an den anderen Arbeitsplätzen auch. Die Kollegen hatten sie eingeladen, doch Camille lehnte ab. Man hatte sie ein zweites Mal gefragt, aber wieder war sie nach Hause gefahren, anstatt mit in eine Bar zu kommen.

Das Gefühl, nicht mithalten zu können, ließ sie nicht los. Sie kam sich vor wie ein Sportwagen, unter dessen Haube der Motor eines Beetles steckte und niemand sollte davon erfahren. Nach außen hin spielte sie die engagierte Kuratorin, die fürsorgliche Nichte und die moderne Single-Frau. Im Grunde traf das auch alles zu. Allerdings spürte sie jeden Abend, wenn sie sich zuhause auf die Couch fallen ließ, wie anstrengend es war, ständig gut gelaunt und hoch motiviert zu wirken und mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Dabei kam sie so schnell von der Stelle wie das Karibu im Zoo, dem sie heute zusammen mit dem Tierarzt Dr. Cassey das Hinterbein geschient hatte.

«Ich kann gut mit Tieren.» Aber nicht gut mit Menschen, dachte sie und hatte das Bedürfnis, sich zu erklären, weshalb sie anfügte: «Seit Teenagertagen träume ich davon, im Zoo zu arbeiten.»

Theo neigte sich vor. «Hast du das Blut, das ich dir gebracht hatte, entsorgt?»

«Du meinst das, mit dem ich experimentiert habe, um ein Gegenmittel gegen dieses neuartige Virus herzustellen?» Er nickte und sie fuhr fort: «Nein.»

«Das solltest du aber.»

«Auf keinen Fall!» Dazu würde er sie niemals überreden können. Es war zu einzigartig! «Ich möchte noch weitere Tests durchführen, denn es zeigt interessante Abnormalitäten.»

«Das hatte ich befürchtet.» Seufzend lehnte er sich zurück und fuhr mit der Hand durch sein Haar. «Es ist wichtig, dass es nicht in fremde Hände gerät.»

Sie hatte lediglich das Serum an Dr. Cassey gegeben und durch eine Freundin ihres Onkels an Walter Sarks überbringen lassen, damit die Kommission von Bürgermeister Benderman alle Tiere damit impfte und Köder mit Impfstoffen in und um Anchorage auslegte. «Das wird es nicht.»

«Aber deine Kollegen könnten es im Kühlschrank des Zoolabors entdecken und misstrauisch werden.»

«Es ist hier. Alle Proben befinden sich in der Küche.»

Erleichtert atmete er aus.

Sie legte eine Hand auf sein Knie und drückte sanft. «Was ist los? Irgendetwas stimmt doch nicht mit diesem Blut. Du wusstest es schon immer, habe ich recht?»

«Ich schulde dir eine Erklärung, und genau deshalb bin ich gekommen.»

«Jetzt bin ich aber neugierig, wie du mir plausibel begründen kannst, warum das Blut sowohl menschliche als auch tierische Bestandteile aufweist, die teilweise sogar mutiert sind und sich verbunden haben.» Aufgeregt rieb sie die Handflächen über den Morgenmantel. Ihrer Meinung nach war das ein Ding der Unmöglichkeit. Es sei denn, ein moderner Dr. Mengele hätte Gen-Experimente mit Menschen und Caniden durchgeführt, und in so etwas sollte Theodore besser nicht verwickelt sein. Camille war zierlich, aber sie konnte kräftig zuschlagen, wenn sie wütend war. «Dann wäre da noch die Probe dieses Kristobals. Ich kann mir absolut nicht erklären, wie …»

«Glaubst du, dass Jackalope existieren?» Er lächelte unsicher.

«Das ist ein Fabeltier.»

«Aber wäre es deiner Meinung nach möglich, dass die Natur aus einer Laune heraus einen Hasen mit einem Geweih hervorbringen könnte?»

«Der Papillomavirus kann ein Karnickel befallen, worauf ihm Tumore wachsen, die Hörnern ähneln.» Hinter vorgehaltener Hand gähnte sie. «Wenn du mich fragst, gehören Hasenböcke ins Reich der Legenden.»

«Ebenso wie Werwölfe?»

«Und wie Bigfoot, ja! Hast du zu viele Artikel dieses furchtbar schlechten Reporters Matt Jerkins gelesen?» Camille winkelte ein Bein an. Erst in Gegenwart eines Besuchers fiel ihr auf, wie verwaschen die Streifen der Hose aussahen. «Marty, einer unserer Tierpfleger, ist ein Fan von skurrilen Artikeln und hat Jerkins’ Berichte in einen Ordner geheftet, feinsäuberlich in Folie, versteht sich. Erst vor wenigen Tagen brachte er seine gesammelten Werke mit. Dass jemand mit solch einem Schund Geld verdient, ist unglaublich!»

«Okay, nehmen wir Bigfoot oder den Sasquacht, wie die Indianer ihn nennen. Ein Mann mit Fell.» Er kratzte sich an der Schläfe und überlegte. «Wie fange ich das nur an? Es ist nicht leicht. Wenn ich nicht aufpasse, rufst du postwendend die Cops und lässt mich in die Psychiatrie zwangseinweisen.»

Das, was ihr Onkel ihr mitzuteilen hatte, schien dramatischer zu sein, als sie erwartet hatte. Sie setzte sich im Schneidersitz hin und kam sich vor wie damals, als Theo ihr aus Märchenbüchern vorgelesen hatte, weil ihr Vater das für Unsinn hielt. Sie sollte nicht in einer Fantasiewelt leben, hatte er gemeint, dabei war sie erst fünf Jahre alt gewesen. «Du machst mir Angst.»

«Du brauchst dich nicht zu fürchten. Ganz im Gegenteil! Was ich mir wünsche, ist deine Neugier zu wecken und dich mit meiner Faszination anzustecken.» Laut klatschte er in die Hände. «Herrje, stell dir vor, es gäbe einen Hasen, der sich in einen Gabelbock verwandeln könnte. Jemand beobachtet ihn während der Wandlung, aber nur einige Sekunden lang, und glaubt danach, diese Mischform – Hase mit Hörnern – wäre seine ursprüngliche Gestalt, dabei war er noch gar nicht fertig.»