Als die Nachtigall verschwand - Gudrun Leyendecker - E-Book

Als die Nachtigall verschwand E-Book

Gudrun Leyendecker

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Beschreibung

Dies ist der dritte Band der Buchreihe: LIEBE UND MEHR Die Journalistin Abigail Mühlberg bewohnt die kleine Dachwohnung im Schloss des Malers Moro Rossini. Ihr Auftrag, nach dem Leben und Wirken zweier vergessener Schriftsteller zu recherchieren, bringt sie erneut in das Milieu krimineller Machenschaften. Überraschende Wendungen garantieren Abigail eine spannende Arbeit. Was birgt die Vergangenheit? In dem kleinen historischen Ort zeigen sich auch für die Liebe immer wieder neue Überraschungsmomente. Finden Abigail und Rolf endlich zueinander?

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Eine matte Wintersonne heftete ihren fahlen Schein auf den historischen kleinen Ort Sankt Augustine, der sich unter dicken Mützen aus weichem Schnee versteckte.

Ich klopfte den Schnee von den Schuhen, betrat das kleine Postamt und begrüßte die junge Frau hinter dem Schalter. „Guten Morgen, Frau Wilhelm, wie geht es Ihrem Rheuma?“

Die dunkelhaarige Dame mittleren Alters rückte ihre Brille auf der Nase zurecht. „Im Winter immer schlecht, Frau Mühlberg. Doch Gott sei Dank haben wir schon Februar, da können wir uns wohl langsam auf ein Ende der kalten Zeit freuen. Wie ich sehe, bringen Sie mir da allerlei Post.“ Sie betrachtete die Päckchen, die ihr auf den Tresen gelegt hatte. „Sind Sie etwa mit ihrer Arbeit hier in Sankt Augustine fertig?“

„Den Prospekt und das Buch über den Maler Moro Rossini habe ich schon vor Weihnachten zur letzten Überarbeitung an meinen Chef Jens Wieland geschickt. Die Broschüre über den Puppenspieler Jérôme Tessier gebe ich nun heute zur Post, damit auch hier der letzte Feinschliff erfolgen kann. Aber fertig werde ich, wie es aussieht, in diesem malerischen Ort wohl nie. Der neue Bürgermeister Lars Valentin und mein Chef Jens Wieland haben mir nun hier eine weitere Arbeit übertragen.“

Frau Wilhelm staunte. „Aber wir haben doch schon einen Prospekt von hier und sogar einen Stadtführer, in dem sowohl Rossinis Schloss, als auch der historische Rosenturm und die alten Brunnen ausführlich beschrieben sind. Was in aller Welt kann man jetzt noch über Sankt Augustine herausbringen?“

„Es geht diesmal um die berühmten Bürger der Stadt“, teilte ich ihr mit, „und zwar nicht nur um die aktuellen, die hier noch leben, sondern auch um wichtige Persönlichkeiten aus den vergangenen Jahrhunderten. In unserem historischen Gasthof „Zur Traube“ soll sogar Goethe einmal eingekehrt sein.“

Die Postbeamtin lachte. „So, wie der überall herumgereist ist, ist das auch kein Wunder. Aber glaubt der Bürgermeister wirklich, dass das irgendjemanden interessiert?“

„Goethe wird zwar auch erwähnt, aber trotz all seiner Berühmtheit, ist er nicht die Hauptperson in dieser Broschüre. Vielmehr geht es um zwei Schriftsteller, die hier im 19. und im 20. Jahrhundert gelebt haben. Dafür muss ich auch ganz gehörig recherchieren. Es geht um Andreas Konstantin, der hier im Jahr 1873 geboren wurde und um Benjamin Wohlfarth, der hier von 1906 bis 1939 gelebt und gearbeitet haben soll.“

„Aber woher wollen Sie denn all diese Informationen nehmen? Aus diesen Zeiten lebt doch bestimmt niemand mehr“, vermutete sie.

„Wir sind jetzt im Jahr 2019, ein paar Leute können vielleicht noch etwas über Benjamin Wohlfarth wissen, und es gibt wahrscheinlich auch noch Überlieferungen aus dem Leben von Andreas Konstantin. Denn glücklicherweise ist Sankt Augustine kein Ort, in dem die Leute dauernd aus- und einziehen. Viele Familien wohnen hier schon seit mehreren Generationen.“

Frau Wilhelm stimmte mir zu. „Richtig, eine Stadtflucht haben wir hier nicht zu befürchten, unser Ort ist zwar historisch, aber doch topmodern, was wir nicht zuletzt unserem unseligen, kriminellen, aber doch ehrgeizigen Bürgermeister Karl Hammer zu verdanken haben. Ich sage es immer: manchmal schreibt Gott auch auf krummen Wegen gerade.“

Ich nickte. „Ich bin froh, dass er nicht mehr hier ist. Sein Ehrgeiz, sich hier einen Namen zu machen, hat ihn zur Skrupellosigkeit getrieben, während Lars Valentin bemüht ist, auch in alltäglichen Bereichen den Bürgern dieses Städtchens das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Von meinen Recherchen verspricht er sich für die Einwohner von Sankt Augustine noch mehr Zusammenhalt und Verantwortungsbewusstsein für den historischen Ort.“

„Ehrlich gesagt, die Namen der beiden Schriftsteller sind mir völlig unbekannt. Allerdings wohne ich auch noch nicht so lange hier, das kann ich zu meiner Entschuldigung sagen. Ja, ich kenne den alten Rosenturm mit der mittelalterlichen Sage von Melusine und Ottokar, deren große Liebesgeschichte dort einen glücklichen Ausgang fand. Ich habe im Schloss schon den großen Maler Moro Rossini kennen gelernt, der mit über 80 Jahren endlich seine Jugendliebe Adelaide im vergangenen Herbst geheiratet hat. Ich kenne auch den Gutshof, den die Zwillinge Jasmin und Senta bewirtschaften, das Gut Langenau, denn bei ihnen habe ich eine kurze Zeit in einem Ferienzimmer gewohnt, bevor ich hier in der Nähe des Gasthofs „Zur Traube“ meine hübsche kleine Wohnung fand. Aber für weitere Besuche oder Recherchen hatte ich bis jetzt noch keine Zeit und ich habe auch noch nicht allzu viele Leute hier kennen gelernt.“

„Wenn Sie Jasmin und Senta aus dem Gutshof kennen, Frau Wilhelm, dann sitzen Sie schon an einer guten Informationsquelle, denn die Zwillinge sind hier aufgewachsen, und auch ihre Familie stammt aus diesem Ort. Ich habe mich im letzten Frühjahr, als ich Senta und ihrer Schwester half, ein verschwundenes Buch wieder zu finden, ein wenig mit Jasmin angefreundet und weiß, dass sie die Geschichte von Sankt Augustine sehr gut kennen. Daher werde ich auch bei ihnen nachfragen, ob sie etwas von den beiden Schriftstellern wissen.“

Die Postbeamtin überlegte. „In der Schlossbibliothek bei Moro Rossini und Adelaide könnten Sie vielleicht auch ein paar alte Schriften finden, und in der Kirche von Sankt Antonius hat der Pfarrer Kohlhaas vielleicht auch noch ein paar Unterlagen.“

„Das ist ein guter Hinweis“, fand ich. „Und ich könnte mir auch vorstellen, dass es auch Sinn hat, im Gasthof „Zur Traube“ einmal nachzufragen, ob das Ehepaar Bühler, die Inhaber der historischen Gaststätte, auch noch etwas in ihrer Erinnerung haben. Das Internet werde ich dabei natürlich auch nicht vergessen, denn dort habe ich sonst auch schon manch nützliche Information gefunden.“

„Und wie geht es Ihrem Freund Rolf?“ erkundigte sich Frau Wilhelm. „Ich habe mir im Januar auch einen seiner wunderschönen Fotokalender zugelegt. Er ist ein begnadeter Fotograf, Frau Mühlberg.“

„Er ist im Moment in Berlin mit einem neuen Auftrag, aber wenn er von dort zurückkommt, fahren wir erst einmal nach Venedig, das ist eine beschlossene Sache.“

„Oh, wollen Sie heiraten?“ Sie sah mich freudig und erwartungsvoll an.

„Soweit sind wir noch nicht, Frau Wilhelm. Wir sind ja noch nicht einmal verlobt. Ich habe Rolf erst im letzten Frühjahr hier im Schloss kennen gelernt, als ich Rossini interviewte. Wir beide waren auch immer viel unterwegs, da hatten wir nur wenig Zeit, uns kennen zu lernen.“

Die Postbeamtin lachte verschmitzt. „Ach, das bringt es manchmal auch nicht. Mein Mann und ich, wir kannten uns schon zehn Jahre, bevor wir heirateten. Aber nur zwei Jahre später waren wir schon geschieden, und im Moment bin ich ganz gern allein. Aber die Reise nach Venedig, die hat doch bestimmt einen besonderen Grund, nicht wahr?“

Jetzt lächelte ich geheimnisvoll. „Wer weiß? Möglicherweise wird sie für meinen Rolf zu einer Inspiration. Aber, was Ihre Partnerschaft betrifft, Adelaide und ich, wir sind hier im Ort schon ein wenig dafür bekannt, dass wir gern ein bisschen private Partnerschaftsvermittlung spielen. Sagen Sie mir, was Sie sich wünschen, und ich sehe mich einmal nach einem passenden Partner für Sie um.“

Frau Wilhelm wehrte ab. „Der einzige, der mich bis jetzt ein wenig interessiert hat, das war der Tierarzt, Dr. Lang, der bei Jasmin und Senta im Gutshof seine Praxis hat. Aber leider hat er ja noch eine ganz andere als seine soziale, tierliebe Seite. Wie Sie bestimmt auch wissen, sagt er selbst von sich, dass er beziehungsuntauglich ist, und damit kann ich ihn als Kandidaten streichen.“

Ich nickte. „Davon kann ich auch ein Liedchen singen. Seine Tierarzthelferin Isa war auch einmal unsterblich in ihn verliebt, und es hat ihr fast das Herz gebrochen, weil er so gern flirtete. Zum Glück ist sie jetzt mit dem Polizisten Ben liiert. Damit verrate ich übrigens kein Geheimnis, Isa selbst erzählt es jedem, der es wissen möchte oder auch nicht. Ich glaube, das ist so eine Art kleiner Rache von ihr, um den Doktor ein wenig schlecht zu machen.“

„Na ja, leider habe ich ja nichts mehr im Gutshof verloren, es besteht also auch kein Grund, dort öfter hinzugehen. Ich bin keine Reiterin, und ein Haustier werde ich mir deswegen jedenfalls nicht anschaffen. Soweit geht meine jungmädchenhafte Schwärmerei dann doch nicht.“ Sie hatte inzwischen meine Post gewogen und frankiert.

„Aber dieser Ort hier ist klein, man trifft sich hier oft und überall, denn in dem großen Gemeindezentrum, in dem auch der berühmte Puppenspieler Jérôme Tessier seine Werke aufführte, sind ständig Veranstaltungen für Menschen mit den unterschiedlichsten Interessen. Und auch in dem historischen Gasthof „Zur Traube“ trifft man abends oft nette Bekannte.“

Frau Wilhelm nickte und zwinkerte mir zu. „Ja, da treffen sich abends alle, die nicht allein sein möchten. Ein paar Stammtischrunden habe ich dort auch schon entdeckt, und selbst der Bürgermeister Lars Valentin verkehrt dort regelmäßig.“

„Das ist auch ein sehr netter Mann, und Single ist er auch. Höflich, gebildet, kommunikativ …“

„… und hat nie Zeit“, vollendete Frau Wilhelm meinen Satz auf ihre Weise. „Nein, so einen Workaholic hatte ich auch schon einmal als Freund. Das ist nichts für mich, ich brauche jemanden, der einen gemütlichen Feierabend schätzt. Bei Ihnen, Frau Mühlberg, ist das etwas anderes. Sie und ihr Freund Rolf sind ja ständig unterwegs.“ Sie lachte. „Sie müssten ja jedes Mal ein Wiedersehen feiern, wenn sie sich einmal treffen.“

„Das ist so“, gab ich ihr Recht. „Aber ich glaube, genau deshalb funktioniert unsere Partnerschaft so gut. Dann würde der Tierarzt Dr. Lang doch recht gut zu Ihnen passen. Vor einiger Zeit habe ich mich mit ihm einmal ausgiebig unterhalten. Tatsächlich freut er sich jeden Abend nach einem stressigen Arbeitstag auf ein paar gemütliche Stunden.“

„Aber mehr als ein „Guten Tag“ hatte er für mich nicht übrig, als ich auf Gut Langenau wohnte. Mein Pech“, sagte sie resigniert.

„Ich liebe einige der alten Sprüche, besonders die, die gerade passen. Und diesmal ist es: was nicht ist, kann noch werden.“

Ich bezahlte, steckte meine Quittung sorgfältig in das Portmonee und verabschiedete mich von ihr mit einem geheimnisvollen Lächeln.

***

Spontan entschloss ich mich zu einem Spaziergang zum Gutshof der Zwillingsschwestern Jasmin und Senta Schirmer, von denen ich mir erhoffte, dass sie bei diesem wenig einladenden Winterwetter heute im Haus anzutreffen waren.

Außerhalb der Ortschaft schien sich der Winter noch breiter gemacht zu haben, festgefahrene Spuren im weißen Schnee zeigten mir, wo sich der Weg versteckte. Bäume und Sträucher verharrten in betrübtem Braun unter der weißen Schneelast. Die matte Wintersonne verschwand hinter dem Nebel heranziehender Wolkenbänder, um sich geschwind davon zu machen.

Vor der Tür des Gutshauses entdeckte ich Jasmin, die damit beschäftigt war, den Eingang vom neu gefallenen Schnee zu befreien.

Sie begrüßte mich enthusiastisch, stellte den Besen eilig zu Seite und lud mich in den Wohntrakt ein. Mit einem heißen Tee, den sie schon bereithielt, wärmten wir uns auf und rückten an den heißen Kachelofen.

„Schön, dass du einmal hierher findest“, sie lächelte mich an. „Und ich finde es auch grandios, dass Sankt Augustine sozusagen deine zweite Heimat geworden ist. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass es sich in der hübschen Dachwohnung von Rolf ganz gemütlich leben lässt, zumal du ja im Schloss auch mit den sympathischen Künstlern Moro Rossini und Adelaide zusammen wohnst. Ich habe gehört, dass deine Arbeiten über den Maler und über den Puppenspieler Jérôme Tessier beendet sind, und du jetzt mit Recherchen über Andreas Konstantin und Benjamin Wohlfarth beauftragt wurdest. Stimmt das wirklich?“

„Genau, das ist jetzt meine neue Aufgabe, die mir mein Chef Jens Wieland übertragen hat, und deswegen kann ich hier auch noch auf unbestimmte Zeit gastieren. Wieland und der Bürgermeister Lars Valentin haben mir auch ein paar Quellen genannt, Personen und Orte, die mir Auskunft geben können.“

„Und da hat dir der Bürgermeister bestimmt verraten, dass der Schriftsteller Andreas Konstantin, der im 19. Jahrhundert in Sankt Augustine gelebt hat, hier auf dem Gutshof aufgewachsen ist, stimmt es, Abigail?“

Ich lachte. „Ertappt. Jetzt hast du mich erwischt. Und deswegen wollte ich dich fragen, wann du einmal Zeit hast, mir Näheres darüber zu berichten.“

Jasmin hielt die Teetasse in beiden Händen und nahm einen Schluck. „Ich habe jetzt Zeit, wenn du magst, kann ich dir direkt ein paar Informationen geben.“

Ich nickte. „Einen Notizblock habe ich dabei, das ist wohl eine Berufskrankheit von mir. Außerdem kann ich unser Gespräch, wenn es dich nicht stört, mit dem Handy aufnehmen.“

„Kein Problem, so etwas stört mich nicht. Ich hoffe sowieso, dass ich dir gut helfen kann, denn ich bin dir ja noch allerhand schuldig vom letzten Sommer, als du uns geholfen hast, die Sache mit dem verschwundenen Buch und mit Mona und Kurti aufzuklären. Seitdem geht es uns viel besser, meiner Schwester Senta und mir, und wir konnten mit Vielem aus der Vergangenheit abschließen. Möchtest du etwas Gebäck zu deinem Tee?“

„Danke, nein. Frau Bühler aus dem Gasthof hatte mich heute zu einem Eintopf eingeladen, irgendwie meint hier jeder im Ort, dass er mir noch etwas schuldig ist. Dabei habe ich für die Bühlers doch nun wirklich nichts getan.“

„Oh, das würde ich nicht zu sagen, Abigail. Schließlich hast du ja auch mit dazu beigetragen, dass unser Städtchen von dem damaligen kriminellen Bürgermeister Karl Hammer befreit wurde. Jetzt ist es ruhig und harmonisch hier bei uns. Das ist damals auch nicht der Fall gewesen, als Andreas Konstantin hier im Jahr 1873 geboren wurde.“

„Nicht? Zu dieser Zeit gab es doch kein Krieg hier. Was weißt du denn darüber?“ fragte ich interessiert.

„Zu dieser Zeit grassierte hier überall die Schwindsucht, so nannte man damals diese Lungenkrankheit. Und viele Leute starben daran. Auch die Eltern von Andreas gehörten zu den Betroffenen. So wuchs er denn bei meinem Ururgroßvater auf, und ich weiß nicht, warum man ihn nicht adoptierte, denn er hieß nicht Schirmer sondern Andreas Konstantin. Seine Eltern waren, so wie man damals sagte, rechtschaffene Leute und von Beruf Leineweber, und sie hatten sogar ein kleines Haus besessen. Wenn das Wetter besser ist, werde ich es dir einmal zeigen. Es steht weit draußen, und es ist nur winzig klein, aber immerhin steht es noch. Ich glaube, es war auch vermietet für ein bisschen Geld, das dann mein Ururgroßvater für Andreas sparte.“

„Das war sehr nett“, fand ich. „Manch ein anderer hätte das Geld als Unterhalt genommen.“

„Gut möglich“, stimmte mir Jasmin zu. „Der Gutshof war damals noch verknüpft mit einem Bauernhof, sodass man sich mit allem gut selbst ernähren konnte. Diese Leute waren damals reich, auch in Notzeiten. Man hat mir erzählt, dass Andreas die Natur sehr liebte, und er auch schon in seiner Jugend gern auf diesem Bauernhof arbeitete. Tatsächlich machte er aber auch noch eine Lehre als Gärtner. Er fand auch einen besonderen Freund, das war der damalige Pfarrer des Dorfes, und ich könnte mir vorstellen, dass du dort auch noch einiges für deine Unterlagen finden wirst.“

„Ja, ich habe mir auch schon vorgenommen, Pfarrer Kohlhaas zu fragen. Und was geschah weiter mit Andreas?“

„Er wurde Soldat im Ersten Weltkrieg, und als der zu Ende war, konnte er eine Stelle bei der Polizei als Kriminalbeamter annehmen, wurde dann aber 1933 pensioniert, wie es hieß, aus gesundheitlichen Gründen.“

„Merkwürdig“, fand ich. „Dann war er bestimmt nicht für die neuen politischen Zustände.“

„Richtig, Abigail. Er hatte sich zu der Zeit sehr mit dem Pfarrer angefreundet, er schrieb sogar mit ihm gemeinsam die Predigten, wie man mir erzählt hat. Du kannst dir vorstellen, dass er nicht mit einer nationalsozialistischen Regierung einverstanden war. Zu dieser Zeit zog er sich in das kleine Häuschen zurück, in dem einst seine Eltern lebten. Über die nächsten Jahre weiß ich gar nichts von ihm, vielleicht kann dir da der Pfarrer mehr berichten. Ich weiß nur, dass er in diesen Jahren sehr viele Gedichte und einen Roman schrieb, frag mich aber bitte nicht, wo all das geblieben ist. Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“

„Wenn er gegen das Regime war, gibt es für mich drei Möglichkeiten. Entweder hat er seine Sachen selbst vernichtet, weil es ihm zu gefährlich wurde, er könnte auch alles irgendwo versteckt haben, oder seine Werke sind vernichtet worden, was in dieser Zeit ja öfter geschehen ist. Könnte denn rein theoretisch noch etwas in diesem Häuschen versteckt sein?“ erkundigte ich mich.

Jasmin überlegte. „Inzwischen ist die kleine Kate etwas baufällig, es kann niemand im Augenblick darin wohnen. Aber in so einem alten Haus gibt es viele mögliche Verstecke. Es liegt nicht weit vom Fluss an der Mündung des kleinen Baches Vinigrette, der dort im Frühling häufig über die Ufer tritt. Deswegen steht das Haus auch auf Pfählen wie die Häuser von Venedig.“

„Ein lustiger Name, Vinigrette! Wie kommt denn ein Bach zu so einem Namen?“

Jasmin lächelte. „Das habe ich meinen Großvater auch einmal gefragt, und er hat es mir erklärt. Gleich hinter dem kleinen Buschwald am Bach gab es früher noch mehr Häuser, die alle von Familien der Leineweber bewohnt wurden. Sie hatten ihre Gärtchen mit vielen duftenden Blumen und Kräutern bepflanzt und auch mit ein paar Obstbäumen. Im Herbst ließen sie immer einen letzten Apfel an jedem Baum hängen, der dann später einen Duft verströmte, ein bisschen wie Wein. Die Bewohner dort waren daran gewohnt, aber irgendeiner aus Sankt Augustine fand diesen Duft derart bemerkenswert, dass er auf das lateinische Wort „Vinum“ zurückgriff und das Tal und den Bach nach diesem Duft benannte.“

„Du machst mich neugierig, Jasmin. Ich brenne darauf, mir dieses Häuschen anzusehen. Und wo sind all die anderen Häuser geblieben?“

„Wo schon?! Der Krieg hat auch dieses idyllische Plätzchen nicht verschont. Die Kate von der Familie Konstantin blieb als einzige verschont. Aber jetzt liegt alles dort im tiefen Schnee, der kleine Bach ist zum Flüsschen geworden. Wir müssen besseres Wetter abwarten, um dort nach irgendetwas suchen zu können“, riet Jasmin.

„Es gibt auch noch zwei sehr alte Bibliotheken, in denen du etwas finden könntest. Einmal im Bürgerhaus, in dem Cordula jetzt eine Anstellung gefunden hat, wo sie ihre Autorentätigkeit beibehalten kann und im historischen Rosenturm, den du ja auch gut kennst.“

Ich nickte. „Oh ja! Dort wohnte im Mittelalter Melusine, das Ritterfräulein, das dort ihren Geliebten nach vielen Jahren der Trennung wieder sah. Dort lernte ich Adelaide kennen, meine ältere Freundin, die jetzt seit dem Herbst mit ihrer Jugendliebe Moro Rossini verheiratet ist, und nach über 50 Jahren mit ihm im Schloss ihr Glück fand. Dieser schlichte alte Turm mit dem Rosenbäumchen neben der Tür hält auch für mich immer wieder Erinnerungen bereit. Nach meinem ersten Zerwürfnis mit Rolf flüchtete ich mich bei Vollmond dorthin zu Adelaide, die mir in meinem Kummer half.“

„Ja, ich erinnere mich. Im obersten Turmzimmer findest du auch noch eine Bibliothek, die sehr alt ist. Ich kenne sie nur zu gut, denn du selbst weißt ja, dass unser wertvolles, altes Familienbuch viele Jahre verschwunden war. In dieser Zeit habe ich sämtliche Bibliotheken des Ortes untersucht, natürlich ohne Erfolg. Dank dir hat sich dann alles doch noch aufgeklärt. Jetzt bin ich gespannt, was du alles über diese beiden Schriftsteller herausbekommst. Der andere war doch viel jünger, haben die sich denn gekannt?“

„Ich weiß noch nicht, ob sich die beiden gekannt haben. Normalerweise könnten sich in so einem kleinen Ort zwei Personen, die ein gemeinsames Hobby haben, schon zusammenfinden. Von Frau Bühler weiß ich, dass Benjamin Wohlfarth 1906 geboren wurde, also 33 Jahre jünger war als Andreas Konstantin. Er soll mit seinem Vater, einem Klavierlehrer und seiner Mutter, einer Sopranistin in der Nähe des Rosenturms aufgewachsen sein, und zwar genau in dem Haus, in dem jetzt das Kriminalkommissariat eingerichtet ist.“

Jasmin staunte. „Da, wo mein Niklas arbeitet?“

„Ja, genau dort. Allerdings ist dieses Haus noch ganz am Ende des Kriegs zerstört worden, jetzt steht dort stattdessen ein Neubau. Du bist ja auch erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, da kanntest du vermutlich das alte Haus nicht, höchstens von Bildern“, vermutete ich.

„Ehrlich gesagt, ich habe mich nie besonders viel mit den einzelnen Straßen von Sankt Augustine befasst. Weißt du, wir Zwillinge sind ja auf dem Gutshof aufgewachsen, und da gab es immer so viel zu tun mit den Tieren und dem Hof selbst. Natürlich habe ich in der Schule all das gelernt, was man über die Sehenswürdigkeiten der Stadt wissen muss, und durch das Schloss wurde damals sogar eine Führung für uns Schulkinder veranstaltet. Das war aber damals noch bei dem alten Grafen von Thaisenau. Es ist ja noch gar nicht solange her, dass der Maler Moro Rossini in dieses Schloss zog. Der hat es finanziell nicht nötig, sich solche Scharen von Besuchern in sein Haus zu holen.“

Meine Augen leuchteten wie immer, wenn ich an den Maler Moro Rossini und seine warmherzige Art dachte. Sicher war ich einer seiner größten Fans. „Zum Glück hat Moro Rossini genügend Geld durch seine Bilder, die auch in den Museen der ganzen Welt zu finden sind. Da kann er sich leisten, die Leute um sich zu scharen, die ihm wichtig sind. Früher waren das ja vor allen Dingen die Frauen, die er auf seine künstlerische Art verehrte.“

„Die beiden sind schon ein besonderes Paar, Moro und Adelaide“, fand Jasmin. „Er war doch so ein richtiger Frauenheld, wie kann ihn da eine so selbstbewusste Frau wie Adelaide wirklich lieben, ohne dass es ihr weh tut?“

„Sie ist eben selbst eine Künstlerin, sie versteht ihn. Sie kennt sein Künstlerauge und sein großes Künstlerherz. Er geht mit offenen Sinnen durch die Welt und fängt alles Schöne in seiner Seele und seinem Herzen auf, und das reflektiert er dann in seinen Werken. Das ist eine wunderschöne Gottesgabe, die er zu nutzen weiß. Kann man ihm da böse sein?“

Jasmin sah mich zweifelnd an. „Ich weiß ja, wie sehr du auch für ihn schwärmst. Aber er soll die Frauen ja nicht nur gemalt und nachmodelliert haben. Er war wohl auch ziemlich oft verliebt.“

„Verliebt ja, aber er betont es immer wieder, er hat immer nur Adelaide geliebt. Ich habe im Herbst die Hochzeit der beiden miterlebt, ich musste weinen, so sehr hat es mich bewegt.“

***

„Wer ist verliebt?“ meldete sich eine Männerstimme vom Türrahmen her. Ich entdeckte Clemens Lang, der sich hier in Gutshof eine Tierarztpraxis eingerichtet hatte, genau den, von dem mir Frau Wilhelm, die Postbeamtin vorgeschwärmt hatte.

„Das geht dich nichts an, Clemens“, scherzte Jasmin. „Haben wir uns so laut unterhalten, dass wir dein Klopfen überhört haben?“

Der Doktor trat ein und begrüßte uns. „Ich gehöre doch zu Familie“, fand er, mund zeigte ein breites Grinsen auf dem Gesicht.

„Na gut, dann nimm dir einen Tee und setz dich zu uns. Und wenn du es genau wissen willst, ich bin in Niklas verliebt, Abigail ist in ihren Rolf verliebt, und die ganze Stadt scheint schon Frühlingsgefühle zu haben, weil der Winter so endlos lang war. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen und unserem Ort Sankt Augustine einen richtig kitschigen Anstrich zu geben, wie du es nennen würdest, so haben wir bei uns im Schloss auch noch den König der Liebe wohnen, den Frauenhelden Moro Rossini. Ist das nicht unerträglich für dich?“ scherzte Jasmin.

„Oh nein!“ Clemens stöhnte. „Diese Künstler haben alle einen Drang zum dramatisieren. Ich weiß für mich ganz genau, wie gut ich mich immer fühle, wenn ich Tieren helfe. Aber die Künstler alle, die leben doch nicht wirklich in der Realität. Ein Maler lebt in seinen Bildern, ein Schriftsteller in seinen Romanen, ein Bildhauer in seinen Skulpturen und ein Schauspieler in seinen Rollen, und mit alledem fliehen sie aus der bösen Welt, aus der, die sie nicht haben wollen. Und so zaubern sie sich ihre eigene. Ich wette, wenn Moro und Adelaide beide Fabrikarbeiter gewesen wären oder Steuerberater, diese verrückte Romanze hätte keine zehn Jahre gehalten.“

Jasmin schüttelte den Kopf. „Damit hat das gar nichts zu tun. Diese beiden Personen sind eben ganz großer Gefühle fähig, und sie haben Ideale.“

„Und ich wette nicht schon wieder. Obwohl ich meine letzte Wette gewonnen habe, das war im Herbst, als ich mit dem Puppenspieler Jérôme Tessier gewettet hatte, dass er sich auch verliebt. Das kann schließlich jedem Menschen passieren. Aber darum geht es mir heute eigentlich gar nicht. Ich sammle momentan Hinweise und Unterlagen zu den beiden Schriftstellern, die hier früher einmal in Sankt Augustine gelebt haben.“

„Damit kann ich nicht dienen“, bemerkte Clemens. „Ich lebe ja erst kurze Zeit hier und habe auch nur sehr wenig Zeit zum Lesen, außer natürlich meine Fachliteratur. Schriftsteller sind wohl auch so ein Völkchen für sich. Man lernt sie oft sehr gut durch ihre Bücher kennen, das ist mir bei Cordula passiert. Sie ist eine sehr vielseitige Frau, das merkt man auch an den vielseitigen Themen ihrer Romane. Aber vor Jahren habe ich mal einen Schriftsteller kennen gelernt, der hat immer versucht, in seinen Romanen ganz mutige Helden darzustellen, weil er selbst so ein Angsthase war.“

„Das hört sich doch sehr schön an“, fand Jasmin. „So hat er das geübt wie in einer Therapie. Und eines Tages setzt er das auch in seinem Leben in die Tat um.“

„Du bist eine Optimistin.“ Aus Clemens Mund klang es nicht wie eine Anerkennung.

Ich lächelte.„Ich bin schon gespannt auf diese beiden Schriftsteller, die ich neu kennen lernen werde und hoffentlich auch viele ihrer Werke. Ich bin gespannt auf die Gedichte von Andreas Konstantin, da kann man etwas erfahren über die uralten Zeiten. Und wie Benjamin Wohlfarth die angeblich goldenen Zwanzigerjahre erlebt hat, darauf bin ich auch sehr neugierig. Beide sind auch nicht in den üblichen Suchmaschinen des Internets zu finden. Mein Chef Jens Wieland hat zufällig im Gästebuch der Bühlers alte Einträge und Fotos von ihnen gefunden. Beide Schriftsteller waren auch auf einigen Fotos mit ihren Werken zu sehen. Es gab sogar Fotos, auf denen man sehen konnte, wie Andreas Konstantin im historischen Gasthof „Zur Traube“ eine Art Lesung abgehalten hat. Leider ist das Ehepaar Bühler auch zu jung, um etwas davon erlebt zu haben. Sie sind beide erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur Welt gekommen.“

„Jetzt werde ich doch etwas neugierig“, gestand Clemens. „Wieso findet man diese Schriftsteller denn nicht im Internet? Gut, heute gibt es jede Menge Menschen die schreiben, fast jeder veröffentlicht heute ein Buch. Aber damals war das noch nicht so, da war es schon etwas Besonderes, wenn jemand seine Werke veröffentlichen konnte. Die beiden müssen doch irgendwo zu finden sein, vielleicht können da Verlagsanstalten weiterhelfen.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das hat mein Chef schon versucht, auf diese Art mehr zu erfahren. Aber es gibt inzwischen auch viele der alten Verlage nicht mehr, die es früher gab. Und an die ganz großen, die heute noch existieren, sind unsere beiden Autoren aus Sankt Augustine bestimmt nicht herangekommen.“

„Vermutlich brauchte man damals entweder eine große Genialität oder die nötige Beziehung“, überlegte Clemens.

„Ich werde jedenfalls noch einmal bei uns im ganzen Haus nachschauen, ob ich nicht noch irgendetwas in meinen Unterlagen finde“, versprach mir Jasmin. „Und unseren Ausflug werden wir wie geplant machen, Abigail.“ Sie zwinkerte mir zu.

„Habt ihr Geheimnisse?“ erkundigte sich der Tierarzt mit gespielt beleidigter Miene.

„Ach es geht nur um einen Stadtbummel, das ist Frauensache“, schwindelte Jasmin.

Ich verabschiedete mich von den beiden und machte mich nachdenklich auf den Heimweg während vereinzelte Schneeflocken um mich herumschwebten.

Meine ersten Gedanken wanderten zu Frau Wilhelm und dem Tierarzt. Mein Gefühl sagte mir, dass sie sich in den falschen Mann verliebt hatte, aber Gefühle kann man eben nicht steuern. Jedenfalls hatte ich nicht vor, das Kennen lernen der beiden zu unterstützen. Während das Schneetreiben dichter wurde, überlegte ich mir mein weiteres Vorgehen wegen der Recherchen. Bis wir dem geheimen Haus einen Besuch abstatten konnten, wollte ich schon einmal gründlich alle mir bekannten Bibliotheken durchstöbern, die im Schloss bei Moro Rossini, die im Rosenturm, die im Pfarrhaus und die im Rathaus, in der Bürgerstube. Irgendwo musste doch etwas zu finden sein über das Leben und die Werke der beiden Schriftsteller.

Da sich ihre Spur kurz vor dem Zweiten Weltkrieg verlor, war es nahe liegend, dass sie beide zu dieser Zeit auf irgendeine Weise ums Leben gekommen waren. Einen natürlichen Tod schloss ich in Gedanken aus, besonders bei Benjamin Wohlfarth, der ja beim Ausbruch des Krieges erst 33 Jahre alt gewesen war. Und meine Gedanken wanderten zu den Schicksalen der verschiedenen Dichter, die zu diesen Zeiten mit ihren Werken unerwünscht oder verboten waren. Sollten diese beiden dazu gehört haben? Aber wenn ja, warum wusste mein Chef Jens Wieland, der sich ein wenig über ihren Lebenslauf informiert hatte, nichts über ihren Tod? Irgendwo mussten ihren Namen doch aufgetaucht sein.

Inzwischen hatte sich der Schneefall verdichtet, und ich erinnerte an einen Schneemann als ich das Schloss meiner lieben Freunde Moro Rossini und seiner frisch angetrauten Frau Adelaide erreichte.

In der großen Halle traf ich auf Ada, wie sie sich der Einfachheit halber nennen ließ.

Sie lud mich zu einer Tasse Tee in ihren Salon ein, in dem ich wie immer erst einmal die ausdrucksvollen Gemälde betrachtete, die ihr Moro mit Liebe gewidmet und damit das Zimmer ausgeschmückt hatte.

„Ich habe für dich schon einmal ganz grob in der Bibliothek nachgeschaut, ob ich irgendetwas über die beiden Schriftsteller entdecken konnte, aber das ist leider nicht der Fall gewesen. Trotzdem ist es sicherer, dass du selbst noch einmal nachschaust“, empfahl sie mir, während wir es uns auf ihrem geblümten Sofa gemütlich machten.

Ich überlegte. „Vielleicht haben sie auch unter einem Pseudonym geschrieben.“

„Das ist gut möglich“, stimmte mir Ada zu. „Da kann ich dir dann auch noch mal helfen, einmal nachzuschauen, was da von Dichtern der beiden letzten Jahrhunderte zu finden ist. Wir können dann auch ganz gezielt vorgehen. Schriftsteller, die wir kennen oder im Internet finden, können wir dann erst einmal aussortieren. Dann nehmen wir uns die Werke der Unbekannten vor, und vielleicht erkennen wir an dem, was sie geschrieben haben, dass sie hier aus Sankt Augustine sind.“

Ich nickte. „Genau. Wenn unser Fluss hier erwähnt ist, unser historischer Gasthof „Zur Traube“, unser Rosenturm, das Schloss, der Marktplatz mit dem Brunnen, die Kirche Sankt Antonius oder auch das Blumenviertel an der Vinigrette, dann werden wir hellhörig.“

Adelaide sah mich fragend an. „Das Blumenviertel? Davon habe ich noch nie gehört. Allerdings, wie du weißt, wohne ich ja noch nicht allzu lange in Sankt Augustine. Und in der Zeit, als ich mich noch im Rosenturm versteckte, habe ich von dieser hübschen kleinen historischen Stadt noch nicht allzu viel gesehen.“

„Von diesem Viertel habe ich auch erst heute erfahren, und zwar durch Jasmin vom Gutshof. Sie wusste, dass Andreas Konstantin in dem einzigen heute noch existierenden alten Häuschen weit draußen an dem Bach, den man Vinigrette genannt hat, geboren wurde. Und dieses Häuschen wollen wir uns bei Gelegenheit, wenn das Wetter ein wenig offener ist, auch einmal genauer anschauen.“

Ich berichtete ihr in wenigen Worten all das Wissenswerte, das mir Jasmin mitgeteilt hatte.

„Mein Moro schläft gerade. Lass uns doch ein bisschen in der Bibliothek stöbern. Hast du Lust dazu?“

Freudig ging ich auf ihren Vorschlag ein.

Ada nahm das Tablett mit dem Tee und trug es hinüber in die Bibliothek, während ich ihr folgte. Systematisch nahmen wir uns die einzelnen Regale vor. Zunächst sortierten wir erst einmal alle bekannten Autoren aus, später sahen wir uns die Bücher einiger unbekannter Autoren genauer an und durchleuchteten ihre Biografien in den Suchmaschinen des Internets.

„Hier ist etwas!“ rief Adelaide freudig aus. „Ein Gedichtband von einer „Jette von Blum“. Das könnte auf das Blumenviertel hindeuten, vielleicht ein Pseudonym von Andreas Konstantin.“

Während ich das Internet nach dieser Jette durchstöberte, vertiefte sich Ada in die lyrischen Gedichte des kleinen Bandes.

Nach ein paar Minuten der Stille wandte ich mich seufzend an meine Freundin. „Im Internet ist nichts von einer solchen Schriftstellerin verzeichnet, aber das muss ja gar nichts heißen, denn damals gab es doch noch kein Internet. Wie sieht es denn mit den Gedichten aus? Was sind das für Texte?“

Adelaide schaute auf. „Es sind hübsche kleine Frühlingsgedichte, es ist auch nichts Politisches darin zu finden. Hier wäre also auch kein Motiv, dieses Buch zu verbieten. Ich habe fast den Eindruck, dass dieses Buch ein kleines Geschenk für den damaligen Grafen von Thaisenau war. Hör dir einmal diese Zeile an:

„…im zarten Blattgrün bricht hervor

wie in Essenz der Sonnenschein,

es öffnet sich des Frühlings Tor,

strömt mit der Veilchen Duft herein.“

Das hört sich doch sehr nach diesem besonders duftenden Blumenviertel an.“

„Gibt es irgendeine Widmung in dem Buch? Steht ein Datum darin, wann es gedruckt wurde?“ erkundigte ich mich neugierig.

Ada blätterte. „Nein, leider nicht. Aber wenn ich mir dieses Buch hier so genau anschaue, könnte man ein Blatt vor dem Titel entfernt haben. Hier finde ich ganz raue Kanten.“

Sie reichte mir das Buch, und ich fuhr mit dem Finger über das Papier.

„Ja, es sieht ganz danach aus. Das wiederum bestätigt nun den Verdacht, dass Konstantin auch zu den verbotenen oder sogar verfolgten Dichtern gehörte. Obwohl es natürlich auch andere Gründe gibt, warum man eine Widmung herausreißen kann, ganz private zum Beispiel. Aber es muss doch irgendeinen Grund geben, warum man das Andenken dieser beiden nicht aufrechterhalten hat.“

Eine dunkle Stimme unterbrach unsere Gedanken. „Welches Problem haben diese beiden schönen Frauen hier?“ erkundigte sich Moro Rossini, der gut gelaunt die Bibliothek betrat.

Seine Frau klärte ihn mit wenigen Worten auf.

„Was sagt denn hier im Ort das Melderegister? Ist denn über die Geburt der beiden etwas verzeichnet?“ Moro bediente sich mit Tee und trank ihn aus Adelaides Tasse.

Ich sah ihn betrübt an. „Die meisten Unterlagen im Archiv sind durch den Krieg vernichtet worden, das Rathaus hier war sehr beschädigt. Aber man hat tatsächlich wieder neue Akten angelegt, auch von damals, mit allem, was noch übrig geblieben war. Und das waren von den beiden nur die Geburtsdaten und die Namen. Lars Valentin fand sie neulich in seinen Unterlagen und hat jetzt mit meinem Chef Jens Wieland sozusagen eine Interessengemeinschaft gegründet, um Licht in das Dunkel zu bringen und diese Schriftsteller noch postum zu würdigen.“

„Ich werde mich eben ebenfalls beteiligen“, verkündete Moro. „Und für deine Broschüre, liebe Abigail, entwerfe ich gern das Cover. Ich bin auch gern bereit, über Skulpturen von den beiden nachzudenken, wenn diese beiden Dichter gute Menschen waren. Halte mich also bitte auf dem Laufenden.“

Er wandte sich an Adelaide und nahm ihre Hand. „Ich vermisse dich, anima mia! Hast du jetzt etwas Zeit für mich?“

Adas Augen leuchteten, sie nickte und drückte ihre Lippen leicht auf seinen Handrücken.

„Kommst du allein weiter?“ fragte sie mich.

„Na klar, ich werde mich jetzt erst mal in das Buch vertiefen, um mehr über diese Jette von Blum herauszufinden.“

Adelaide hakte sich bei Moro ein und führte ihn mit langsamen, bedächtigen Schritten aus der Bibliothek, von der Tür aus winkte sie mir noch einmal kurz zu.

***

Die nächsten zwei Stunden widmete ich mich den Gedichten. Ich empfand sie als romantisch und gleichzeitig naturnah und wurde das Gefühl nicht los, dass sie einer bestimmten Person zugedacht waren.

Je mehr ich mich in diese Texte vertiefte, umso sicherer wurde ich mir, dass diese Gedichte das Blumenviertel beschrieben. So fand ich, dass es berechtigte Hoffnungen gab, auch in den anderen Bibliotheken in Sankt Augustine weitere Werke des Schriftstellers zu finden, und zwar auch unter dem Pseudonym „Jette von Blum“.

Mit dieser guten Aussicht legte ich das Buch beiseite, gerade, als es an der Tür klingelte.

Ich staunte, als ich in das fröhliche Gesicht von Laura Camissoll blickte, die ohne zu zögern in das kleine Wohnzimmer stürmte.

Eine Sekunde lang mischten sich in meinem Magen verschiedene Gefühle. Laura hatte sich im Herbst mir gegenüber von sehr verschiedenen Seiten gezeigt. Sehr fordernd und ganz schön egozentrisch hatte sie mich eifersüchtig gemacht, als sie sich in Frankreich heimlich von meinem Freund Rolf wie ein Modell fotografieren ließ. Unsere Beziehung hatte in dieser Zeit dadurch fast eine kleine Krise gehabt. Mit ganz viel Ehrgeiz, aber auch Skrupellosigkeit hatte sie ihre Karriere als Schauspielerin vorangetrieben, aber letztendlich war sie durch die Beziehung zu einem mir bekannten Manager mehr in die Öffentlichkeit gerückt. Und wie das Schicksal manchmal seine unglaublichen Geschichten schreibt, so hatte sie dann eine vermögende Tante gefunden, von der sie als Waisenkind ihr ganzes Leben lang nichts gewusst hatte. Und als i-Tüpfelchen hatte sich die Tante Katharina Ackermann auch noch regelrecht in ihre Nichte verliebt, sodass sie bereit war, Laura zu protegieren und ganz nebenbei noch mit viel Geld zu unterstützen.

Das letzte, was ich von ihr gehört hatte, war, dass ihre Tante sie nach Hollywood begleitet hatte, damit sie sich dort bewerben konnte.

„Und?“ fragte ich, nachdem sie es sich auf Rolfs Sofa bequem gemacht hatte. „Steht Hollywood noch?“

Laura warf mir einen strafenden Blick zu. „Du nimmst das Ganze eben nicht ernst. Die Schauspielerei steht deinem Geschreibsel als Journalistin bestimmt in nichts nach. Ich hatte Pech, aber auch Glück. Hol einmal zwei Sektgläser!“ trug sie mir auf.

Während ich ihrer Aufforderung folgte, kramte sie eine riesengroße Champagnerflasche aus ihrer noch größeren Tasche, öffnete sie mit einem lauten Knall und ließ das prickelnde Getränk in die Gläser einfließen.

„Immerhin ist ein Anfang gemacht. Dank meiner Tante und der Empfehlung von Leila Macintoshs Manager habe ich einen interessanten Regisseur in Hollywood kennen gelernt. Vielleicht kennst du ihn auch, er heißt Kevin Braun.“

Ich schüttelte den Kopf. „Leider, nein. Hast du eine Rolle bekommen?“

Die schöne Laura strahlte. „Genau das. Es ist zwar keine Hauptrolle, aber in Hollywood muss man eben klein anfangen. Ich spiele die Geliebte eines Geschäftsmannes, die allerdings sehr früh im Film ermordet wird. Aber immerhin, es wird ein paar bemerkenswerte Großaufnahmen geben.“

„Dann gratuliere ich dir dazu! Das schafft nicht jeder, der mal so eben aus Deutschland hinüberfährt. Da hast du dir ja schon ein schönes Sprungbrett geschaffen. Aber was ist mit Johnny Deep? Den wolltest du doch auch einmal kennen lernen, weil er der Freund deiner Mutter gewesen war, bevor sie deinen Vater heiratete.“

Lauras tragischer Augenaufschlag war Filmreif. „An den konnte ich leider bis jetzt noch nicht herankommen, obwohl ich alles versucht habe. Aber ich denke, die Sekretärinnen haben auch alle meine Briefe abgefangen und unterschlagen. Was für ein Jammer, dass meine Mutter nicht mehr lebt. Sie hätte es bestimmt geschafft, an ihn heranzukommen. Aber natürlich habe ich das noch nicht aufgegeben.“

Die Gläser klirrten leise aneinander, wir prosteten uns zu.

Ich versuchte, meinen alten Groll gänzlich loszuwerden. Schließlich war sie nach ihrer Amerika-Reise direkt zu mir gekommen. Irgendwie fand ich das rührend, dabei waren wir bisher wirklich keine guten Freundinnen gewesen. Ich kannte sie ja gerade einmal ein paar Monate, von denen sie jetzt die meiste Zeit im Ausland gewesen war. „Und warum bist du jetzt wieder hier? Dreht ihr denn jetzt noch nicht?“

„Kevin Braun meint, ich könnte meine Rolle erst einmal ganz gut in der Villa meiner Tante lernen. Er glaubt, in Hollywood würde ich zu sehr abgelenkt, weil das alles noch so neu für mich sei. Er ist sehr nett und sehr fürsorglich, vom Typ so ein bisschen wie dein Rolf.“

Wollte sie jetzt wirklich an alten Wunden kratzen? Ach, bestimmt nicht. Vermutlich war sie einfach wie immer nur gedankenlos.

„Und er gefällt dir?“

„Natürlich, er ist streng wie ein Vater. Vermutlich gefällt mir das so gut, weil mein Vater so früh gestorben ist.“

„Ach so, und ich dachte schon, du wärst in ihn verliebt, Laura.“

Sie lächelte geheimnisvoll und zeigte mir ihre schönen weißen Zähne. „Das eine schließt das andere doch nicht aus. Er ist nur ein paar Jahre älter als ich, und du weißt ja, ich stehe nicht auf so alte Männer wie Moro Rossini, für den fast alle Frauen auch heute immer noch schwärmen, egal, wie jung sie sind.“

Nachdenklich sah ich sie an. „Das hat nichts mit dem Alter zu tun. Rossini ist einfach ein genialer Künstler und wunderbarer Mensch, diese Kombination gibt es nicht so häufig. Ich bin sehr gespannt, wie die beiden Schriftsteller Andreas Konstantin und Benjamin Wohlfarth waren, nach den ersten Ergebnissen sieht es so aus, als könnte es sehr bereichernd für mich werden.“ Laura sah mich gelangweilt an. „Ach ja, ich habe von deiner neuen Aufgabe gehört. Dein toller Chef Jens Wieland bittet wieder einmal jeden darum, dich zu unterstützen. Wie kann das eigentlich sein, dass diese beiden Schriftsteller jedoch relativ lange gelebt haben und dann plötzlich verschwanden und kaum etwas von sich hinterließen?“

„Es ist denkbar, dass sie dem NS-Regime nicht gefallen haben, und was zu dieser Zeit alles passiert ist, mit Menschen, die denen nicht gefallen haben, das weißt du ja bestimmt auch.“

„Ach, ich kann mich ja mal in Amerika um hören, Abigail. Vielleicht sind sie ja noch dorthin ausgewandert, und es geht ihnen prächtig.“

„Du bist ganz schön naiv“, konnte ich es mir nicht verkneifen. „Nur die wenigsten konnten damals fliehen. Und außerdem, Amerika ist riesengroß, und ich glaube kaum, dass du schon einen guten Kontakt zu den Geheimdiensten geknüpft hast.“

Laura ließ sich nicht beirren. „Du kennst doch meinen Ehrgeiz, ich ruhe nie, bevor ich nicht das bekommen habe, was ich will. Mach mir mal einen Zettel mit Notizen, und wenn ich dann wieder nach Amerika fliege, kümmere ich mich dort darum.“

Ich gab nach. „Na ja, ganz ausschließen kann man das natürlich nicht. Vor allen Dingen könnten Sie dort wieder unter ihrem richtigen Namen gelebt haben. Wir sind nämlich ziemlich sicher, dass diese beiden Schriftsteller von 1933 an möglicherweise unter Pseudonymen geschrieben haben.“

„Das wird schwierig, Abigail. Vielleicht haben Sie aber auch nur ein Pseudonym benutzt, weil sie das schön fanden oder nützlich für den Verkauf. Da hast du jetzt noch eine ganze Menge Arbeit vor dir, ich möchte mit dir nicht tauschen. Und da noch in solch düsteren Zeiten herumstochern, da waren doch die beiden Weltkriege. Scheußlich, scheußlich! Was bin ich doch froh, dass ich so einen angenehmen und hübschen Beruf habe!“

Ich lachte laut. „Ich weiß nicht so recht. Schließlich finde ich es auch nicht wahnsinnig toll, im Film ermordet zu werden. Mir gefällt meine Aufgabe nämlich, sie ist sehr wichtig. Ich finde es gut, wenn man Menschen auch postum ehrt, und wenn sich herausstellt, dass ihnen Unrecht angetan wurde, dann ist es umso wichtiger, dass man sie wieder aufleben lässt und versucht, sie zu ehren. Diese Aufgabe nehme ich sehr ernst, und ich werde mich sehr dafür bemühen. Und wenn mir viele so spontan Hilfe anbieten wie du, dann habe ich vielleicht auch Erfolg.“ Ich hob mein Glas. „Aber erzähl doch mal, wie war das jetzt bei dir? Musstest du so richtig vorsprechen, wie man das aus alten Filmen kennt? Oder wie war das Casting?“

„Ich hatte eine Privataudienz, sozusagen. Und die Voraussetzung war natürlich, dass ich Kevin Braun gefiel, persönlich und rein äußerlich und dass ich zu der Rolle passte vom Typ her. Und dann hat er mich ein bisschen sprechen lassen, wir haben ein bisschen improvisiert. Und um zu zeigen, was ich kann, habe ich ihm dann noch ein bisschen aus dem Repertoire von Jérôme Tessier vorgesprochen. Das hat ihn dann gereicht, um mich sofort für die Rolle auszuwählen.“

Ich staunte. „Dann war es ziemlich einfach gewesen, und du musstest dich nicht in eine Schlange von Bewerberinnen einreihen. Du kannst dich erinnern, ich habe dir im Herbst schon prophezeit, dass du einmal Karriere machen wirst, ohne die Fotos von Rolf und ohne von Moro Rossini gemalt worden zu sein.“

Laura grinste. „Das hast du wohl immer noch nicht vergessen. Wer weiß, vielleicht bin ich eines Tages so berühmt, dass mich der alte Moro doch noch einmal malt.“

Jetzt lachten wir beide und tranken in kleinen Schlucken von dem berühmten französischen Champagner der Witwe Cliquot.

„Was macht denn dein Rolf im Augenblick? Er hat mich nie wirklich interessiert, er ist einfach zu langweilig und durchschaubar und so furchtbar einseitig. Immer nur Fotos, jeden Tag Fotos und Einstellungen und Brennweite. Entsetzlich! Kannst du dich mit ihm überhaupt über etwas unterhalten? Habt ihr überhaupt Gemeinsamkeiten?“

Ich lachte. „Natürlich! Er hat schon die halbe Welt gesehen und reist immer noch sehr viel, das ist auch mein Hobby, und allein darüber haben wir uns immer etwas zu berichten, wir haben sogar denselben Geschmack, lieben das Theater und die Musik und schauen auch ganz gerne zusammen einen guten Film an, sogar, wenn man darin eine Geliebte umbringt.“

Laura kicherte. „Das ist lustig mit dir. Ich hätte dich gern als Schwester gehabt. Dann hätten wir uns jeden Tag ganz tüchtig gefetzt. So im echten Zickenkrieg, wie echte Bitches! Hast du Lust, mich demnächst etwas abzuhören, wenn ich meine Rollen lerne?“

„Das tut mir echt leid, Laura. Dazu werde ich wohl keine Zeit haben. Mein Chef hat wieder mal wie immer ziemlich große Erwartungen an mich. Und wenn ich mit den Recherchen fertig bin, dann fahren wir erst einmal nach Venedig, Rolf und ich.“

„Ach ja, ich erinnere mich. Meine Tante hat euch diese Reise geschenkt, weil mich dein Rolf im Herbst so wohlbehalten aus Frankreich zurückgebracht hat, und weil ihr beide dabei geholfen habt, den Fall mit den verschwundenen Puppen aufzuklären, bei dem ich verdächtigt war. Ihr hättet euch eine Weltreise wünschen sollen, Katharina Ackermann hat so viel Geld, wie wir beide in unserem Leben nicht mehr ausgeben können.“

„Venedig reicht uns völlig“, widersprach ich ihr mit fester Stimme.

„Venedig stinkt, ist überfüllt und außerdem total kitschig“, fand Laura.

„Hoffentlich sind in Zukunft ganz viele deiner Meinung“, fand ich. „Denn dann haben wir die Serenissima ganz für uns mit ihrem antiken Zauber in der romantischen Lagune.“

„Die was?“

„Die Serenissima, so nennt man Venedig, und das bedeutet, man sieht sie als heitere, vornehme, ältere Dame, die ihren Glanz durch viele Erfahrungen hat. Gute und böse, aber letztendlich war sie immer die Siegerin. Du kannst deinem Regisseur einmal vorschlagen, er soll Venedig mit in den neuen Film einbauen, das passt immer, wenn es um Liebe geht.“

Laura kicherte belustigt. „Da kennst du Kevin Braun aber noch nicht. In dieser Beziehung ist er absolut nicht kooperativ. Ich hatte ihm sogar Paris vorgeschlagen, was ja nun absolut als Stadt der Liebe bekannt ist, aber er hat sich nun mal Philadelphia ausgesucht.“

„Hat das einen besonderen Grund?“

Sie schüttelte leicht den Kopf. „Jedenfalls hat er mir nichts darüber verraten. Irgendetwas scheint ihn an dieser Stadt zu faszinieren. Seine Ahnen stammen übrigens auch aus Deutschland, aber er selbst spricht natürlich kein Wort Deutsch. Was für ein Glück, dass uns Jérôme Tessier mit unseren Fremdsprachenkenntnissen immer so gefordert hat. Mein Englisch kann sich sehen lassen, aber in America spricht man doch noch etwas anders.“

„Wird der Film auch nach Deutschland kommen, Laura? Ich würde ihn mir gern einmal ansehen.“

„Oh, natürlich. Und ich darf mich selbst synchronisieren. Auch für Frankreich und Italien. Das macht mich sehr stolz. Braun findet meine Stimme gut. Er wunderte sich gar nicht, dass ich bei Jérôme auch oft den Puppen eine Stimme gegeben habe.“

Ich lächelte wehmütig. „ Die Gastspiele von Jérôme habe ich auch sehr genossen. Mit der Laienspielgruppe ist es etwas ruhiger hier geworden. Ich hoffe, dass Jerome mit seinem Ensemble auch dieses Jahr wieder nach Sankt Augustine kommt.“

„Dann werdet ihr diesmal bestimmt das Gemeindezentrum mit Polizisten abriegeln, damit nicht wieder Puppen gestohlen werden können. Weißt du eigentlich, was aus Luc geworden ist? Ist er zu einer hohen Strafe verurteilt worden?“

„Nein, Laura. Jérôme hat letztendlich doch seine Anzeige zurückgezogen, und so ist er mit einer Bewährungsstrafe und einer Geldstrafe davongekommen.“

„Stimmt“, erinnerte sich die schöne Französin. „Meine Tante hat ihm ja nicht nur das Geld für die Operation seiner Mutter geliehen, sondern auch die Geldstrafe bezahlt. Da sieht man es einmal wieder, es ist gar nicht so schlecht, viel Geld zu haben. Man kann auch viel Gutes damit tun. Und du solltest es einmal sehen, wie viel Freude meine Tante daran hat, mich zu managen. Sie behandelt mich wie eine Tochter. Und da sie im Leben nie eine Tochter hatte, scheint sie mit mir alles nachholen zu wollen.“

„Das Leben schreibt die schönsten Geschichten“, fand ich wieder einmal. „Bleibst du heute in Sankt Augustine oder fährst du wieder zurück zu deiner Tante?“

„Ich fahre direkt wieder zu meiner Tante. Sie wartet ja schon darauf, dass sie mit mir die Rolle einstudieren kann. Und wenn wir dann wieder zurück in Amerika sind, und der Film ist abgedreht, werde ich doch noch mal versuchen, mit Johnny Deep zusammenzukommen.“

„Dafür wünsche ich dir viel Glück“, ich hob das Glas. „Und ich kann mir gut vorstellen, dass du es schaffen wirst. So, wie du auch durch Jérôme deine Tante wieder gefunden hast und dein Traum von Hollywood auch schon begonnen hat.“

„Wir bleiben in Verbindung“, versprach sie mir. „Und wenn du gar nicht mehr weiter weißt, du mit deinen Recherchen nach den beiden Schriftstellern in einer Sackgasse angekommen bist, dann wende dich auch ruhig an meine Tante, sie hat die Mittel um Wege zu finden.“

***

Als Laura gegangen war, nahm ich mir noch einmal das Gedichtsbändchen der Jette von Blum vor. Ich betrachtete es nachdenklich. Das Internet hatte mir nichts über eine Jette von Blum berichtet, trotzdem konnte es sie gegeben haben. Es konnte auch ein Pseudonym von jeder anderen beliebigen Person sein. Ich stand also noch ganz am Anfang und entschloss , ins Rathaus zu gehen, um in der dortigen Bibliothek weiter zu recherchieren. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass sie momentan geöffnet hatte, und ich hüllte mich eilig in Mantel, Schal und Mütze.

Der Schneefall hatte nachgelassen, und ich genoss den Weg durch die verschneite Stadt, den Anblick einiger sanierter, mittelalterlicher Häuser, die der Stadt den eigenen Charakter gaben.

In der Bibliothek traf ich Cordula, die gerade damit beschäftigt war, einige Bücher zu archivieren. Der Bürgermeister hatte ihr mein Kommen bereits angesagt, und so führte sie mich gleich in die Ecke der älteren Bücher, die von Schriftstellern der näheren Umgebung stammten. Nach einigem Suchen stellte ich fest, dass sich in diesen Reihen keine Bücher von Andreas Konstantin und Benjamin Wohlfarth befanden.

Zu meiner Überraschung fand ich jedoch gleich zwei Bände, die unter dem Titel den Namen „Jette von Blum“ aufwiesen.

„Ich hab was gefunden“, teilte ich Cordula mit. „Adelaide und ich sind der Meinung, dass diese Jette von Blum eventuell aus dem Blumenviertel stammt und vielleicht sogar das Pseudonym von Andreas Konstantin ist. Vielleicht geben diese beiden Romane eine Auskunft darüber.“

„Das ist eine interessante Theorie“, fand sie. „Auf diese Idee ist wohl noch keiner gekommen. Mach es dir gemütlich in der Leseecke! Ich wünsche dir viel Glück!“

Vorsichtig trug ich die alten Bücher zum Sofa und betrachtete die Einbände.

Der erste Band trug die Aufschrift: „Der kleine Tom“, dass andere Buch den Titel „Am kleinen Fluss“.

Ich überflog die ersten Seiten des „kleinen Tom“, es handelte von einem Waisenjungen, der bei Pflegeeltern aufwuchs und von ihnen sehr liebevoll behandelt wurde, obwohl er so anders war als die übrigen Bewohner des Gutshofs, der seine Heimat geworden war. Die Geschichte beschrieb einen Zeitraum von einigen Jahren und endete mit der Wende um das Jahr 1900.

Ich wurde mir immer sicherer, dass hier Andreas seine eigene Kindheit beschrieb.

„Am kleinen Fluss“ handelte von der Treue eines Hundes, und die Gegend, in der die Geschichte spielte, ähnelte dem duftenden Tal mit vielen beschriebenen Blumengärten.

Jetzt fehlten mir natürlich noch handfeste Beweise, aber immerhin war das schon ein guter Anfang.

Cordula beugte sich zu mir. „Wenn du magst, kannst du die beiden Bücher mit nach Hause nehmen. Da ich ja mit Alexis genauso wie du in einer Dachwohnung des Schlosses wohne und da quasi ein Auge auf die Bücher haben kann, kann ich es dir gestatten. Es ist mir erlaubt, manches Buch mit zu mir zu nehmen, wenn ich es ein wenig restaurieren muss. Bei dir weiß ich es wirklich in guten Händen, und vielleicht gibt es auch die eine oder andere Seite zum Säubern oder zum Kleben. Dann kann ich dich auch gleich mit nach Hause nehmen, wenn ich hier die Bibliothek schließe, magst du?“

„Gern. Dann kann ich mir die beiden Bücher in Ruhe noch einmal zu Hause durchlesen. Und wenn du mich mitnimmst, habe ich einen Weg gespart und damit auch Zeit.“

Bevor wir aufbrachen, räumte Cordula in der Bibliothek auf und fuhr den Computer herunter.

Auf dem Parkplatz fanden wir ihr Auto unter einer dicken Schneedecke, die wir erst vom Dach hinunter schieben mussten.

„Was wollte eigentlich Laura bei dir?“ erkundigte sie sich beim Einsteigen. „Ich wusste gar nicht, dass sie wieder zurück ist aus Amerika. Ist sie immer noch so eine verrückte Diva?“

„Sie weiß schon, wie schön sie ist, und dass sie viele Talente hat, sie ist wirklich sehr selbstbewusst, und natürlich auch ein bisschen verrückt. Sie ist nur für kurze Zeit hier, während sie ihre Rolle für ihren ersten Hollywood-Film lernt.“

Cordula staunte. „Sie hat wirklich in Hollywood eine Rolle bekommen?! Wie hat sie denn das angestellt? Steckt da ihre Tante dahinter? Kann man etwa Beziehungen auch mit Geld kaufen?“

Ich lachte. „Na ja. Sie hat wirklich ein sehr schönes, ausdrucksvolles Gesicht, und ihre Talente durfte sie ja schon bei Jérôme Tessier unter Beweis stellen. Wenn du nach dem alten Film „Der Pate“ gehst, konnte man sich früher Filmrollen auch mit Geld kaufen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es heutzutage in Hollywood so unseriös zugeht. Vielleicht hat Frau Ackermann nur diejenigen ein wenig mit Geld bestochen, die normalerweise dafür da sind, die Spreu vom Weizen zu trennen. So wurde sie vielleicht zum Regisseur vorgelassen.“

Ich erzählte ihr alles, was ich über ihre Rolle und den Film wusste.

„Dann schafft sie es bestimmt auch noch, ganz groß herauszukommen. Und ihre Tante wird sie bestimmt auch zu diesem großen Regisseur bringen, den ihre Mutter früher kannte. Woher hat eigentlich diese Frau Ackermann so viel Geld? Das kann man doch gar nicht so einfach verdienen.“

Wir waren auf dem Parkplatz des Schlosses angekommen und stapften durch den Schnee zum Schloss. Im geöffneten Tor stand Alexis, Cordulas Freund.

„Gut dass ihr kommt“, begrüßte er uns. „Im Radio haben sie eben vor einem Schneesturm gewarnt. Aber zum Glück ist der Weg vom Rathaus bis hier her nicht so weit.“

Er lief seiner Freundin entgegen und küsste sie zur Begrüßung.

„Möchtest du noch mit zu uns kommen, Abigail. Es gibt ein paar griechische Spezialitäten. Du kannst gerne mit uns etwas essen“, lud mich Alexis ein.

Ich lehnte dankend ab. „Ich habe jetzt gar keinen Hunger, ich möchte mich auch direkt wieder mit den Büchern beschäftigen. Das kannst du doch bestimmt verstehen, Cordula. Und was das Geld von Frau Ackermann anbelangt, das weiß ich wirklich nicht. Wenn es die Suchmaschinen nicht wissen, können wir bei Gelegenheit Laura einmal fragen.“

Gemeinsam betraten wir die große Eingangshalle und stiegen die Treppen zu den Dachwohnungen empor.

Wir verabschiedeten uns vor der Tür meines Freundes und wünschten uns eine gute Nacht.

Nachdem ich mir einen Tee gekocht hatte, richtete ich es mir mit ein paar Kissen auf dem Sofa gemütlich ein und widmet mich dem Lesen der Bücher.

Ich fand immer mehr Hinweise auf die Gegend am Blumenviertel, sogar die Obstbäume mit ihrem Duft wurden erwähnt. Der Autor beschrieb Tom als fleißigen, aber stillen Jungen, der schon früh den Hang zum Dichten verspürte und sich damit manchmal als Außenseiter vorkam.

Mein Handy meldete sich, und ich sah Rolfs Bild auf dem Display.

„Hallo, meine Fleißige“, begrüßte er mich. „Ich wette, du arbeitest gerade.“

Ich hatte die Angewohnheit, auch am Telefon zu nicken, obwohl es mein Gegenüber nicht sehen konnte. „Wenn du es so nennen willst. Aber im Augenblick ist es für mich gleichzeitig auch informativ und angenehm. Ich lese gerade Texte, die eventuell von einem der beiden Autoren sind, über die ich Informationen sammele. Leider ist es noch nicht gewiss, ob der Name ein Pseudonym ist, und wenn ja, ob er zu Andreas Konstantin gehört. Es wird nicht ganz einfach sein, die Puzzleteile zusammenzusetzen, die später eine Biografie ergeben.“

„Und ich dachte immer, die Suchmaschinen wären so schlau“, wandte er ein.

„Damals gab es sie leider hier in diesem Ort noch nicht. Ich werde aber auch noch versuchen, Leute aufzutreiben, vielleicht ein paar ältere, die durch ein paar Überlieferungen noch etwas von den beiden Autoren wissen.“

„Ich hoffe, deine Gedanken sind nicht nur bei der Arbeit! Ich hoffe, dass du mich auch vermisst. Aber ich habe einen ganz guten Vorschlag für dich. Wenn du fertig bist mit deinen Recherchen, kann ich diese Broschüre mit Fotos ausstatten, von Sankt Augustine, von den Häusern, wo die beiden gewohnt haben und natürlich auch von ihren Werken. Für ein schönes Titelbild kann ich auch sorgen.“

„Eine super Idee“, fand ich. „Und wie geht es dir? Und was macht deine Arbeit?“

„Es geht nicht so gut voran, wie wir uns das vorgestellt haben. Und damit meine ich besonders die Außenaufnahmen. Das Wetter spielt einfach nicht mit. Wir haben nicht das richtige Licht. Und du weißt ja, ich habe etwas gegen technische Verbesserungen. Bei mir muss alles immer Natur pur sein.“

Wir tauschten noch ein paar Banalitäten des Alltags aus und wünschten uns dann mit einer ausgiebigen und zärtlichen Verabschiedung eine gute Nacht.

Als wir endlich auf das kleine Symbol mit dem roten Hörer drückten, stellte ich fest, dass es schon recht spät geworden war und wechselte nach einer gemütlichen Dusche mit dem Lesestoff in das Schlafzimmer über.

Kurze Zeit später war ich eingeschlafen, in Rolfs leerem Bett fanden die beiden Bücher ein vorübergehendes Zuhause.

***