Als die Sehnsucht wiederkam - Gudrun Leyendecker - E-Book

Als die Sehnsucht wiederkam E-Book

Gudrun Leyendecker

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Beschreibung

Und wieder einmal ist es Frühling in Sankt Augustine, dem berühmten historischen Ort mit seinen Sehenswürdigkeiten, dem Rosenturm, dem alten Gasthaus Zur Traube, dem Marktbrunnen und dem Blumenviertel an der Vinigrette. Die Journalistin Abigail Mühlberg wohnt mit ihrem Freund Ermanno im Schloss des berühmten Malers Moro Rossini. Während in den Straßen von Sankt Augustine das Frühlingsfest gefeiert wird, irrt ein kleiner Junge ziellos durch die Stadt. Hat er tatsächlich das Gedächtnis verloren oder will er Abigail nur verschweigen, wer er ist? Ein längst vergessener Doppelmord gerät wieder ins Visier der Polizei und präsentiert den Detektiven Rüdiger und Ermanno eine rätselhafte Aufgabe. Gelingt es der Journalistin Abigail auch dieses Mal, wieder Klarheit in die verworrenen Verhältnisse zu bringen? Die berühmte Schauspielerin Laura kehrt wegen einer Ehekrise aus Amerika zurück und sucht Trost bei der Freundin. Wieder einmal dreht sich das Karussell der Liebe in dem kleinen romantischen Ort.

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Seitenzahl: 324

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt:

Und wieder einmal ist es Frühling in Sankt Augustine, dem berühmten historischen Ort mit seinen Sehenswürdigkeiten, dem Rosenturm, dem alten Gasthaus, dem Marktbrunnen und dem Blumenviertel an der Vinigrette.

Die Journalistin Abigail Mühlberg wohnt mit ihrem Freund Ermanno im Schloss des berühmten Malers Moro Rossini. Während in den Straßen von Sankt Augustine das Frühlingsfest gefeiert wird, irrt ein kleiner Junge ziellos durch die Stadt. Hat er tatsächlich das Gedächtnis verloren oder will er Abigail nur verschweigen, wer er ist? Ein längst vergessener Doppelmord gerät wieder ins Visier der Polizei und präsentiert den Detektiven Rüdiger und Ermanno eine rätselhafte Aufgabe. Gelingt es der Journalistin Abigail auch dieses Mal, wieder Klarheit in die verworrenen Verhältnisse zu bringen? Die berühmte Schauspielerin Laura kehrt wegen einer Ehekrise aus Amerika zurück und sucht Trost bei der Freundin. Wieder einmal dreht sich das Karussell der Liebe in dem kleinen romantischen Ort.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1. Kapitel

„Sie sind also Frau Abigail Mühlberg!“ Die junge Tierarzthelferin sah mich neugierig an. „Ich habe von Ihnen schon so viel gehört.“

„Hm“, machte ich. „Ich weiß jetzt gerade nicht, wie ich das finden soll. Aber vielleicht können wir darüber später weiterreden. Im Moment liegt mir jetzt dieser kleine Vogel am Herzen, den ich hier im Karton gefangen halte. Ich fürchte, er hat sich irgendetwas gebrochen.“

Sie lächelte mich an. „Entschuldigung! Ja, natürlich. Dr. Lang ist gleich soweit, und wird Zeit haben für den kleinen Kerl. Aber im Augenblick operiert er gerade noch. Da müssen wir uns noch ein wenig gedulden. Sie sind doch die Hobbydetektivin, die hier in Sankt Augustine schon einige Kriminalfälle aufgedeckt hat, oder?“

Ich seufzte und blickte zum Fenster hinaus, wo die weißen Wolken am strahlend blauen Frühlingshimmel vorüberzogen. „Das ist tatsächlich schon mein dritter Frühling in dieser hübschen kleinen historischen Stadt. Und seitdem ist auch schon allerhand geschehen. Da waren schon einige Kriminalfälle, um die ich mich gekümmert habe. Aber auch privat hat sich hier einiges getan im Ort. Der Maler Moro Rossini hat im Schloss seine Adelaide geheiratet und genießt mit ihr die ruhigen Jahre im Alter.“

Jetzt seufzte die Tierarzthelferin. „Ach ja, Sie haben es gut. Sie wohnen im Schloss bei dem berühmten Maler, umgeben von seinen großartigen Bildern. Und jetzt erzählt alle Welt von Ihnen, dass Sie sich von dem Fotografen Rolf getrennt haben und stattdessen mit dem romantischen Italiener Ermanno zusammenleben. Ist das wirklich so? Sind die Italiener so viel temperamentvoller als die deutschen Männer?“

Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. „Ich glaube, so generell kann man das nicht sagen. Ermanno und ich, wir haben eine ganze Weile gegen unsere Gefühle gekämpft, am Anfang hielt ich sie sogar für trügerisch. Aber inzwischen weiß ich, dass man vor echten Gefühlen einfach nicht davonlaufen kann. Was nun daraus wird, das können wir heute noch nicht sagen, das muss die Zeit bringen. Und ja, temperamentvoll ist er auch.“

Sie sah mich schief an. „Es wird allerlei erzählt über Sie hier im Städtchen. Auch, dass Sie schon einmal verheiratet waren, und Ihr großer Sohn auf den Meeren herumschippert. Dann haben alle geglaubt, dass Sie Ihren Verlobten Rolf heiraten, weil Sie doch so gut zusammenpassten. Dass jetzt aus Ihnen und diesem Ermanno etwas Festes wird, das glaubt übrigens kein Mensch. Oh, Entschuldigung! Das hätte ich jetzt nicht sagen dürfen.“

Ich beobachtete den kleinen Vogel, der sich nun schon etwas lebhafter bewegte.

„Vielleicht ist ihm gar nichts passiert. Möglicherweise hat er sich auch nur erschrocken. Was kann man schon über eine Beziehung sagen? Wir kennen uns schon eine ganze Weile, Ermanno und ich, und gefunkt hat es damals ziemlich schnell. Aber, wie Sie ja wissen, ich war mit Rolf verlobt und hatte gehofft, dass daraus eine lange Beziehung werden könnte. So kann man sich eben immer wieder täuschen. Haben Sie da selbst andere Erfahrungen gemacht?“

Ihre Augen weiteten sich. „Nein, bisher noch nicht.“ Sie sah mich abschätzend an. „Aber ich bin auch noch ein paar Jährchen jünger als Sie.“

„Wie alt sind Sie denn?“

„Siebenundzwanzig. Und ich heiße übrigens Gisela. Weiß auch nicht, wie meine Mutter auf diesen Namen kam. Der ist total altmodisch.“

Der Vogel bewegte sich und flatterte ein wenig hin und her. „Ich glaube, er ist doch unverletzt. Aber es ist besser, wenn ihn sich Clemens einmal anschaut. Übrigens, den Namen Gisela finde ich hübsch, er passt zu Ihnen. Sie sind eine außergewöhnlich aparte junge Frau.“

Sie lächelte etwas verlegen. „Das hört sich an, als wollten Sie mir schmeicheln. Das einzige, das besonders ist an mir, ist meine Liebe zur Kunst und zu den Gemälden. Meinen Sie, der Maler Rossini würde mich einmal durch das Schloss führen? Aber kennen Sie denn Dr. Lang persönlich, weil sie von ihm als „Clemens“ sprechen?“

Ich lachte. „Gleich zwei Fragen auf einmal. Ja, ich kenne Dr. Clemens Lang auch schon seit dem ersten Frühling hier in Sankt Augustine. Da ging es hier um das alte verschollene Buch von Jasmin und Senta Berger, die hier diesen Gutshof führen. Wir hatten auch einen sehr netten Freundeskreis, der sich immer abends in dem historischen Gasthof traf. Das ist jetzt ein bisschen eingeschlafen, weil alle im Moment wenig Zeit haben. Und zu Ihrer zweiten Frage: Moro Rossini selbst kann nicht mehr gut laufen, seine Frau Adelaide fährt ihn häufig mit dem Rollstuhl oder führt ihn langsam an der Hand für ein paar Schritte. Aber wenn Sie nichts dagegen haben, frage ich Moro, ob ich Sie durch sein Atelier und die anderen Räume führen darf.“ Ihre dunklen Augen leuchteten. „Das wäre fantastisch! Ich male selbst ein bisschen. Nur so zum Hobby. Darin bin ich nicht gut. Aber ich würde es gern lernen. Allerdings geht es mir dabei genauso, wie Sie es eben erwähnten, ich habe sehr wenig Zeit, weil ich mich in meiner Freizeit um meine kranke Großmutter kümmere.“

„Toll“, fand ich. „Damit sind Sie bestimmt auch sehr beschäftigt. Ich werde mit Rossini reden, er freut sich immer, wenn jemand Interesse an seinen Gemälden und Skulpturen zeigt. Sicher kennen Sie auch unser Museum, das wir im Schloss eingerichtet haben. Es wurde seinerzeit zum Andenken an die Schriftsteller und Maler eingerichtet, die während der Nazizeit verfolgt wurden. Da haben wir einige Kunstschätze zusammengetragen. Vielleicht ist das für Sie auch interessant, Gisela?“

„Sagen Sie ruhig „Du“ zu mir! Denn wie mir scheint, haben wir einige Gemeinsamkeiten. Das Museum habe ich mir tatsächlich vor ein paar Monaten schon angeschaut, weil meine Großmutter auf ihrem Speicher auch noch ein altes Bild des Malers Pinetree gefunden und gestiftet hat. Es ist zwar nur winzig klein, etwa vier Quadratzentimeter, aber man sieht doch, dass es eine Zeichnung von ihm ist und kann auch seine Unterschrift entziffern.“

„Ich erinnere mich an das Foto, Gisela. Es hängt an der Wand über der alten Druckerpresse. Gut, dann sagen wir Du zueinander. Wir werden uns in Zukunft wohl jetzt öfter begegnen. Schau nur, was der kleine Piepmatz jetzt macht! Jetzt fliegt er sogar in dem Karton herum.“

Tatsächlich flatterte der Vogel hin und her und zeigte keinerlei Behinderung.

In diesem Augenblick erschien Dr. Lang im Behandlungsraum.

„Abigail!“ rief er überrascht aus. „Lange nicht mehr gesehen. Ich wusste gar nicht, ob du noch im Lande bist. Die Spatzen haben es mir von den Dächern gepfiffen, dass du jetzt mit einem Italiener zusammen bist. Dann dachte ich mir, du bist vielleicht ausgewandert. Was für einen Patienten hast du mir denn da mitgebracht, im Karton?“

Ich reichte ihm den kleinen Patienten mitsamt seiner Behausung. „ Vielleicht einen von diesen Spatzen. Ich habe diesen Vogel gefunden, der völlig regungslos am Straßenrand saß. Ich dachte, ihm ist vielleicht etwas passiert und fing ihn vorsichtig mit diesem Karton. Aber inzwischen hat er sich wieder recht gut erholt, vielleicht hatte er nur einen Schreck. Kannst du bitte trotzdem einmal nach ihm sehen? Und ja, wie du siehst, bin ich immer noch in Sankt Augustine, weil Ermanno nämlich als Gast für ein Jahr an der Uni unterrichtet, ganz hier in der Nähe. Ich bleibe euch also mindestens noch ein paar Monate erhalten.“

Clemens untersuchte das etwas ängstliche Tier mit Vorsicht und behutsamen Händen, die in dünnen Handschuhen steckten. „Tatsächlich, es ist ihm wohl nichts passiert. Er hat nichts gebrochen und sieht auch sonst nicht krank aus. Du kannst ihn also nachher wieder an die frische Luft setzen. Und wie geht es dir sonst, Abigail? Bist du wieder in irgendeinen Kriminalfall verwickelt? Oder hast du Zeit für einen Kaffee?“

Bedauernd schüttelte ich den Kopf. „Leider kann ich mich hier bei dir nicht mehr länger aufhalten, vielleicht ein anderes Mal. Aber heute habe ich Adelaide versprochen, ihr dabei zu helfen, im Schloss alles für das große Frühlingsfest von Sankt Augustine zu schmücken. Dort findet nämlich zum Ausklang des Tages der große Ball statt. Moro und Ada freuen sich schon sehr darauf, dass bei Ihnen das Highlight dieser Festlichkeit stattfindet.“

„Richtig! Ja, dass Frühlingsfest! Das hätte ich jetzt fast vergessen. Dabei stecken Senta und Jasmin hier auch schon in großen Vorbereitungen und striegeln die Ponys und die Pferde und backen Berge von Kuchen. Da gibt es übrigens dieses Jahr sogar eine Blütenkönigin, die von allen Bürgern aus Sankt Augustine gewählt wurde. Sie soll eine sehr schöne junge Frau sein. Weißt du da etwas Näheres darüber?“

Ich drohte ihm lächelnd mit dem Finger. „Spiel nicht mit dem Feuer, Clemens! Seit du hier im Gutshof deine Tierarztpraxis hast, konntest du schon eine ganze Menge an Frauenherzen brechen. Lavinia ist eine bezaubernde Persönlichkeit, bildhübsch und zart. Sie tanzt im Ballett und ist die Tochter eines bekannten Weinhändlers. Sie wohnte einmal für kurze Zeit hier im Neubauviertel am nordwestlichen Rand von Sankt Augustine. Und wenn ich mich nicht irre, macht sie im Moment ein Praktikum in unserem hübschen historischen Gasthof bei den Bühlers. Ich glaube, sie will einmal im Hotel-Gewerbe arbeiten.“

Clemens lächelte mich an. „Was du nicht alles weißt! Da sieht man wieder einmal, wie gut eine Journalistin informiert sein kann. Kannst du mich dieser schönen Frau nicht einmal vorstellen?“

„Sie ist morgen Abend auch auf dem Ball im Schloss. Wenn du dich nach dem Umzug dorthin bemühst, steht es dir frei, sie kennenzulernen. Sie sitzt natürlich als Ehrengast bei Moro und Adelaide am Tisch. Aber jetzt will ich erst einmal den kleinen Vogel wieder freilassen. Ihm gefällt es bestimmt nicht so gut in seinem Gefängnis. Was bin ich dir schuldig, Clemens?“

Seine Hand zeichnete eine abwehrende Bewegung. „Nichts, es gab ja auch nichts für mich zu tun. Aber vielleicht könntest du mir trotzdem bei euch am Tisch ein Plätzchen für morgen Abend reservieren?“

„Da muss ich erst mit Moro und Ada sprechen, die beiden sind verantwortlich für die Tischordnung. Aber ich schau mal, was sich machen lässt. Dann erst mal vielen Dank!“ Ich wandte mich an Gisela. „Wenn du morgen Abend auch zum Ball kommst, ergibt es sich vielleicht, dass wir einen kleinen Rundgang machen können. Magst du?“

Sie strahlte mich an. „Das wäre super. Muss ich mich denn dann auch festlich anziehen? Ich glaube, für einen Ball besitze ich gar nichts Passendes.“

Ich maß ihre Figur mit einem Blick. „Ich habe noch etwas da vom letzten Kostümfest. Das könnte dir passen. Am besten kommst du einfach morgen Vormittag vorbei, bevor der Umzug durch die Stadt losgeht. Dann kannst du mal etwas anprobieren.“

„Prima! Du bist wirklich ein Engel.“

Nachdem ich mich von den beiden verabschiedet hatte, trug ich meinen Karton hinaus ins Freie, wo mich die milde Frühlingsluft empfing. Als ich den kleinen Vogel etwas später auf der Wiese freiließ, ließ er sich das Angebot der Freiheit nicht zweimal sagen: Eilig schwang er sich in die Luft und flog davon.***

2. Kapitel

Gisela kam wie verabredet am anderen Vormittag ins Schloss, und wir suchten eine ganze Weile im Kostümfundus, bis wir ein Ballkleid gefunden hatten, das wirklich zu ihr passte. Das lachsfarbige, in der Taille eng anliegende Kleid mit dem langen fließenden Rock kontrastierte leuchtend zu ihrem dunklen, schulterlangen Haar, das in Locken ihr ovales Gesicht umschmeichelte.

„Jetzt könntest du glatt die Blütenkönigin sein“, fand ich und schob sie vor den Spiegel. „Bringst du eigentlich heute Abend einen Freund mit?“

Sie schüttelte den Kopf und sah mich aus traurigen Augen an. „Ich habe im Moment keinen. Und ich bin auch nicht sicher, ob ich im Augenblick überhaupt mit einem Freund etwas anfangen könnte.“

„Wieso?“ erkundigte ich mich verwundert.

„Ich bin einfach noch zu enttäuscht von der letzten Begegnung. Thomas, der war meine große Liebe. Er lebt in der Nähe von Wittentine, und hat dort eine Wohnung, während ich hier in der Nähe vom Rathaus schon seit Jahren ein möbliertes Zimmer gemietet habe. Er ist auch bei einem Tierarzt beschäftigt als Assistent, und zwar in einer Praxis, die etwa eine Stunde von Wittentine entfernt liegt. Ich hatte gehofft, dass er auch hierher zieht und vielleicht von Dr. Lang eingestellt wird. Und er hatte erwartet, dass ich mir in seiner Nähe eine Arbeit suche. Natürlich habe ich mit dem Gedanken gespielt, aber so schnell geht das natürlich nicht mit dem Stellenwechsel. So haben wir dann auch eine Art Fernbeziehung geführt, und ich hatte gehofft, dass so etwas klappt. Und jetzt kannst du dir bestimmt schon vorstellen, was passiert ist?“

„Ehrlich gesagt, nicht wirklich. Ihr habt euch auseinander gelebt wie Rolf und ich?“

„Nein. An einem Abend in der Woche, als ich so große Sehnsucht nach ihm hatte, bin ich einfach zu ihm gefahren und wollte ihn überraschen. Aber jetzt kannst du dir denken, was passiert ist, oder?“

„Der Klassiker! Du hast ihn mit einer anderen überrascht.“

„Genauso war es. Zwar hat er mich um Verzeihung gebeten und mir beteuert, dass es nur ein dummer Ausrutscher gewesen sei, aber das wollte ich nicht gelten lassen. Ich konnte ihm das einfach nicht verzeihen. Ich habe dann mit ihm Schluss gemacht.“

„Da bist du nicht die einzige, die so handelt. Du befindest dich gerade hier im Schloss bei Moro Rossini und seiner Ehefrau Adelaide. Sie haben sich vor Jahrzehnten kennengelernt, in Italien, und genau das gleiche durchgemacht. Ada war genauso enttäuscht wie du, hat sich jede Nacht die Augen ausgeweint. Als sie sich später wieder trafen, hat er ihr einen Heiratsantrag gemacht, aber als sie sah, dass er trotzdem ganz schön mit den Frauen flirtete, hat sie ihm den Laufpass gegeben. Danach haben sie sich viele Jahre nicht mehr gesehen. Erst vor 18 Jahren haben sie sich wieder getroffen, und danach herausgefunden, dass es wirklich die große Liebe war, die eine große Liebe, nach der man sich im Leben sehnt.“

Gisela sah mich aus feuchten Augen an. „Das ist ja furchtbar traurig. Und was willst du mir jetzt damit sagen? Rätst du mir etwa, dass ich Thomas noch eine Chance geben soll?“

„Nein. Ich glaube die Geschichte der beiden ist eine nicht alltägliche. Für dich ist es einfach wichtig, dass du selbst für dich entscheidest, wie wichtig er dir ist und was dein Herz dazu sagt. Ich habe mich auch ziemlich lange gegen die Gefühle zu Ermanno gewehrt.

Aber dann habe ich gesehen, dass sie stärker sind als das freundschaftliche Band, das mich mit Rolf verbindet.“

„Natürlich habe ich noch Gefühle für Thomas. Aber ich bin einfach zu sehr verletzt. Ich habe das Ganze noch nicht überwunden. Vielleicht kann ich ihm in ein paar Jahren auch verzeihen. Und möglicherweise, ja wahrscheinlich ganz sicher, wird es dann für uns beide zu spät sein. Trotzdem, es tut mir jetzt alles viel zu weh.“

„Das kann ich gut verstehen, Gisela. Ich glaube, jede Frau kann dich jetzt gut verstehen. Trotzdem kannst du dich aber heute Abend auf dem Ball hoffentlich gut amüsieren. Da werden sehr viele nette Männer anwesend sein. Hat es eigentlich der Casanova Clemens noch nicht bei dir versucht?“

Sie lächelte. „Doch, natürlich. Du kennst ihn ja. Und ich denke, dass ihn viele Frauen umschwärmen, er ist ja wirklich ein netter Mann, und außerdem noch sehr gut aussehend. Aber ich habe gerade jetzt die Nase von solchen Machos voll. Da kannst du dir vorstellen, dass er gerade bei mir an der falschen Adresse war. Aber mittlerweile hat er das aufgegeben, und ich glaube, er ist auch ein bisschen zu alt für mich, auch wenn er meint, er hätte die ewige Jugend gefressen.“

Ich lachte laut. „Du hast ihn ganz gut durchschaut, unseren Doktor. Im Grunde genommen ist er ein lieber Kerl. Aber als Partner möchte ich ihn auch nicht haben. Er hält sich wirklich für unwiderstehlich. Ich glaube, jetzt müssen wir uns ein bisschen beeilen und du musst dich umziehen. Denn in diesem Traumkleid kannst du dir nicht den Umzug draußen ansehen. Da hält man dich für die Blütenprinzessin.“

Gisela stimmte in mein Lachen ein. „Richtig, da wäre ich schon ein bisschen „overdresst“, wie man jetzt so schön sagt. Weißt du eigentlich, ob bei diesem Umzug auch Blumen geworfen werden?“

„Das hatte der Bürgermeister auch zuerst vorgeschlagen, aber Moro Rossini hat gegen ihn gestimmt. Er wollte nicht, dass für diesen Anlass so viele Blumen abgeschnitten werden müssen. Er ist ja nicht nur ein großer Menschen- und Tierfreund, sondern kümmert sich um die ganze Umwelt und ist dabei sehr sparsam.“

„Und dabei lebt er in diesem riesigen Schloss! Und einige von diesen Zimmern nutzt er doch auch selbst, oder?“

„Natürlich! Er hat in einigen Zimmern seine Bilder ausgestellt, sein Atelier hat er selbstverständlich auch.

Aber der Ballsaal wird der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Dann sind da noch das Museum, ein paar Ferienzimmer, zwei Wohnungen im Erdgeschoss und die beiden Dachwohnungen hier oben, von denen ich jetzt eine zusammen mit Ermanno gemietet habe. Vorher hat Rolf hier gewohnt, aber der ist inzwischen zu seiner neuen Flamme gezogen. Er hatte sich ziemlich gleichzeitig mit mir in jemand anderes verliebt, und ich wünsche ihm wirklich von Herzen alles Glück der Welt mit seiner neuen Partnerin.“

Gisela seufzte. „Ich wünschte, ich könnte das auch von mir und Thomas sagen. Aber ich setze darauf, dass die Zeit Wunden heilt.“

„Oft tut sie das“, stimmte ich ihr zu.

Es klopfte an der Tür. Gisela schnappte sich ihre Jeans und den Pullover und verschwand damit ins Bad. Ich öffnete die Wohnungstür und begrüßte Adelaide, die uns kleine, frisch gebackene Kuchen brachte. „Ich habe schon mit Moro gesprochen“, berichtete sie mir. „Du darfst Gisela nachher die Bildersammlung zeigen und sogar in sein geheiligtes Atelier gehen. Er hat sogar vorgeschlagen, dass sie bei uns mit am Tisch sitzen darf, damit er sich mit ihr ein bisschen über die Malerei unterhalten kann. „Man muss die Jugend fördern“, meinte er dazu.“

Ich lächelte sie an. „Früher wärst du vielleicht eifersüchtig geworden“, überlegte ich. „Aber in Moros Alter, schon über achtzig, siehst du das bestimmt nicht mehr so eng. Sie ist eine hübsche Kleine, diese Gisela.“

Ada lächelte zurück. „Heute weiß ich, dass mich Moro immer liebte, auch wenn er früher mit anderen flirtete. Und wie sieht es mit Gisela aus? Möchte sie einen Freund mitbringen?“

„Du wirst es nicht glauben, aber diese junge Frau hat gerade genau das gleiche erlebt, wie du damals. Ihr Freund hat sie sehr enttäuscht, weil er ein kurzes Zwischenspiel mit einer anderen hatte. Sie hat es ihm nicht verziehen und sich von ihm getrennt. Aber sie leidet noch sehr darunter. Vielleicht hast du heute Abend auch ein paar Minuten Zeit und kannst ein paar Worte mit ihr reden?“

„Das kann ich gern tun, falls sie das überhaupt möchte. Vielleicht ist es besser, wenn sie einfach diesen schönen Abend genießt und viel tanzt, damit sie ihren Liebeskummer vergisst. Moro kann leider nicht mehr tanzen, die Zeit ist vorbei, seine Beine machen das nicht mehr mit. Aber ich erinnere mich noch gut daran, wie wir damals getanzt haben in dem kleinen Café in Toblach in Norditalien. Und bei einem der letzten Feste hier im Schloss konnte er mich auch noch ein wenig hin und her schieben. Was bin ich froh, dass er überhaupt noch lebt! Über jede Sekunde bin ich froh, die mir mit ihm geschenkt wird.“

Ich schenkte ihr einen Kaffee ein, den sie in kleinen Schlucken genoss.

Gisela erschien aus dem Badezimmer mit dem Abendkleid über dem Arm. Ich nahm es ihr ab und hängte es auf den Kleiderbügel. Die beiden Frauen begrüßten sich und stellten fest, dass sie sich im Städtchen schon öfter begegnet waren.

„Sie haben ein herrliches Schloss“, lobte Gisela das historische Gebäude. „Es muss fantastisch sein, mit einem so großen Künstler hier zu leben. Ist hier nicht jede Stunde inspirierend, die sie hier gemeinsam mit seinen Bildern erleben?“

„Ganz so, wie Sie sich das vielleicht vorstellen, ist es nicht. Mein Mann kann leider nicht mehr laufen und hat auch zitternde Finger und außerdem nur noch ein Auge, mit dem er richtig sehen kann. Wir leben jetzt hier wie viele andere ältere Leute auch, die mit Beeinträchtigungen fertig werden müssen. Das ist oft sehr mühselig, und mein Mann tut mir dabei oft sehr leid. Trotzdem bin ich glücklich, hier täglich seine wundervollen Werke sehen zu können, und sein Atelier hat eine ganz besondere Stimmung. Dort sitzen wir oft bei einem Gläschen Wein und genießen unser Zusammensein.“

Gisela nickte. „Ach ja! Man stellt sich alles immer so romantisch vor: die große Liebe mit einem Happy End! Aber ein Alltag im Alter, das ist wohl für niemanden leicht, eben auch nicht für Künstler.“

Adelaide nickte. „Ja, es tut weh, zu sehen, wie er nicht mehr schaffen kann, was er möchte. Manchmal arbeitet er noch ein bisschen am Computer oder macht Fotos mit dem Stativ, aber all das, wofür man eine ruhige Hand und gute Augen braucht, das kann er nun nicht mehr, und es quält ihn natürlich und mich damit auch. Trotzdem möchte ich Ihnen jetzt nicht die Stimmung verderben. Genießen Sie heute Abend alle seine großartigen Werke, von denen ich jedes einzelne schätze und manche auch sehr liebe.“

Sie nahm den letzten Schluck Kaffee und verabschiedete sich.

Gisela seufzte. „Die beiden scheinen sich wirklich sehr zu lieben. Ob es bei mir und Thomas genauso stark war? Ich glaube nicht. Sonst hätte ich ihn doch nicht fortgeschickt.“

„Ich weiß es nicht. Gib dir Zeit und finde es einfach für dich heraus.“

Wir zogen uns leichte Frühlingsjacken über und verließen die Wohnung. Als wir unten am Atelier vorbeikamen, drang uns Klaviermusik von Chopin entgegen.

Gisela horchte auf. „Oh! Wer spielt denn da so schön? Sind Moro und Adelaide etwa auch musikalisch?“

„Musikalisch? Wenn du meinst, ob sie ein Instrument spielen, dann nein. Aber sie lieben beide die Musik und genießen sie oft gemeinsam in Moros Atelier. Adelaides Mutter war Pianistin und spielte mit Vorliebe Chopin. Und Moro kannte sie ebenfalls und verehrte sie. Ich denke, wenn die beiden da jetzt gemeinsam der Musik lauschen, dann denken sie auch an die Mama von Ada.“

„Wie gut, dass sich die beiden wenigstens im Alter finden durften“, fand Gisela. „Thomas spielt nämlich auch Klavier, deswegen musste ich jetzt an ihn denken. Und er spielt es immer mit sehr viel Gefühl, das habe ich sehr an ihm gemocht. Er hatte auch eine sehr sensible Seite, und wir ergänzten uns, so wie ich es damals empfand. Wenn ich in meiner Freizeit malte, spielte er Klavier und inspirierte mich. Aber vermutlich kann er nicht treu sein, oder er braucht so viel Bewunderung und Selbstbestätigung von anderen Frauen. Damit kann ich nicht leben, es hat mich ganz klein gemacht. Und wenn so etwas Adelaide jetzt nicht mehr stört, dann liegt es vielleicht auch daran, dass er ihr ja jetzt nicht mehr weglaufen kann, weil er eben gehbehindert ist.“

Wir verließen das Schloss und spazierten die Allee entlang.

„Nein, so ist es nicht. Als sich das Liebespaar vor 18 Jahren wieder begegnete, war Moro noch rüstig und der Schwarm vieler Frauen. Seine sonnige Ausstrahlung ist es, seine Herzlichkeit, die ihn so beliebt macht. Die beiden gehörten damals einem größeren Künstlerkreis an, in dem sich viele Frauen mit Rossini befreundeten. Und die eine oder andere wollte auch mehr von ihm. Da gab es dann manchmal auch einen großen Chat, den alle gemeinsam miteinander veranstalteten. Ada erlebte damals, wie diese Frauen ihren Liebsten umschwärmten, und er es sich gefallen ließ. Es dauerte schon eine ganze Weile, bis sie verstand, dass diese ganze Flirterei nichts mit seinen Gefühlen zu ihr zu tun hatte. Irgendjemand hat mir einmal gesagt, fast alle Männer wären so. Na ja, wie auch immer, bei Moro stimmt das jedenfalls. Bei ihm läuft das alles völlig getrennt ab, die Flirterei und seine Gefühle für Ada.“

Wir bogen von der Kastanienallee links ab in Richtung Innenstadt, zu beiden Seiten der Straße leuchteten uns Blütenbäume entgegen. Ein leichter Windstoß ließ die Blütenblätter wie Schneeflocken sanft schwebend herunterregnen.

„Im Alter wird man eben gelassener“, vermutete Gisela. „Ich bin jedenfalls noch nicht so weit. Und ich erwarte von einem Mann, dass er mir ganz treu ist. Vielleicht könnte ich das Flirten wirklich verzeihen, aber die Affäre mit einer anderen, damit hat mich Thomas schon sehr verletzt. Am besten vergessen wir das Ganze jetzt, damit wir den Kopf frei haben für dieses besondere Fest hier. Wo beginnt der Festzug?“

„Wie immer am Märchenpark. Beim alten Brunnen gegenüber der „Traube“ sind wir mittendrin. Dort ist ein kleiner Park, die Wagen halten kurz an, und wir haben die Gelegenheit sie uns eine Weile länger anzuschauen.“

Wir bogen in die Hauptstraße ein, auf der sich schon viele Menschen zu beiden Seiten versammelt hatten und in Reihen die Fahrbahn säumten.

An der Bank vor dem Brunnen fanden wir den letzten freien Platz direkt am Rand des Gehsteiges.

Von weitem hörte man die Klänge einer Walzermusik, die langsam lauter wurden.

„Es ist hier üblich bei dieser Zeremonie, die Wagen genau in entgegengesetzter Reihenfolge, also anders als es beim Karnevalszug üblich ist, durchfahren zu lassen“, erklärte ich Gisela.

„Wie soll ich das verstehen?“

„Der Wagen mit der Blütenkönigin kommt als Erster herangefahren. Das soll einfach bedeuten, dass sie eine Hoheit ist, die vor ihrem Gefolge zuerst ans Ziel kommt.“

„Und wo ist dieses Mal das Ziel? Wieder an der Gemeindehalle?“

„Nein. Die Wagen fahren gleich durch bis zum Schloss. Dort wird die Hoheit dann von Adelaide und Moro begrüßt. Hast du denn noch nie diesen Umzug gesehen?“

Sie schüttelte leicht den Kopf. „Bisher noch nicht. Irgendwie kam immer etwas dazwischen, in der Regel war es irgendetwas mit meiner Großmutter, die dann gerade krank war, oder für die ich irgendetwas Wichtiges tun musste. Deswegen bin ich jetzt auch schon so gespannt, natürlich auch auf die schöne Lavinia.“

Hinter uns ertönte die Stimme eines Mannes. „Na, kleiner Mann, du stehst aber da ganz gefährlich auf dem Brunnenrand. Wenn du so weiter machst, wirst du noch hineinfallen. Das gefällt mir aber gar nicht. Die beiden netten Damen da vorne werden dich bestimmt zu sich nehmen. Von dort kannst du besser schauen und wirst nicht gleich ins Wasser fallen.“

Wir drehten uns um zu einem älteren Herrn, der uns freundlich ansah. „Nicht wahr?! Sie passen doch bestimmt gern auf den Jungen hier auf. Auf dem Brunnenrand ist es viel zu gefährlich für ihn. Und wenn die Wagen gleich kommen, möchte ich ganz gern auch in Ruhe etwas sehen. Gehört der Kleine zu Ihnen?“

Wir schüttelten beide den Kopf. Gisela wandte sich an das Kind, das uns mit großen dunklen Augen treuherzig ansah. Der Junge mochte etwa fünf Jahre alt sein, trug eine saubere Jeans und einen gestreiften Pullover. Sein dunkles Haar fiel in weichen Locken um sein herzförmiges Gesicht.

„Wie heißt du denn, und zu wem gehörst du?“ fragte ihn Gisela.

Er sah uns freundlich an, gab ihr aber keine Antwort.

„Sind deine Eltern auch irgendwo?“ versuchte es Gisela erneut, ihn zum Reden zu bringen.

Doch er sah sie nur mit großen Augen an und schwieg.

„Möchtest du lieber hier vorn bei uns stehen? Dann kannst du von hier aus alles sehr genau beobachten?“fragte ich ihn.

Er nickte, kletterte vom Brunnenrand herunter und stellte sich zu uns.

Der ältere Mann wandte sich erneut an uns. „Ja, da kann er ja erst einmal stehen bleiben. Aber wenn der Umzug vorbei ist, müssen wir unbedingt seine Eltern suchen. Es ist viel zu gefährlich für ihn allein bei diesem Fest. Hier ganz in der Nähe ist doch auch ein Polizeirevier.“

„Ja, gleich in der Nähe von Rosenturm“, wusste ich. Aber Ben, der Polizist, wird auch hier gleich vorbeikommen, den kenne ich sehr gut. Vielleicht kann der uns auch behilflich sein.“

Der ältere Herr nickte und zeigte uns ein zufriedenes Gesicht. „Gut, wenn Sie das vielleicht übernehmen wollen, junge Dame! Wenn Sie diesen Herrn kennen, wird das Kind bei ihm bestimmt erst einmal gut aufgehoben sein, und er kann seine Eltern dann gleich ausrufen lassen.“

„Ich werde das gleich mit Ben absprechen“, versprach ich ihm.

„Kannst du so gut sehen?“ erkundigte sich Gisela bei dem Jungen.

Er nickte eifrig, während die Musik, immer lauter werdend, den Wagenumzug ankündigte. „Wo sind denn deine Eltern?“ wandte sich sie sich erneut an den Kleinen.

Er zuckte die Schultern. „Weiß ich nicht“, meinte er gleichgültig.

„Und dein Name?“ bohrte sie weiter.

„Weiß ich auch nicht.“

„Aber du möchtest jetzt hier diesen Umzug gucken, ja?“

Er nickte eifrig. „Ja.“

Gisela ließ nicht locker. „Aber dann gehst du wieder zu deinen Eltern nach Hause.“

„Nein“, antwortete er fest.

„Warum nicht?“

„Ich habe keine Eltern.“

„Wohnst du denn dann bei deiner Oma oder vielleicht in einem Heim?“

„Nein. Ich wohne hier im Park hinter dem Brunnen dort.“

„Aber da kann man doch nicht wohnen. Da ist es doch nachts viel zu kalt.“

Er sah sie düster an. „Das geht schon. Das muss sein.“

Gisela und ich, wir sahen uns verständnislos an. „Was mag da nur los sein?“ überlegte ich und wandte mich wieder an den Jungen.

„Wenn du keinen Namen hast, wie sollen wir dich dann nennen?“

„Egal“, sagte er leichthin.

„Dann nenne ich dich Nico. Findest du das gut?“

„Ist okay“, fand er.

„Und du bist ganz sicher, dass dich deine Eltern jetzt nicht suchen?“

„Ganz sicher.“

In diesem Moment erschien der erste Wagen des Umzuges. Zwei weiße Pferde zogen eine mit Blütenzweigen geschmückte, weiße Kutsche, die von einem Kutscher in einer weißen Livree geführt wurde. Während Walzerklänge aus irgendeinem geheimen Versteck den Wagen begleiteten, grüßte die Blütenkönigin die Passanten mit einem strahlenden Lächeln. Ihr schwarzes Haar kontrastierte zu dem zartrosa Traum aus Tüll und Spitzen, der sie umhüllte. Blütenzweige der japanischen Kirsche umrankten ihren Sitzplatz und strömten einen zarten Duft aus. Zarte Blütenknospen legten sich in einem Kranz über ihre Stirn.

Wie erwartet hielt die Kutsche neben uns kurz an.

„Sie sieht ja schön aus“, fand Nico. „Wie eine richtige Prinzessin aus meinem Märchenbuch!“

„Soll ich dich einmal hochheben?“ bot ihm der ältere Herr an.

Er sah ihn misstrauisch an. „Nein. Das will ich nicht.“

In diesem Augenblick hatte die Blütenkönigin den Kleinen entdeckt. Sie sah ihn aufmerksam an und schien einen Augenblick zu überlegen.

„Magst du ein kleines Bilderbuch?“ Sie beugte sich zu ihm hinunter. „Für Kinder habe ich hier ein Karton mit Spielzeug, kleine Bälle oder auch Mini-Bücher. Magst du etwas davon?“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Bilderbücher sind was für Babys. Ich kann schon lesen und werde bald sechs Jahre alt.“

„Magst du denn eine Süßigkeit?“ fragte sie freundlich weiter. Immer noch betrachtete sie ihn eingehend.

„Ich nehme nichts von fremden Leuten“, wehrte er ab.

„Wir könnten uns aber kennen lernen“, schlug sie ihm vor. „Wie heißt du denn, und wo kommst du her?“

Er nahm schnell meine Hand. „Ich heiße Nico und gehöre hier zu dieser Frau.“

„Nun, ich heiße Lavinia. Und wenn du magst, werde ich dich einmal besuchen.“ Sie wandte sich an mich. „Verraten Sie mir, wo Sie wohnen?“

„Im Schloss von Sankt Augustine, bei Adelaide und Moro Rossini, dem berühmten Maler. Mein Name ist Abigail Mühlberg.“

„Ach ja, von Ihnen habe ich auch schon gehört. Ich melde mich dann bei Ihnen.“

Gerade als ich ihr sagen wollte, dass Nico nicht zu mir gehörte, erschien das Ehepaar Bühler und reichte der Blütenkönigin Wein und Wasser zu Begrüßung.

Der Bürgermeister von Sankt Augustine trat ebenfalls hinzu, begrüßte Lavinia, und hielt eine kleine Ansprache. Bevor ich noch einmal die Gelegenheit hatte, mit der Blütenkönigin zu sprechen, setzte sich die Kutsche wieder in Bewegung und fuhr davon.

Ich wandte mich an den kleinen Jungen. „Warum hast du ihr gesagt, dass du zu mir gehörst?“

Er sah mich kess an. „Du hast mir doch auch einen Namen gegeben. Dann bist du jetzt so etwas wie meine Patentante. Wenn das hier vorbei ist, nimmst du mich dann mit zu dir?“

Ich zog die Stirn in Falten. „Aber du musst doch wieder nach Hause. Irgendwer sucht sich bestimmt.“

„Nein. Es weiß ja niemand, dass ich weg bin. Und es kann auch keiner merken. Nimmst du mich nun mit zu dir nach Hause?“

„Vielleicht ist das sogar erst einmal das Beste, bis wir wissen, wohin du gehörst. Aber ich muss gleich Ben Bescheid sagen. Der muss wissen, wo du bist, falls dich jemand sucht.“

„Aber wenn der Ben weitersagt, wo ich bin, dann laufe ich weg. Das musst du ihm sagen“, ordnete er an.

Gisela beugte sich ebenfalls zu ihm. „Ich verspreche dir, auch niemandem etwas davon zu sagen, dass du bei Abigail bist. Und du hast Glück, sie hat mir heute Morgen verraten, dass ihr Freund gerade nicht zu Hause ist.“

Er sah mich neugierig an. „Du hast einen Freund? Wo ist der denn?“

„Er ist für ein paar Tage in seine Heimat gefahren, nach Italien. Seine Mutter ist krank, da wollte er sie besuchen. Und wenn du im Schloss bist, kannst du dort auch mit anderen Kindern spielen. Da wohnen nämlich auch noch Michi mit seiner Mutter Beate und Lena, ebenfalls mit ihrer Mutter, sie sind allerdings beide schon zehn Jahre alt.“

„Ich brauche keine neuen Freunde. Ich spiele gerne mit mir allein. Aber mit kleinen Kindern spiele ich sowieso nicht. Manche sind mit zehn Jahren auch noch wie Babys.“

Ich verkniff mir ein Lachen. „Ja, auf mich wirkst du auch schon wie ein größerer Junge. Aber du kannst sicher sein, im Schloss gibt es bestimmt etwas, das dich interessiert. Kennst du Moro Rossini?“

„Nö! Wohnt der auch dort?“

„Ja, und ihm gehört sogar das Schloss. Er hat viele Bilder gemalt in seinem Leben, viele Skulpturen gemacht, und nun ist er schon ziemlich alt. So alt, dass er nicht mehr richtig laufen kann.“

„Na ja, dann kann er mir auch nicht mehr hinterherrennen. Dann muss ich mich vor ihm nicht fürchten“, bemerkte er trocken.

„Rennt dir denn sonst jemand hinterher?“ versuchte ich ihn auszufragen.

„Nein“, presste er heraus und verstummte.

Der Kutsche mit der Blütenkönigin folgten dreißig weitere Wagen, auf denen es vorwiegend Papier- und Seidenblumen gab. Lediglich zwei oder drei Gebinde an frischen Blumen und Blütenzweigen waren pro Wagen gestattet worden.

Gisela wandte sich an den Kleinen. „Weswegen bist du hierher gekommen? Wolltest du dir diese Blumen hier anschauen? Oder möchtest du jemanden besuchen?“

Er sah sie strafend an. „Ich will niemanden besuchen. Ich bin einfach nur so hier. Wohnst du auch in dem Schloss?“

„Nein, ich habe nur ein kleines Zimmer in der Nähe vom Rathaus. Aber das gefällt mir auch ganz gut. Ich kann zum Beispiel zu Fuß morgens zu meiner Arbeit gehen, wenn ich dort in die Tierarztpraxis muss.“

„Du machst was mit Tieren? Das finde ich cool. Mit welchen Tieren denn?“

„Oh, mit allen möglichen. Mit Pferden und Hunden und Katzen, mit Hasen und Hamstern und Vögeln, neulich hatten wir auch ein Lämmchen, das krank war. Aber wir konnten es wieder gesund pflegen. Magst du auch Tiere?“

Er überlegte. „Eigentlich schon.“

Gisela bohrte weiter. „Hast du auch ein Tier?“

„Nein“, antwortete er knapp.

Der letzte Wagen fuhr an uns vorüber. Hinter dem Zug folgte das Polizeiauto, in dem Ben mit einem Kollegen saß. Er grüßte uns, hob den Daumen und machte uns ein Zeichen mit der Hand, was so viel bedeutete wie, wir sehen uns gleich.

Ich wandte mich an Gisela. „Er fährt wohl mit zum Schloss, wo erst einmal jetzt ein großes Kuchenbuffet in der Schlossküche aufgebaut ist. Wir werden ihn sicher später treffen. Magst du Kuchen, Nico?“

„Was gibt es denn für welchen?“

„Ich glaube, so ziemlich jede Sorte. Obstkuchen, Sahnetorten, Schokoladenkuchen, wahrscheinlich für jeden Geschmack etwas.“

„Gibt es da auch Berliner?“

„Ja, dieses Gebäck gibt es hier auch. Aber sie haben hier einen anderen Namen. Sie heißen im Schloss „Augustiner“ nach diesem Ort. Adelaide bäckt sie nach einem alten Rezept und fand es sehr lustig, diesen Namen dazu zu erfinden.“

„Dann ist sie wie eine richtige Oma?“ erkundigte sich Nico.

„Ja, so ungefähr. Sie ist ein paar Jährchen jünger als der Maler und kann deswegen auch noch laufen oder auch kochen und backen. Sie freut sich immer, wenn Kinder aufs Schloss kommen.“

„Na, dann können wir los“, entschied Nico.

Der ältere Herr verabschiedete sich von uns und gab uns seine Telefonnummer. „Bitte sagen Sie mir noch Bescheid, wenn Sie mehr über den Jungen wissen. Da macht man sich doch große Sorgen, ich bin selbst Vater und Großvater. Da weiß ich, was das heißt.“

Wir versprachen ihm, uns zu melden, während Nico zum Aufbruch drängelte.

„Jetzt habe ich großen Hunger. Ist es noch weit?“

Gisela verstand es, ihn mit kleinen Geschichten aus der Tierarztpraxis abzulenken, sodass er schließlich aufmerksam zuhörte und zutraulich neben uns herging.

Mittendrin sah er uns treuherzig an und sagte: „Ich glaube, ihr seid okay.“

***

3.Kapitel

Während Gisela im Schloss den kleinen Jungen mit Kakao und den frisch gebackenen Augustinern versorgte, erklärte ich Adelaide, unter welchen Umständen wir ihn gefunden hatten und erzählte das Wenige, das wir von ihm wussten.

„Der arme Kleine“, bedauerte Ada das Kind. „Warum ist er nur weggelaufen? Bestimmt machen sich die Eltern wahnsinnige Sorgen um ihn. Ben wird auch gleich hier sein, dann kann er sofort eine Suchmeldung herausgeben. Sie müssen sofort im Fernsehen und in der Zeitung ein Bild von ihm veröffentlichen.“

„Damit müssen wir sehr vorsichtig sein“, erklärte ich ihr. „Nico hat uns nämlich gedroht, dass er sofort von uns wegläuft, wenn wir ihn auf diese Art und Weise suchen. Das Bild geben wir natürlich an die Polizei, aber es ist besser, wenn die wartet, bis sich die Eltern melden. Vielleicht haben sie es ja auch schon getan, und der Fall ist schnell gelöst. Jetzt müssen wir erst mal dafür sorgen, dass es ihm gut geht. Denn hier bei uns im Schloss ist er nicht in Gefahr.“

„Gut, dann wollen wir nichts tun, was ihn vertreiben könnte. Sollten wir vielleicht einen Arzt hinzuziehen, der das Kind untersucht? Vielleicht hat er sein Gedächtnis verloren?“

„Ich glaube nicht. Auf mich wirkt er völlig normal. Aber irgendeinen Grund wird er schon haben, warum er von dort weggelaufen ist, wo er lebt. Und ich glaube, es gibt mehrere Gründe, warum er uns seinen Namen nicht verrät.“

Adelaide sah mich fragend an. „Und? Was denkst du dir?“