Als die Wahrheit stürzte: Die Schamfreien - Yeong Hwan Choi - E-Book

Als die Wahrheit stürzte: Die Schamfreien E-Book

Yeong Hwan Choi

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Beschreibung

Wie überlebt der Mensch in einer Welt, in der Moral zur Sprache der Macht geworden ist? Dieses Buch ist das Protokoll eines Zeugen, der das Sterben der Ethik gesehen hat – der Versuch, das Menschliche zu bewahren, wenn Politik bereits entmenschlicht ist. Während Menschen Reisepläne machen, steigen die Preise, und aus der Polizei wird Staatssicherheit. Sonderermittler handeln nicht mehr im Namen des Rechts, sondern im Dienst der Macht. Die Jüngeren tragen Schulden, Unternehmen gehen, Arbeit verliert Sinn. Und inmitten dieses schleichenden Zerfalls beugen sich Menschen nicht mehr vor Göttern, sondern vor Systemen. Finanzströme verschieben Märkte, Nachtökonomien kaufen Zeit; eine Generation lernt, dass Freiheit ein Wort ist, das sich leicht verhaften lässt. Medien wählen ihre Wahrheiten nach Zweck, nicht nach Wirklichkeit. Der Staat spricht im Ton der Moral, doch seine Sprache dient der Verwaltung. So beginnt ein neues Zeitalter des Gehorsams – höflich, bürokratisch, unauffällig. Ich beobachtete, wie Moral stirbt: nicht im Krieg und nicht im Aufruhr, sondern in Formularen, in Sätzen, in jenen Momenten, da Verantwortung an „Verfahren“ delegiert wird. Die Lüge wird Routine, Schweigen wird Tugend. Das Böse braucht keinen Zorn mehr; Effizienz genügt. „Was geschieht mit der Sprache des Menschen, wenn das Gesetz zu einem Werkzeug der Bestien wird?“ Diese Frage steht am Anfang dieses Buches – und bleibt als Zumutung bestehen. Denn wer die Sprache verliert, verliert den Begriff des Guten. Und wer das Gute verliert, beginnt, das Nützliche für das Gerechte zu halten. In einer Welt, die Moral als Ressource verbucht, versucht der Einzelne, Mensch zu bleiben – tastend, widersprüchlich, verletzlich. Dies ist kein Bericht über ein einzelnes Land, sondern über eine Zeit: eine Zeit, in der Ethik zum Luxus wird und Wahrheit nur noch als Risiko existiert. „Als die Wahrheit stürzte“ ist ein politisches Tagebuch in der Form des Bekenntnisses. Es erzählt von Menschen, die sich weigern, Bestien zu werden – und davon, wie schwer es ist, menschlich zu bleiben, wenn Scham und Verantwortung aus der Welt gefallen sind. „Wenn Moral zur Waffe der Macht wird, tragen die Bestien die Maske der Menschlichkeit. Diejenigen aber, die sie abreißen, sind am Ende die letzten Menschen dieser Erde.“

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Seitenzahl: 253

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Als die Wahrheit

stürzte

Veröffentlicht am: 31. Oktober 2025

Autor: Yeong Hwan Choi

Dieses Buch ist in Form eines persönlichen Tagebuchs verfasst und verwebt Reflexionen über die Politik in Korea, den Vereinigten Staaten und Teilen Europas.

Es erhebt keinen Anspruch auf eine umfassende Analyse, sondern versteht sich als der Versuch einer einzelnen Person, die Fragmente einer Epoche festzuhalten.

© 2025 Yeong Hwan Choi. Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Werkes darf ohne die vorherige schriftliche Genehmigung des Autors vervielfältigt, in ein Informationssystem aufgenommen oder in irgendeiner Form – elektronisch, mechanisch, durch Fotokopie, Aufnahme oder auf andere Weise – übertragen werden.

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Copyright-Seite

Als die Wahrheit stürzte: Die Schamfreien

Wenn eine Gemeinschaft das Gute definiert, | ist die Moral bereits gestorben.

Vor dem langen Feiertag

Die Insider

Gespräch mit alten Schulfreunden

Im Begriff, nach Japan zu reisen

Der Geruch der Tinte

Das Gewicht des Lauchs

Ein Land, das falsch gebügelt wurde

Kapital ohne Besitz

Und schließlich: Vertrauen über dem Wasser

Die Stadt der erlaubten Träume – Seoul

Der Wind hat zweimal die Richtung geändert.

Die Freiheit fällt vom Himmel

Die Karte des unausgereiften Oberhaupts

Der Mann, der die Glühbirne wechselt

Das Land der Berechnung, die Steuer auf den Atem

Vom Unterricht der Wahrheit

Die Zeit, in der wir verweilten

Das junge Selbstbild eines alten Landes

Der Rechtsstaat unter dem Stiefel der Ordnungsmacht

In den Straßen, in denen die Arbeit verstummt ist

Wenn die Scham das Wort ergreift

Von der Moral im Zeitalter der Bestien

Die Schamfreien

Yeong Hwan Choi

Wenn eine Gemeinschaft das Gute definiert,

ist die Moral bereits gestorben.

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Das Verhalten der südkoreanischen Bewegung, die sich selbst als moralische Avantgarde begreift, besitzt kaum noch die Kraft, junge Menschen zu berühren. Sie wiederholt, unermüdlich und beinahe automatisch, Parolen wie „vom Volk gewollt“, „für das Volk“, „für die Arbeiter und die sexuellen Minderheiten“ – Worte, die einst aufrütteln sollten, heute aber in den Ohren der Beobachter nur noch wie das Echo einer erschöpften Selbstrechtfertigung klingen. Es fehlt nicht nur an Aufrichtigkeit und Gewissen, sondern vor allem an jenem inneren Willen, der die Moral überhaupt zu bewahren vermöchte.

Die Politik ist, seit man sich erinnern kann, zu einem Markt geworden, auf dem Legitimität wie eine handelbare Ware zirkuliert. Viele, die sich ohne Verantwortung am Rande der Macht halten, sind ehemalige Straftäter; und gerade sie verstehen es am besten, Moral in Macht zu verwandeln. Sie sagen, der Mensch komme zuerst, und jedes Leben sei kostbar, doch in Wahrheit schätzen sie nur das Leben, das ihrem eigenen Nutzen dient, das in ihre Erzählung von Gerechtigkeit passt und den eigenen moralischen Frieden nicht stört; alles andere wird übersehen, als gehöre es nicht mehr zur Welt, die sie zu verteidigen vorgeben.

Der Tod des einen wird betrauert, der des anderen übergangen – als hätte die Würde des Menschen eine politische Farbe. So werden politische Soldaten geehrt, während Polizei und Staatsanwälte zu bloßen Vollstreckern der Macht herabsinken, die die Straßen im Namen der Ordnung kontrollieren. Sie reden von Demokratie, doch das Bild, das sie entwerfen, erinnert immer stärker an die alte Figur der Zentralherrschaft – eine Herrschaft, die durch Zwang und Kontrolle das Gemeinwesen in der Faust hält, und deren Vertrautheit weniger beruhigt als beunruhigt.

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Nun streifen jene Kreaturen ungehindert durch die Straßen, sie bellen in Richtung der Macht und zerreißen mit bloßen Zähnen die Kehlen derer, die ihnen im Weg stehen, um sich ihren Anteil am Fleisch zu sichern. Die Orte, an denen Gesellschaft gestaltet, Institutionen geschaffen und Gesetze ausgelegt werden sollten, sind längst von einem Gestank erfüllt, der weniger nach Verfall als nach moralischer Verwesung riecht. Betrachtet man dieses Schauspiel im Maßstab einer Welt, die noch an Verantwortung glaubt, erkennt man, wie sehr die Macht selbst zum Schauspiel geworden ist. In dieser verzerrten Bühne der

Geschichte treten manche Staaten deutlicher hervor als andere.

Das Nachbarland China trägt noch immer das Erbe des kommunistischen Systems auf seinem Rücken: das Kollektiv steht über dem Einzelnen, und die Moral ist zu einem Instrument der Macht verkommen. Die Ironie, dass ausgerechnet das Land, das sich selbst an der Front der Linken sieht, dem Materiellen huldigt, ist kaum zu übersehen.

Und doch, obwohl das System in Indien ein anderes ist, zeigt sich dort eine ähnliche Struktur: Unter Premierminister Modi, in dem bevölkerungsreichsten Land der Welt, bleibt das Bewusstsein für öffentliche Ordnung blass, und die Schuld über den Schaden, den man anderen zufügt, scheint kaum empfunden zu werden. Gewiss, dies ist eine pauschale und daher ungenaue Beobachtung. Doch in beiden Ländern ist das Gemeinsame unverkennbar: Geld steht vor Moral, Nutzen vor Gerechtigkeit.

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Betrachtet man sie unter dem Sammelnamen BRICS, könnte man meinen, sie seien durch eine antiwestliche Solidarität vereint; tatsächlich jedoch handelt jedes Land nach dem Maß seiner eigenen Vorteile, und selbst zwischen China, Indien und Russland hallen stetig Misstöne. Die Spannungen entlang ihrer gemeinsamen Grenzen verflüchtigen sich ebenso wenig wie das Misstrauen, das sich zwischen ihnen eingenistet hat – ein Misstrauen, das vielleicht tiefer wurzelt als jede politische Allianz.

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Manchmal frage ich mich, ob das, was wir „das Gute“ nennen, überhaupt existiert – und nach wessen Maß das „Böse“ gemessen wird. Diese beiden Worte, die niemand eindeutig zu fassen vermag, verändern ihr Gesicht mit der Zeit, mit dem Ort, mit der Macht, die gerade spricht. In Korea erklären linke Politiker, die junge Generation sei zu sehr an die westliche Kultur, an die Rechtsstaatlichkeit gewöhnt, und entferne sich deshalb von der traditionellen asiatischen Moral. Doch was, so frage ich, ist das für eine Moral, von der sie sprechen?

Trägt die Moral, die in der chinesischen Form der Kontrolle oder in der indischen Kastenordnung definiert wird, wirklich das Wesen des Menschlichen in sich? Ich behaupte nicht, dass die westliche Rechtsordnung vollkommen sei. Aber sie hat, wenigstens in ihrer Idee, die Moral nie als Unterabteilung der Macht verstanden. Europa hat sich gewandelt, ja, aber früher war es undenkbar, das Gute und das Böse nach politischer Zweckmäßigkeit auszulegen.

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Ich wollte nicht über den Konfuzianismus sprechen. Er diente über Jahrhunderte dazu, Hierarchien zu festigen und Formen zu bewahren, statt Menschen zu befreien. Ich gestehe, ich verabscheue ihn – nicht aus Unwissenheit, sondern weil er mehr Schein als Sinn, mehr Ordnung als Menschlichkeit hervorbringt.

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Die Moral, von der ich spreche, ist eine andere: jene feine Aufmerksamkeit, die aus der Vorstellung erwächst, dass jemand durch mein Handeln verletzt werden könnte; jene Sensibilität, die ahnt, dass ein beiläufiges Wort eine Wunde hinterlassen mag. Eine Moral, die schneller wirkt als jedes Gesetz und zarter ist als jede Institution – ein Empfinden, das nicht fragt, „was ist recht?“, sondern „füge ich Unrecht zu?“

Diese ungeschriebenen Formen der Ethik, die in keinem Gesetzbuch stehen und in keiner Doktrin Platz finden, werden heute von den gleichen Kreaturen mit Füßen getreten, die sich selbst zu Herren dieser Gesellschaft erklärt haben. Und ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass auch jene, die ihre Herrschaft noch verteidigen, schon die Gestalt dieser Kreaturen angenommen haben.Vielleicht muss man schreiben, um nicht selbst zu verrohen; fragen, um nicht zu verstummen; und zweifeln – nicht um ein Gewissen zu behalten, sondern um zu spüren, dass es noch da ist. Und doch führt jedes Fragen unweigerlich zu einer weiteren Frage.

Indien und China – schon diese beiden Länder vereinen nahezu sechsunddreißig Prozent der Weltbevölkerung innerhalb ihrer Grenzen. Jeder dritte Mensch auf dieser Erde lebt also in einem dieser beiden Räume, deren Bedeutung weniger aus ihrer geographischen Ausdehnung als aus der Konzentration menschlicher Existenz resultiert. Doch kann eine solche Masse an Menschen wirklich zur Grundlage einer weltweiten Vorherrschaft werden? Und genügt es, über seltene Erden zu verfügen oder durch Kapital und Produktionsvolumen ganze Nachbarstaaten in wirtschaftliche Abhängigkeit zu bringen, um den Anspruch auf die Weltordnung zu erheben? Die eigentliche Frage war, ob sie imstande wären, die von den Vereinigten Staaten geprägte Ordnung tatsächlich zu verändern – eine Ordnung, die einst fest gefügt schien und nun Risse zeigt, die erst im Licht der Gegenwart sichtbar werden.

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Die Welt gleicht einer offenen See, auf der zwei Großmächte aufeinanderstoßen – China und die Vereinigten Staaten. Zwischen ihnen bewegen sich unzählige kleinere Nationen, die von den Erschütterungen betroffen sind, ohne je Teil des Kampfes zu sein. Zugleich explodieren die Migrationsbewegungen, und die Diplomatie der Staaten verwandelt sich in eine Akrobatik des Überlebens, bei der jeder Schritt zugleich Rettung und Risiko bedeutet. Selbst nachdem die Europäische Union nach dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine ihre Abhängigkeit von russischen Energieressourcen verringert hatte, und selbst nachdem Japan versucht hatte, die Versorgung mit chinesischen seltenen Erden zu diversifizieren, blieben die meisten Länder doch in jenem unsichtbaren Netz gefangen, das China und Russland mit ihren Rohstoffen spannen.

Auch innerhalb des Westens traten Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union zutage, während in Asien eine Regierung in Südkorea, die sich Peking verpflichtet fühlt, eine spürbare Distanz zu Washington erkennen ließ. Selbst innerhalb der sogenannten „Five Eyes“ fiel der Schatten Pekings – in Australien ebenso wie in Kanada. In Südamerika hingegen zeigte sich ein widersprüchliches Bild: hier formierten sich Bewegungen im Zeichen eines entschiedenen Antiamerikanismus, dort kehrten Regierungen wieder in die Umlaufbahn der Vereinigten Staaten zurück. So entstand der Eindruck einer langsamen, aber unwiderruflichen Verschiebung des weltpolitischen Schwerpunkts.

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Doch bald stieß auch diese Betrachtung an ihre Grenze: Warum kann China keine hegemoniale Macht werden? Warum muss das, was sich als Fortsetzung der alten Idee des „Reiches der Mitte“ versteht, notwendig scheitern? Und weshalb bleibt die BRICS-Allianz unfähig, die von den westlichen Staaten vertretenen Werte in eine tragfähige Ordnung zu überführen?

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Russland bildet eine eigene Kategorie, doch im Ganzen fehlt der Moral dieser Staaten jene Kraft, die andere zu überzeugen vermag. Erzwungene Kollektivität erzeugt Widerstand, und das „Gute“, das China propagiert, dient einzig der Aufrechterhaltung innerer Ordnung. Wie bereits gesagt, geht es hier nicht um ethnische oder kulturelle Unterschiede, sondern um die Unfähigkeit, aus einem partikularen Machtverständnis eine universelle Idee zu formen. Unter der Herrschaft der Partei entsteht eine Hierarchie, die sich selbst als Naturgesetz ausgibt, und eine Politik, die die Macht an die Stelle des Göttlichen setzt. So gerät sie notwendig in Konflikt mit jeder Vorstellung von Moral. Gesteuerte Medien, das Verschwinden der individuellen Freiheit, die sichtbare Gewalt der sozialen Schichtung – all dies macht verständlich, warum China, bei aller wirtschaftlichen Stärke, nicht jene moralische Autorität besitzen wird, die eine Weltführung verlangt.

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Zivilisation entsteht nicht aus Zahlen und nicht aus dem Vorrat an Ressourcen. Sie gründet auf dem ethischen Fundament derer, die in ihr leben, auf ihrer Fähigkeit, sich das Leid des anderen vorzustellen, und auf der Haltung, mit der sie dem Fremden begegnen. Fehlt dieses innere Gefüge, zerfällt selbst das größte Reich von innen her. So berührte meine Frage nach der Zukunft der Macht notwendig jene andere, stillere: Welche Welt ist die menschlichere?

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In dem Augenblick, da die Freiheit verschwindet, verliert die Macht ihre Richtung. Eine Gesellschaft ohne Freiheit kennt keine schöpferische Kraft; Vertrauen wird zur bloßen Form, und jede Erneuerung muss sich die Erlaubnis der Herrschenden holen. Ein solches System mag länger bestehen, als man erwartet, doch niemals wird es Achtung hervorrufen.

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Hegemonie ist die Macht der Erzählung. Sie entsteht dort, wo andere Völker den Wunsch verspüren, Teil einer Ordnung zu sein, die ihnen Sinn verspricht. Dass die Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zur führenden Macht wurden, lag nicht an der Waffe, sondern an der Geschichte, die sie erzählten – der Geschichte von Demokratie, freiem Markt und den Rechten des Einzelnen. Diese Ideale wurden kritisiert, ja, doch sie bewegten die Welt, weil sie Freiheit atmeten.

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Wenn alte Politiker heute behaupten, die Jugend habe sich zu leicht in die westliche Ordnung gefügt, verkennen sie, was dort wirklich geschah. Das, was sie bewundern – China –, hat niemals sagen können: „Tretet in unsere Ordnung ein, und ihr werdet freier, wohlhabender, menschlicher sein.“ Ein solcher Satz existiert in der chinesischen Sprache nicht. Darum nutzen viele Länder, auch jene, die zu BRICS zählen, China nur, sie folgen ihm nicht. Sie brauchen es, aber sie glauben ihm nicht.

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Die internationale Ordnung bleibt im Kern dieselbe.

Die Vereinigten Staaten sind geschwächt, doch sie verkörpern noch immer eine Ordnung, der man sich anschließen möchte.

China ist erstarkt, aber es ist eine Macht, der man sich anpasst – nicht aus Überzeugung, sondern aus Furcht.

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Ein Staat ohne Moral kann die Vorherrschaft erringen, aber nicht rechtfertigen. Macht kann eine Zeit lang Achtung erzwingen, doch nur die Moral vermag sie zu erhalten. Darum wird die heutige Führung Südkoreas keine positive Spur in den kommenden Generationen hinterlassen. Sie sind Pragmatiker, die sich als Gerechte ausgeben, und sie betrachten die Moral nicht als Sache des Gewissens, sondern als Werkzeug der Regierung.

„Im Namen des Volkes“ wird zur Formel der Kontrolle, „Frieden und Entwicklung“ zum Mittel wirtschaftlicher Unterwerfung, „Menschenrechte“ zum Schild gegen jede innere Kritik. Wenn viele Menschen die Kommunistische Partei Chinas als unmoralisch empfinden, so liegt das nicht an einem fremden Maßstab, sondern daran, dass ihr Vokabular kein Gewissen kennt.

Um sie zu verstehen, muss man die Grammatik ihrer Moral begreifen. Ich suchte sie weder in den konfuzianischen Riten noch in den sozialistischen Lehrbüchern. In dieser Genealogie überlagern sich drei Namen: Han Feizi, Konfuzius und Mao. Sie gehören verschiedenen Epochen an und tragen unterschiedliche Gesichter, doch sie begegnen einander in einem einzigen Satz: „Das Rechte kommt von oben.“

Bei Han Feizi war Ordnung eine Technik der Herrschaft. Das Gesetz war kein Instrument zum Schutz der Untertanen, sondern der Stab in der Hand des Souveräns. Belohnung und Strafe wirkten mit der Präzision eines chirurgischen Eingriffs, und Tugend wurde nicht als Ausdruck menschlicher Freiwilligkeit verstanden, sondern als Funktion der Berechnung.

Konfuzius trug ein anderes Gesicht. Er sprach von Anstand und Tugend, von Harmonie und Maß. Doch auch diese Harmonie setzte Hierarchie voraus: Vater und Sohn, Herrscher und Diener – jeder mit seiner Stimme, seinem Platz, seinem Gesicht. Tugend mag gut sein, doch wenn Ansehen und Rolle vorangestellt werden, erstickt sie leicht die Freiheit des Einzelnen. So verlagerte sich der Maßstab des Urteils von den Prinzipien auf die Beziehungen, von der Allgemeinheit auf die Funktion. Hinter dem Antlitz der Tugendherrschaft blieb das Skelett der Hierarchie unversehrt.

Mit Mao Zedong wurde die Moral neu definiert. Revolution und Staatsziel trennten das Gute vom Bösen. Sobald das Ziel als erhaben und heilig galt, wurde Loyalität zur Gerechtigkeit und Nützlichkeit zur Tugend. Von da an veränderte sich die Sprache der Moral selbst: „Gerechtigkeit“ bezeichnete die Ordnung, „das Gute“ bedeutete Gehorsam. In der Überlagerung dieser drei – Han Feizi, Konfuzius, Mao – erscheint das heutige China: eine Moral, die in der Frage gipfelt, ob etwas dem Erhalt des Systems dient.

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Vertrauen entspringt dort nicht der Beständigkeit von Institutionen, sondern den Fäden persönlicher Beziehungen. Schlechte Nachrichten steigen nicht nach oben, erzwungene Einigkeit kehrt als Spaltung zurück, und ohne Freiwilligkeit verliert selbst die Erneuerung ihre Spannkraft.

Im Gegensatz dazu stellte die westliche Moral das Verfahren und die Rechte an den Anfang. Sie bemühte sich, den Satz in eine Institution zu verwandeln; so entstanden Vertrauen aus Vertrag, und aus Vertrauen wuchsen die Zeitpläne für Erneuerung und Bündnis. Gewiss, übertriebener Individualismus hat oft das Gemeinwohl zerrissen, doch die Macht blieb durch das Band der Institution gebunden. Darin lag die eigentliche Stärke der Ordnung.

So verbanden sich in Japan und Korea westliche und konfuzianische Elemente zu einer Moral, die auf Rolle und Harmonie gründet. In Japan erhielt die Einhaltung der Normen selbst den Rang des Guten; in Korea stießen Wärme der Beziehung und Sinn für Gerechtigkeit häufig gegeneinander. In Lateinamerika wechselten sich das Solidaritätsideal der katholischen Soziallehre und der Drang nach radikaler Gerechtigkeit als treibende Kräfte ab. Wurde die Institution schwach, kehrte man zur Beziehungsethik zurück, deren Leidenschaft sich nicht selten mit dem Populismus verband. In Afrika wirkt die Ethik des Ubuntu – „Ich bin, weil wir sind“ – als Erinnerung an Versöhnung und Wiederherstellung, doch ihr Übergang in moderne Institutionen bleibt ungleichmäßig. In Ozeanien stehen die formale Gerechtigkeit des Verfahrens und die fürsorgliche Ethik der indigenen Gemeinschaften nebeneinander.

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Überall sind die Definitionen der Moral verschieden, ebenso ihre Schwächen; doch eine Einsicht bleibt: In dem Augenblick, da Moral zum Werkzeug der Macht wird, verliert das System die Sprache, mit der es andere überzeugen könnte. Machiavelli schrieb, dass Furcht Gehorsam schafft, aber keine Treue; und Han Feizi wusste, dass Berechnung zwar kurzfristig wirkt, langfristig jedoch an den Kosten der Überwachung und des Misstrauens zerbricht. So stürzt jede Hegemonie ohne Moral an sich selbst zusammen.

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Der moderne Liberalismus gewann freiwillige Zusammenarbeit durch Legitimität, Berechenbarkeit und den Schutz der Rechte. Freiheit gebar Erneuerung, Erneuerung schuf Vertrauen, und Vertrauen band Bündnisse, ohne dass Zwang nötig gewesen wäre.

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Wenn ich die Nachrichten der Welt lese, erkenne ich immer wieder dieselben Szenen. Eine Hand, die mit seltenen Erden wie mit einer Waffe fuchtelt, um dem anderen die Luft zu nehmen. Diese Hand spricht von Recht und Moral, doch in Wahrheit überbringt sie nur den Befehl: „Füge dich unserer Ordnung.“ Eine solche Methode kann durch Einschüchterung Zeit gewinnen, aber sie vermag keine Ordnung zu schaffen, die aus Achtung wächst. Denn die Zahlen steigen, während die Erzählung nicht wächst.

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Kurz vor dem APEC-Gipfel setzte die Kommunistische Partei Chinas ihren Plan in Bewegung, indem sie den Export seltener Erden einschränkte. China beherrscht viele Stufen des Abbaus, der Raffination und der Verarbeitung – es hält das Rückgrat der Lieferkette in der Hand. Wird dieses Rückgrat zur Waffe, erscheint die Maßnahme nach außen als handelspolitisch oder technisch, ist in Wahrheit jedoch ein politischer Druckversuch: „Wenn ihr euch nicht unseren Maßstäben fügt, schneiden wir eure Industrie ab.“

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Das ist Gewalt in der Gestalt der Macht. Trump reagierte sofort. Ab dem 1. November kündigte er einen zusätzlichen Zoll von hundert Prozent auf chinesische Importe an und ließ zugleich erkennen, dass der Export entscheidender Software nach China eingeschränkt werde. Eine Antwort auf Drohung mit denselben Mitteln. In seiner Rede nannte er Chinas Exportkontrolle „beispiellos im Welthandel“ und – mit spürbarer Kälte – „eine moralische Schande“.

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In dieser Formulierung steckte mehr als bloße Empörung.

Es war ein Streit um moralische Legitimität. China berief sich auf die nationale Sicherheit; doch wo eine solche Begründung nicht den Maßstab universeller Ethik berührt, bleibt sie leer, und die Welt folgt ihr nicht. Es ist die Sprache des Befehls – „Folge mir“ –, nicht die des gemeinsamen Weges.

So wurde die Ankündigung neuer Zölle nicht bloß als ökonomische Gegenmaßnahme verstanden, sondern als moralische Antwort auf eine Herrschaft, die Macht ausübt, ohne Moral zu kennen.

Diese Drohung aber könnte sich leicht gegen China selbst wenden. Das Land kontrolliert mehr als achtzig Prozent der weltweiten Raffination seltener Erden, auf denen Halbleiter, Batterien, Rüstungsindustrie und Technologien für saubere Energie beruhen. Doch wo liegen diese Industrien? In den Vereinigten Staaten, in Japan, in Korea und in Europa. Mit anderen Worten: Der Markt, den China blockiert, ist derselbe, von dem es lebt.

Wenn China den Export beschränkt, steigen die Preise zunächst, und der Westen scheint zu verlieren. Doch fast sofort setzt ein anderer Prozess ein: die Beschleunigung der Entflechtung. Aus Australien, Kanada, Vietnam, Indonesien, ja, sogar aus Afrika ist von neuen Versuchen zu hören, die Lieferketten neu zu ordnen. Selbst die bislang von China beherrschte „Raffinationstechnik“ wird inzwischen von westlichen Unternehmen verteilt und erprobt. Das Zeitalter des Monopols, das auf billiger Arbeit und laschem Umgang mit der Umwelt beruhte, neigt sich seinem Ende zu.

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Erst recht: Wer wird künftig einem Land trauen, das seine Ressourcen zur Waffe macht? Unternehmen beginnen, das Wort „China-Risiko“ in ihre Bilanzen einzutragen, und Regierungen versuchen, China aus den Versorgungsketten zu löschen.

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Zuerst reagierte die Niederlande. Sie beschloss, die Kontrolle über das Halbleiterunternehmen Nexperia zu übernehmen – eine Firma mit Sitz in den Niederlanden, die jedoch im Besitz des chinesischen Konzerns Wingtech war, also unter chinesischem Kapital stand. Als aus Peking das Schreiben eintraf, in dem die Einschränkung des Exports seltener Erden angekündigt wurde, rief Den Haag das Goods Availability Act in Kraft, ein Gesetz, das in Friedenszeiten ruht und nur dann greift, wenn die nationale Sicherheit oder die technologische Souveränität bedroht sind.

„Wir werden verhindern, dass europäische Technologie nach China abfließt“, erklärte das Wirtschaftsministerium, und fügte hinzu, „die Kontinuität und Sicherheit der entscheidenden technischen Kenntnisse auf europäischem Boden sind gefährdet.“ Wingtech selbst steht bereits auf der amerikanischen Entity List, der Beobachtungsliste für Exportkontrollen. Schon bisher durften US-Unternehmen nur mit Sondergenehmigung mit Nexperia handeln – Genehmigungen, die fast nie erteilt wurden. So konnte der Schritt der Niederlande als Zeichen gelesen werden, dass sie sich in das amerikanische Netz der Gegenwehr gegen China einordnet. „Wenn ihr die Rohstoffe blockiert, schließen wir den Markt.“ Damit begann ein Krieg der Lieferketten – ein stiller, aber totaler Krieg. Alles deutete darauf hin, dass Chinas Strategie sich gegen ihren Urheber selbst wenden würde.

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Einen Tag später folgte eine weitere Botschaft des Präsidenten. „In China geschehen sehr merkwürdige Dinge“, begann sie, und schloss mit dem Satz: „Die Welt ist zur Geisel geworden.“ Dazwischen lag kein bloßer Affekt, sondern ein Erschrecken über den Versuch eines Staates, zu kontrollieren, was er nicht einmal hervorbringt. Das war der eigentliche Schock – die Anmaßung, die Natur des Eigentums selbst zu bestimmen.

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In meinem Kopf stellte ich mir die Szene vor: die riesigen Fabriken, die plötzlich stillstehen, und eine Welt, die den Atem anhält. In dieser Stille erschien mir auch das Gesicht der Kommunistischen Partei Chinas – nicht als Bild der Macht, sondern als Ausdruck einer Furcht, die nach außen drängt.

Die Deflation erschütterte die Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit der Jugend stieg, die Exporte stagnierten, und was blieb, war nur noch die Karte der Rohstoffe. Es war, als hätte man den letzten Trumpf in einem Spiel ausgespielt, das längst verloren war.

Der amerikanische Präsident erklärte, dies sei ein Zug, den Peking seit Jahren vorbereitet habe, aber zugleich ein plötzlicher Ausbruch, ein Überfall auf die freie Welt. Zwei Wochen später fügte er hinzu, es gebe keinen Grund mehr, Xi Jinping auf dem APEC-Gipfel zu treffen.

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„Morallose Macht zerstört immer die Waffen, die sie selbst in der Hand hält.“

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Trump nannte die Kontrolle seltener Erden das „Timing Gottes“. Zunächst wirkt dieser Ausdruck lächerlich. Doch er enthält eine unerwartete Wahrheit: Es waren die Magnete und jene anderen Elemente, die über Jahre hinweg still und monopolartig angehäuft worden waren und nun als Hebel dienen sollten. Man kann dies heimtückisch nennen, gewiss. Aber man sollte nicht vergessen, dass auch die Vereinigten Staaten in vielerlei Hinsicht eine monopolartige Stellung innehaben – eine Stellung, mächtiger und weitreichender als die Pekings. Der Grund, weshalb sie diese Macht bislang nicht genutzt haben, liegt nicht in der Unfähigkeit, sondern darin, dass sie es nicht mussten. Nun aber, so lautet die Parole, ist die Stunde gekommen.

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Der Brief, den sie uns sandten, umfasst zahlreiche Seiten und benennt mit unmissverständlicher Deutlichkeit die Elemente, deren Lieferung man künftig aussetzen wolle; das, was bisher zum Alltag gehörte, ist plötzlich kein Alltag mehr. Ich habe nicht mit Xi Jinping telefoniert. Es gab keinen Anlass. Und dass dieser Brief an dem Tag verschickt wurde, an dem im Nahen Osten angeblich nach dreitausend Jahren Frieden eingekehrt sei, macht die Wahl des Moments umso befremdlicher. War dieser Zeitpunkt Zufall? Als Präsident der Vereinigten Staaten sehe ich keine andere Möglichkeit, als finanzielle Sanktionen zu verhängen.

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Und doch – selbst in dieser Lage verneigt sich Korea vor China. Während Peking die Welt durch die Drosselung seltener Erden erschüttert, bleibt Seoul merkwürdig still, als habe es die alte Tributordnung der Ming-Dynastie neu belebt: man senkt den Blick, tastet nach der Stimmung des Hofes, wartet auf ein Zeichen. Unter dem Banner der „wirtschaftlichen Zusammenarbeit“ öffnen Politiker den Zufluss des Kapitals der Kommunistischen Partei und der chinesischen Händler, und selbst die Richter, die ihre Urteile im Namen des Gesetzes sprechen sollten, scheinen diesem Strom nicht zu entkommen.

Lächerlicher noch ist die Tatsache, dass ein überwältigender Teil von Immobilien, Anleihen und Aktien längst in chinesischen Händen liegt. Presse und Regierung schweigen dazu – keiner fragt, woher dieses Geld kommt und welchen Willen es trägt.

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Allmählich verhält sich Südkorea nicht mehr wie ein gleichberechtigter Wirtschaftspartner Chinas, sondern wie ein Satellit, der sich vorsichtig nach der Bewegung seines Zentrums richtet. In mir steigt die Erinnerung an die Verwirrung um die Stationierung des THAAD-Systems auf: Damals hielten die Linken das Schielen nach Peking für Diplomatie, und die Lippen, die sonst von Unabhängigkeit sprachen, blieben geschlossen. Vielleicht, so denke ich, hatte sich schon damals eine Gewohnheit der Unterwerfung eingeschlichen. Das Kapital bewegt sich stets schneller als die Politik, und wer ihm nachläuft, verliert unweigerlich die Richtung. Das Senken des Kopfes mag wie eine Überlebensstrategie aussehen, doch wenn die Geste zur Haltung wird, zerfällt über die Zeit die Moral eines ganzen Landes.

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Ihr Politiker, die ihr Amerika einst Imperialismus schimpftet – seht hin. Was empfindet ihr, wenn ihr das Gebaren jener Staaten betrachtet, die sich selbst als sozialistisch verstehen?

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Ihr habt die Vereinigten Staaten über Jahre hinweg als „imperialistisch“, als „Weltpolizei“, als „Hegemon in fremden Gebieten“ geschmäht, doch gegenüber China pflegtet ihr Milde, getarnt als „östliche Ordnung“ oder „balancierte Diplomatie“. Nun hat China erneut sein Wort gebrochen, hat seine Ressourcen zur Waffe gemacht und die Verbündeten der freien Welt erpresst. Es gibt keine westliche Macht, die auf so unverhohlene Weise moralische Prinzipien verraten hätte. Angesichts einer solchen Bedrohung ohne Gewissen bleibt die Frage, die ihr selbst gestellt habt: Wer ist hier der wahre Imperialist?

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Es ist nicht die Frage, ob man Amerika ablehnt oder China bejaht.

Die wirkliche Frage lautet, wer die Ordnung des Gewissens, der menschlichen Freiheit und des Vertrauens zwischen den Nationen zu wahren vermag.

Macht kann eine Ordnung schaffen. Aber ohne Rechtfertigung bleibt sie nicht bestehen.

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China hat das Schwert gezogen, und dieses Schwert wird, früher oder später, die eigene Ferse treffen.

Kommt dieser Tag, werden die Menschen fragen:

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„Wer hat von einer Herrschaft ohne Moral geträumt?“

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Wieder denke ich an den Platz der Moral.

An jene leise Bewegung im Innern, die uns innehalten lässt, wenn wir spüren, dass unser Wort oder unsere Tat einem anderen Scham oder Schmerz zufügt.

Diese unscheinbare Wachsamkeit ist das Fundament, auf dem jede wirkliche Ordnung ruht.

Hegemonie lässt sich nicht durch Kriegsschiffe oder Fabriken sichern.

Sie lebt nur durch das Gefühl, dass man in ihr bleiben möchte – durch die Freiheit, die dieses Gefühl möglich macht, durch Verantwortung und gegenseitigen Respekt.

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Es sind diese stillen Dinge, die über die Lebensdauer einer Nation entscheiden.

Vor dem langen Feiertag

Am dritten beginnt die sogenannte Goldene Woche. Die Luft ist kühler geworden, der Wind trägt weniger Gewicht. Der Himmel verändert sich mehrmals am Tag. Wenn er klar ist, scheint der Herbst greifbar; zieht jedoch der graue Dunst vom Chinesischen Meer herauf, wird alles langsamer, schwerer, feucht. Immer wenn ein Feiertag näherkommt, wandert mein Blick nach oben. Vielleicht, weil das menschliche Gemüt dem Himmel ähnelt. Wenn sich Familien versammeln, wünscht man sich, dass er weit und offen bleibt.

––––––––

Inzwischen bin ich Mitte dreißig, und das Warten auf den Feiertag hat seinen Sinn verloren. Als Kind war ich glücklich, weil es keine Schule gab. Der Geruch der Pfannkuchen im Hof der Großmutter, das Geld, das mir der Onkel heimlich in die Hand legte – das war das ganze Fest. Jetzt gibt es weder Ziel noch Erwartung. Die Großeltern sind gestorben, die Eltern fahren nicht mehr in die alte Heimat. Mit dem Verschwinden dieser Pflicht sind auch die Wege verblasst, auf denen sich die Familie einst begegnete.

Nicht nur für mich, auch für viele andere ist der Feiertag in Korea inzwischen weniger ein Tag des Zusammenseins als einer des Auseinandergehens. Die Flughäfen sind überfüllt, die Ferienorte längst ausgebucht. Alle wollen fort, doch kaum jemand fragt noch, mit wem. Es ist eine Zeit der Ruhe und der Flucht zugleich. Diese Veränderung hat ihre Wurzeln in der Demographie. Japan erreichte zuerst den Zustand einer überalterten Gesellschaft, wir aber schreiten denselben Weg in noch schnellerem Tempo. Die Zahl der Jungen sinkt, die Geburtenrate verharrt bei etwa 0,7 – eine Zahl, die an das Verschwinden einer Generation grenzt. Auch die Gestalt der Familie wandelt sich. Wörter wie „Känguru-Kinder“ tauchen immer häufiger auf, und das japanische „Hikikomori“ ist längst Teil unseres eigenen Wortschatzes geworden. Nach Berichten leben in Seoul fünf von zehn Menschen, die in den 1980er Jahren geboren wurden, noch immer bei ihren Eltern. Zugleich wächst die Zahl derer, die sich der Gesellschaft entziehen, sich verbergen, nicht mehr hinausgehen. Einst galt solch ein Rückzug als Krankheit der Jugend; nun erfasst er die mittleren Jahre ebenso. Doch selbst die jungen Paare, die geheiratet haben, sind nicht ausgenommen. Sie bekommen Kinder, überlassen deren Betreuung den Eltern beider Seiten und eilen getrennt zur Arbeit.

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Diese Veränderungen sind mehr als bloße Symptome; sie markieren den Wandel einer Lebensform. Die Unfähigkeit, sich von den Eltern zu lösen, die zunehmende Vereinsamung, die Übertragung elterlicher Pflichten auf die Großeltern – all dies zeigt den Verlust der eigenen Entscheidungskraft unter dem Namen der Familie. Man sagt noch: „Lasst uns als Familie zusammen sein“, und doch scheint es bequemer, wenn jeder an seinem Platz bleibt. Und, wenn man ehrlich ist, das gemeinsame Dach macht es nicht wärmer.

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Wenn die Koreaner einst durch das „ppalli-ppalli“, das ewige „schneller, schneller“, zu Wohlstand gelangten, so altern sie heute im selben Takt – als habe die Beschleunigung des Wachstums die der Vergänglichkeit unausweichlich nach sich gezogen. Vielleicht war der Aufstieg selbst schon der Anfang des Verfalls.

Mit diesem Gedanken im Kopf saß ich lange vor dem Computer und ließ den Blick über die Nachrichten in den sozialen Netzwerken gleiten. Seit der Ausweitung der visafreien Einreise für Chinesen häufen sich Berichte über Verbrechen; in den letzten Wochen sogar über Entführungen und verschwundene Kinder. Das Korea, das von Politikern und jenen, die sich für Intellektuelle halten, geformt wurde, scheint ein Land zu sein, in dem das Gewicht der Moral von Tag zu Tag leichter wird.

Dieses Land wird mir fremd. Seit Anfang September reiht sich Entführungsversuch an Entführungsversuch – in Gwangmyeong, Gunsan, Changwon, Jeju, Daegu, Ulsan, in mehreren Bezirken Seouls; zählte man die Tage auf, füllte es eine Seite. Die meisten Kinder sind zwischen fünf und zehn Jahren alt. Das einzige Wort, das in den Untertiteln der Nachrichtensendungen Trost zu spenden scheint, ist „Versuch“ – und doch verliert selbst dieser schwache Trost mit jeder Wiederholung an Halt, als wäre er selbst schon Teil der Bedrohung.

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Diese Verbrechen enden