Als hätte der Teufel die Karten gemischt - Doris Jannausch - E-Book
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Als hätte der Teufel die Karten gemischt E-Book

Doris Jannausch

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Beschreibung

Genau ein Jahr ist es her, seit in den Wirren des Krieges die Theater geschlossen wurden und Franziska zurück nach Teplitz gekehrt ist. Nach Kriegsende verlässt Franziska ihre nordböhmische Heimat erneut. Ihr einziges Gepäck: ein Rucksack, überwiegend gefüllt mit Büchern. Franziska ist fest entschlossen, im zerstörten Dresden endlich ihren Traum von der Schauspielerei zu verwirklichen. Dieses Ziel verliert sie nie aus den Augen. Auch in den harten Jahren des Neubeginns lässt sie sich nicht beirren, nicht von den Ruinen und auch nicht von all den zerstören Hoffnungen um sie herum. Doris Jannausch setzt nach »Als hätten die Engel im Sande gespielt« die Geschichte von Franziska Buresch fort.

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Doris Jannausch

Als hätte der Teufel die Karten gemischt

Roman

FürOtto Schneidereit

»Ich glaube an die Unsterblichkeit des Theaters. Es ist der seligste Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben, um bis an ihr Lebensende weiterzuspielen.«

(Max Reinhardt: Rede über die Schauspieler)

Mit Goethe und Zahnbürste

Der Zug blieb mit einem Ruck stehen, so unvermittelt, dass Franziska an der Brust des jungen Mannes vor ihr landete. Auch er kam ins Stolpern und prallte gegen eine dreiköpfige Familie. Die wiederum fiel hinterrücks auf die Knie der Sitzenden. Es war eng wie in einer Sardinendose.

»Hoppla!« Alles rappelte sich auf, lächelte verlegen und murmelte eine Entschuldigung.

»Mein Rucksack!«, rief Franziska erschrocken. Die ganze Zeit über hatte sie das gute Stück zwischen ihren Füßen festgehalten. Nun war es verschwunden.

»Ist er das?« Der junge Mann angelte etwas Eckiges unter dem Sitz hervor. Es standen noch andere Rucksäcke herum, doch dieser war unverkennbar. Kanten und Ecken zeichneten sich ab, er hatte fast eine geometrische Form angenommen, was für einen Rucksack ziemlich ungewöhnlich war.

»Ja, das ist er.« Franziska feierte beglücktes Wiedersehen, klemmte sich den Schatz zwischen die Beine und war fest entschlossen, ihn vor dem erreichten Ziel nicht mehr loszulassen.

»Was haben Sie denn da drin?«, erkundigte sich der junge Mann. »Steine?«

»Zwei Goethebände«, antwortete Franziska, »ein Buch über Josef Kainz, ein Opernalbum fürs Klavier und meine Tagebücher. Sieben Stück.«

Der junge Mann starrte sie fassungslos an. »Na fabelhaft«, sagte er nach einer Weile. »Das ist genau das, was man für ein neues Leben braucht.«

Sie lachte. »Eine Zahnbürste ist auch dabei. Und ein Nachthemd.« Dann deutete sie auf seinen Rucksack, der war etwas größer als ihrer, weich und rund. »Und was schleppen Sie da mit sich herum?«

»Meinen Smoking.«

»Auch nicht gerade lebensnotwendig für einen Neubeginn.«

»Für mich schon.« Er klopfte mit der Fußspitze an einen hölzernen Kasten, der neben dem Rucksack stand. Ein Instrumentenkoffer. Den hatte Franziska vorher gar nicht bemerkt. »Meine Oboe. Ich bin Musiker.«

»Ach so!« Franziska betrachtete ihn amüsiert. Er war lang und dürr, der Anzug schlotterte um ihn wie eine Pelerine. Sein Kopf, verhältnismäßig klein, thronte auf einem dürren Hals und erweckte den Eindruck, als könne er sich dort nicht mehr lange halten. »Komisch.«

»Was ist komisch?« Er sah ernsthaft auf sie herab, als wolle er ihr einen Verweis für unangebrachtes Lächeln erteilen.

»Der eine reist mit Goethe und Zahnbürste«, antwortete sie, »der andere mit Smoking und Oboe.«

»Mehr ist uns ja auch nicht geblieben.«

»Das ist wahr«, stimmte sie ihm zu. Es entstand eine Pause. »Wo haben Sie zuletzt gespielt?«, fragte sie.

»Im Theaterorchester in Teplitz«, erwiderte er. »Drei Jahre war ich dort engagiert.«

»Dann muss ich Sie oft gehört haben.« Wieder lächelte sie ihn an, doch sein Gesicht blieb verschlossen. »Wir waren regelmäßig im Theater, meine Mutter und ich. Eigentlich sind wir ja fast Kollegen«, fügte sie nicht ohne Stolz hinzu.

»Auch Musikerin?« In seine Augen kam leichtes Staunen, eine Spur von Interesse.

»Schauspielerin. Studium an der Theaterschule in Aussig. Erstes Engagement in Wien. Einige Wochen geprobt. Dann wurden die Theater geschlossen, totaler Krieg. Das ist genau ein Jahr her.«

»Ja, o ja.« Der junge Mann fuhr sich mit nervösen Fingern über die Stirn. »Ein schlimmes Jahr, ein verlorenes Jahr.«

»Aber – wir leben noch. Oder nicht?«

»Kommt drauf an.« Er sah tatsächlich wie gestorben aus. So trostlos, dass auch Franziskas unerschütterliche Lebensfreude auf den Nullpunkt sank, von einer Sekunde zur anderen. Bis jetzt war sie voller Hoffnung gewesen: Über die Grenze gehen, in Deutschland neu anfangen, die Ärmel hochkrempeln und loslegen! In den letzten Monaten war so viel anderes zu tun gewesen. Das Beschwichtigen der Angst, die mit dem Krieg nicht aufgehört hatte, kostete viel Zeit und alle Kraft: Werden sie mich abholen und zur Zwangsarbeit ins Tschechische transportieren, werden sie den Vater wieder quälen, die Mutter schlagen, dürfen wir überhaupt am Leben bleiben? Dann die Lauferei von Behörde zu Behörde, schließlich das Abschiednehmen. Nun diese Zugfahrt: ein Vakuum zwischen Abreise und Ankommen. Die Jugend war damit zu Ende, das Erwachsensein begann. Vor drei Tagen war Franziska zwanzig geworden.

»Wollen Sie in Dresden bleiben?«, fragte der Musiker.

»Vorerst ja.«

»Die Stadt ist ein Trümmerfeld.« Er sprach wie zu sich selbst. »Kein Stein mehr auf dem anderen. Und Theater?« Er lachte kurz auf, es klang nicht ermutigend. »Theater gibt es keine mehr.«

»Wir werden sehen.« Zum Glück hielten Franziskas pessimistische Anwandlungen nicht lange an. Ihre Lebensfreude lud sich im Schnellverfahren auf wie eine Batterie. »Wenn Sie den Namen Franziska Buresch auf dem Plakat des Staatstheaters lesen sollten, dann erinnern Sie sich bitte an mich.«

Nun aber lächelte er doch. Nur ganz wenig. »Sie geben wohl nie auf, was?« Er setzte zu einer Verbeugung an, doch das klappte nicht, dazu standen sie zu dicht gedrängt. So begnügte er sich mit einem höflichen Kopfnicken. »Vollmers mein Name«, stellte er sich altmodisch vor. »Eduard Vollmers.«

So sieht er auch aus, dachte Franziska ketzerisch. Er sieht tatsächlich aus wie ein Eduard. Laut aber sagte sie: »Sehr angenehm.«

Die Mitreisenden waren still. Vertrieben aus dem ehemaligen Sudetenland, wo sie ein Leben lang zu Hause waren. Frauen, Kinder, alte Leute, kaum Männer. Hohle Wangen, Schatten auf den Gesichtern. Alles hatten sie zurückgelassen, geblieben waren ihnen nur ein paar Habseligkeiten: ein Rucksack, eine Tasche, ein alter Koffer, hastig vollgestopft mit sinnlosen, doch geliebten Dingen, an denen ihr Herz besonders hing: eine geschliffene Karaffe aus böhmischem Glas, eine sperrige Schatulle von der Großmutter, ein Fotoalbum oder – wie in Franziskas Fall – eben zwei Bände Goethe und sieben Tagebücher.

Sie kamen aus Dörfern und Städten rund ums Erzgebirge. Ihre Wohnungen hatten sie verlassen müssen, ihre Häuser, ihre Bauernhöfe. Nichts gehörte ihnen mehr. Am frühen Morgen war der Zug von Geising nach Dresden abgefahren. Eine kurze Strecke, normalerweise. Doch nun war es schon Nachmittag. Im Schritttempo zuckelte die Lokomotive dahin, blieb immer wieder stehen, immer öfter, je mehr sie sich Dresden näherten.

»Sehen Sie sich das an!« Vollmers zeigte auf Häuser mit geborstenen Balkonen, verbrannten Dächern, mit Brettern vernagelten Fenstern. »Das ist erst der Anfang.«

Franziska kannte die Gegend. Die alljährliche Pfingstfahrt nach Dresden, lieber Himmel, ab Weihnachten freuten sie sich darauf, die Mutter und sie. Der Vater fuhr nie mit, weil das Geld für drei Personen nicht reichte, vielleicht aber auch, weil er die freien Tage genießen wollte. Er hing zwar sehr an seiner Frau Maria und an Franzi, doch allein war es auch mal schön. Ruhe haben. Nach dem Büro heimkommen, sich aufs Sofa legen oder Bekannte einladen, was er sonst nie durfte, wenn Maria zu Hause war. (»Ich will das nicht, Viktor!«)

Was sie wollte, war: mit Franzi nach Dresden fahren. Beide im neuen Frühjahrskostüm aus gutem Wollstoff, Vorkriegsware noch, englischer Stoff, dazu ein flottes Hütchen aus Stroh, ach ja, fesch sahen sie aus, Mutter und Tochter, wenn sie Arm in Arm durch die elegante Prager Straße bummelten. (»Wie Geschwister, nicht?«) Männer sahen ihnen nach. Die Mutter registrierte gewissenhaft, verlegen kichernd, wie früher, als sie mit ihrer Freundin Mizzi auf dem Korso in Teplitz entlangschlenderte. – »Schau nur, Franzi, die Parfums!« Hinter den Schaufensterscheiben teure Flakons. Doch leider –! Dafür reichte das Geld nun wirklich nicht.

Wohl aber für zwei Kännchen Kaffee und Kuchen in der Konditorei Kreutzkamm auf dem Altmarkt. Oder für einen Theaterbesuch: »Faust« im Staatstheater, ein Erlebnis! Das Hotel »Annenhof« hinter dem Postplatz war nicht teuer. Alter Bau, sehr gediegen. Dort wohnten sie jedes Jahr zu Pfingsten.

Einmal war Dascha mitgefahren, kurz bevor er einrücken musste. Er bestand darauf, den Damen die Stadt zu zeigen, die sie längst kannten: »Weißer Hirsch«. Brühlsche Terrasse. Die Elbdampfer an der Anlegestelle. Die Augustusbrücke, Verbindung zwischen Alt- und Neustadt. Die Hofkirche. Und vor allem – der Zwinger! Wundervolles, blühendes Barock. Am Abend Mozarts »Kleine Nachtmusik«, getanzt vom Ballett der Staatsoper, zwischen Pavillons und Springbrunnen.

In diesen Tagen blieb Franziska atemlos vor Begeisterung. Diese Bläue über den Dächern, wenn der Abend herabsank, nur Dresden hatte das. Der Fliederduft und die purpurroten Pfingstrosen im Park.

Wenn die drei Tage um waren, fuhren sie wieder nach Hause. »Bis zum nächsten Mal«, sagte Maria dann und seufzte. »Wer weiß, was bis dahin sein wird.«

Als die Bomben auf die Stadt fielen, in den Abendstunden des 13. Februar 1945, hörte sie es in Teplitz. Über das Erzgebirge kam ein feuerroter Schein. »Dresden brennt!«, hieß es. Und dann: »Es gibt kein Dresden mehr!«

Wieder blieb der Zug stehen. In der Ferne die Silhouette ausgebrannter Häuser.

»Jetzt sind wir gleich da.« Vollmers machte ein Gesicht wie ein Delinquent, der zum elektrischen Stuhl geführt wird.

Nach einer Weile kroch der Zug weiter, stöhnend und keuchend, auf dem einzigen, notdürftig zusammengeflickten Gleis, das übrig geblieben war. Dann schnaufte die Lokomotive auf, als hauche sie ihr Leben aus und blieb endgültig stehen. »Dresden, Hauptbahnhof«, rief eine Stimme.

Franziska konnte den Bahnhof nicht entdecken. Zwar schien die Sonne wie früher, wenn sie hier angekommen waren, doch schien sie nicht auf Dächer mit stolzen Bronzefiguren, nicht auf breite, wundervolle Straßen und Plätze, sondern auf eine Trümmerwüste. Kein Bahnsteig, keine Halle, keine Straße. Nicht mal ein Weg.

Vollmers stolperte neben Franziska her, blieb stehen und stöhnte: »O Gott!«

Irgendwo geradeaus musste die Prager Straße gewesen sein. »Kommen Sie weiter«, drängte Franziska. Sie kletterten über Geröllhalden, Staub in den Augen, Trockenheit in der Kehle. Ein süßlicher Geruch stieg vom Boden auf. »Meine Güte, was riecht da so entsetzlich?«

»Die Leichen«, antwortete Vollmers. »Die Verschütteten. Die liegen ja noch alle unter den Steinen. Hunderttausende – ich weiß nicht, ich – ich …« Er würgte, als müsse er sich übergeben, blieb wieder stehen, setzte das Gepäck ab und murmelte: »Ich muss zu einem Agenten in Radebeul, der vermittelt Musiker.« Der lange Eduard wirkte total überdreht, schenkte Franziska einen verhuschten Blick und nickte ihr flüchtig zu. »Machen Sie’s gut. Reservieren Sie mir eine Karte im Staatstheater, wenn Sie spielen.« Er schulterte den Rucksack und schwankte davon.

»Ihre Oboe!«

Er hatte sie in seiner Verwirrung vergessen. Wie ein großer, schwarzer Vogel lag der Kasten im Schutt.

»O danke, vielen Dank.« Vollmers kam zurück, holte sein Instrument, drückte es an die Brust, als wolle er sich für seine Vergesslichkeit entschuldigen, und verschwand endgültig zwischen den Trümmern.

Einen Agenten, ach ja, den hätte Franziska auch gebraucht, falls es noch einen gab. Was gab es überhaupt noch?

Sie sah sich um. Kilometerweit nur Hügel und Täler aus Schutt und Steinen. Sie machte sich auf den Weg, über Steinhalden, die einst die Prager Straße gewesen sein mussten. Kein Mensch weit und breit. Nur unheimliche Stille. Irgendwo hier musste der Altmarkt sein. Die Kreuzkirche zusammengesunken. Überall leere Fassaden, Mauerreste und Fensterhöhlen. Das Staatstheater ausgebrannt, die Hofkirche eine dunkle Ruine.

Der Abend kam nicht zärtlich wie früher, als er seine sanfte Bläue über die grün-goldenen Dächer senkte.

Franziska lief und lief, konnte nicht sagen, wie lange. Wo waren die Menschen geblieben? Der süßliche Geruch wurde immer unerträglicher, kein Fliederduft mehr.

Da, die Augustusbrücke stand noch! Sie wölbte sich über die ruhig dahinfließende Elbe. Brücke und Fluss taten unbekümmert, als wäre nichts geschehen. Sie präsentierten sich wie losgelöst von der trostlosen Umgebung, strömten Kraft und feierliche Ruhe aus.

In der Mitte der Brücke setzte Franziska den Rucksack ab, um zu verschnaufen und sich in Ruhe umzusehen. Seit ihrer Ankunft war ihr zumute, als sei ihr Herz in eine tiefe Ohnmacht gefallen. Noch hatte sie die Wirklichkeit nicht eingeholt. Alles war nur ein böser Traum.

Ja, ein Albtraum!

Von der Brühlschen Terrasse flatterte ein Lachen herüber. Dort, am gusseisernen Geländer, stand ein Mädchen im Frühjahrskostüm (noch englischer Stoff, Vorkriegsware!) mit ihrer Mutter und einem netten Jungen. Sie beschlossen soeben, eine Dampferfahrt nach Pillnitz zu machen. »Lass meine Hand los, Dascha, ich mag das nicht!«

»Warum denn nicht –?«

Die Mutter: »Sei nicht so kratzbürstig, Franzi, hör mal …«

Gespenster. Niemand stand auf der Brühlschen Terrasse. Alles leer. Die Stadt schien ausgestorben. Nur das Mädchen mit dem Rucksack auf der Brücke.

Wohin sollte sie?

Auf jeden Fall weiter. Sie hievte den Rucksack auf den Rücken und ging hinüber nach Dresden-Neustadt, wie von einem Ufer des Lebens zum anderen. Und überquerte doch nur die Elbe. Bis zum Albertplatz stand kein Haus mehr. Vom Theater war nur noch eine Treppe vorhanden, die ins Nichts führte. Hier hatten sie den »Boccaccio« gesehen – was für eine Erinnerung an ein vergangenes Leben! Wie lange war das her – hundert Jahre? Mit der Mutter hatte sie in der Loge gesessen, überwältigt von Freude: »Bald stehe ich auch auf der Bühne, aber dann –!« Die Welt aus den Angeln heben, alles anders machen, neue Wege gehen. Was singen die da auf der Bühne? »Hab’ ich nur deine Liebe, die Treue brauch’ ich nicht …« Nun ja, ein wenig Treue ist auch ganz schön. Hinterher waren sie Arm in Arm zurück in die Altstadt marschiert, mussten viel lachen, richtig albern waren sie.

Nun zuckelten Straßenbahnen klingelnd vorüber, fuhren geradeaus nach Hellerau, die Königsbrücker Straße entlang oder bogen um die Ecke, Richtung »Weißer Hirsch«.

Unschlüssig blieb Franziska stehen. Wohin? Ein alter Mann spießte Zigarettenkippen mit seinem Spazierstock auf und steckte sie in die Tasche seiner schäbigen Jacke. Er sah verknöchert aus, hakennasig, wie das lebendig gewordene Rumpelstilzchen.

Das Merkwürdige war: Er bewegte sich ausschließlich um die Ruine des Alberttheaters, wie mit einer unsichtbaren Schnur verbunden. Franziska sah dem Alten fasziniert zu.

Nach einer Weile unterbrach er seine Wanderung, hob den Kopf und blickte sie mit Habichtaugen an.

»Na?« Er wartete.

»Ich wollte nur …« Sie nahm den Rucksack ab, er drückte auf den Rücken, sie spürte alle Knochen. Verlegen zeigte sie auf die Ruine und die in der Luft endende Treppe. »Schade um das schöne Theater«, sagte sie leise.

»Kaputt.« Der alte Mann sprach, als spucke er das Wort aus. »Alles kaputt. Woher kommen Sie?«

Franziska antwortete nicht gleich. Sie hatte keine Lust, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Schließlich sagte sie aber doch: »Aus Teplitz.«

Der alte Mann nickte. »Hätte ich mir denken können! Die meisten Vertriebenen bleiben hier hängen. Wo wollen sie bloß hin in dieser kaputten Stadt? In Höhlen wohnen, zwischen Trümmern schlafen?«

»Irgendwo werden sie schon bleiben.« Sie betrachtete besorgt den Himmel, der sich mit Wolken bezog. Auch wurde es langsam dunkel. »Hätten Sie vielleicht eine Höhle für mich?« Die Frage kostete sie Überwindung. Ihr wurde schlagartig klar, dass sie nichts anderes war als ein heimatloser Vagabund.

Der alte Mann hatte wieder eine Kippe entdeckt, die ein russischer Besatzungssoldat aus einem vorbeifahrenden Laster geworfen hatte. Vorsichtig polkte er sie von der Spitze seines Stockes, verwahrte die Kostbarkeit in der Jackentasche, klopfte zufrieden mit der Hand darauf wie ein Geschäftsmann, der soeben einen guten Abschluss hinter sich gebracht hatte. Dann wandte er sich wieder Franziska zu und musterte sie abschätzend.

»Haben Sie was mit dem Theater zu tun?«

»Ich bin Schauspielerin.«

Der Alte nickte, als habe er das erwartet.

»Direktor Steinmann«, stellte er sich vor. Dann fummelte er sich eine der Kippen heraus, zündete sie an, kaute darauf herum und wies mit dem Kopf auf die Theaterruine. »Bin mal hier Direktor gewesen. Ist schon lange her. Da waren Sie, liebes Kind, noch nicht auf dieser zweifelhaften Welt.« Er sprach mit rollenden R’s, wie es von einem alten Mimen erwartet wurde. Vielleicht, dachte Franziska, ist dies das Einzige, was ihm geblieben ist, wie mir der Rucksack mit den Büchern.

Ein leichter Wind kam auf, vertrieb den Rest von Wärme, die noch auf den Steinen lag, vertrieb den süßlichen Geruch, der hier, in Neustadt, nicht mehr so stark zu spüren war.

»Hören Sie …« Direktor Steinmann warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Sie sah aus, als hätte sie bessere Zeiten gesehen. »Ich bin dabei, ein Ensemble zusammenzutrommeln. Deshalb stehe ich hier, weil ich weiß, dass Schauspieler herkommen, um sich die Reste des Theaters anzusehen. Ich habe auch schon vor dem Staatstheater gestanden. Was ich vor allem bräuchte, wäre eine junge Schauspielerin, die bereit ist, alles querbeet durch den Garten zu spielen. Was haben Sie für Rollen drauf?«

Franziska lachte.

»Was finden Sie an meiner Frage so lustig?«, erkundigte er sich mit hochgezogenen Brauen.

Zögernd antwortete sie: »Dass ich in Dresden ankomme und mit einem Rucksack durch die Ruinen stolpere und ausgerechnet Sie hier finde – was für ein Zufall!«

»Kein Zufall.« Er winkte ab. »Theaterleute riechen einander. Die finden sich immer und überall. Sogar in der Wüste. Wie ist das nun mit Ihrem Rollenrepertoire? Haben Sie überhaupt eines?«

»Aber ja.« Franziska zählte auf: »Das Annchen in ›Jugend‹. Die Franziska in der ›Minna‹. Die …«

»Na fabelhaft«, unterbrach er sie. »Ich beabsichtige Max Halbes ›Jugend‹ aufzuführen. So wie Sie stelle ich mir das Annchen ungefähr vor. Sie können es spielen.«

»Was?!«, rief Franziska. »Aber Sie kennen mich doch gar nicht. Sie würden mich engagieren – ohne mich vorsprechen zu lassen?«

»Ich wittere Talent.« Steinmann grinste wie ein tückischer Faun. »Sollten Sie aber unbegabt sein, kann ich Sie noch immer auswechseln. Feste Gagen gibt es nicht. Gespielt wird auf Teilung. Wo – weiß ich noch nicht, das wird sich finden.«

Es war wohl doch ein Traum. Franziska musste sich auf eine der Stufen setzen. Jetzt erst merkte sie, wie erschöpft sie war. »Mir ist alles recht«, sagte sie leise. »Wenn ich nur spielen darf. Von mir aus in einem Schuppen.«

»Mehr werde ich Ihnen auch nicht bieten können.« Steinmann betrachtete sie mitleidig. »Sie wissen nicht wohin und sind ziemlich am Ende, ja?« Seine Stimme klang nun ganz einfach, ohne Bühnenton.

»Ja.« Am liebsten hätte sie sich auf die Stufen gelegt und wäre auf der Stelle eingeschlafen.

»Ich glaube, ich kann Ihnen helfen. Vorübergehend, für ein paar Nächte.« Steinmann nannte eine Adresse in Neustadt. »Frau Dallhopp ist eine Bekannte von mir. Aber erwarten Sie keinen Palast.«

Franziska stammelte Dank.

»Morgen kommen Sie in die Jordanstraße. Die ist ganz in der Nähe. Frau Dallhopp wird es Ihnen erklären. Dann sehen wir weiter.«

Er tippte sich kurz an die Stirn, was als Abschied zu deuten war, steckte die Hände in die Taschen, zog den Kopf zwischen die Schultern und ging davon. Für die Kippensuche war es zu dunkel.

Franziska machte sich auf den Weg zur – wie war das noch? Ihr Kopf hämmerte, als wollte er platzen. In die Lärchenstraße zu Frau – Frau Dallhopp. Lustiger Name. So könnte ein Clown heißen: Dallhopp. Die Gegend sah nicht mehr so trostlos aus, einige Häuser standen, Läden gab es, die Straßenbahn fuhr. Nun weiter! Die Königsbrücker Straße entlang über den Bischofsplatz. Franziska studierte die Straßenschilder, fragte.

»Lärchenstraße? Die übernächste links ab, Fräulein.«

Eine schmale Gasse, die zum Bahndamm führte. Sie war nur kurz. Auf beiden Seiten schäbige, einstöckige Häuschen. Doch sie standen wenigstens noch.

Lärchenstraße 10 b. Das letzte Haus auf der rechten Seite. Frau Dallhopp wohnte im Hinterhaus, das noch viel schäbiger war als das vordere. Im Treppenhaus baumelte eine trübe Birne am Kabel. Franziska klingelte im ersten Stock. Eine junge Frau öffnete. Sie sah verdrossen aus.

»Direktor Steinmann schickt mich.«

»Ach ja!« Ein Ausruf des Unmuts.

Franziska stand und wartete. Seit morgens hatte sie nichts mehr gegessen, außer dem Stück Brot, das ihr die Bäuerin in Zinnwald mit auf den Weg gegeben hatte. Leere im Magen, Schwäche in den Knien.

»Kommen Sie rein«, sagte die Frau.

Ein etwa zehnjähriges Mädchen hockte auf einem Stuhl in der Küche und beäugte Franziska.

»Das ist Annemarie.« Frau Dallhopp zeigte mit dem Kopf auf ein altes, durchgesessenes Sofa. »Hier können Sie schlafen. Wir haben nur ein Zimmer.«

»Vielen Dank.« Franziska nahm den Rucksack ab und setzte sich auf das ramponierte Möbelstück. Sie nannte ihren Namen. Die Küche drehte sich vor ihren Augen.

»Schauspielerin?«

»Ja.«

»Steinmann schickt uns immer nur Schauspieler. Irgendwelche versprengte Leute. Heimatvertriebene, ja? Annemarie, bring mal das Brot.«

Das Kind stand unbeweglich, fixierte Franziska, sah störrisch aus, strich wortlos das kurz geschnittene, gescheitelte Haar zurück.

»Hast du nicht gehört?«

»Nein.«

»Warum bringst du nicht das Brot?«

»Weil keins mehr da ist.«

»Alles muss man selber machen.« Frau Dallhopp öffnete die Brotbüchse, fand einen Kanten, legte ihn auf den Tisch und sagte: »Essen Sie, ehe Sie umkippen.«

Hastig griff Franziska danach, aß den trockenen Kanten auf.

»Ich kann aber nur wenig bezahlen«, erklärte sie kauend. »Ein paar Mark habe ich schon, aber nicht viel.«

»Sie zahlen, was Sie können«, versetzte die Frau achselzuckend. »Wir brauchen jeden Pfennig.«

»Wenn ich Gage bekomme, zahle ich mehr«, versprach Franziska. Sie bat um einen Schluck Wasser, das sie gierig trank. Noch immer der Staub in der Kehle.

Frau Dallhopp setzte sich zu ihr, betrachtete sie, ohne ihre verdrossene Miene abzulegen. Sie schien müde und abgearbeitet. Es drängte sie aber wohl, zu reden.

»Mein Mann war auch Schauspieler«, sagte sie, »bei Steinmann. Viele Jahre. Er ist gefallen, gleich am Anfang des Krieges. Vorher hat er nicht viel Geld verdient. Sie sehen ja …« Mit einer Bewegung umfasste sie die trostlose Schäbigkeit der Behausung. »Zu mehr hat es nicht gereicht.«

»Es ist aber wenigstens ein Zuhause«, meinte Franziska.

»Stimmt.« Die junge Frau blickte etwas freundlicher drein. »Morgen früh gehen Sie als Erstes zum Polizeipräsidium, Hauptmeldeamt. Dort beantragen Sie eine Aufenthaltsgenehmigung. Erst dann gibt’s Lebensmittelkarten. Durchfüttern können wir Sie nicht.«

»Wir haben selber nichts«, rief Annemarie dazwischen. Sie stand noch immer vor der Kredenz, als wollte sie den Zugang zu den vorhandenen Lebensmitteln sperren.

»Ja, mach’ ich.« Franziska dachte sehnsüchtig daran, endlich schlafen zu dürfen. »Könnte ich mich bitte irgendwo waschen?« Frau Dallhopp zeigte zum Ausguss. »Bad haben wir nicht«, sagte sie kurz entschlossen. Darauf zog sie sich mit Annemarie ins angrenzende Schlafzimmer zurück.

Franziska ließ die Kleider fallen, viel zu müde, sie wegzuräumen. Als sie endlich lag, überfiel sie das Heimweh wie eine jäh ausbrechende Krankheit. Sehnsucht nach der Mutter. Was mochte sie machen, jetzt, zu dieser Stunde? Auch wach liegen und an sie, an Franzi, denken? Die Mutter wohnte nun bei Tante Vicky. Vertrug sich nicht mit ihr. Beide wie Hund und Katze. Dennoch hatte Tante Vicky ihre Wohnung zur Verfügung gestellt, weil die Leute vom Narodny Vibor sie noch auf unbestimmte Zeit darin wohnen ließen. Jeden Tag konnte sie hinausgeworfen werden, jede Stunde. Doch bis dahin … »Ihr könnt bei mir bleiben, bis Viktor aus der Haft entlassen ist«, hatte sie vorgeschlagen, nachdem Maria und Franziska Hals über Kopf aus der Wohnung mussten, ohne mehr mitnehmen zu dürfen, als was sie tragen konnten.

Der Vater war noch immer verhaftet. Sie ließen ihn nicht frei, weil er staatlich angestellt gewesen war: Bergbeamter der Brüxer Kohlenwerke. Es half nichts, dass tschechische Nachbarn positiv über ihn aussagten. Ihm sollte, wie vielen anderen Leidensgenossen, der Prozess gemacht werden. Das dauerte. Maria Buresch weinte den ganzen Tag. Tante Vicky, Vaters resolute Schwester, behielt zum Glück ihren klaren Kopf, obgleich sie ihn auch voller Sorgen hatte! Onkel Georg, ihr Mann, war noch nicht aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Sie hatte keine Nachricht von ihm, wollte in Teplitz bleiben, damit er sie vorfand, falls er zurückkam. Sie nutzte die Gelegenheit, sich nach einem guten tschechischen Anwalt umzusehen, opferte ihren besten Teppich dafür, auch ein Ölgemälde, das sie von ihren Eltern besaß. Gegenstände, die für sie ohnehin verloren waren. Immerhin erreichte sie damit, dass ihr Bruder einen tüchtigen Verteidiger bekam.

Franziska lag in der dunklen Küche, faltete die Hände hinter dem Kopf und dachte nach. Zu erschöpft, um einzuschlafen. Nein, weinen wollte sie nicht. Bloß nicht so sein wie die Mutter: nur weinen, nichts tun, andere machen lassen.

Morgen begann ein neues Leben. Bald würde sie endlich, endlich Theater spielen dürfen – nach mehr als einem verlorenen Jahr! Jetzt ging es los mit der Karriere. Freilich, mit dem Burgtheater war es nichts geworden. Doch irgendwo würde sich schon eine Bühne finden.

Der Flug in den Himmel begann, weit hinauf. Phönix aus der Asche.

Doch zuerst die Aufenthaltsgenehmigung. Später den Zuzug. Eines nach dem anderen. Und vor allem: etwas zu essen.

Phönix, in die Asche!

Die Gesichter der Götter im Präsidium blieben unbewegt. »Die Aufenthaltsgenehmigung? Die können Sie nur kriegen, wenn Sie Arbeit haben.«

»Direktor Steinmann hat mich engagiert, aber ich habe noch keinen Vertrag. Das geht nicht so schnell. Ich muss doch etwas essen! Könnten Sie mir wenigstens die Lebensmittelkarte geben?«

Ein Auflachen war die Antwort, der Olymp zeigte sich amüsiert. Der zuständige Beamte sagte, sie solle sich bloß mal vorstellen, wie viele Tausende über die Grenze kamen und in Dresden hängen blieben, in einer fast vollkommen zerstörten Stadt. »Die haben auch alle Hunger, keine Arbeit, keine Wohnung, nicht mal ein Zimmer.«

Franziska schwieg erschüttert. Das Gleiche hatte ihr Vollmers auch schon gesagt. »Aber – ich bin Schauspielerin!«

Erneutes Lachen.

»Wo spielen Sie?«

»Noch nirgends. Aber – ich sagte Ihnen doch schon: Direktor Steinmann hat mich engagiert.«

»Zeigen Sie uns den Vertrag.«

»Habe ich nicht, noch nicht.«

»Dann kommen Sie wieder, wenn Sie einen haben!«

Franziska blickte ratlos von einem zum anderen. Der nächste kam an die Reihe, im Flur wartete eine lange Schlange. Es half nichts, sie musste unverrichteter Dinge gehen. Zur Jordanstraße. Steinmann hatte ihr keine Hausnummer genannt, also musste sie sich durchfragen, von Haus zu Haus.

Ein Theaterbüro? Hier nicht! Wo dann? Im Nebenhaus oder vielleicht gegenüber? Nach langem Suchen endlich ein Schild an der Tür: »Sächsische Landesbühne«. Schwarze Schrift auf Pappe. Darunter: »Direktor Josef Steinmann.«

Sie ging in den Hausflur. Links im Parterre wieder ein Schild mit der gleichen Aufschrift. Die Tür verschlossen. Auf ihr Klingeln öffnete keiner.

Eine Frau kam die Treppe herab, wollte vorbeigehen. Franziska sprach sie an, erkundigte sich, wann jemand im Theaterbüro zu erreichen sei.

»Keine Ahnung.« Die Frau hatte das müde Gesicht aller Menschen, die Franziska in den letzten Tagen getroffen hatte. Auf gewisse Weise ähnelten sie einander, es war wie ein perfektes Mimikry, als hätten sie die Farbe der Steinwüste angenommen. »Mal ist jemand da, mal nicht. Bürostunden haben die wohl keine.«

»Kennen Sie den Direktor, Herrn Steinmann?«

Die Frau zuckte die Achseln und verließ das Haus.

Es wäre ja auch zu schön gewesen! Ein Theaterbüro, ein Vertrag, bereits eine Rolle in Aussicht – zu viel des Guten. Franziska setzte sich auf die Treppe, die zum ersten Stock führte und überlegte, was zu tun sei. Der Hunger bohrte in ihr und machte sie unkonzentriert. Was hätte sie für eine warme Suppe gegeben oder – Allmächtiger! – für ein Gulasch mit Semmelknödeln!

Nicht unbescheiden sein, wies sie sich zurecht und biss sich auf die Lippen, weil sie lachen musste und so wenig Grund dazu hatte. Bisher war es die Mutter gewesen, die sie zurechtwies: Franzi, tu dies nicht, tu lieber das – warum machst du alles verkehrt? Du wirst es eben nie lernen.

Nun hatte sie einen besseren Lehrmeister: Die Lage, in der sie sich befand, war ein unerbittlicher Pädagoge. Dabei ging es nicht nur um eine achtlos fallen gelassene Jacke oder um eine unaufgeräumte Schublade.

Immer wieder versuchte sie es mit Klingeln und Klopfen, wollte nicht wahrhaben, dass keiner im Büro sein sollte, falls es überhaupt schon eines war. Doch nichts rührte sich.

Zwei Männer kamen und steuerten auf die Tür zu, vor der Franziska stand. Männer mittleren Alters, ein seltener Anblick! Der eine trug eine flotte Windjacke, grüßte und lächelte Franziska zu. Der andere war dunkelhaarig, hatte ein etwas volleres Gesicht und auffallend tiefblaue Augen.

»Wollen Sie auch zur Sächsischen Landesbühne?«, erkundigte sich der mit der Windjacke.

»Ja, aber es ist keiner da.« Franziska erkannte sofort, dass es sich um Schauspieler handeln musste. Sie überdachte kurz ihren Aufzug: Den Staub hatte sie abgewaschen. Nun trug sie eine dunkelblaue lange Hose und einen hellblauen, leichten Seidenpulli. Frau Hennebichler, die tschechische Nachbarin, hatte ihr die Kleidungsstücke gegen den heiß geliebten Kanarienvogel Fritzl eingetauscht. Fritzl wurde nicht vertrieben, der durfte bleiben. Ihm war es egal, welcher Nationalität sein Frauchen angehörte. Hauptsache, er bekam sein Futter, täglich frisches Wasser, und ab und zu ein Salatblatt. Tiere sind eben vernünftiger als Menschen. Vor allem nicht so gefährlich. Der Gedanke an Fritzl – auf dem Umweg über Hose und Pulli – machte Franziska vorübergehend traurig. Er war ein Schatz gewesen. Die Welt ging unter – und Fritzl begrüßte den neuen Tag mit fröhlichen Arien.

»Dann kommt heute auch keiner mehr«, sagte der Mann mit den tiefblauen Augen. Er war gut angezogen, hatte sogar eine Krawatte um und betrachtete Franziska fast ehrfürchtig. »Hat Steinmann Sie engagiert?«

Franziska berichtete, was sie wusste, auch dass Steinmann sie herbestellt hatte.

»Ich dachte, es ginge um einen Vertrag, aber jetzt … haben Sie denn Verträge?«

»Nur per Handschlag«, antwortete der mit der Windjacke. »Ich bin Harry Kühne«, stellte er sich vor, »Väterspieler. Das ist Toni Rosenberger. Er legt Wert darauf, als Volksschauspieler angesprochen zu werden.«

Der mit den ernsten Augen lachte und gab Franziska ebenfalls die Hand. Auch sie nannte ihren Namen. Sie plauderten, kamen einander vertraut vor, wie das so ist, wenn einer im fremden Land auf Gleichgesinnte stößt. Nur waren die beiden Herren in Dresden wohnhaft, zum Glück in Außenbezirken, und somit nicht heimatlos und angewiesen auf eine Aufenthaltsgenehmigung.

»Steinmann hat uns auch herbestellt.« Harry Kühne warf einen Blick auf die Armbanduhr und schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist er aufgehalten worden. Es gibt noch viel Rennerei zu Behörden. Jeder Zehnte will ein Theater gründen, einen Verlag oder eine Zeitung. Alle wollen drankommen nach der Stunde Null. Kein Wunder, wenn die nun genau prüfen, wer prädestiniert ist und wer nicht.«

»Steinmann ist ein alter Theaterhase«, fügte Rosenberger hinzu. »Die Lizenz für die Sächsische Landesbühne hat er schon. Es fehlen nur noch Stempel. Da haben ja auch die Russen noch ein Wörtchen mitzureden.«

Franziska hörte mehr auf den Klang seiner Stimme als auf das, was er sagte.

»Sie sind aber nicht aus Dresden«, stellte sie fest. »Sie klingen nach dem Egerland.«

Er lachte wieder und es stand seinem ernsten Gesicht sehr gut. »Ich bin auch Egerländer.« Er sah sie mit einem seltsamen Blick an, sanft und väterlich, obwohl er gar nicht der Väterspieler war.

Franziska freute sich und sagte: »Dann sind wir ja Landsleute!«

»Er hat eine Dresdnerin geheiratet«, fügte Harry Kühne hinzu. Es klang warnend, als hielte er diese Mitteilung für sehr wichtig. »Aber was machen wir mit Ihnen?«

Franziska zuckte die Achseln, fiel wieder zurück in die Hoffnungslosigkeit. »Wo wohnt Herr Steinmann?«

Das wussten sie nicht.

»Ich dachte, Sie kennen ihn schon länger?«

»Das schon«, erwiderte Harry Kühne. »Aber er ist ausgebombt. Wohnt bei einer alten Freundin. Ihre Adresse kennen wir nicht.«

»Schade.« Franziska wusste, dass die Unterhaltung beendet war. Sie verabschiedete sich und nahm sich eisern zusammen, um ihre Verzweiflung nicht zu zeigen.

»Versuchen wir es morgen wieder.« Harry Kühne nickte ihr aufmunternd zu. »Oder übermorgen.«

»Wenn ich bis dahin nicht verhungert bin«, versetzte Franziska galgenhumorig. Sie schaute den beiden Männern nach. Sie waren, zumindest optisch, ein Lichtblick in der trostlosen Umgebung. Der Geruch nach Theater haftete ihnen an. Ein seltsam vertrautes Fluidum, das Franziska genoss. Nur leider war es zu schnell vorbeigegangen.

Eine Chance, Steinmann zu treffen, gab es noch: vor dem Alberttheater! Vielleicht klapperte er nicht nur die Behörden ab, sondern sammelte wieder Kippen. Doch vor dem Theater war er nicht.

Vor dem Staatstheater?

Sie lief über die Augustusbrücke, in die Wüste der Altstadt, sah sich zwischen den Trümmern um – kein Steinmann. Der Septemberhimmel hatte sich eingetrübt. Ein Regenschauer durchnässte Franziska. Wenigstens nicht mehr so staubig. Auch der süßliche Geruch hatte nachgelassen.

Zurück in die Neustadt. Immerhin wusste sie heute, wo sie schlafen würde. Nur etwas essen, lieber Himmel, ihr war hundeelend. Zwischen den Steinen lag etwas. Schimmerte rötlich. Franziska bückte sich, hob es auf: eine Möhre! Verkrustet zwar von Schmutz und Erde, aber doch – eine Möhre. Mit einem Stein schabte sie das wertvolle Stück ab, so gut es ging. Auf einer Seite war es angefault, doch man konnte es ohne Weiteres essen. Franziska hockte sich auf einen Mauerstumpf und futterte, wie ein glückliches Kaninchen, die Möhre auf. Das tat gut! Der Magen fand Gefallen daran, wollte mehr, doch leider konnte sie ihm nichts weiter bieten. Warum hatte er sich nicht vorher an ihrem gesunden Appetit schadlos gehalten? Wie oft hatte sie früher ihre Esslust dämpfen müssen, auch als Krieg war: Kakao und Zucker gab es zu Hause, allerdings unter Verschluss. Wenn die Eltern weggegangen waren, machte sie sich darüber her, vermischte beides und löffelte es in sich hinein. Das ging auf die Hüften. Da sie nur 1,58 Meter groß war, musste sie sich beherrschen, durfte nicht viel mehr als fünfzig Kilo wiegen. Dann die stibitzten Haferflocken aus der Büchse! In der Pfanne geröstet, Zucker dazwischen – der Himmel auf Erden. Nachher die Scherereien mit der Mutter: »Wenn du zur Bühne willst, musst du abnehmen!«

Nun, dieses Problem hatte sie längst nicht mehr. Wenn sie sich auszog und sich im Spiegel betrachtete, konnte sie die Rippen zählen.

Frau Dallhopp empfing sie mit der für sie typischen Gleichgültigkeit. Sie ließ sich erzählen, was auf dem Präsidium passiert war.

»Kennen Sie die Adresse von Herrn Steinmann?«, fragte Franziska.

Frau Dallhopp überlegte. Sie saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, und war sehr müde, man sah es ihr an. Um ein bisschen Geld zu verdienen, arbeitete sie als Platzanweiserin im Kino, zwei Ecken weiter, am Bischofsweg. Auch am Abend musste sie hin, kam spät heim, wenn Nachtvorstellung war.

»Da kann ich Ihnen nicht helfen«, erwiderte sie. »Aber irgendwann wird er ja ins Büro kommen.«

Irgendwann!

»Was soll ich nur anfangen, ohne Aufenthaltsgenehmigung und Lebensmittelkarte!« Franziska hielt den hungrigen Magen mit beiden Armen fest, als befürchte sie einen Ausbruchsversuch.

»Zu essen haben wir nichts.« Annemarie umschlich Franziska mit einem argwöhnischen Blick von Bewunderung und Abwehr.

»Von Mittag sind noch zwei Kartoffeln da.« Frau Dallhopps Herz war wohl nicht so gleichgültig wie ihre Miene. »Auch etwas Mehlsoße. Mach’s doch mal warm, Annemarie.«

»Warte, ich helfe dir.« Franziska rührte den Pamps im Topf und warf die Kartoffeln hinein. Bald dampfte es. Sie fragte nach einem Teller.

»Essen Sie doch gleich aus dem Topf«, empfahl Annemarie. »Dann haben wir nicht so viel Abwasch.«

Franziska nahm den Vorschlag an. Ihr blieb es gleich, wovon oder woraus sie aß. Hauptsache, sie bekam was zwischen die Zähne.

Am Abend war sie mit Annemarie allein. Sie nutzte die Gelegenheit und schrieb einen Brief an die Mutter:

»Ich habe einen Theaterdirektor kennengelernt, der hat mich sofort engagiert, buchstäblich von der Straße weg. Ich werde das ›Annchen‹ in ›Jugend‹ spielen, stell dir vor! Bin ich nicht wirklich ein Sonntagskind?«

Der 30. August 1925 war tatsächlich ein Sonntag gewesen. Doch das Glück für die Sonntagskinder gab es nur im Märchen. Da Franziska Märchen liebte und zuweilen sogar an sie glaubte, schilderte sie ihre Lage in rosigsten Farben, erzählte von einem hübschen, kleinen Zimmer bei der lieben Frau Dallhopp, gab die Adresse an, hoffte, die Mutter würde nicht auch noch ihretwegen weinen, sie sollte sich keine Sorgen um sie machen, so würde auch Tante Vicky es leichter haben. Und der Vater im Gefängnis brauchte auch nicht um sie zu zittern. Sie gab einige Zeilen für ihn mit in den Brief, für den Fall, dass die Mutter ihn besuchen durfte.

»Spielen Sie was mit mir?« Annemarie hatte ihr beim Schreiben zugesehen, war ihr nicht von der Seite gewichen.

Franziska klebte den Brief zu, nahm sich vor, gleich morgen früh eine Marke zu kaufen und fragte: »Was denn?«

»Mensch ärgere dich nicht.« Das Kind hatte schon das Spiel gebracht und war dabei, die Figuren aufzubauen.

Alles andere hätte Franziska im Augenblick lieber getan, als mit diesem Kind Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen! Doch sie musste, ob sie wollte oder nicht. Eine Weile würfelten sie schweigend und verschoben die Figuren. Dann sagte Annemarie: »Ich weiß, wo Direktor Steinmann wohnt.«

Franziska stieß vor freudigem Schreck einen Stein um. Annemarie protestierte. Sie war jähzornig und regte sich auf, weil es ihr Stein gewesen war.

»Woher weißt du das?« Störrisches Schweigen. Franziska buhlte um sie, redete mit lieblichster Zunge, heuchelte wie ein Hofschranze im klassischen Drama, wollte unbedingt ihr Ziel erreichen. »Also das finde ich wirklich fabelhaft, wie gescheit du bist! Deine Mutter hat keine Ahnung, wo Herr Steinmann wohnt, aber du weißt es. Wo wohnt er denn? Sag schon, bitte! Woher weißt du es überhaupt?«

Annemarie holte einen Zettel aus der Schublade und hielt ihn mit beiden Händen fest. Sie sah blass, mager und tückisch aus.

»Annemarie, bitte!«

»Den hat er mir gegeben, ist noch nicht lange her. Mama hat es wohl vergessen. Die vergisst alles, ist immer bloß weg. Aber ich weiß, wo Steinmann wohnt.«

»Gib mir die Adresse, ja?«

Das Kind trat zurück. »Nur, wenn Sie mir versprechen, noch …« – sie überlegt kurz und drehte die Augen zur Decke – »… noch vier Spiele mit mir zu machen.«

»Musst du denn nicht ins Bett?«

»Ich gehe immer spät schlafen. Also – vier Spiele?«

»Drei«, bat Franziska.

Annemarie ließ nicht mit sich handeln. Vier Spiele oder keine Adresse. Basta.

Franziska betrachtete sie nachdenklich. Was für ein altes Gesicht das Kind hatte! Im Krieg aufgewachsen, ohne Vater, zwischen Ruinen und immer nur Hunger im Bauch. Mit einer ständig übermüdeten Mutter. Überall Trümmer, auch hier.

»Also gut«, sagte Franziska. Die Füße taten ihr weh von der erfolglosen Lauferei und der Kopf hämmerte. »Gib den Würfel her.«

Auch am nächsten Morgen war kein Mensch im Theaterbüro. Allmählich glaubte Franziska nicht mehr an den zweifelhaften Direktor Steinmann. Wären nicht die zwei Schauspieler gewesen, der Kühne und der Rosenberger, hätte sie alles für einen Schwindel gehalten. Ein Pappschild konnte jeder anbringen in dieser verworrenen Zeit.

Wieder hatte Franziska ihre dünnen langen Hosen an und den leichten Pulli, es fehlte eine Jacke, denn es war kühl. Doch leider gab der Rucksack nicht viel mehr her. Sie begann zu überlegen, ob es nicht vielleicht doch besser gewesen wäre, statt der Bücher wärmere Kleidung einzupacken, denn der Winter kam bestimmt. Goethe und die Tagebücher wärmten nur mäßig an kalten Tagen.

Nun, Laufen war auch nicht schlecht, das brachte das Blut in Wallung. Ihre Schuhe, das einzige Paar, hielten noch eine Weile. Sie machte sich auf den Weg nach Strießen, wo Steinmann wohnen sollte. Bei Frau Lubitsch, Wormser Straße 32. Mit der Straßenbahn fuhr sie durch die Altstadt, musste immer wieder umsteigen und streckenweise zu Fuß gehen, weil die Geleise zerstört waren, kam endlich an. Nur noch wenige Häuser standen in der Wormser Straße. Eines davon war die 32.

Ein Haus aus der Gründerzeit, das früher bessere Tage gesehen haben musste, wie Steinmanns Armbanduhr. Im zweiten Stock wohnte Frau Lubitsch.

»Sie wünschen?« Distinguierte ältere Dame, ganz sicher ebenfalls mit dem Theater verbunden, es könnte zur Zeit der Neuberin gewesen sein. Dicke Schminke lag auf ihrem Gesicht wie eine Maske.

Franziska fragte nach Direktor Steinmann.

»Der ist nicht da, macht wieder seine Behördenwanderung.« Schon wollte Frau Lubitsch die Tür schließen, bekam Mitleid mit dem enttäuschten Mädchen und winkte Franziska in die gute Stube. »Hat er Sie engagiert?«

»Ja, das heißt: Ich weiß es nicht.«

»Möchten Sie einen Eierlikör? Sie sehen aus, als könnten Sie ihn brauchen.«

Hier schien die kleine Welt das Chaos draußen überlebt zu haben, auf engstem Raum, in einer Ruinenwüste. Franziska trank den dicklichen gelben Likör, ließ ihn auf der Zunge zerfließen, schloss die Augen. Zu Hause hatte stets eine Flasche Eierlikör in der Wohnzimmerkredenz gestanden, gleich neben der Klappe des eingebauten Sekretärs, an dem Franziska schrieb oder ihre Rollen lernte. Der Vater braute alljährlich selbst eine Flasche Eierlikör. Die wurde wie eine Kostbarkeit im Schrank aufbewahrt. Es kam vor, dass Franziska schnell und heimlich die Schranktür öffnete, an der Flasche nippte und sie wieder zurückstellte. Sie tat es sehr vorsichtig, nie war den Eltern aufgefallen, dass ein Millimeter weniger in der Flasche war.

»Schmeckt gut.« Sie atmete tief durch, lehnte sich zurück und genoss die Weichheit des plüschenen Sessels. Frau Lubitsch wollte wissen, woher sie kam. Also berichtete sie in Stichworten.

»Lieber Himmel, nicht mal eine Aufenthaltsgenehmigung!« Die alte Dame schlug die Hände zusammen. Weiße Spitzenmanschetten fielen über ihre Handgelenke. Das Kleid erinnerte an ein Bühnenkostüm um die Jahrhundertwende, doch wirkte es sehr beeindruckend. Frau Lubitsch sah aus wie eine Schauspielerin an einem Provinztheater, die den vergeblichen Versuch machte, überzeugend eine Schauspielerin zu mimen. Doch das Mitleid, das sie zeigte, schien echt zu sein. Franziska hoffte, dass außer dem »Stamperl Eierlikör«, wie sie zu Hause zu sagen pflegten, möglicherweise noch eine Scheibe Brot heraussprang oder eine Suppe. Doch sie hoffte vergebens. Nichts kam mehr. Nur die Beteuerung, dass Frau Lubitsch Herrn Steinmann ausrichten würde, er möge doch morgen früh im Büro sein.

»Er hat ja noch nicht mal eine Sekretärin.« Sie fuhr sich mit dem Zeigefinger vorsichtig über die gemalten Brauen, als wollte sie nachprüfen, ob sie auch an der richtigen Stelle saßen. »Heute ist er zum Arbeitsamt, um eine Kraft fürs Büro anzufordern. Das dauert alles eine Ewigkeit! Nun sehen Sie zu, dass Sie ganz schnell Ihre Papiere kriegen. Viel Glück, Fräulein!« Sie legte ihren Arm um Franziskas Schulter und tat sehr vertraut. »Anfänger können jede Menge Glück gebrauchen, ich weiß das, ich habe ja auch mal angefangen, blutjung, freilich, in einer anderen Zeit. Da hat es zwar keine Trümmer gegeben, aber auch sehr viel Hunger.«

Franziska dachte: Das wird doch nicht im Dreißigjährigen Krieg gewesen sein! Doch sie lächelte den kleinen, boshaften Gedanken schleunigst fort. »Wann war denn das?«

»Wirtschaftskrise, Inflation. Es war immer was. Die gute, alte Zeit hat es nie gegeben!« Frau Lubitsch bugsierte sie mit sanftem Nachdruck zur Tür. »Seien wir doch mal ehrlich: Das Leben ist immer lebensgefährlich!«, zitierte sie und gab dem Mädchen einen leichten Klaps auf die Wange. »Oder etwa nicht?«

Schneller als sie dachte stand Franziska wieder im Treppenhaus. Was nun? Zurück nach Neustadt. Nochmals zum Präsidium. Doch das hatte geschlossen. Zum Arbeitsamt. Vielleicht traf sie Steinmann.

Er war nicht da, natürlich. Möglicherweise ergab sich eine andere Chance? Es musste ja nicht unbedingt ein Engagement bei Rumpelstilzchen sein!

Franziska bekam einen fünfseitigen Fragebogen, den sie gewissenhaft ausfüllte. Die Beamtin nahm ihn, warf einen Blick darauf und meinte achselzuckend: »Schauspieler vermitteln wir nicht. Aber Sie könnten ja was anderes machen.«

»Ich bin nun mal gelernte Schauspielerin«, antwortete Franziska.

»Was wir brauchen, sind Leute, die aufräumen«, sagte die Schreibtischgewaltige unbeeindruckt. »Als Trümmerfrau bekämen Sie umgehend Zuzug und Lebensmittelkarten.«

Franziska schwieg.

»Trümmer wegräumen und Städte aufbauen ist im Augenblick viel wichtiger als auf einer Bühne zu stehen«, fuhr die Dame fort und blickte Franziska durchdringend an. »Meinen Sie nicht auch?«

Keine Antwort.

Franziska hatte es satt, ständig über Wert und Unwert ihres Berufs diskutieren zu müssen. Erst war Krieg (»Was willst du, auf die Theaterschule, in dieser Zeit? Als ob’s nichts Wichtigeres gäbe!«), und nun sollte es wieder nicht sein! Musste sie warten, bis das zerstörte Land entrümpelt war und die Häuser wieder standen? Na fabelhaft! Dann durfte sie vielleicht in zwanzig Jahren endlich mit gutem Gewissen auf die Bühne. Eine »Muntere und Naive« mit Vierzig. Im Rollstuhl sitzend, weil sie sich bis dahin die Beine um ein Engagement abgelaufen hatte.

»Die Kinos spielen wieder«, sagte sie nun doch. »Sind überfüllt. Zeitungen und Bücher werden gedruckt. Die Leute sind ausgehungert nach Unterhaltung, nach Kultur. Das Interimstheater hat eröffnet. Also brauchen wohl nicht alle Schauspieler Trümmer wegzuräumen.«

»Unsere Künstler vom Schauspielhaus müssen als Erste untergebracht werden«, gab die Beamtin zu. »Das sehen Sie doch hoffentlich ein.«

Das war keine Frage, sondern ein Befehl. Franziska gab auf und ging.

In den nächsten Tagen trieb der Hunger sie von Behörde zu Behörde. Und immer wieder in die Jordanstraße. Die Tür blieb verschlossen. Abends spielte sie mit Annemarie: Schwarzer Peter oder Flohhüpfen mit runden, flachen Steinchen. Dafür rückte das liebe Kind mit etwas Essbarem heraus, und wenn es nicht mehr als eine Handvoll Getreidekörner war, die Frau Dallhopp in einer Box aufbewahrte.

Eines Tages, Franziska war bereits zwei Wochen in Dresden und lebte von Dallhopps Gnaden, stand die Tür des Theaterbüros offen.

»Hallo, wo stecken Sie denn?« Direktor Steinmann begrüßte sie, als hätte er tagelang auf sie gewartet. »Kommen Sie nur herein, wir machen Vertrag.«

Ein himmlisches Wort, der schönste Satz, den Franziska in den letzten Jahren gehört hatte, wohlklingender als ein Sonett von Shakespeare. Hinter dem Schreibtisch saß eine Frau mittleren Alters und tippte.

»Frau Merkers«, stellte Steinmann vor. »Die Sekretärin unserer Sächsischen Landesbühne.«

Der legendäre Theaterdirektor Striese hätte es nicht feierlicher sagen können. Es klang nobel und war Musik in Franziskas Ohren.

Auch Harry Kühne und Toni Rosenberger waren da.

»Sehen Sie, nun kommt alles ins Lot.« Kühne nickte ihr aufmunternd zu und sie begrüßten sich wie alte Bekannte.

»Herzlich willkommen in unserem Verein«, sagte Toni Rosenberger. Er war wieder tipptopp gewandet und sah einem seriösen Beamten ähnlicher als einem Volksschauspieler. Nur – da war so ein gewisses Lachen in den Augenwinkeln, das mochte Franziska.

In dem kleinen Büro, das aus zwei winzigen Zimmern bestand, herrschte bald Betriebsamkeit. Frau Hetzel kam hereingewirbelt. Sie war die Mütterspielerin. Blond, großbusig und drall, mindestens schon fünfzig, wenn nicht noch älter, mit rosigen Wangen und runden blauen Augen, die aussahen, als wären sie stets voller Staunen.

Die anderen kannten sich bereits, hatten sich irgendwann irgendwo getroffen, nun gab es Umarmungen und das vergnügte Warten auf Verträge.

Frau Merkers wusste nicht, wie und wo sie anfangen sollte. Es begann damit, dass keine Vordrucke vorhanden waren und sie auf einer uralten Schreibmaschine alles Erforderliche tippen musste. Das dauerte.

Franziska stand abseits und sah dem Trubel zu. Das Gefühl, fremd und verloren und völlig überflüssig zu sein, ließ nach. Ein jüngerer Schauspieler kam herein, er hieß Peter Peukert, sah sympathisch aus, umarmte Franziska, die Steinmann ihm als Partnerin vorstellte.

»Sie gefällt mir«, sagte Peukert und küsste Franziska auf die Wangen.

»Sie gefallen mir auch«, antwortete sie, und vergaß allen Hunger und die Aufenthaltsgenehmigung, fühlte sich wie ein verwirrter Vogel, der ein Nest gefunden hatte, in dem er sich wärmen konnte.

Am nächsten Tag, es war der 19. September, ging Franziska zum Polizeipräsidium, legte den Vertrag vor und wartete mit angehaltenem Atem. Der Gott hinter dem Schreibtisch warf einen Blick auf das für Franziska so kostbare Dokument, winkte eine Beamtin herbei, sprach leise mit ihr, gab ihr den Vertrag, und dann nahm sich die Dame der Sache an, mit der üblichen gleichgültigen, fast angeekelten Miene. Sie musterte Franziska. Auch dieser Blick war nicht neu, Misstrauen lag darin und Ablehnung. Galt er dem Beruf oder der Tatsache, dass hier wieder einer von jenseits der Grenze kam?

»Wir können den Vertrag nur anerkennen, wenn Sie eine Unterkunft haben«, sagte die Beamtin. »Sie müssen zum Einwohnermeldeamt.«

Franziska, an das Galoppieren durch die Stadt gewöhnt, zog los zum inzwischen vertrauten Rundgang. Diesmal mit Erfolg! Sie bekam den Wohnungsmeldeschein. Und – die Lebensmittelkarten. Mit Schwerarbeiterzulage! Offensichtlich hielt man den Beruf des Schauspielers doch nicht für völlig überflüssig, wie die Leute auf den Behörden ihr weismachen wollten. Franziska verbarg ihre freudige Überraschung hinter einer gleichmütigen Miene, wie es in den geheiligten, noch standfesten Mauern an der Tagesordnung war. Geschafft! Das alles hatte viel Kraft, Nerven, Hunger und fünfzig Pfennig gekostet. Ein halber Bogen schlechtes Papier, eine Marke, ein Stempel, eine Unterschrift.

Am Abend schrieb sie ihrer Mutter:

»Ich bin ein Glückskind. Morgen fangen endlich die Proben an. Heute gehe ich ins Kino, in die ›Schauburg‹, wo Frau Dallhopp Platzanweiserin ist. Der Film heißt ›Fürst Igor‹ und kommt aus Russland. Er soll sehr spannend sein. Ganz liebe Grüße an Papa, o Gott, hoffentlich haben wir ihn bald unversehrt wieder. Liebes Mutzili, komm recht schnell zu mir, ich habe große Sehnsucht! Einen dicken Kuss an Tante Vicky und die kleine Mona. Ich denke immerzu an Euch, könnte ich Euch nur bei mir haben! Eure glückliche Franzi.«

Der Phönix schüttelte die Asche von den Flügeln und versuchte den ersten Flug. Zwar führte er nicht geradewegs in den Himmel, aber doch in eine Ruine hinter dem Theaterbüro. Dort war eine provisorische Bühne aufgebaut. Der zerbombte Hof wurde zum Zuschauerraum umfunktioniert. Es war dunkel wie in einer Höhle.

Sie probten das Lustspiel »Glück auf der Alm«.

Gladiolen

Direktor Steinmann hätte tatsächlich ein Zwillingsbruder des Schmierendirektors Striese sein können. Er führte Regie im Schnellverfahren.

»Ihr seid ja alte Hasen«, pflegte er zwischendurch einzuwerfen, wenn er die Schauspieler wieder mal allein agieren ließ, ohne sich einzumischen. Zu Franziska, als der Jüngsten, sagte er dann: »Und Sie als Anfängerin wollen ja wohl alles spielen, alles! Also spielen Sie nach Herzenslust, mit jugendlicher Begeisterung.«

Nur zu gern hätte Franziska eine straffe Regiehand gespürt, die sie zur Rolle führte. Ein derbes Bauernmädel sollte sie sein, hübsch und gescheit. Das war nicht nur mit Hände-in-die-Hüften-Stemmen getan, mit burschikosen Schritten und breitbeinigem Dastehen. Da musste mehr kommen, vom Ton und überhaupt. Doch Steinmann beschränkte sich lediglich auf Anordnungen wie: »Sie kommen von rechts« oder »Hinten links ist die Tür, da gehen Sie ab.« Also bastelte Franziska sich ihre Rolle selbst zurecht, dachte an das, was sie in der Theaterschule gelernt hatte und stellte enttäuscht fest, dass die Grundausbildung nicht ausreichte. Um über die Runden zu kommen, brauchte sie eine gewisse Routine. Die aber hatte sie nicht. Woher auch?