Treffpunkt Notenschlüssel - Doris Jannausch - E-Book
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Treffpunkt Notenschlüssel E-Book

Doris Jannausch

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Beschreibung

Kurz vor Weihnachten wird die kleine Musikalienhandlung »Zum Notenschlüssel« renoviert. Die Inhaber, Johanna und ihr Jugendfreund Peer, ahnen nicht, dass kurz darauf auch ihr eher ruhiges Leben aus den Fugen gerät und neu sortiert werden will. Der Verkauf einer ungewöhnlichen silbernen Gitarre an den bekannten Künstler Lothar März führt dazu, dass der Notenschlüssel zum Schauplatz ungeahnter, wechselnder und verwirrender Gefühle und zum lebendigen Treffpunkt alter und neuer Freunde wird: Trennungen, neue Beziehungen, aufgegebene und verwirklichte Karriere- und Lebensträume … Der »Notenschlüssel« ist Ausgangspunkt für aufregende Ausflüge in eine andere Welt, aber immer auch der sichere Hafen. Oder doch eher ein Erbe, das für Johanna und Peer zum Hemmschuh wird?

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Seitenzahl: 264

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Doris Jannausch

Treffpunkt Notenschlüssel

Roman

Zum Notenschlüssel

Das Telefon klingelte.

Peer nahm die Nägel aus dem Mund, legte den Hammer auf den Boden, kletterte aus dem Schaufenster und griff nach dem Hörer.

»Zum Notenschlüssel«, sagte er mit einer gewissen Würde. »Ja, bitte?« Und nach einer Weile laut rufend: »Jo …!«

Das Hämmern im hinteren Zimmer verstummte. »Peer?«

»Ulrich!« Er streckte die Hand mit dem Hörer aus. »Nimm schon, mir rutscht die Flöte in die Hose.«

»Dort gehört sie nicht hin«, antwortete Johanna, stolperte über die willkürlich zusammengestellten Musikinstrumente zum Telefon. »Was will er denn?«

»Frag ihn selbst. Er hat’s eilig.«

Johanna nahm den Hörer und hauchte zartfühlend: »Hallo, Ulrich? Ja, wir dekorieren um. Was gibt’s denn?« Und sagte dreimal, in verschiedenen Emotionsschattierungen: »Nein? Nein! Nein??? Warum nicht?« Danach enttäuscht: »Na schön, wie du meinst.« Sie legte auf, ziemlich blass um die Nase.

»Was ist?«, erkundigte sich Peer im Schaufenster, während er die Nägel für das Dekorationsbrett der Rosenholzflöte in die Seitenwand hämmerte.

»Nichts Besonderes«, erwiderte Johanna knapp und ging zurück ins Hinterzimmer. »Ulrich kann dieses Wochenende nicht. Familie.«

»Öfter mal was Neues«, Peer setzte sein nettestes Grinsen auf, pfiff, nicht ohne Schadenfreude, vor sich hin, zog die Flöte aus dem Hosenbund und legte sie liebevoll auf das Brett. »Was machst du dann übers Wochenende?«

Das wusste Johanna noch nicht. Ins Hallenschwimmbad vielleicht, ins geheizte. Oder schlafen, lesen, Platten hören. Möglicherweise auch an Ulrich denken und andere unproduktive Dinge tun.

»Und du?«, rief sie zwischen Hämmern und Feilen. Sie hatten für das Büro einen neuen Schreibtisch bekommen und stellten darum das Hinterzimmer um, warfen die alten Regale samt den darauf herumstehenden Souvenirs hinaus, brachten neue Bretter für die Akten an. »Was hast du vor?«

»Zu Juttas Eltern«, rief Peer zurück. »Nach Wolfratshausen. Wenn du willst, kannst du mitkommen.«

Ein entsetzter Ausruf. »Vielen Dank! Einmal reicht mir.«

Peers Freundin Jutta war ein prima Kerl, aber ihre Eltern …! Nun, es war schließlich sein Bier, Johanna hatte nichts mit den Pasewalks zu tun. Jutta Pasewalk war seine Braut.

»Ich freue mich schon auf deine Flitterwochen«, ächzte Johanna und erkletterte die Leiter um weitere zwei Sprossen, um das oberste Regal anzubringen.

»Warum?«, erkundigte sich Peer.

»Damit ich endlich einige Wochen Ruhe vor dir habe!«

Peers Gesicht erlosch. Johannas Aggressivität, vor allem vor den Wochenenden, an denen Ulrich durch Familienpflichten verhindert war, setzte ihm zu. Sie kannten sich zu lange, wussten zu viel voneinander und konnten sich darum nichts mehr vormachen. Wäre das Geschäft nicht gewesen, sie hätten sich leicht getrennt. Doch der Notenschlüssel schmiedete sie zusammen.

»Was würdest du ohne mich anfangen?«, fragte Peer mit komischem Seufzen. Darauf Johanna postwendend, einen bärtigen Kalauer benutzend: »Ein neues Leben!«

Peer zuckte die Achseln und ging dazu über, einen nostalgischen Notenständer dekorativ im Schaufenster aufzustellen. Er hatte ihn vom Antiquitätenhändler Merlinger ausgeliehen, dafür bekam der Notenständer einen Zettel mit dem Hinweis, dass Antiquitäten-Merlinger so gut wie alles habe und Reinschauen sich stets lohne. So half man einander. Eine Idee, auf die Johanna niemals gekommen wäre. In derartigen Dingen war sie überhaupt nicht geschäftstüchtig.

»Kaffeepause!«, rief Johanna nach einer Weile. Aus dem Hinterzimmer kam würziger Duft. Es roch wie in einer Rösterei. »Könntest du für einige Minuten die Nägel aus dem Mund nehmen?«

»Hab ich längst, Chefin! Ich bin schon bei der silbernen Gitarre.«

Peer kam ins Hinterzimmer, sprich, Büro, geschlendert, wo es chaotisch aussah. Auf einer Kiste standen zwei Tassen, neben ihnen lag je ein Berliner.

»Die silberne Gitarre kauft kein Mensch«, räsonierte Johanna, während sie den Kaffee eingoss. Das Zeug war so stark, dass es vor Kraft nicht aus der Kanne kam. »Eine Schnapsidee von dir, so was einzukaufen. Wer soll sich dieses kitschige Ding zulegen, ganz abgesehen davon, dass es viel zu teuer ist?!«

»Das ist kein verkitschtes Ding, Chefin«, protestierte Peer und nippte vorsichtig am heißen Kaffee, »sondern ein Luxusgegenstand für einen echten Künstler.«

»Sag ich doch«, brummte Johanna und nahm schwungvoll auf der Erde Platz, dass die engen Jeans krachten. »Wo, bitte schön, sind hier Künstler? Außerdem nenn mich nicht Chefin. Das hat so etwas Ironisches.«

»Gemacht, Boss«, Peer grinste hintergründig. Es machte ihm Freude, Johanna zu ärgern. Außerdem wollte er ihr Gelegenheit geben, sich wegen Ulrich abzureagieren, sie brauchte dazu einen Blitzableiter, und Peer hatte nichts dagegen, ihn für kurze Zeit zu spielen. Schon als Kinder hatten sie sich immer gekabbelt. So was verbindet.

Johanna seufzte und blickte sich entmutigt um. An der Schmalseite des Raumes hingen noch einige Regale. Darauf breitete sich Ramsch aus: Ein dänischer Holzsoldat, den Johanna nach einer Ferienreise für Peer mitgebracht hatte, eine bunt berockte Puppe aus Bulgarien von ihrer Mutter, ein Berliner Bär von Peers Mutter und ein Porzellan-Pierrot: weiß von oben bis unten, schüchternes Rosa nur auf den Wangen und die weiße Rose in seiner Hand. Pierrot hatte ein schmales Gesicht, dünne, hochgezogene Augenbrauen, die seinem Ausdruck etwas Arrogant-Schmerzliches verliehen, schwarze Wimpern an halb geschlossenen Lidern und auf dem Kopf eine schwarze Lackkappe. Das einzig Lebendige an der Figur schien die Halskrause zu sein.

Johanna seufzte noch einmal. »Wohin mit dem Ramsch?«

»Was heißt Ramsch?«, meinte Peer stirnrunzelnd. »Da hängen doch Erinnerungen dran.«

»Also gut – wohin mit dem Erinnerungsmüll?«

»Lass alles stehen.«

»Kommt nicht infrage. Was du magst, nimm mit, in deine Wohnung. Ich brauche die Regale für die Akten.«

»Wenigstens den Pierrot«, bat Peer. Seine Augen wurden rund vor Angst um das Prachtstück, das er Johanna vor Jahren aus Delft mitgebracht hatte. Damals, sie waren noch in der Pubertät gewesen, hatte er sich idiotischerweise in Johanna verliebt, als sie beide im Hinterzimmer saßen und entdeckten, dass sie zufällig das gleiche Buch lasen: den Cornet von Rilke. Verblüfft sahen sie sich an und lachten. Da war es um Peer geschehen. Er verliebte sich Hals über Kopf in Johanna. Auch sie verfolgte ihn öfters als nötig mit ihren Blicken. – »Die Kinder!«, hatte Jenny Joostmann, Peers Mutter, geseufzt: »Die werden doch nicht etwa ein Paar?« Worauf Jessica Gauss, Johannas Mutter, beide Arme in hellem Entsetzen hob und ihr ungarisches Temperament aus sich heraussprudeln ließ: »Mal bloß den Teufel nicht an die Wand, Jenny! Die Kinder und ein Pärchen – das wäre fast schon Inzest!«

Natürlich wäre es kein Inzest gewesen, denn Peer und Johanna waren nicht miteinander verwandt, aber die Mütter waren eben Freundinnen gewesen. Nach dem Tod ihrer Ehemänner eröffneten sie das Musikgeschäft »Zum Notenschlüssel«, das sie ihren Kindern vermachten.

Das mit der Verliebtheit zwischen Peer und Johanna hatte zwei Monate angehalten. In dieser Zeit war Peer mit der Klasse nach Holland gefahren. Von dort hatte er den Pierrot mitgebracht. Er hing an ihm, und, wie er dachte, Johanna ebenfalls. Doch jetzt wollte sie ihn auf den Müll oder sonst wohin werfen. Als ob man mit einer vergangenen Jugendliebe derart umgehen dürfte …!

»Er hat einen infantilen Podex«, behauptete Johanna, holte den Pierrot vom Regal und drehte ihn um.

Peer sagte kopfschüttelnd: »Man sollte ihn von vorn betrachten! Da sieht er doch respektabel aus.«

»Affektiert«, meinte Johanna.

»Find ich gar nicht«, brauste Peer auf. »Er ist traurig. Die Trauer bricht ihm das Herz, doch er will es nicht zeigen.«

Johanna sang mit Pathos: »Lache, Bajazzo, schneid die tollsten Grimassen, kennst kein Gefühl …«

»Wenn du es so siehst, na schön«, brummte Peer. »Glaub mir: Er leidet. Er ist stolz und gebrochen.«

»Und er hat einen infantilen Hintern«, ergänzte Johanna gefühllos.

Peer schnappte ein. Von da an sprach er kein Wort mehr, was selten vorkam bei ihm, denn er redete viel und gern. Jetzt schwieg er eisern und sah wie ein lebender Vorwurf aus.

Johanna lenkte ein.

»Tut mir leid, Peer, natürlich behalte ich den Pierrot; er kann ja zwischen den Akten stehen.« Keine Antwort. »Oder du bastelst mir ein extra schönes Regal, weißt du, so ein Halbrund für die Ecke, mit grünem Samt ausgeschlagen, davor stelle ich dann den Pierrot auf.« Noch immer kein Versöhnungszeichen? »Sogar in meinem Schlafzimmer. Damit ich ihn beim Aufwachen sofort sehen kann.« Sie verkniff sich ein Lachen, weil Peers Gesicht immer finsterer wurde, während er herumwirtschaftete, Instrumente auf ihre Plätze stellte, sogar das Kleinklavier in den für ihn bestimmten Winkel schob, schnaubend wie ein wütender Wasserbüffel.

»Das glaubst du doch wohl selber nicht«, stieß er erbittert hervor. »Von wegen: Mit grünem Samt ausgeschlagen! So ein Stuss …«

»Kein Stuss«, widersprach Johanna. »Ich möchte es wirklich. Du könntest mir so ein Halbrundregal zu Weihnachten schenken. Schenkst du’s mir?«

»Nein!«

Wenn Peer übel nahm, nahm er übel. Er tat eben alles mit konsequenter Gewissenhaftigkeit.

»Na schön, dann lassen wir ihn stehen, wo er steht.« Johanna gab auf. »Eingeklemmt zwischen Akten.«

»Nimm ihn weg und wirf ihn in den Müll.« Peer wischte Staub von der Hose und kämmte sich die Haare. »Ich hole jetzt Jutta ab. Wenn du willst, können wir morgen Nachmittag weiterfummeln, dann ist Montag früh klar Schiff.«

»Sehr großmütig.« Johanna saß noch immer auf dem Boden, steckte sich eine Zigarette an und starrte provozierend zur Decke. »Übernimm dich bloß nicht. Wenn du erst bei den Pasewalks bist, dann bleib gefälligst bis morgen Abend bei ihnen. Strafe muss sein.«

Peer lachte, obwohl er eigentlich nicht wollte. Er kannte Johannas Antipathie gegen Juttas Eltern. Die Pasewalks waren für sie Kleinbürger. Pünktliches Essen, Vorurteile, Sprüche wie: »Alle Männer sind Egoisten« oder »Die Jugend von heute taugt nicht viel«, dagegen durfte es keine Einwände geben, keine Diskussion. So und so war es eben, basta. Johanna ging bei solchen Sprüchen hoch wie Hefeteig, doch Peer nahm das nicht ganz so ernst. Er wollte Jutta heiraten, mit ihr in München leben, und die Eltern blieben, wo sie waren. Jutta liebte ihn. Sie war ein aufgeschlossener, moderner Mensch, jawohl.

Gegen zwölf verließ Peer das Geschäft. Johanna wollte unbedingt das Hinterzimmer so weit fertig machen, dass es wenigstens wie ein halbwegs bewohnbarer Raum aussah. Kundschaft war am Samstag, um diese Zeit, kaum noch zu erwarten. Dachte sie.

Aber fünf vor halb eins tauchte das freundliche Gesicht Fräulein Schlegels auf. Sie war Klavierlehrerin, ein alleinstehendes, ältliches Fräulein, das Wert auf eben diese Bezeichnung legte.

»Die Sonaten von Kuhlau«, sagte das eintretende Fräulein Schlegel. »Herr Joostmann wollte sie bestellen, ich warte schon seit Tagen darauf, weil meine alten doch …«

»Von Melusine gefressen wurden«, ergänzte Johanna, die schon die Geschichte von Kuhlaus Sonaten und dem Kätzchen Melusine kannte.

»Nicht gefressen«, korrigierte Fräulein Schlegel. »Zerrissen, lauter winzige Schnipsel, die man nicht mehr kleben kann. Jetzt sitze ich mit meinen Schülern da und habe keine Sonaten zum Üben. Sie wissen ja, Fräulein Jo, Generationen von Klavierschülern haben danach …«

»Ich weiß«, fiel Johanna ihr ins Wort, um den Redeschwall abzukürzen. »Ich auch.«

»So ist es.« Fräulein Schlegel musterte sie liebevoll. »Ist schon lange her.«

»So lange nun auch wieder nicht.« Johanna dachte mit leichtem Erschrecken daran, dass sie nicht mehr zwanzig war. Normalerweise machte es ihr nicht viel aus, aber so plötzlich daran erinnert zu werden …

»Zwanzig Jahre wohl schon, nicht?« Fräulein Schlegel lächelte freundlich, sich nichts Böses dabei denkend. »Damals waren sie zehn.«

»Acht«, verbesserte Johanna penibel. »Mit zehn habe ich bereits in einem Schülerkonzert gespielt.«

»Mit Peer Joostmann vierhändig«, strahlte Fräulein Schlegel. »Zwei süße Kinder, ach ja! Heutzutage …«

Während sich die Klavierlehrerin in analytischen Beurteilungen der jetzigen Generation erging, suchte Johanna in dem Chaos nach Kuhlaus Sonaten und Sonatinen, leider vergeblich.

»Montag«, sagte sie aufatmend und richtete sich von dem auf der Erde liegenden Notenhaufen auf. »Montag früh kommt eine neue Sendung mit der Post. Da wird der Kuhlau dabei sein, bestimmt.«

»Fein.« Fräulein Schlegel nickte ihr zu. »Dann wünsche ich Ihnen ein frohes Wochenende. Fahren Sie weg?«

»Muss arbeiten«, antwortete Jo. »Peer ist mit seiner Braut unterwegs.«

»Und Ihr Bräutigam?« Fräulein Schlegel wollte nicht neugierig sein, durchaus nicht, sie fühlte sich nur ein bisschen verantwortlich für Johanna und Peer, die »süßen Kinder« von vorgestern, die nun erwachsene Leute waren. Außerdem bedauerte sie aufrichtig, dass keiner von ihnen bis jetzt den Hafen der Ehe angesteuert hatte – wie sie sich feierlich auszudrücken beliebte –, so nett, wie die beiden aussahen.

»Mein Bräutigam ist ein verheirateter Mann, Fräulein Schlegel.« So hart, wie sich das anhörte, sollte es nicht klingen, doch da es sich um den wundesten Punkt handelte, verlor Johanna die Beherrschung. »Seine Tochter ist aus Berlin gekommen. Über Weihnachten – eine Woche zu früh. Darum hat er jetzt keine Zeit.«

»Schon gut, schon gut«, wehrte Fräulein Schlegel ab, »so genau wollte ich es gar nicht wissen. Jedenfalls wünsche ich einen angenehmen Sonntag.« Sie hielt die Hand hin. Johanna nahm sie und zwang sich ein Lächeln ab. Dann klingelte die Ladenglocke und sie war allein. Nicht lange. Von draußen kam ein Aufschrei. Fräulein Schlegel war in einen jungen Mann gerannt. Große Aufregung, Schäkern und Entschuldigungen. Dann bimmelte die Glocke wieder und der Mann stand im Laden. Er grüßte und sah zerknirscht auf die Armbanduhr.

»Zu spät?«, fragte er.

»Eigentlich ja.« Johanna drehte den Schlüssel im Schloss herum. »Aber da Sie schon mal hier sind – was möchten Sie?«

Der verspätete Kunde war ein lang aufgeschossener Mann mit dunklen Augen, blassem Gesicht, sportlich-elegant gekleidet, den Hemdkragen aufgestellt wie eine Halskrause. Er zog die Brauen hoch und lächelte.

»Die silberne Gitarre im Schaufenster, Pardon, aber ich konnte daran nicht vorbeigehen. Könnte ich sie bitte, trotz Ladenschluss …« Er blickte sich um. »Ach, Sie dekorieren wohl gerade, richten sich neu ein?«

»So ungefähr«, gab Johanna sparsam zurück. »Sie wollen sie ausprobieren?«, fragte sie ungeduldig. »Ginge das nicht am Montag?«

Der Lange druckste verlegen herum. »Das ist so – ich habe heute Abend ein Konzert, im Paulaner, und da hätte ich gern …«

»Wenn Sie ein Konzert haben, müssen Sie doch auch eine Gitarre besitzen.«

»Natürlich.« Er lächelte wieder, und es sah ein wenig müde aus. »Aber keine so attraktive. Könnte ich sie mal …«

»Na schön, nehmen Sie sie aus dem Fenster.«

Er folgte sogleich, mit andächtigem Gesicht, als sei er dem lieben Weihnachtsmann begegnet. Johanna kannte den Mann nicht. Die Schüler vom nahe gelegenen Konservatorium waren ihr zum größten Teil bekannt, auch die Professoren und Lehrer, aber der da … er sprach den weichen Dialekt der Österreicher, nur ein wenig, doch immerhin hörbar.

Während er auf der Gitarre klimperte, angelte Johanna heimlich nach dem Veranstaltungsplan, der zwischen den anderen ungeordneten Papieren lag, um zu sehen, wer denn da im Paulaner ein Konzert gab. Sie fand die Seite »Paulaner« nicht. Der Gitarrenmann musste das bemerkt haben, denn er machte eine artige Tanzstundenverbeugung und stellte sich vor: »Lothar März. Ich singe und spiele dazu Gitarre.«

Johanna musste den Namen schon gehört haben. Aber wo? Im Fernsehen? Sie fragte ihn. Ja, er habe schon einige Sendungen gehabt, sogar eine eigene Show.

»Komisch«, sagte Johanna. »Irgendwie erinnern Sie mich an jemanden. Sind Sie schon mal in München aufgetreten?«

»In München noch nicht.«

Johanna musterte ihn mit Interesse. Er kam ihr vertraut vor. Hatte sie einen Bekannten, der ihm ähnlich sah?

Lothar März hatte sich auf eine Kiste gesetzt, zuerst prüfend geklimpert, und nun legte er los. Er spielte Gitarre wie andere Leute Skat: mit Hingabe und ohne aufzuhören.

»Donnerwetter!« Johanna setzte sich vor ihm auf den Boden und sah bewundernd zu ihm hinauf. »Wo haben Sie das gelernt?«

»In Spanien«, erwiderte er mit seinem sanften, melancholischen Lächeln. »Ich bin zwei Jahre dort gewesen und habe bei dem besten Gitarristen Unterricht gehabt.«

»Warum sind Sie nicht auf ein Konservatorium gegangen?«, fragte Johanna.

»Keine Lust. Ich hatte genug von den dressierten Tonjüngern. Früher bin ich Sängerknabe gewesen, wissen Sie.« Er senkte den Kopf, als schäme er sich.

»Wiener Sängerknabe?« Johanna lachte. Sie stellte sich den Jüngling mit dem verträumt-elegischen Gesicht im Chor singend vor, ein fein gemachter kleiner Junge mit weißem Krägelchen, Augen und Mund weit geöffnet: »Es ist ein Ros entsprungen« oder »Guten Abend, gute Nacht, mit …« – ja, womit denn bloß? – »mit« irgendwas »bedahacht …«. Er musste ergreifend gewesen sein; vor ihrem geistigen Auge sah sie Tränen über das faltige Gesicht alter Damen laufen.

Er nickte nachdenklich. »Sängerknabe bis zum Stimmbruch.« Dann hob er den Kopf und betrachtete sie mit schmalen, kritischen Augen. »Und Sie? Waren Sie auf dem Konservatorium?«

»Aber nein«, rief Johanna. »Ich hatte nur Klavierunterricht bei einem netten, musikbesessenen Fräulein. Aber der Joost …«, sie unterbrach sich, »mein Kompagnon, der hat einige Jahre studiert, spielt auch recht gut, fast alle Instrumente. Dressiert kam er sich eigentlich nicht vor. Im Gegenteil, als wir den Laden übernehmen mussten, gab er sein Studium nur ungern auf.«

»Mussten?« Der Wiener Sängerknabe neigte den Kopf zur Seite und kam Johanna bekannter denn je vor. »Wieso mussten Sie?«

»Unsere Mütter hatten sich das Geschäft eingerichtet; es war für sie eine Art Jugendtraum, den sie sich nach dem Tod ihrer Männer erfüllten.« Johanna dachte: Warum erzähle ich ihm das alles? Es ist gleich eins und ich sollte weiterarbeiten. Doch sie steckte sich eine Zigarette an und erzählte Dinge, die ihn nichts angingen. Er hörte zu, als lausche er einer Predigt.

»Unsere Mütter wurden kurz hintereinander Witwen«, erklärte Johanna. »Da machten sie eben das Geschäft hier auf. Nur …« Sie zögerte, sprach höchst ungern davon, doch nun war der Sanfte neugierig geworden. Während seine Finger ganz zart die Saiten anschlugen und er mit schief gelegtem Kopf auf den Ton der Gitarre und gleichzeitig auf Johannas Stimme zu lauschen schien, fuhr sie fort: »Der Joost und ich – also mein Kompagnon … also wir wollten beide Musik studieren, wir sind eine ziemlich verrückte Familie.«

»Ist man verrückt, wenn man Musik studieren will?«, fragte der Sängerknabe.

Johanna zuckte die Achseln. »Ich baute noch mein Abi, da war der Joost schon auf dem Konservatorium. Und dann …« Sie schluckte schnell. »Unsere Mütter machten eine Urlaubsreise nach Spanien. Dorthin, wo Sie so gut Gitarre spielen lernten«, fügte sie mit verbindlichem Lächeln hinzu, »und dort hatten sie einen Autounfall. Beide auf der Stelle tot. Überführung, Begräbnis – und dann –, was sollte aus dem Geschäft werden? Der Joost hängte sein Studium an den Nagel, ich fing meines erst gar nicht an – und da sind wir nun mit unserem Notenschlüssel.«

Lothar März spielte Mollakkorde, doch dann ging er in Dur über. »Wie schön, dass Sie den Laden haben«, sagte er. »Da kann ich wenigstens Stammkunde werden, sozusagen taufrisch aus Wien importiert. Ich wohne nicht weit von hier.«

»Gratuliere.« Johanna drückte die Zigarette aus. »Also, was ist, nehmen Sie die Gitarre? Ich sage Ihnen gleich: Sie ist ziemlich teuer.« Sie nannte den Preis. Der Kunde erbleichte nicht, er trug es mit Fassung.

»Darf ich mal die Orgel ausprobieren?«, bat er und zeigte auf das elektronische Instrument.

Nun war schon alles egal. Johanna schloss das Kabel an. Lothar März begann zu spielen, ziemlich gut, sehr gut, sogar ganz ausgezeichnet. Nein, er spielte genial. Auch noch »Tod und Verklärung« von Richard Strauss, eines von Johannas Lieblingswerken. Ihr Herz schlug schneller, natürlich nur wegen der Musik. So hatte bisher noch keiner gespielt. Das schaffte nicht mal der Joost. Der Joost spielte, wie er war: brav, bieder, korrekt, jedes Tönchen mit sauberem Anschlag. Hier aber rauschte es und knisterte im Gebälk.

Danach probierte der späte Kunde noch zwei Geigen aus, eine Piccoloflöte und den einzigen Bass. Er konnte anscheinend alle Instrumente, hatte Musik im Blut – oder sonst wo.

Draußen dämmerte es, die Straßenlaternen gingen an. Am Himmel hingen dicke Schneewolken. Und im Laden sah es noch immer aus wie Kraut und Rüben. Passanten hörten die Musik, blieben stehen und drückten sich die Nasen platt. Johanna machte kein Licht. Einmal wollte sie Kerzen anzünden, doch dann ließ sie es. Es hätte zu feierlich ausgesehen. Lieber nicht, die Atmosphäre war ohnehin dicht genug.

Manchmal hob sie den Kopf und schaute aufmerksam auf die Straße. Sie hoffte, dass Ulrich wenigstens auf einen Sprung … wenn er vergeblich versucht haben sollte, sie zu Hause zu erreichen. Doch Ulrich kam nicht. Der hätte auch ganz schön gestaunt, wenn er in diese Musikstunde geplatzt wäre.

»Ja!!!« Lothar März brach mit einem Akkord ab und sprang auf. »Ich nehme die Gitarre!« Als wäre ihm das erst jetzt, beim Orgelspielen, eingefallen. Er sah auf die Armbanduhr. »Leider muss ich weg, danke, dass ich durfte. Kommen Sie in den Paulaner? Ich könnte eine Freikarte oder auch zwei …«

»Geht leider nicht, vielen Dank«, antwortete Johanna. »Ich mach den Laden jetzt fertig.«

»Und …« Er zeigte das ganz schnelle Lächeln eines Melancholikers. »Wo ist der Joost?« So als kenne er ihn bereits viele Jahre. »Hilft er Ihnen nicht ein bisschen?«

»Der Joost ist mit Braut unterwegs.«

»Und Ihr Bräutigam?«

Das wurde sie an diesem Tag schon zum zweiten Mal gefragt! Sie ersparte sich die Antwort, nannte nochmals den Preis der Silbergitarre, diesem versnobten Stück. Ohne mit der Wimper zu zucken, zog der Sängerknabe die Brieftasche aus dem Jackett und bezahlte. Danach schulterte er das Instrument, nickte Johanna zu und verschwand.

Sie sah ihm nach und überlegte, an wen er sie erinnerte.

In diesem Augenblick fing es in dicken Flocken zu schneien an.

Gleich nach dem Sonntagsfrühstück marschierte Johanna wieder zum Laden. Sie war nicht recht weitergekommen am Tag vorher. Waren es die nutzlosen Gedanken an Ulrich oder der Nachklang der Lothar-März-Musik, sie hatte keine Lust mehr gehabt und war nach Hause gegangen.

Als sie zum Laden kam, erlebte sie eine Überraschung. Die Hintertür war nicht verschlossen. Schreck durchfuhr sie: Einbrecher?

»Peer!«

Der Joost stand mit hochgekrempelten Ärmeln auf der Leiter im Büro und hatte die neuen Regale nicht nur angebracht, sondern auch noch exakt eingeräumt.

»Ich dachte, du bist in Wolfratshausen?«

»War ich auch«, brummte er. »Aber ich habe mich gestern Abend verkrümelt und bin heimgefahren.«

»Und Jutta?«

»Ist bei ihren Eltern geblieben.« Er entfaltete eine beängstigend hektische Tätigkeit. Johanna wusste nicht recht, was sie sagen sollte.

»Die Pasewalks, was?«, fragte sie ahnungsvoll.

»Die auch.« Peer hievte die Steuerakte ins Regal und stieg von der Leiter. »Aber am allerschlimmsten war Jutta.«

Johanna schwieg. Sie wollte nicht neugierig erscheinen, obwohl sie fast platzte. Sie fummelte ein wenig in den Andenkenrequisiten herum, hielt den Pierrot in der Hand, stutzte kurz – und stellte ihn mit Nachdruck neben die Steuerakte im dritten Regal von unten. Dort machte er sich gut. Doch Peer nahm davon keinerlei Notiz.

»Weißt du, was die mich gefragt haben?«, schnaubte Peer.

»Keine Ahnung.« Johanna räumte den neuen Schreibtisch ein, es sah ringsum viel wohnlicher aus als am Tag vorher. Sie tat, als höre sie nur mit halbem Ohr hin. Laut Erfahrung wusste sie, dass ein derartiges Verhalten viel schneller die Zunge löste als neugieriges Ausfragen. Auch diesmal klappte der Trick.

»Die fragten mich, wie viel ich verdiene, wo ich mit Jutta wohnen wolle und wie ich mir alles so vorstelle.«

Johanna biss sich auf die Lippen.

Typisch Pasewalks! Doch sie sagte nur: »Na und? Ist doch ihr gutes Recht als besorgte Eltern. Gehobene Verhältnisse, einzige Tochter und so.«

»Mag stimmen«, gab Peer widerstrebend zu. »Für Eltern im 19. Jahrhundert, oder meinetwegen noch für unsere Großeltern. Aber du hast doch gesehen, was dabei herauskommt, wenn man es heutzutage genauso macht. Du hast es doch an unseren Müttern gesehen.«

Du meine Güte, ihre Mütter! Sie hatten beide jung geheiratet, ihre Berufe aufgegeben und je ein Kind bekommen. Danach kam nicht mehr viel. Als die Ernährer und Familienvorstände innerhalb eines Jahres schnell hintereinander starben, fast wie verabredet, waren die berufslosen Mütter gar nicht mal so unglücklich gewesen, krempelten sich symbolisch die Ärmel hoch und machten den Notenschlüssel auf. Nicht alle Frauen haben im mittleren Alter so viel Mut.

»Was, zum Teufel, ist denn mit Jutta?«

»Das war es eben.« Der Joost, der im Gegensatz zu Johanna nicht rauchte, holte einen Apfel aus der Hosentasche, polierte ihn am Hinterteil und biss mit wütendem Gesicht hinein. »Der Spuk war verabredet. Jutta tauschte Blicke mit ihren Eltern. Sie dachten, ich merke es nicht. Aber ich merkte eben doch, dass etwas Bestimmtes im Anzug war. Und wirklich, zwischen Käsefondue und Rumtopf ging’s los. Papa Pasewalk angelte sich eine Zigarre und bot mir auch eine an, obwohl er weiß, dass ich nicht rauche. Dann sagte er: ›Mein lieber Junge …‹, worauf Mama Pasewalk flötete: ›Kannst du mir beim Rumtopf helfen, Jutta?‹ Die Damen verzogen sich. Es war wie ein Stück vom Ohnsorg-Theater.«

Johanna lachte.

»Das finde ich durchaus nicht komisch«, rief der Joost und warf den Apfelrest in den Aschenbecher. »Er fing tatsächlich an, mich auszufragen.«

»Allmächtiger, habt ihr denn nie vorher darüber geredet?«

»Nie. Es war alles ganz selbstverständlich. Jetzt, wo wir beschlossen haben, zu Ostern zu heiraten, geht es los.«

»Was hast du geantwortet?« Johannas Augen funkelten. Der Joost und die Familie seiner Zukünftigen. Zu komisch! Sie konnte ihm seine Wut nachfühlen.

»Dass alles nur Juttas und meine Angelegenheit sei! Sie ist volljährig, ich bin ein gestandenes Mannsbild über dreißig …« Hier räusperte sich Johanna anzüglich, was er überging. »Außerdem hat Jutta ihre gute Stellung und ich das Geschäft. Sonst noch was?«

Johanna imitierte den Ton: »Werden Sie meine Tochter ernähren können?«

»Genau«, rief der Joost. »Haargenau so lautete seine Frage, als wollte er eine Amme engagieren und keinen Ehemann für seine Tochter.«

Das war nun doch zu komisch. Johanna wäre vor Lachen fast von der Kiste gefallen, die noch immer herumstand. Doch sie rief sich zur Ordnung, damit der arme Peer nicht dachte, sie mache sich über ihn lustig.

»Jedenfalls kam Jutta später herein, mit Augen wie eine Kuh vor’m Gewitter.«

»Vergleiche hast du«, meinte Johanna kopfschüttelnd. »Spricht man so von seiner Braut?«

Er überhörte die Ironie.

»Statt nun einzulenken«, fuhr Peer fort, »hielt Jutta nun auch noch ihrem Vater die Stange.«

»Sehr malerisch ausgedrückt«, warf Johanna ein. »Deshalb bist du vermutlich ausgerückt. Oder?«

»Genau!« Er sah düsteren Blickes um sich. Dann fragte er spontan: »Wo ist die silberne Gitarre?«

Johanna erzählte ihm von dem Wiener Sängerknaben, der nach Geschäftsschluss hereingeschneit war.

»Ein gewisser Lothar März, der hier ein Konzert gibt. Gitarrenvirtuose oder so.«

»Lothar März?« Der Joost starrte sie verblüfft an. »Lothar März hat unsere Gitarre gekauft? Weißt du, was das bedeutet?«

»Dass wir eine schöne Stange Geld verdient haben«, gab Johanna lakonisch zurück.

»Und dass die Gitarre in den besten Händen ist!«, rief Peer und vergaß seinen Kummer. »Mann, der Lothar März! Ist der in München?«

»Muss er ja wohl, wenn es nicht sein Geist war, der gestern die Gitarre …«

»Ich meine, lebt er hier – oder gibt er nur ein Gastspiel? Habt ihr darüber gesprochen?«

»Er wohnt ganz in der Nähe und hat sämtliche Instrumente ausprobiert. Gekauft hat er nur die Gitarre.«

Es dauerte eine Weile, ehe sich der Joost einigermaßen fasste. Er habe Platten von Lothar März, berichtete er aufgeregt, auch Jutta liebe ihn so sehr, die würde ihn ganz gewiss gern mal kennenlernen. Erst als Johanna ihn sanft daran erinnerte, dass er Jutta vorläufig aus seinem Leben gestrichen habe, schloss er mit sachlicher Stimme: »Jedenfalls ist seine Musik großartig. Willst du dir die Platten nicht mal bei mir anhören?«

»Du weißt, ich mach mir nicht viel aus solcher Musik«, antwortete Johanna kühl. »Was spielt er denn eigentlich?«

»Typisch Jo!«, entrüstete sich Peer. »Weiß nicht, was der Junge spielt, aber mag seine Musik nicht. Er spielt alles.«

»Was alles?« Johanna ließ sich von Peers Begeisterung nicht anstecken. »Auch den Walkürenritt und die Unvollendete?«

»Vielleicht auch das«, erwiderte Peer. »Seine Skala ist riesengroß: Von Folklore bis zum Konzert – alles, alles! Er ist der Gitarrenvirtuose des Jahrhunderts.«

»Du übertreibst!« Johanna war ans Schaufenster getreten, das ebenfalls sehr aufgeräumt aussah. Der Joost musste wie ein Ackergaul gearbeitet haben. »Guck mal, wer da kommt.«

Mit feuerroten Wangen kam ein Mädchen angetrabt: Rundliches Gesicht, rundliche Figur, kurze Haare standen wie Mini-Antennen um den Kopf.

»Jutta«, rief der Joost. »Was will denn die?«

»Sich vermutlich mir dir versöhnen«, sagte Johanna und schlüpfte in den Mantel. »Ihr braucht mich ja wohl nicht.«

»Bleib!«

Der feige Joost wollte offensichtlich nicht mit Jutta allein sein. Da stürmte sie auch schon in den Laden, als hätte sie den Auftritt geprobt. Doch sie war tatsächlich außer sich.

»Peer!« Ohne von Johanna Notiz zu nehmen, fiel sie ihm um den Hals. Peer ließ die Arme hängen und blickte Johanna über Juttas Schulter stirnrunzelnd an. Sie nickte ihm aufmunternd zu. »Ich kann wirklich nichts dafür«, heulte Jutta an Peers Schulter. »Es war Papas Idee. Mir wäre doch nie eingefallen, mit dir über solche Dinge zu sprechen!« Als Peer seine Arme noch immer nicht um sie legte, nur stumm und steif dastand, löste sich Jutta und trocknete sich die Augen mit einem Taschentuch. Eine Weile sagte keiner was. Johanna brauchte einen einigermaßen guten Abgang, suchte nach tröstenden Worten, fand keine.

»Also dann, ihr zwei …«

Jutta vertrat ihr den Weg. »Hat er es Ihnen erzählt?«

Jo nickte etwas ratlos. »In groben Zügen.« Dabei blickte sie auf Peer, der noch immer wie zur Salzsäule erstarrt dastand und sich nicht entscheiden konnte, was er tun sollte.

»Er hätte doch nicht gleich abzufahren brauchen«, schnaubte Jutta ins Taschentuch. »Meine Eltern sind wie vor den Kopf gestoßen. Papa hat es doch nur gut gemeint.«

»Wenn man es gut meint«, sagte Jo, »geht es fast immer schief. Ihr seid erwachsene Menschen. Also dann benehmt euch gefälligst auch so!«

Jutta gab den Weg zur Tür noch immer nicht frei.

»Er ist manchmal so unbeherrscht.« Sie starrte finster auf Peer, der mit gläserner Miene an ihr vorbeisah.

»Unbeherrscht?« Johanna kannte Peer in vielen Situationen: eingeschnappt, misslaunig oder freudig erregt, nie aber unbeherrscht oder aggressiv. Vielleicht war er das nur, wenn er liebte.

Liebte er Jutta? Das Wort Liebe in Verbindung mit dem Joost schien ihr absurd. Man weiß so viel voneinander, wenn man sich so lange kennt – und letzten Endes kennt man sich überhaupt nicht.

»Macht klar Schiff«, sagte Johanna und schlug einen Bogen um Jutta. Sie hatte keine Lust, auch nur einen Handgriff im Geschäft zu tun. Es war Sonntag. Sie wollte zu Hause Platten hören. Sich in Ruhe über Ulrich ärgern. Auf die kommende Woche freuen und das Weihnachtsfest vorbereiten. »Tschüs, ihr Lieben.«

Die Ladenglocke bimmelte, sie war draußen. Noch einmal sah sie in den Laden. Jutta stand vor Peer, ebenfalls mit hängenden Armen, wie eine Nachwuchsschauspielerin, die sich auf einen klassischen Monolog vorbereitet. Beide sahen aneinander vorbei, obwohl sich ihre Körper fast berührten.

Das Happy End kündigte sich bereits an.

Kaiser Ulrich

Als sie um die Ecke bog, entdeckte Johanna Ulrichs Wagen, direkt vor der Haustür geparkt. Was wollte denn der bei ihr? Ulrich selbst war an diesem Tag nicht eingeplant.

Sie zögerte kurz. Am liebsten wäre sie umgekehrt, augenblicklich war ihr nicht nach Ulrich. Sie spürte das Ziehen im Bauch, das sie stets hatte, wenn Ulrich aufkreuzte. Es war bereits chronisch. Da er den Schlüssel zu ihrer Wohnung besaß, konnte sie die Begegnung nicht verhindern. Da half nur tief Luft holen, Tür aufschließen und ihm gegenübertreten.

Ulrich thronte im Sessel, hatte ein Glas Cognac vor sich und las. Als Johanna ins Zimmer trat, legte er das Buch beiseite.

»Endlich«, sagte er und lächelte ihr zu.

»Ist deine Tochter nicht da?«

»Natürlich. Aber sie hat sich mit Freunden verabredet. Und meine Frau ist zu einer Freundin gegangen.«

»Verstehe«, murmelte Johanna. »Die heilige Familie ist ausgeflogen. Da hat Cäsar Zeit.«

Sie nannte ihn Cäsar, weil sein Haarschnitt und manches andere an ihm cäsarianisch war, was er abzustreiten versuchte. Ulrich Breda, seines Zeichens Chef einer nicht sehr großen Papierfabrik, war eine Persönlichkeit. Er gab sich jedenfalls so. Mit grau meliertem Cäsarenschnitt, markantem Gesicht und großer Statur, leicht zur Behäbigkeit neigend, gehörte er zu den Männern, nach denen sich die Frauen umsehen. In seinen blauen, klaren, jung gebliebenen Augen stand die Sonne. Zu allen Anlässen. Er holte die Sonne in die Augen, wann immer es ihm passte. Er wusste, es stand ihm. Ein Sonnyboy, der in die Jahre gekommen war. Belesen, musisch, humorig. – Eines Tages, das war schon einige Jahre her, war er in den Notenschlüssel