Kurschattenspiele - Doris Jannausch - E-Book
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Kurschattenspiele E-Book

Doris Jannausch

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Beschreibung

Ein heiterer Liebesroman von Doris Jannausch: Lore Hubai führt in Berlin ein geregeltes und etwas eintöniges Single-Leben: eigene Wohnung, feste Anstellung in einem Anwaltsbüro, sonst noch ein paar Freunde und ein etwas zu aufdringlicher Ex-Mann. Einzige Abwechslung: jedes Jahr vier Wochen Kururlaub, um geistig und körperlich fit zu bleiben. Dabei ist es allerdings wichtig, sich an folgende Regel zu halten: nur keine Involvierung in die sogenannten »Kurschattenspiele«! Doch dann stolpert Lore selbst – nicht ganz unfreiwillig – in ein Kurschattenspiel, das ihr Herz ein wenig zu hoch schlagen lässt.

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Doris Jannausch

Kurschattenspiele

Roman

Es gibt Tage,auf die sich alle Ereignisse zusammendrängen,und Wochen,die leer sind wie eine ausgeräumte Stube. Horst Wolfram Geißler

Firma Fauch und Fassler

Die Firma lag in der Nähe des Kurfürstendamms und gab sich traditionsbewusst wie das würdige alte Haus samt Umgebung. Seit drei Generationen befand sie sich in den Händen der Familien Fauch und Fassler. Die verschwägerten Großväter hatten sie seinerzeit gegründet, ihre stolzen Gemälde prangten bedrohlich an den Wänden, und nun führten die Enkel gemeinsam, nach väterlichem Vorbild, das Rechtsanwaltsbüro.

Jeder hatte sein Spezialgebiet: Dr. Fassler war für Scheidungen zuständig, Dr. Fauch für Verkehrsdelikte. Die beiden durch das »Und« innig verbundenen Namen auf Briefköpfen, Firmenschildern und Steuererklärungen zeigten eine trügerische Harmonie. In Wahrheit konnten sich die Kompagnons nicht ausstehen.

Fassler, klein, zierlich und geschniegelt, verabscheute den stämmigen, berlinernden Fauch, nannte ihn insgeheim einen Kneipentyp und wurde ebenso insgeheim von seinem Partner als Hämeken bezeichnet, was soviel wie »unbedeutender Gartenzwerg« heißt.

Die Sekretärinnen der Rechtsanwälte saßen im gemeinsamen Vorzimmer, jede an ihrem beachtlichen Schreibtisch, einen respektablen Aktenschrank hinter sich. Beide waren grundverschieden wie ihre Chefs und hegten die gleiche beharrliche Abneigung gegeneinander.

Es war ein schwüler Sommertag mit wolkenlosem Himmel. Der letzte Klient an diesem Tag hatte die Praxis verlassen, leichter Wind kam durchs geöffnete Fenster, brachte gedämpften Verkehrslärm vom nahegelegenen Ku-Damm.

»Nauerin!«, brüllte eine Stimme hinter der Ledertür links, die zu Fauchs Büro führte. »Was ist mit der Akte Verkehrsunfall Kreuzberg? Ich warte! Wenn’s geht, bisschen dalli.«

»Ja, ja«, Fräulein Bernauer, von ihrem Chef kurz »Nauerin« genannt, weil sich das besser brüllen ließ, sprang auf und raffte hektisch einige Papiere zusammen. Sie war an den rüden Ton Dr. Fauchs gewöhnt, mehr noch, sie empfand ihn als dringend notwendig und sich selbst dadurch als unentbehrlich. »Sofort, Herr Doktor!« Ihre Stimme klang schrill, jahrelang geschult an Fauchs dröhnendem Bariton. »Was ist mit der Klageschrift gegen den Obsthändler Merowitz? Soll ich die mitbringen? Da ist morgen Termin.«

»Nicht Merowitz. Nur Kreuzberg!« Alles durch die geschlossene Tür.

In ihrer Hast warf Fräulein Bernauer fast den Stuhl um und wieselte ins Chefbüro, ließ kurz davor die Akte fallen, bückte sich mit knackenden Knien und hob die Mappe ächzend auf.

»Was ist denn, Nauerin?«, dröhnte es von nebenan. »Wird’s endlich?«

»Ja, ja«, Fräulein Bernauer trippelte zur Tür und verschwand.

Endlich Stille. Kein Maschinengeklapper, kein Telefon, kein Geschnatter, kein Blöken von nebenan. Lore Hubai atmete tief durch, lehnte sich zurück und streckte die Beine. Der Rücken tat weh. Auf dem Schreibtisch stapelten sich die Scheidungsakten, mussten der Vertretung übergeben werden. Wann kam die überhaupt? Ein gewisses Fräulein Lackner. Thekla Lackner. Der Name klang wie Nüsseknacken, hart und spitzknochig. Doch wie Lore ihren Chef kannte …

Sie sah auf die Armbanduhr. Gleich halb drei! Noch eine Stunde bis zum Feierabend. Und dann? Urlaub für fünf Wochen oder besser: Kurlaub in Bad Büttenweiler. Doch zuerst nach Hause, packen, Kühlschrank leeren, der Nachbarin den Zweitschlüssel geben.

»Frau Hubai, dürfte ich Sie kurz bitten?«

Dr. Fasslers Stimme kam durch die Sprechanlage auf dem Schreibtisch. Nie würde er sich so weit vergessen und wie ein Stier nach seiner Sekretärin brüllen.

»Ich komme.«

Fassler thronte in einem gewichtigen Stuhl unter dem Bild seines Großvaters. Er stand sofort auf und streckte Lore mit nervösem Lächeln die Hände entgegen.

»Ich wollte mich nur von Ihnen verabschieden. Wann fahren Sie?«

»Morgen früh, halb acht. Vom Bahnhof Zoo.«

»Soll ich Sie hinfahren?«

Das war natürlich nur eine Höflichkeitsfloskel. »Vielen Dank, nicht nötig.« Lore gab das Lächeln routiniert zurück.

»Wie Sie meinen!« Dr. Fassler drückte ihr die Hände.

»Dann können Sie Schluss machen. Sicher haben Sie noch viel zu erledigen.«

»Und Fräulein Lackner?«

»Die übernehme ich. Legen Sie nur die Akten in der Reihenfolge der Dringlichkeit auf den Schreibtisch.«

So war das also! Eigentlich wie jedes Jahr. Fassler wollte sie schnell loswerden, um die Vertretung selbst einzuarbeiten. Beste Gelegenheit, der jungen Dame näherzukommen.

Zum Abschied erhielt Lore noch herzliche Urlaubswünsche und einen schmachtenden Blick, von dem Fassler glaubte, er stärke das Selbstbewusstsein der Frauen. Dann stand sie wieder in ihrem Büro.

Auch Fräulein Bernauer war inzwischen zurückgekehrt. Sie saß auf ihrem Platz, eine steile Falte auf der Stirn und der typischen »Ach was bin ich überlastet«-Miene. Als Lore ihren Schreibtisch aufräumte, hob die Bernauerin den Kopf.

»Machen Sie schon Schluss?«

»Bin in Ehren entlassen.«

»Und die Vertretung?«

»Übernimmt Dr. Fassler.«

»Aha.« Der Mund wurde schmal. Verachtung oder Neid, wer weiß. »Letzten Endes bleibt alles wieder an mir hängen.« Fräulein Bernauer, mit Vornamen Agnes, wie Hebbels Titelheldin, seufzte mit Nachdruck. »Wenn dieses Fräulein Lackner alles durcheinanderbringt wie die kleine Zicke im vorigen Jahr, dann sitze ich nach Feierabend hier herum, um die fliegenden Blätter zu sortieren. Um ein Haar wäre damals Frau Kunze von Herrn Kammacher geschieden worden.«

Lore antwortete nicht. Wozu auch? Die Bernauerin redete in Monologen.

»Und die Vertretung vor zwei Jahren, wissen Sie noch?«, fuhr Fräulein Bernauer schwungvoll fort. »Die hat die Aussagen der weiblichen Partei mit denen der männlichen verwechselt. Klingt wie ‘n Witz und ist doch wahr! Da konnte man lesen, dass Herr X. der Ansicht sei, die Kinder müssten ihm zugesprochen werden, weil er sie zur Welt gebracht habe … und so weiter und so fort. Dass Sie darüber lachen können, Frau Hubai, also wirklich! Immer diese jungen Dinger – muss das denn sein?«

»Diesmal wird es besser gehen«, tröstete Lore. »Wenn ich zurück bin, fahren Sie in Urlaub.«

Fräulein Bernauers Miene verdüsterte sich.

»Dr. Fauch nimmt sich wenigstens eine zuverlässige Vertretung für mich. Oder haben Sie schon mal Ärger mit Frau Zebenbrink gehabt?«

Frau Zebenbrink! Lieber nicht an sie denken. Erst Urlaub, dann Zebenbrink.

»Schon gut«, Lore Hubai schulterte die Umhängetasche und wollte sich verabschieden. »Jedenfalls wünsche ich friedliche Tage.«

»Und wann sind Sie wieder zurück?« Die Bernauerin schnüffelte wie ein Hund, der Witterung aufnahm. »Fahren Sie allein?«

»Natürlich, wie immer. In fünf Wochen bin ich zurück.«

Die Tür flog auf. »Nauerin!« Fauchs massige Gestalt erschien, blauäugig, blond, ein leicht verfetteter Siegfried mittleren Alters. »Ah, Frau Hubai – schon gestriegelt und gespornt?«

Warum redete er nur mit allen Menschen, als seien sie schwerhörig?! Daran konnte sie sich nie gewöhnen. Kräftiges Händeschütteln. Fauch zog eine Grimasse und wies mit dem Kopf auf die gegenüberliegende Tür. »Da gibt’s hier wohl bald ‘ne neue Blondine, was?«

Die Bernauerin kicherte diskret. In Gegenwart ihres Chefs fühlte sie sich noch sicherer als sonst. Sie war seine rechte Hand. Rechte Hände dürfen auch mal eine Lippe riskieren. Sie sagte: »Dann also viel Spaß bei der Kur. Und hüten Sie sich vor den bösen, bösen Kurschatten.«

»Werd mir Mühe geben«, versprach Lore und verließ das Büro. Sie wünschte die Bernauerin zum Teufel. Manche Leute altern wie gewisse Burgen. Da gibt es welche, die verfallen sichtbar, verwittern auf redliche Art, wie sich’s gehört. Andere dagegen sehen respektabel aus, geben sich zeitlos, doch wenn man sich ihnen nähert, merkt man, was los ist: sie riechen muffig wie ein Museum. Dann verraten sie ihr wahres Alter. Einmal anstipsen, denkt man, und sie fallen auseinander wie ein Kartenhaus. Nur die Tünche hält sie noch. Kokette Veteranen, ähnlich wie die Bernauerin. Nur dass die nicht muffig roch. Ganz im Gegenteil! Sie duftete. Lore hatte ihr süßlich beklemmendes Parfüm immer noch in der Nase.

Auf der Treppe begegnete ihr eine langmähnige junge Dame. »Tach«, grüßte die Blondine im Vorübergehen und nahm zwei Stufen auf einmal. Oben bei Fauch und Fassler ging die Tür auf.

»Ah, Fräulein Lackner«, rief Fassler freudig. »Hereinspaziert, meine Dame.«

Offensichtlich hatte er die junge Dame sehnsüchtig erwartet und kommen sehen. Eine merkwürdige Dienstablösung! Als käme die Geliebte nach dem Abmarsch der ehrbaren Ehefrau. Na, egal. Fassler war, im Gegensatz zu dem familienbewussten Kompagnon, notorischer Junggeselle und durfte sein Leben genießen, wie es ihm passte.

Lore ließ den Büromief hinter sich. Keine Bernauerin, kein blökender Fauch, kein schmachtender Fassler. Ach, wie ihr das alles zum Hals heraushing!

Teufelströpfchen ohne Feuer

Lore fuhr mit der U-Bahn nach Hause. Autofahren lag ihr nicht. Vielleicht, weil sie kurzsichtig war. Sie hatte zwar sogar den Führerschein gemacht, doch als sie zur Praxis übergehen wollte, versagte sie auf der ganzen Linie. Wenn sie am Steuer saß, trat ihr der Angstschweiß auf die Stirn. Ihre lebhafte Phantasie gaukelte ihr die schlimmsten Katastrophen vor. Da ließ sie es lieber.

Vier Stationen U-Bahn. Sechs Minuten Fußmarsch nach Hause. Vorbei an der Müllern, die den Kopf zum Fenster heraussteckte.

»’n Abend, Frau Hubai. Wie war’s?«

»Wie immer.«

»Geht’s morgen zur Kur?«

»Morgen früh, ja.«

»Wohin?«

»Bad Büttenweiler, wie immer.«

»Na, dann – gute Erholung.«

Wie immer, wie immer!

Kaum hatte Lore die Wohnung betreten, klingelte das Telefon.

»Lore –?«

»Hallo, Max! Was gibt’s?«

»Ich möchte gern einen Sprung rüberkommen. Weil du doch morgen …«

»Meinetwegen. Aber lass mich erst mal Luft holen.«

Er ließ sie. Genau eine halbe Stunde. Dann stand er vor der Tür, die obligatorische Flasche Rotwein unter dem Arm, Marke »Höllisches Teufelströpfchen«. Ein unerträglich süßliches Gesöff! Es war mit der Grund zur Scheidung gewesen. Lore trank keinen Rotwein und schon gar nicht diesen, was Max nicht hinderte, immer wieder damit anzukommen. Lore hatte nie herausgefunden, warum.

Höllisches Teufelströpfchen ohne Feuer. Ein Getränk für pedantische Männer mit spärlichem Haar und Bauchansatz.

Max schob die Brille zurecht, sah sich um und äußerte missbilligend, dass er schon aufgeräumtere Wohnungen gesehen habe.

»Deine zum Beispiel«, sagte Lore und stellte ein Weinglas auf den Tisch.

»Und du? Was trinkst du?«

»Einen Harten, wie immer.«

Alles wiederholte sich: die Fragen, die Antworten, ob im Büro oder zu Hause. Und immer wieder Max! Ein Requisit in Lores Leben, wie das Buffet mit den unbenutzten Gläsern der Großmama oder das Regal mit den Reiseandenken.

»Was macht Erika?«

Erika war die zweite Frau Hubai, die mit Max im Nebenhaus wohnte, in der trostlos großen Altbauwohnung, in der Lore stets fröstelte.

»Erika?«

Es schien, als müsse er überlegen, wer Erika war. Eine junge Frau, wesentlich jünger als Lore, voller Verachtung für die Männer. Anfangs, als Max und sie fast überstürzt heirateten, war Erika sanft gewesen, eine nette junge Lehrerin mit guten Ideen. Dann kam der Hass, ganz plötzlich. Warum? Keine Ahnung. Man wurde eben so, wenn man mit Max verheiratet war. Oder man musste gehen. Wie Lore.

»Erika trifft sich mit den Weibern im Barbarossa. Die kommt vor Mitternacht bestimmt nicht heim. Ich soll dich von ihr grüßen.«

»Danke. Grüß wieder. Wenn ich zurück bin, rufe ich euch gleich an.«

»Ja, fein.«

Max blieb eisern sitzen, als hätte er den Abschiedssatz nicht verstanden. Er konnte sehr sesshaft sein, vor allem, wenn er Kummer hatte. Und den machte er sich um seine Ehe.

»Wir entfremden uns immer mehr.« Verzagt nippte er an seinem Teufelströpfchen. »Jeder ist mit seiner Arbeit beschäftigt. Wir leben aneinander vorbei, sind müde, haben uns nichts zu sagen.«

»Und du meinst, das liegt daran, dass Erika mit Leib und Seele Lehrerin ist?«

Er nickte mit Überzeugung.

»Hättet ihr euch denn sonst etwas zu sagen?«

Max starrte Lore verständnislos an.

»Wenn Erika den ganzen Tag zu Hause bliebe? Wäre euer Problem dann gelöst?«

Darauf konnte Max nicht antworten. Er wollte auch nicht. Logische Fragen waren ihm zuwider.

Lore musste packen. Sie ließ Max reden, über dies und jenes, sagte in entsprechenden Abständen »Na so was« oder »Aha« oder »Gibt’s ja nicht«, dachte an die vielen Kleinigkeiten, die man zur Kur benötigt. Sie packte, während er redete, war endlich fertig und wollte baden.

»Max …«

Am liebsten hätte sie ihn hinausgeworfen. Doch das wäre nicht nett gewesen. Zwischen ihnen hatte sich eine Art Kumpeltum entwickelt, seit der Scheidung erst, aber eigentlich war das eine recht einseitige Angelegenheit: Max erleichterte sein Herz, Lore hörte zu oder tat zumindest so. Sie selbst hatte keine Lust, ihre Probleme mit ihm zu besprechen. Sie hatte im Grunde auch keine. Weder hatte sie große Freuden zu verzeichnen, noch übermäßigen Kummer, ein wenig Ärger allenfalls. Keine Tiefs, keine Hochs, nur das Büro. Ach ja, und Frau Müllers neugierigen Kopf. Frau Müller, die Dame ohne Unterleib. Mit vier ebenso neugierigen Kindern.

»Vier Wochen ohne dich«, klagte Max, der Geschiedene. »Das wird verdammt öde.«

»Du wirst es überleben«, tröstete Lore. Sie wollte endlich in die Wanne.

»Soll ich dich morgen früh zur Bahn bringen?«

»Ich nehm ein Taxi. Tschüss, Max.«

»Pass auf dich auf, Lore.« Dann, halb Scherz, halb Ernst: »Mach mir keine Schande. Und schreib mal ein Päckchen.«

Sogar die Kalauer blieben die gleichen. Sollten beweisen, was für unzertrennliche Kumpel sie waren. Da könnten sich andere Paare eine Scheibe abschneiden! Wenn die auseinandergehen, gebärden sie sich wie Hund und Katze. Wir haben das vernünftig geregelt, sind gute Freunde. Gefährten, die sich nicht verlieren wollen. Schön, nicht wahr?

Nein, nicht schön. Lieber wie Hund und Katze sein!

Lore seufzte tief und versank im Schaumbad. Rosmarinduftend. Durch die halb geöffnete Tür sah sie ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch stand die Flasche Teufelströpfchen. Lore wünschte sie zur Hölle.

Der Mann im Abteil

Der Mann im Zug fuhr ebenfalls nach Büttenweiler. Er war in Würzburg zugestiegen, seine Frau hatte ihn zur Bahn gebracht und mit Ermahnungen überschüttet.

»… vergiss bloß nicht, jeden Tag die Wäsche zu wechseln, Pappi, hörst du? Jeden Tag! Und dass du regelmäßig schreibst, Pappi. Denk dran, am Freitag hat Sieglinde Geburtstag, ruf bloß an, sonst – na ja, du kennst sie ja! Aber ruf abends an, da ist es billiger. Und dann, Pappilein …«, verheißungsvolles Blinzeln hinauf zum Zugfenster, »du findest im Koffer eine Kleinigkeit von mir, gleich neben der Badetasche, damit du Mammi nicht vergisst …«

Und nun hatte er Mammi fast schon vergessen! Genießerisch lehnte er sich zurück und schickte sich an, die ihm gegenübersitzende Lore Hubai wohlgefällig anzustarren, Bewunderung in seinem erwartungsfrohen Pappigesicht: rassige Frau, das! Schlank, wie Mammi schon lange nicht mehr ist, fast zu dünn. Tiefschwarze Nachtaugen, hohe Stirn, kurzgeschnittenes Haar, in dem gewiss keine Lockenwickler halten. Mammi muss manchmal welche eindrehen, weil ihr Haar so spröde ist und sie den Friseur sparen will. Kinder, wird das ein Leben! Jetzt geht’s zur Kur. Vier Wochen. Da bläst ein anderer Wind, verdammt noch mal, da kann man zeigen, dass man ein Kerl ist!

Sein Blick blieb an dem Bademantel hängen, den Lore infolge Platzmangels an den Koffer geschnallt hatte. »Fahren Sie auch zur Kur?« Sie nickte. »Büttenweiler?«

»Ja.« Lore vertiefte sich wieder in ihren Krimi. Kommissar Maigret erlitt soeben eine gefährliche Niederlage: Er verfolgte den Täter, stieg in einen Gully und saß nun fest. »… Doch er gab nicht auf, obwohl die dicken Mauern undurchdringlich waren und kein Mensch ihn jemals …«

»Sind Sie verheiratet?«

Der ging aber ran! Lore bejahte und fügte sicherheitshalber hinzu: »Und fünf Kinder habe ich auch.« Sie las weiter: »… dass kein Mensch ihn jemals hören konnte. Der Mann mit dem Maschinengewehr …«

»Fünf Kinder!« Pappi ließ sich durch nichts abhalten, den Schwerenöter zu spielen oder zumindest das, was er darunter verstand. »Sieht man Ihnen gar nicht an.«

»Drei davon sind Zwillinge.«

Sie hatte Zeit gewonnen, wenigstens konnte Maigret einen Geheimgang entdecken, der hoffentlich ins Freie führte. Während er lief und lief, rechnete Pappi nach. Dann sagte er mit naivem Staunen: »Drei Zwillinge? Wie geht denn das?«

»Anatomisches Wunder.«

Lore wollte Maigret schleunigst ans Tageslicht befördern, doch dazu kam es nicht mehr. Jetzt lief auch Pappi nämlich auf Hochtouren. Er begann von seinen Verdauungsbeschwerden zu erzählen, und das zog sich in die Länge. Armer Maigret! Lore klappte das Buch zu und ließ den Kommissar, wo er war.

»Zuerst wollte mich die Kasse nach dem Norden schicken, aber das ist viel zu weit. Wenn mich meine Frau am Wochenende besuchen will, nicht wahr …«

»Natürlich«, Lore schaltete auf freundliche Anteilnahme, sah zum Fenster hinaus und sagte in Abständen »Na so was« und »Aha« und »Das gibt’s doch nicht«, wie gehabt. Das half immer und passte haargenau, egal worauf. Vielleicht, weil die meisten Leute nicht mit dem anderen sprechen, sondern an ihm vorbeireden. Genau wie Max.

Lore zeigte sich geduldig. Doch als Pappi die Hand auf ihr Knie legte, ergriff sie seine Knubbelfinger, tat sie auf seine eigenen runden Schenkel und sagte: »Ich möchte gern weiterlesen. Wenn Sie sich freundlicherweise mit sich selbst beschäftigen würden?«

Pappi blickte sie verblüfft und ein wenig gekränkt an. Er versuchte Einwände zu erheben, doch als das nichts nützte, entschlummerte er friedlich. Nun, irgendein Kurschatten würde sich schon für ihn finden. Er war ein ganz passabler Mann. Wenngleich er mörderisch vor sich hin schwitzte.

Sanatorium Lilienhof

Der Lilienhof lag am Ende des Kurparks oder an dessen Anfang, je nachdem, von welcher Seite man kam, er sah hell und freundlich aus, umgeben von Bergen, Wäldern und viel Wasser.

In der Portierloge herrschte der sanft-freundliche Herr Schilling über Schlüssel, Post und Gästeliste. Es gab Leute, die er mochte, und solche, die er nicht mochte. Frau Hubai konnte er besonders gut leiden, darum bekam sie jedes Jahr eines der schönsten Zimmer, mit Blick auf Park und Springbrunnen.

»Wie geht es Ihrer Frau, Herr Schilling?«

»Sie ist mit mir böse, weil sie glaubt, dass ich untreu war«, er hob bedauernd die Hände und fügte hinzu: »Die Versuchung ist eben zu groß, Frau Hubai. Die Versuchung –!«

Lore lachte. Sie wusste nicht, wen sie mehr bedauern sollte: die äußerst resolute Masseuse oder deren kleinen, etwas zu unternehmungslustigen Mann.

»Ich werde ihr gut zureden«, versprach Lore. »Vielleicht lässt sie sich erweichen.«

»Bloß nicht«, wehrte Herr Schilling erschrocken ab. »Wenn sie mit mir böse ist, dann spricht sie wenigstens nicht.«

Dasselbe Zimmer wie jedes Jahr, hell und sonnig, die Möbel in keusches Weiß-Gold getaucht. Rosa gekachelt das Badezimmer, dazu angetan, düstere Gedanken zu verscheuchen. Weg mit Max, dem Büro und allem anderen Ballast. Vier Wochen Paradies! Ganz allein. Nur Massagen, Bäder, Kurkonzerte.

Nachdem Lore ihre Sachen eingeräumt hatte, ein wenig zu flüchtig, weil sie dabei schadenfroh an Max und seine übertriebene Ordnungsliebe denken musste, warf sie sich in ihren Ferienhosenanzug und ging zur Kurverwaltung. Noch immer der gleiche Direktor.

»Wie schön, Frau Hubai, Sie auch in diesem Jahr wieder …«

»Tag, Herr Schemeler. Wie sieht es aus?«

»Gut besucht, danke der Nachfrage. Wir haben diesmal sogar einen Minister bei uns. Und einen bekannten Schauspieler. Der ist hier hängengeblieben, als sie die Fernsehserie in Bad Büttenweiler drehten. Haben Sie sie gesehen? Nein? Sehr schade. Ein großartiger Mann. Hat den vertrottelten Zahnarzt gespielt. Macht öfter Urlaub bei uns, immer nur ein paar Tage. Hat sogar einen Rezitationsabend im Kurhaus gegeben. Ein Riesenerfolg.«

Lore gratulierte zu der neuen Errungenschaft, Schemeler kam in Fahrt. »Die Leute zeigen immer deutlicher den Trend zum kleinen Badeort, weniger nach der großen, viel zu weiten Welt. Hier gibt’s eben noch Idylle. Sie verstehen?«

»Sehr gut. Deshalb komme ich ja getreulich wieder.«

Er musterte sie mit dankbarem Wohlwollen. »Sie werden von Jahr zu Jahr jünger.«

»Sagt man immer, wenn einer älter wird.«

»Wir werden nicht älter«, sagte Schemeler großartig und machte sich so schlank, wie er konnte. »Wir kommen lediglich in die besten Jahre.«

»Das stimmt«, Lore lachte. »Die besten sind leider nicht mehr die guten.«

»Sie haben’s nötig.«

Das übliche Geplänkel. Seit ihrer Scheidung kam Lore regelmäßig nach Büttenweiler, einer Zufallsentdeckung. Einmal, als das traditionelle Plöckenburgfest gefeiert werden sollte, war die Sekretärin der Kurverwaltung überraschend krank geworden. Lore hatte sich zur Verfügung gestellt, Telefonate und Schreibarbeit übernommen, zwei Tage lang. Das vergaß Schemeler ihr nie. Seitdem verkehrten sie auf fast freundschaftlicher Basis miteinander. Er lud sie auch diesmal wieder, mit besonderem Nachdruck, zum Sommerball ein.

»Vielleicht geben Sie uns ausnahmsweise die Ehre?«

»Mal sehn.«, Lore schulterte ihre Tasche und verabschiedete sich. Sie war fest entschlossen, nicht zum Ball zu gehen, auch nicht Direktor Schemeler zuliebe.

Abends saßen sie im Speisesaal: die Veteranen und die Neuankömmlinge. Sie betrachteten einander mit Interesse. Der gepflegte Weißhaarige an Lores Tisch, braungebrannt, mit kühner Adlernase, reichte ihr galant den Emmentaler, den sie dankend entgegennahm, obgleich sie keinen Käse mochte. Beim Überreichen des Tellers blickte der aufmerksame Tischherr bis auf den Grund ihrer Seele, glaubte, den Weg dorthin über ihr zaghaftes Dekolleté zu finden, und bemerkte sinnigerweise: »Auch hier?«

Am Nebentisch saß ein verlebt aussehender Typ mit öligem Haar und langen Koteletten, in vorgebeugter, fast gekrümmter Haltung, als habe er Magenschmerzen, doch er wollte nur mit Lore flirten. Sein Blick hatte etwas Aufdringliches.

Viele ältere Leute waren da, auch kränkelnde, gestresste, vor allem aber Berufstätige mit unverhohlener Abenteuererwartung. Jedes Jahr dasselbe.

Und Pappi! Er saß mit dem Rücken zum Fenster, Lore zugewandt, und prostete ihr zu. Mit Kamillentee. Jedes Mal, wenn er nach der Tasse griff! Zuerst nickte Lore freundlich zurück, beim fünften Mal übersah sie es. Eine dicke, trostlos lustige Dame mit Speckwülsten unter den Armen setzte sich zu ihm. Das würde ihn für die nächste Zeit beschäftigen.

»Danke, keinen Käse mehr.« Adlernase hatte Nachschub besorgt, eigenhändig aus der Küche.

»Schade! Von Käse verstehe ich nämlich allerhand. Der hier ist Spitze.« Nun wurde Lore eingehend mit den Aufgaben eines Lebensmittelabteilungsleiters bekannt gemacht, denn das war der Beruf ihres Gegenübers. Da sie an einem Zweiertisch saßen und kein anderes Opfer zuhörte, kam Lore in den vollen Genuss des Monologs. »Unsere Spezialität ist Schweizer Käse, alle Sorten, aber kein in Folie eingeschweißter Gummikäse, nein, frisch vom Stück gesäbelt, mit saftigen Löchern …«

Bis jetzt hatte Lore nicht gewusst, wie saftig Löcher sein konnten –! Der Mann redete und redete. Er war beim holländischen Schimmelpilzkäse angelangt und schickte sich an, zum französischen Camembert überzugehen. Wenn das so weiterging, waren sie bald mitten im schönsten Käseflirt.

Lore sah an Adlernase vorbei zur Eingangstür, betont gleichgültig, um jede Hoffnung ihres Tischherrn im Keim zu ersticken. Langsam tröpfelte die Erzählfreudigkeit aus, machte einer leicht verdrossenen Miene Platz. Drei Tage war er hier und noch immer zeigte sich kein Kurschatten!

Ein Mann betrat den Speisesaal, grüßte winkend nach allen Seiten und steuerte auf einen Tisch mit drei erwartungsvollen Damen zu. Sie empfingen ihn mit lautem Hallo. Auch die anderen Kurgäste schienen aufzuleben. Adlernase murmelte abfällig: »Hans Dampf in allen Gassen!«

Hans Dampf war auffallend schlank, mittelgroß, hatte leicht gewelltes braunes Haar und herausfordernd fröhliche Augen.

»Allein schon dieses grüne Hemd«, lästerte Adlernase, »das sagt alles.«

Lore fand nicht, dass dieses Hemd etwas sagte. Vielmehr wunderte sie sich über den Sakko, in dessen Knopfloch eine purpurrote Rose prangte. Das erinnerte an den Auftritt eines Operettenstars. War er der Schauspieler, von dem Schemeler gesprochen hatte? Wohl kaum. Schauspieler sehen privat nur selten wie Schauspieler aus.

An dem Fenstertisch, an dem Hans Dampf saß, gab es Gelächter. Dazwischen – wie sagt man gleich? – perlendes Kichern, silberhell. Der Spaßvogel beugte sich von einem Damenohr zum anderen und flüsterte Ominöses hinein. Er hatte ein dankbares Publikum.

»Drei Tage ist er erst hier«, erklärte Adlernase und aß den Käse aus Verzweiflung selber auf, ohne den Blick vom Hans-Dampf-Tisch zu lassen. »Er ist mit mir angekommen, am selben Tag. Die Frauen haben einen Narren an ihm gefressen. Können Sie mir sagen, warum?« In seinen Augen stand Futterneid.

»Halt!« Lore rettete ihren Fleischsalat. Adlernase hatte aus Versehen hineingelangt.

»Pardon!« Sein Blick kehrte vom Fenstertisch auf den eigenen Teller zurück. Enttäuschung auf der ganzen Linie. »Spielen Sie Schach?« Er rieb sich mit der Serviette die Mayonnaise von den Fingern. »Wie wär’s mit einer Partie?«

Lore spielte ab und zu. Max hatte es ihr beigebracht, wie manches andere. »Kein Schach«, erwiderte sie.

»Oder eine Zigarette im Park?«

Die Aufforderung zum gemeinsamen Zigarettenrauchen im abendlichen Park bedeutet so viel wie ein Heiratsantrag für die Dauer des Aufenthalts. Wer mit einem Vertreter des anderen Geschlechts im Park geraucht hat, gilt als kurverlobt.

Lore dankte und ging hinaus. Allein.

Mr. Grünhemd

Es war fast dunkel. Nur am Horizont lag noch ein Streifen Gold von der untergehenden Sonne. Laternen warfen gelbes Licht auf Blätter und Kieswege, zeichneten Ornamente ins Gras. Die Rosen dufteten.

Lore Hubai schlenderte durch den Park, bemüht um einen gemäßigten Kurschritt, doch die Beine liefen von allein vorwärts, als wollten sie die nächste U-Bahn erreichen.

Ringsum späte Spaziergänger, Pärchen auf Bänken und unter Bäumen, manche betont harmlos tuend, Gespräche, die sofort verstummten, wenn man näher kam, auf unverfänglich umschalteten. Sonst Stille, Sterne, Mondschein. Endlich eine leere Bank. Lore setzte sich, atmete tief ein, fingerte eine Zigarette aus dem Etui und genoss hingebungsvoll den ersten Zug.

Plötzlich ein Wispern im Gebüsch hinter der Bank. »Und die Strellacher?«

»Kann uns gern haben!«

»Tut sie ja schon. Vor allem dich.«

»Red nicht so viel, Möpschen, küss mich lieber.«

»Und die Gerber? Was ist mit der Gerber?«

»Die kann uns auch gern haben. Du sollst mich küssen, Möpschen!«

»Sag nicht immer Möpschen!« Schwacher Protest, eher kokett als entrüstet. Perlendes Gekicher. Es kam Lore bekannt vor.

»Küsst du mich nun endlich?!« Es blieb für längere Zeit still. Wie peinlich! Lore kam sich vor wie ein Voyeur. Bloß weg hier. Auf der Bank ausgebreitet lagen Zigarettenetui, Feuerzeug und Kurzeitung, die sie beim Kramen mit herausgezerrt hatte. Eilig stopfte sie alles in die Tasche zurück.

Nun sagte Möpschen im schönsten Kölner Dialekt: »Wolle mer uns nit hinsetzen? Mir tun die Füß weh.«

Zu spät! Lore saß da und schämte sich. Vor ihr standen zwei Gestalten.

»Guten Abend«, sagte der Mann schmunzelnd. Es war Hans Dampf, sie hatte es geahnt. Das perlende Gekicher gehörte dem jungen Mädchen an seinem Tisch.

Die Laterne warf gesprenkeltes Licht durch die Blätter eines Baumes, beleuchtete die Rose im Knopfloch und ein noch immer lächelndes Gesicht. Leicht spöttisches Erstaunen lag darin und eine Spur Siegermiene.

»Entschuldigung«, Lore trat hastig die Zigarette aus. »Ich konnte nicht ahnen, dass …«

»Dass was?« Der Mann lauschte gespannt, half ihr nicht über die Hürde.

»Ich wollte gerade gehen«, sagte Lore ausweichend.

Möpschen, appetitlich, rund und prall, schien keineswegs verlegen. »Bleiben Sie nur, wir freuen uns doch, dat Sie bei uns sind«, rheinländerte sie. Überzeugend klang das nicht.

Lore trat schleunigst den Rückzug an, sagte zum Abschied einige verbindliche Worte, rettete sich in die Dunkelheit, nur – sie ließ ihre Tasche auf der Bank liegen. Das merkte sie erst am nächsten Morgen.

Vor dem Frühstück noch lief sie durch den Park zum Tatort. Die Vögel machten Frühkonzert, die Rosen taten das, was man von ihnen erwartete: sie dufteten betäubend. Jemand folgte ihr. Lore ging schneller. Kurschattensuchende Männer liegen manchmal schon zeitig auf der Lauer, sogar mit nüchternem Magen.

Natürlich, die Tasche war nicht mehr da. Verschwunden! Mit Geld, Ausweis und Kurkarte. ›Da hast du’s mal wieder‹, würde Max sagen. ›Du mit deiner Schussligkeit!‹ Diesmal hätte er ausnahmsweise recht.

»Keine Panik, Frau Hubai«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Die Tasche ist hier.«

Sie drehte sich um. Der Mann im grünen Hemd war ihr gefolgt. Übrigens hatte er ein anderes Hemd an, ebenfalls grün, doch mit gelben Herzen darauf; sie tanzten über seine Brust, manche sogar kopfstehend, als seien sie soeben aus einem Fenster gepurzelt. Auch die Rose im Knopfloch war neu, anscheinend frisch vom Strauch gemopst, Tautropfen lagen in den rotsamtenen Blättern.

»Vielen Dank«, Lore nahm die Tasche und wollte etwas besonders Freundliches sagen. Sein Blick hinderte sie daran. Vorsichtshalber schaltete sie auf kühle Distanz.

»Woher wissen Sie meinen Namen?«

Der sträflich gut gelaunte Mann lachte herzlich und zeigte auf die Tasche. »Ausweis!«, antwortete er. »Was sollte ich machen, da Sie gestern so schnell verschwunden sind?«

Lore überlegte. »Sie hätten die Tasche beim Portier abgeben können.«

»Schon«, er betrachtete sie fachmännisch, »aber ich wollte Sie wiedersehen.«

»Wir werden uns oft genug sehen«, Lore sprach in einem näselnden Ton, von dem sie wusste, dass er arrogant klang und irritierte. Das klappte sogar bei Max, der sich sonst nicht so schnell in die Schranken verweisen ließ. Dieser aufgesetzte Ton gehörte zu den Verteidigungsmaßnahmen, wie eben jeder seine erprobten Tricks anwendet. »Schließlich wohnen wir im gleichen Haus.«

Diesmal verfehlte der Trick seine Wirkung. Mr. Grünhemd nahm keine Notiz davon. Er warf schwärmerische Blicke aus übertrieben grün-grauen Augen. Dies war wiederum sein Trick! Nicht schlecht, stellte Lore innerlich fest und blieb ebenfalls ungerührt. Sie kannte die Kniffe von ihrem Chef, Dr. Fassler. Wer sagt da, Frauen seien kokett? Männer sind es ebenso.

»Also nochmals herzlichen Dank«, sagte Lore laut, um das Knurren ihres Magens zu übertönen. Sie sehnte sich nach heißem Morgenkaffee und knusprigen Honigbrötchen. Genau in der Sprechpause knurrte er wieder. Es klang wie das Gurgeln eines Ertrinkenden.

Mr. Grünhemd grinste anzüglich. Ein feiner Mensch war er jedenfalls nicht. Der hätte derartige Geräusche vornehm überhört! Lore setzte ihre Tiefkühlmiene auf, doch auch das störte Möpschens Kurschatten überhaupt nicht. Er stellte sich noch bequemer hin und versperrte ihr den Rückweg.

»Möchten Sie einen Finderlohn?« Lores Augen nahmen einen vernichtenden Ausdruck von Würde und Geringschätzung an, wurden einen Schein dunkler. Der Mann, der sich noch immer nicht vorgestellt hatte, schien es nicht zu bemerken, er fragte nur mit leichter Besorgnis, ob sie erkältet sei.

»Wieso?«

»Weil Sie so nasal sprechen, als ob Sie Schnupfen hätten. Das habe ich gestern Abend gar nicht bemerkt.«

Zackige Kommandos ertönten. »Eins, zwei! Eins, zwei …« Ein Schwarm reifer, fülliger Menschen in Trainingsanzügen kam angetrabt, die Arme angewinkelt, die Hälse vorgereckt. Vorneweg ein schwarzlockiger Turnlehrer mit spitzem Kinnbart, weißem Pulli, aufregend engen Hosen, die leicht erkennen ließen, was er dachte. Ein Mann aus dem Bilderbuch! Oder aus den heimlichen (den unheimlichen?) Träumen eines weiblichen Kurgastes: Rodrigo, der Sportlehrer aus der Villa Dornröschen, der Prominentenbehausung droben am Berg. Lore kannte Rodrigo flüchtig. Die Masseuse hatte ihr von ihm erzählt, und davon, dass seinetwegen viele begüterte Damen nach Büttenweiler kämen. Rodrigo galt darum als kurfördernde Institution, hoch im Kurs stehend bei Gästen und Kurverwaltung.

»Eins, zwei! Eins, zwei …« Rodrigo versäumte nicht, Lore einen feurigen Blick zuzuwerfen, gewohnheitsgemäß. Sie lächelte zurück, dankbar für die Unterbrechung, denn sie stand noch immer wie festgenagelt vor Mr. Grünhemd, eifrig bemüht, seine anzüglichen Bemerkungen zu überhören, krampfhaft nach einem verbindlichen Schlusswort suchend, denn immerhin hatte er ihr die Tasche gebracht.

»Eins, zwei! Eins, zwei! Tief einatmen, Mund zu, Kopf zurück, Brust heraus, Bauch hinein …«

Der konnte aber kommandieren! Ein blau-gelber Trainingsanzug, in dem ein älterer Herr steckte, blieb zurück. »Uff!«, schnaufte der Herr und kämpfte um ein entschuldigendes Lächeln. »Das ist zu viel für mich! Er hätte Stierkämpfer werden sollen.« Und nochmals: »Uff!«

Rodrigo drehte sich um, lief auf der Stelle, ohne den Rhythmus zu unterbrechen. »Was ist, Herr Minister? Schon müde?«

Die anderen klatschten aufmunternd in die Hände, krebsrot bis hinter die Ohren. »Kommen Sie schon, wir haben’s bald geschafft.«

Der Minister warf einen hilflosen Blick hinauf zur Villa Dornröschen, sie war sehr weiß und ungeheuer oben, seufzte, tippte Abschied nehmend an die Stirn und folgte der Aufforderung. Ein Mann in seiner Position durfte nicht aus der Reihe tanzen.

Mr. Grünhemd und Lore sahen sich an und mussten lachen. Dann sagte Mr. Grünhemd: »Übrigens – ich heiße Zech.« Und fügte stolz hinzu: »Saturin Zech.«

Und Lore antwortete, wie er es erwartete: »Das ist aber ein seltener Name.«

Sie lachten wieder, wurden verlegen. »Also dann«, Lore schulterte energisch die Tasche, »nochmals Dank und einen schönen Tag.« Sie ging forsch an ihm vorbei, Richtung Lilienhof. Er folgte ihr nicht.

Vor dem Eingang stand Möpschen. Ihre Wangen glänzten wie frisch poliert. »Haben Sie Herrn Zech gesehen?«

Lore stellte sich unwissend: »Wer ist das?«

Perlendes Gekicher. »Der von gestern Abend. Mit dem Sie mich erwischt haben.«

»Ach, wissen Sie«, meinte Lore achselzuckend, »es war dunkel. Wie kann man da …«

»Möööpschen!«, rief eine fröhliche Stimme hinter ihr. An dem Aufleuchten in Möpschens lustigem Gesicht erkannte sie, dass der Grünhemdige nahte. Sie flüchtete in den Speisesaal.

Aber bitte ohne Sahne!

Nach dem Frühstück ging Lore zum Kurarzt, Dr. Schmidt. Routineuntersuchung. Anwendungsplan. Ein wenig erzählen.

»Gute Kondition, Frau Hubai. Nur eben der Stress, nicht wahr?«

»Das Büro«, korrigierte sie. »Das reicht.«

»Na dann – gute Kur. Sie haben schönes Wetter mitgebracht.«

»Danke, Herr Doktor. Und wie geht’s selbst?«

Bekümmerte Miene. »Ich brauchte auch mal eine Kur. Aber nicht in Bad Büttenweiler.«

»Kann ich mir denken.«

Nie würde Dr. Schmidt eine Kur absolvieren. Stattdessen fuhr er alljährlich in sein Sommerhaus, das in einer Gegend mit klangvoll südlichem Namen lag, fuhr hin mit der ganzen Familie, um sich hinterher darüber zu beklagen, dass ihn der Urlaub mehr Nerven koste als die Arbeit.

»Da habe ich immer gedacht, wenn die Kinder erwachsen sind, machst du dir’s gemütlich. Aber dann waren die Enkelkinder plötzlich da.«

»Plötzlich?«

Er nickte. »Das geht wie’s Brezelbacken. Schnell hintereinander weg: Raus aus den Windeln, rein in die Schule, Verlobung, Hochzeit, Nachwuchs. Jetzt warte ich, bis die Urenkel da sind, dann, das schwöre ich Ihnen, gibt’s nur noch eines: mich!«

»Da müssen Sie aber noch eine Weile warten«, lachte Lore. Dr. Schmidt würde nie aufhören, sich von irgendeiner Sache nerven zu lassen: von Arbeit oder Familie. Manche Menschen sind eben so.

Zum Abschied drückte er ihr die Hand. »Sie haben es gut; sind allein, ohne Kind und Kegel. Kein Mann, der Sie ärgert, keine Familie. Genießen Sie Ihr Leben.«

»Ja«, sagte Lore und verstaute ihre Anwendungskarte. »Ich bin ganz allein.« Das klang durchaus nicht verbittert.

Am Nachmittag machte sie mit Adlernase, der Herr Wagner hieß, einen Spaziergang zum Kleinen Café. Sie gingen nicht die Straße entlang, sondern durch den Wald. Der Kuckuck rief hinter ihnen her.

»Wissen Sie«, sagte Herr Wagner, »Leute, die erholungsbedürftig sind, brauchen keinen Kurschatten.«

So siehst du aus!, dachte Lore und fragte: »Wollten Sie nicht selbst einen?«

»Nur einen Partner zum Schachspielen.«

»Und zum Zigarettenrauchen«, ergänzte Lore. Es machte ihr Spaß, ihn zu ärgern. Er war so selbstgerecht.

»Das auch. Ich möchte mich unterhalten. Mehr nicht.«

»Fein«, sagte Lore, »dann haben wir es gut miteinander getroffen.«

Sie hatte seine Einladung zum nachmittäglichen Spaziergang angenommen, weil Mr. Grünhemd wartend im Kurpark herumgeschlendert war. Um vor ihm sicher zu sein, gab sie Herrn Wagner den Vorzug. Wenn er nur nicht so viel schrecklich langweiliges Zeug geredet hätte! Nun erzählte er von seiner Gattin (er sagte tatsächlich »Gattin«!), die zwar sehr eifersüchtig, doch die beste Hausfrau und Mutter sei.

Lore hörte dem Kuckuck zu, versuchte seine Rufe zu zählen, wie früher in der Kindheit.

»Kuckucksknecht,sag mir recht,wie viel Jahr ich leben soll?Belüg mich nicht,betrüg mich nicht,bist sonst der rechte Kuckuck nicht.«

Es duftete nach jungem Farn und Erde. Wie früher im Erzgebirge, wenn sie mit ihren Eltern sonntags hinausgewandert war. Ein zu dünnes kleines Mädchen, dauernd krank, vor allem Mittelohrentzündung, ohne Freunde und Geschwister. Nur Gerti kam ab und zu mal vorbei. Gerti wusste die schönsten Verse. Wenn Lore keine Ohrenschmerzen hatte, ging sie mit Gerti in den kleinen Wald beim Schlossberg. Sie spazierten Hand in Hand an den Fliederhecken vorbei, schnupperten, atmeten tief ein und deklamierten Verse:

»Kuckuck hat sich totgefallenvon der hohen Weiden,