Als noch Kartoffelfeuer brannten - Konrad Steger - E-Book

Als noch Kartoffelfeuer brannten E-Book

Konrad Steger

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Beschreibung

Noch vor 50 Jahren war das Ahrntal, wie die meisten Dörfer Südtirols, eine bäuerliche Welt. Dann begann sich alles sehr schnell, ja radikal, zu verändern. Von diesem Wandel erzählen auf humorvolle Weise fünf Geschwister, welche auf einem Ahrntaler Bauernhof aufwuchsen: vom kargen Leben und von Kinderarbeit, von der neuen Zeit, von den ersten Touristen, welche Unruhe ins Haus und in das Dorf brachten. Die Geschichten handeln aber auch von den Freuden und Nöten der Pubertät und was einem Familienmitglied passieren kann, wenn es das elterliche Nest verlassen muss …

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Für meine Eltern

Ich wünsche Ihnen, liebe Leser und Leserinnen,

dass Ihre eigene Kindheit in Ihnen wieder lebendig wird,

während Sie über diese, von mir beschriebene lesen.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich erinnern an das Schöne und

weniger Schöne. Der Mensch braucht die Erinnerung,

um in der Gegenwart Halt zu finden.

Inhalt

Vorwort

Die erzählenden Personen

Prolog – Erinnern

Von Plumpsklos und Ferkeleien

Großmutter

Von Waschmaschinen und Zahnschmerzen

Kinderkrankheiten

Die „Figaro“ und eine praktische Erfindung

Das „Königreich Mauretanien“

Kirchtag!

Eine staubige Arbeit und die Forelle im Mehl

Almgeschichten

Bergmahd

The Rolling Stone

Wintergeschichten

Heiligabend und „Neujahrsschreien“

Skifahrer

Auf der Suche nach „verlorenen Steinchen“

Waldi und der folgenschwere Biss

Tiergeschichten

Raufereien und Vaters Besonnenheit

Lehrergeschichten und das Fleischgericht der Wiese-Nanne

Nebukadnezar und Daniel in der Löwengrube

Baumfest

Gefährliche Spiele und Kartoffelfeuer

Hearischa

und Antiquitätenhändler

Von Ministranten, Rauchfässern und dem verschwundenen Messwein

Rollende Totenköpfe, interessante Zungenvariationen und Christi Himmelfahrt

Die Sache mit der Sparbüchse und andere Streiche

Der Noggl-Seppl und der Rauswurf

Imker-Lehrgeld

Alles verändert sich

Mutter und das Missverständnis mit Folgen

Der missglückte Einstieg ins Gastgewerbe

Die deutschen Mädchen

Abschied

In Klausur

Aufklärungsunterricht und die „Sexzelle“

Bischof und der

Potschn

-Krimi

Hilflos ausgeliefert!

Steinige Wege

Die Sternsinger und der „Stroh“-Rum

Rebellion und hinaus ins Leben!

Dank

Glossar

Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten

Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer,

die nicht mehr gilt. Früher waren sie Kinder,

dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun?

Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.

Erich Kästner

Vorwort

In den 1960er und 1970er Jahren, also vor etwa 50 Jahren, war das Ahrntal noch eine bäuerliche Welt. Nicht nur das Ahrntal, sondern die meisten Dörfer Südtirols. Der Großteil der Menschen lebte von der Landwirtschaft, von dem, was ihnen die kargen Äcker und Wiesen zu bieten hatten. Sie waren großteils Selbstversorger.

Es war ein karges Leben damals. Die Annehmlichkeiten waren gering, die Arbeit schwer. Etwas anderes kannte man nicht. Aber man war zufrieden.

In den 1960er und 1970er Jahren begann sich alles sehr schnell, ja radikal zu verändern. Der aufkommende Tourismus und die beginnende Industrialisierung schufen Arbeitsplätze auch außerhalb der Landwirtschaft. Die Knechte und Mägde verließen die Höfe. Plötzlich war Geld da. Die Arbeitsweise in der Landwirtschaft veränderte sich, die Dörfer, die Häuser – und auch die Menschen. Nicht immer zum Besten. Nur die materielle Armut wurde geringer.

Die erzählenden Personen

Franziska

Die Älteste und Besonnenste. Sie hat Kochen gelernt und unterstützt Mutter bei der Versorgung der ersten Hearischn. Ihre Neugier auf dem Labl kostet sie fast ihren Kopf.

Robert

Als Ältester ist er zum Hoferben bestimmt. Er handelt mit Hasen, schnitzt und imkert und ist auch sonst sehr geschäftstüchtig. Er treibt ständig allerhand Schabernack und bringt Vater manchmal fast bis zur Weißglut.

Anna

Zweitältestes Mädchen der Familie, Chefin des „Königreichs Mauretanien“. Sie ist eine gute Leserin, wird aber beim Wettbewerb in der Schule dafür nicht belohnt. Mit ihr kann man Pferde stehlen.

Anton

Er verlässt als Erster der Familie das elterliche Nest und erlebt im Heim allerhand Skurriles. Er muss auch bittere Erfahrungen machen. Als Chef der Sternsinger verzweifelt er fast mit seinen Schützlingen.

Klaus

Das Nesthäkchen der Familie. Illegaler Fischer und Ministrant. Der Tod von Waldi, dem Liebling der Familie, macht ihm besonders zu schaffen.

Prolog – Erinnern

Das Foto auf der Einladung zeigte ein rotwangiges und pausbäckiges Mädchen mit etwas abstehenden Ohren. Die Haare waren zu Zöpfen geflochten. Es lächelte treuherzig in die Kamera. Die dunkelbraunen Augen blickten scheu und unschuldig. Mutter hatte ihr für den Fototermin die beste weiße Bluse und den roten Festtagspullover angezogen.

Das Foto zeigte Franziska vor mehr als fünfzig Jahren. Ein Augenblick, eingefangen auf einer Schulbank. Die Zeit war erstarrt auf einem glänzenden Stück Papier. Und noch während der Fotograf seinen Apparat abgesetzt hatte, war die Uhr weitergetickt, die Minuten und Stunden waren unerbittlich weitergerast. Nur manchmal war die Zeit wie eingefroren gewesen, in den Zeiten der Verletzungen, der Angst und der Trauer.

Nun saßen sie da, alle fünf Geschwister und ihre Begleiter, an einem Wirtshaustisch und feierten Franziskas Geburtstag. Eine normale Familie, ganz normale Geschwister.

Das Schicksal hatte es mit allen recht gut gemeint. Manche waren mehr, die anderen weniger glücklich. Die Zeit hatte an allen ihre Spuren hinterlassen. Manchmal hatte sie das Schicksal verwöhnt und sie dann wieder verfolgt oder geschlagen. Allen hatte die Zeit Falten und Runzeln in die Gesichter gegraben.

Franziska war also sechzig geworden. Anton hatte einmal zu Klaus, der ihm am nächsten stand, gesagt, dass dieser „runde Geburtstag“ zu feiern wäre. Ehe es zu spät, und einer nicht mehr da sei, auf einmal. Alle hatten, mehr oder weniger begeistert, zugestimmt und waren gekommen.

Sie waren schon jenseits der fünfzig, den einen hatte es dahin verschlagen, den anderen dorthin. Die Mehrheit hatte Kinder und Kindeskinder. Jeder war mit seinem Alltag und seinen Sorgen beschäftigt. Die einen waren mit den anderen mehr oder weniger in Kontakt geblieben, die anderen hatten sich voneinander entfremdet. Die Eltern waren schon längst nicht mehr.

Dabei waren sie vor fünfzig Jahren alle Kinder gewesen, so wie Franziska auf dem Foto. Die Mädchen hatten Zöpfe getragen, die Buben waren von Hand ihres Vaters grob geschoren worden. Sie hatten gestritten und dann wieder zusammengehalten wie Pech und Schwefel.

Die Gespräche bei Tisch führten sie, ausgelöst vom Betrachten des Fotos, zurück in die Zeit. Erinnerungen, die sie längst schon verschüttet geglaubt hatten, tauchten auf, waren plötzlich da, trieben an die Oberfläche. Das eine ergab das andere. Besonderes und Heiteres waren es vor allem, die es wert waren, sich daran zu erinnern. Ein Erzählen begann.

Weißt du noch, als wir Kinder waren? Weißt du noch damals in der Schule? Als das alte Haus noch stand? Wie war doch damals alles noch ganz anders … Weißt du noch, wie damals Mutter, Vater …?

Von Plumpsklos und Ferkeleien

Der Hof stand am Sträßchen, welches zur Kirche auf den Bühel hinaufführte. Von der Straße ging eine lange, steile Stiege hinauf zum Söller, den die Sonne in den Jahrhunderten verbrannt hatte und der zum Toreingang führte. Der Söller hallte und dröhnte jedes Mal, fast wie eine schlecht gestimmte Glocke, wenn man schnell über die Treppe hinunterlief. Anton tat das oft, wenn ihm die Geschichte vom Teufel in den Sinn kam. Der Teufel, welcher hinter der Stiege gehockt und die Leute erschreckt hatte, indem er seine Zunge hatte über die Treppenstufen hinunterhängen lassen, oben beim Rieserbauern, im nächsten Dorf. Danach hatte er immer in der Klamm neben dem Hof vor Freude gejauchzt. Doch die Rieserbuben hatten es ihm einmal gezeigt. Sie hatten ihre Fußeisen angeschnallt, welche im Winter bereitlagen für die eisigen Wege, und waren damit über die über die Treppe hängende Zunge des Teufels hinuntergelaufen. Da habe der Teufel heulend Reißaus genommen und sich auf dem Rieserhof nie mehr wieder blicken lassen.

Vom Toreingang weiter führte der Söller zum Labl, einem Kasten aus grau verwitterten Brettern, welcher an das Feuerhaus angebaut war, und wie ein Wachturm gegen die Straße hin hinausragte. Dies war der Ort, an dem sich die Kinder manchmal gerne zurückzogen. Hier konnte man sich gut verstecken. Wenn man in dem winzigen, zugigen Bretterverschlag drin war, konnte man den Riegel vorschieben und hatte seine Ruhe. Zumindest so lange, bis jemand das Örtchen aufsuchen musste. Und das waren viele, auch einige Kirchgänger pflegten beim Labl eine Pause einzulegen, um sich zu erleichtern, bevor man die heiligen Hallen betrat. Die Gerüche, welche aus der Abortgrube aufstiegen, waren nicht besonders angenehm, insbesondere an heißen Tagen im Sommer, aber daran konnte man sich gewöhnen und es leicht aushalten, fanden die Kinder. Es gab so viel zu beobachten im Labl: Wenn man sich zur winzigen Fensterluke hinaufzog, konnte man auf die Leute herunterschauen und sie belauschen, wenn sie zur Kirche hinaufgingen. Oder über die Straße herunterkamen.

Einmal hatte Robert, der Älteste, er war erst sechs oder sieben Jahre alt, an einem Sonntag alle Krapfen ins Labl geworfen, welche seine Mutter gebacken hatte. Sie hatte ihn hin- und herlaufen gehört, mit schnellen Schrittchen zwischen Küche und Labl, ständig hin und her. Da war sie der Sache auf den Grund gegangen und hatte, zu ihrem Entsetzen, unten auf dem Grund der Grube die Krapfen gesehen, welche im Dämmerlicht goldgelb heraufleuchteten. Weshalb Robert das getan hatte, blieb sein Geheimnis. Wahrscheinlich hatte er den Krapfen fasziniert nachgeschaut, wie sie, einer nach dem anderen, kreiselnd hinuntersegelten und unten in der Grube aufklatschten. Sein Vater musste sie daraufhin mit einer Stange unterrühren, bevor die Kirchgänger kamen und das Malheur entdeckten. So wollte er wohl den Verdacht auf Verschwendung von Lebensmitteln zerstreuen.

Im Winter konnte man im Labl durch die drei Löcher, die zum Draufsitzen und Geschäftemachen gedacht und in das Sitzbrett gesägt worden waren, beobachten, wie der Lablkinig unten in der Grube in die Höhe wuchs. Die hinabgefallenen Exkremente gefroren und legten sich Schicht auf Schicht. Im Frühjahr, wenn es wieder taute, fiel der Lablkinig wieder in sich zusammen. Oder er musste umgestoßen werden, wenn er sich zu hoch auftürmte. So war eben der Lauf der Dinge.

Einmal im Jahr musste die Grube ausgeräumt werden. Dazu mussten die großen Flügeltüren unten an der Straße geöffnet werden, sodass man an die Grube herankam. Auf die Türe außen hatte der Vater, aus unerfindlichen Gründen, mit weißer Farbe, schief, orthografisch nicht ganz korrekt und in ziemlich großer Schrift „Sanft schliesen“ hinaufgeschrieben. Damals gehörte das Wort „sanft“ noch nicht unbedingt zum Sprachgebrauch der einfachen Leute. Aber der Bauer war recht belesen. An wen die Botschaft gerichtet war, wusste wahrscheinlich nur er. Auf jeden Fall liebte er es, den Leuten manchmal ein kleines Rätsel mit auf den Weg zu geben.

Zum Herausschöpfen der Sure diente eine lange Stange, an welcher ein Stahlhelm befestigt war. „Die passende Verwendung für das Kriegsgerät“, hatte er einmal lachend gesagt.

Man erzählte sich, wie dort unten, vor langer Zeit, einmal ein Bettler eingestiegen sei. Er hatte ein paar Bretter gelöst und sich am Rand der Grube stehend versteckt, um die Frauen von unten zu beobachten, wie sie sich zum Verrichten der Notdurft auf das Brett setzten. Es sei ihm übel ergangen, denn er sei entdeckt worden. Eine Frau habe, zufällig, nach verrichtetem Geschäft, hinuntergeschaut und entsetzt in das grinsende Gesicht des Bettlers geblickt. Da hätten ihn die Knechte nicht mehr aus der Grube herausgelassen. Von oben habe man Steine ins Labl geworfen, sodass die Brühe nur so gespritzt und den Bettler über und über mit Kot und fetten Maden bedeckt habe. Dann endlich habe man ihn ausgelassen, und er sei schreiend und fluchend davon. Recht war ihm geschehen, dem unkeuschen Hund, so sagte man.

In den Dachsparren des Labls hatte sich einmal ein Wespenvolk niedergelassen, und der graue Kessel, aus welchem unten aus einem winzigen Loch die Wespen emsig ein- und ausschlüpften, war Schicht um Schicht gewachsen. Jeden Tag ein bisschen mehr, wie eine Zwiebel, bis er so groß wie ein Kinderkopf war. Dann hatte ihn Hans, der Knecht, ausräuchern wollen. Hans, welchen die Kinder den „Häza“ riefen, das Schwein, das „Ferkel“.

In den Augen der Kinder sah er aus wie ein „Ferkel“, mit seinen roten, borstigen Haaren und dem stets rot angelaufenen Gesicht. Hans hatte mit einem Stock ein brennendes Stück Papier unter den Kessel gehalten, und dieser war sofort in Flammen aufgegangen. Aber leider nicht nur der Kessel, auch die Dachsparren und die Bretter hatten zu brennen begonnen. Er hätte das Labl beinahe abgefackelt, und wer weiß, was sonst noch alles. Daraufhin hatte er wie ein Irrer geschrien und geflucht, und er wollte das Feuer verzweifelt löschen, mit seinen Händen und seiner Jacke. Endlich kam der Bauer und löschte den Brand mit ein paar Wassergüssen. Im letzten Augenblick, noch bevor das ganze Dach in Flammen stand. Er war zornig geworden und hatte Hans, das „Ferkel“, beschimpft und angeschrien. Ob er denn den ganzen Hof zugrunde richten wolle in seiner Dummheit? Es war äußerst selten, dass Vater schimpfte. Sonst konnte ihn nämlich nichts aus der Fassung bringen.

Die Angelegenheit war zu ernst, als dass sich die Kinder getraut hätten, zu lachen, damals. Das geschah erst später, als sich die Situation entspannt hatte. Als nur noch die Spuren der Dummheit des Knechtes sichtbar waren, die verkohlten Dachsparren. Die Kinder hatten danach gebrüllt vor Lachen über die Dummheit des „Häza“.

Sie mochten es nun mal nicht, das „Ferkel“. Das beruhte augenscheinlich auf Gegenseitigkeit, denn Kinder und Knecht begegneten sich einander voll Misstrauen. Das „Ferkel“ war ständig missgelaunt, gereizt und verbittert. „Das kommt davon, dass er keine Frau kriegt, denn wer heiratet schon ein „Ferkel“ mit roten Haaren und einem Schweinchengesicht“, hatte Franziska vermutet. Diese Vermutung war schließlich für alle zu einer beschlossenen und anerkannten Tatsache geworden.

Franziska war besonders schlecht auf den Knecht zu sprechen, seit er ihr einmal fast den Kopf in der Tür eingeklemmt hatte. Das war so gekommen: Robert sah an einem Samstag, wie der Knecht im Labl verschwand. Dabei blieb einen Moment lang die Tür offen. Robert sagte später, der Knecht hätte sich sein Unterhemd über den Kopf gezogen und wäre mit nacktem Oberkörper dagestanden. „Er hat auch rote Borsten auf der Brust und auf dem Rücken“, behauptete Robert, doch das glaubte ihm keines seiner Geschwister. Sie lachten ihn nur aus.

Sie fanden heraus, dass er sich jeden Samstag rasierte, denn sie sahen unten im Dämmerlicht des Auffangbeckens Zeitungspapier und darauf Rasierschaum mit rötlichen Stoppeln. Außerdem hing im Plumpsklo ein rostender, alter Spiegel, in den der Knecht wohl beim Rasieren hineinschaute.

Die Geschichte mit den Borsten auf der Brust beschäftigte Franziska anscheinend so sehr, dass sie an einem Samstag dem Knecht nachschlich. Jedes der Kinder hatte staunend ihren Mut bewundert. Sie hatte die Türe aufgemacht und den Kopf hineingesteckt, um nachzusehen, ob die Geschichte mit der Borstenbrust wohl stimmte. Das Knarren der Holztür musste sie wohl verraten haben, denn der Knecht knallte die Türe fluchend zu. Franziska konnte im letzten Moment noch ihren Kopf zurückziehen. Sie war sich bewusst, dass sie großes Glück gehabt hatte. Aber am meisten ärgerte sie, dass sie seine Brust nicht hatte sehen können, um den Wahrheitsgehalt von Roberts Behauptung zu überprüfen.

Sie fragten ihre Mutter, ob denn Männer Haare auf der Brust hätten. Doch Mutter lachte nur und sagte etwas beschämt, sie wüsste das nicht so genau. Sie kenne als Mann nur Vater genauer, und der hätte auf jeden Fall keine Haare, zumindest nicht auf der Brust.

Bei Tisch ärgerte die Kinder besonders die Gefräßigkeit des „Ferkels“. Er beanspruchte zum Beispiel in der Muspfanne einen unverhältnismäßig großen Teil für sich, indem er mit dem Löffel eine Furche zog und so die Grenzen festlegte. Keines der Kinder durfte diese überschreiten. Einige Male rächten sie sich, indem sie seinen Löffel, den er wie jeder nach dem Essen mit dem Tischtuch abputzte und in eine Lederschlaufe unter dem Tisch steckte, bespuckten und ihn mit Salz einrieben. Robert kam sogar einmal auf die Idee, den Löffel mit einer bitteren Enzianwurzel einzureiben, welche seine Mutter zu medizinischen Zwecken mit Schnaps angesetzt hatte. Mit diebischer Freude beobachteten die Kinder bei der nächsten Mahlzeit die Reaktion des „Ferkels“. Kaum hatte dieser den Löffel in den Mund gesteckt und den ersten Bissen geschluckt, spie er auch schon wieder das Essen aus. Er schrie, schimpfte und verließ fluchend die Stube. Nachdem der Bauer den Grund dieses Zornausbruches herausgefunden hatte, sah er sich genötigt einzuschreiten. Er verbot das Löffelspiel. Aber der Knecht putzte dennoch jedes Mal vor einer Mahlzeit seinen Löffel peinlich genau an der Tischdecke ab. Aus Misstrauen, erst dann begann er zu essen.

Dass das „Ferkel“ nicht um Lichtmess den Arbeitsplatz wechselte, wunderte die Kinder immer. Wahrscheinlich lag es daran, dass ihr Vater es in Ruhe seine Arbeit verrichten ließ. Er schimpfte nie und erteilte ihm keine Befehle, solange es seine Arbeit selbstständig verrichtete. Das wusste das „Ferkel“ wohl zu schätzen. Nun, es gab gewiss schlimmere Bauern.

Großmutter

Die Erinnerung an die früheste Kindheit kam, als die Mutter ihren Kindern davon erzählte. Großmutter habe Anton manchmal gerufen, mit schwacher Stimme. „Komm, kleiner Anton, komm zu mir, ich hab’ ein Zuggole, ein Bonbon, für dich!“ Und er sei hineingewatschelt auf seinen unsicheren Beinchen, zur Großmutter, die still und gelb in der Kammer neben der Stube im Sterben lag. Seit einem Jahr lag sie dort, vom Krebs an den Strohsack gefesselt. Er habe mit seinen Patschhändchen nach dem Bonbon gegriffen, wie immer, und da habe ihn plötzlich eine namenlose Angst überfallen, als sein Blick auf den großen Kleiderschrank fiel. Die Gitarre. Im Halbdunkel hatte sie sich bewegt und hatte mit ihrem riesigen, orangegelben Gesicht und dem aufgerissenen Mund böse auf ihn heruntergeschaut. Anton sei aus der Kammer geflüchtet, schreiend und in panischer Angst über die Schwelle stürzend.

Er habe die Kammer nicht mehr betreten wollen, bevor man nicht die Gitarre entfernt hatte. Auch wenn ihn seine Großmutter noch so habe hineinlocken wollen mit ihren Bonbons, die sie im Nachtkästchen aufbewahrte. Seine Mutter hatte die Angst natürlich bemerkt und versucht, ihn zu beruhigen. Sie hatte ihn in die Kammer getragen, um ihm zu zeigen, dass die alte Gitarre nicht mehr da lag. Doch vergeblich. Großmutter konnte ihn nur noch bis an die Schwelle locken. Weiter ging er nicht mehr, obwohl er doch so gerne ein Bonbon von Großmutter bekommen hätte.

Die Gitarre machte ihm weit mehr Angst als die riesigen Gänse des Nachbarn, die ihm einmal mit weit geöffneten Flügeln und zischend nachgelaufen waren. Und er in wilder Flucht davon.

Anton machte vieles Angst, auch die Nächte ohne seinen Schnuller, der ihm Geborgenheit gab, bis er fünf Jahre alt war. Er wollte einfach nicht davon lassen, bis ihm Mutter sagte, dass im Schnuller Würmer hausen würden, darin herumkriechen würden. Das wirkte. Seitdem wollte Anton von seinem bis dahin über alles geliebten Schnuller nichts mehr wissen. Nur im Schlaf suchte er ein paar Mal noch verzweifelt danach.

Als Großmutter starb und begraben worden war, musste Anna in Großmutters Kammer ziehen. Sie sei doch so groß und brauche mehr Platz, versuchte die Mutter ihr die Kammer schmackhaft zu machen. Doch mit dem Abend und der Dunkelheit kam die Angst. Da blickten die dunklen Äste in den Brettern der Täfelung wie Augen zu ihr herunter. Sie schienen sich in der Dunkelheit zu bewegen, zu kreisen. Die Augen der verstorbenen Großmutter? Da war das leise Knarren der Bodendielen und das Rauschen und Heulen, wenn der Wind ums Haus strich. Immer wieder zog Anna das Bett über den Kopf und horchte angstvoll. Waren da leise Schritte, ein Flüstern? Kam Großmutter?

Großmutter. Sie war die eigentliche Bäuerin gewesen seit dem Tod des Großvaters. Sie hatte immer das Sagen gehabt, bis ihr Sohn heiratete, mit fast 40 Jahren, und auch danach noch. Beim Fällen einer alten Esche hatte den Großvater ein dicker Ast erwischt und ihn niedergestreckt. Er hatte über Schmerzen in der Brust geklagt, und man hatte ihn in die Stube getragen. Da lag er nun und wurde immer schwächer und schwächer. Als man endlich einen Arzt rief, war es zu spät gewesen. Innerlich verblutet, stellte dieser fest. Den Ersten Weltkrieg hatte Großvater überlebt, die Angst, das Grauen, den Hunger, die Entbehrungen und die Erfrierungen. Den Ast einer fallenden Esche nicht. Schicksal.

Um die Erbschaftssteuer nur einmal bezahlen zu müssen, hatte man auf Anraten des Pfarrers hin, dem Sohn den Hof überschrieben. Er war damals erst 19 Jahre alt gewesen. Der Junge sei ein anständiger, ehrlicher Mensch, der sich dem Willen seiner Mutter füge, hatte der Pfarrer gesagt. Und das stimmte auch. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass er das Erbe hätte zugrunde richten können, es verprassen oder verspielen. Nie war ihm eingefallen, seiner Mutter zu widersprechen. Die Bäuerin war immer sie gewesen, nicht er, der er der Bauer nur auf dem Papier war. Auch noch, als sich seine Haare schon, mit fast vierzig Jahren, zu lichten begannen. Sie allein hatte die Gewalt über den schmalen Geldbeutel des Hofes.

Mit vierzig Jahren hatte der Bauer also geheiratet, sieben Jahre nach dem Krieg. Eine 33-jährige stolze, schöne Frau. Und dann waren die Kinder gekommen, fünf: Franziska, die Älteste; Robert, als ältester Bub der Hoferbe; Anna; Anton und der Jüngste, Klaus.

In der Vorstellung der Kinder hatte die Hebamme die Kinder gebracht. In der großen Tasche, die sie mit sich schleppte. Und alle waren sie in der Stube von der Hebamme auf die Welt geholt worden.

Es war üblich, dass dann eine Henne das Zeitliche segnete, damit die Wöchnerin wieder auf die Beine und zu Kräften kam. Und die älteren Geschwister hatten sich über die Aufwarterin gefreut, die die Wöchnerin betreute und Essen kochte. In dieser Woche fiel nämlich auch besseres Essen für die Kinder ab, etwa Nudelsuppe, Germzopf und Weißbrot. Denn es kam viel Besuch von Verwandten und Nachbarn, welche das neugeborene Kind begutachteten und Waisat mitbrachten. Meistens waren es einige Hefeteigzöpfe oder Weißbrot. Die Bäuerinnen besuchten sich nach einer Geburt untereinander und brachten Stoff für die Kleidung des Kindes mit. Manchmal auch sogar einen Kilo Würfelzucker. Die Mutter erzählte noch Jahre danach davon, dass ihr Bruder ihr einmal eine Roulade zur Stärkung ans Wochenbett gebracht hatte.

Von Waschmaschinen und Zahnschmerzen

Das Leben auf dem kleinen Einhof war einfach und sehr bescheiden. Im angebauten, dunklen Stall standen fünf Kühe an der Kette und noch drei Jungtiere. In einem Koben hausten zwei Schweine. Niemandem war die Armut bewusst. Die Mutter umsorgte ihre Kinder, so gut sie konnte. Sie war sehr einfallsreich, was die Kost betraf, niemand hungerte.

Den Alltag der Kinder bestimmte die Arbeit. Sie mussten von klein auf die Kühe hüten, auf dem Feld mithelfen, das Gras zusammenrechen, zum Trocknen aufhängen und auf dem Stadel einlagern. Der Bauer trug das Heu in einer Buckelkraxe dorthin. Die Kinder verteilten es in den Dielen und traten es fest. Es war heiß unter dem Dach und staubte furchtbar. Die Kinder mussten überall mit anpacken, das war selbstverständlich. Überall im Dorf war das so, kein Kind beklagte sich darüber.

Die Kleidung war sehr einfach. Jeder der Buben hatte ein paar Hosen, ein paar Unterhosen, einige Hemden und Jangger. Die Mädchen trugen Röcke, Blusen und Strümpfe. Man wusch sich in einer Waschschüssel und badete zwei-, dreimal im Jahr in einem Aluminium-Schaff, das für die große Wäsche da war. Das Wasser musste vom Trog unten an der Straße heraufgetragen werden, sommers wie winters.

Ein solches Bad im großen Schaff wäre dem kleinen Anton fast einmal zum Verhängnis geworden. Nachdem seine Mutter ihn gebadet, in ein Leintuch gewickelt und auf die warme Ofenbrücke gelegt hatte, war sie gegangen, um ein sauberes Hemdchen zu holen. Der frisch gebadete Anton hatte quietschvergnügt angefangen zu strampeln und war auf der Ofenbrücke herumgekrabbelt. Und dann geschah ihm das Missgeschick. Ein Schutzengel musste seine Flugbahn berechnet haben. Denn er stürzte aus zwei Meter Höhe mitten ins Schaff. Seine kleinen Geschwister stimmten mit in sein Geschrei ein. Dann kam endlich die Mutter und zog den prustenden und spuckenden Anton vollkommen heil aus der Wanne.

Im Wassertrog unten an der Straße wurde auch die Wäsche gewaschen, bis man eine Waschmaschine kaufte – die Erste im Dorf, eine deutsche „Bauknecht“. Dazu war man gezwungen, denn die Ärzte hatten der Mutter nach einer schweren Krankheit verboten, weiterhin im kalten Wasser Wäsche zu waschen.