Als wir noch Götter waren im Mai - Johano Strasser - E-Book

Als wir noch Götter waren im Mai E-Book

Johano Strasser

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Beschreibung

Mit Johano Strassers Leben sind viele Ereignisse der deutschen Zeitgeschichte eng verbunden: die 68er Bewegung, die neue Ostpolitik Willy Brandts und der sozial-liberalen Koalition, die Neuorientierung der Linken in der Kohl-Ära, die Frage nach dem linken Humanismus in den Schröder-Jahren und die neuen Herausforderungen durch eine ungeregelte Globalisierung und Digitalisierung. Als mutiger (Vor-)Denker, brillanter Autor und überzeugter Humanist verbindet er in seiner Autobiografie politische Analyse mit seiner interessanten Lebensgeschichte, schildert Begegnungen mit Weggefährten und Freunden wie Willy Brandt, Heinrich Böll, Günter Grass, Patrick Süskind und beschäftigt sich mit der aktuellen Krise der SPD, in deren Grundwertekommission er seit beinahe 40 Jahren Mitglied ist. Aus frühen Erfahrungen in einer internationalistischen Familie – die Eltern waren Esperantisten und Pazifisten – entwickelt er seine politischen, philosophischen und religiösen Überzeugungen. Was dabei herauskommt, ist eine Geschichte der Bundesrepublik von den Anfängen unter Adenauer bis in die Gegenwart aus dem subjektiven Blickwinkel engagierter Zeitgenossenschaft, nicht aufdringlich belehrend, sondern durchaus selbstkritisch und mit Humor erzählt. Sein Credo: Politisches Engagement ist weder Lebensverfehlung noch Zeitvergeudung. Es kann sogar Spaß machen und ist allemal gesünder, als zu resignieren. Die überzeugende Bilanz eines Mannes, der seine Fahne nie nach dem Wind gehängt hat.

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Johano Strasser

ALS WIRNOCH GÖTTERWARENIM MAI

Ein deutschesLeben

Wir danken allen Rechteinhabern für die freundliche Abdruckgenehmigung der Fotografien. Leider konnten nicht alle ermittelt werden. Wir bitten Sie, sich gegebenenfalls mit dem Verlag in Verbindung zu setzen.

1. eBook-Ausgabe 2018

© 2018 Europa Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München · Zürich · Wien Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Brigitte Friedrich/Süddeutsche Zeitung Photo Bildnachweis: Jürgen Bauer S. 331; Udo Hoffmann S. 235; Wolfgang Horsch S. 355; Renate von Mangoldt S. 229, 275; Stefan Moses S. 299; Klaus Staeck S. 343; Hermann Wygoda S. 157; Privat S. 11, 19, 31, 53, 71, 81, 85, 145, 180, 185, 251, 254, 267, 291, 344, 347, 371, 387

Satz: Danai Afrati & Robert Gigler, München

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-256-5

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

ISBN 978-3-95890-189-6

Alle Rechte vorbehalten.

Meinen Kindern Maritta, Felix und Therese

Als wir noch Götter waren im Mai

Hatten wir einen Heidenspaß

Wenn wir zuweilen die Geschichte

Einfach rückwärts laufen ließen

Aus den Trümmern

Strahlend und schön erstand das Zerstörte

Tote erwachten

Zu kurzem Leiden und langer Torheit

Havarierte Großgedanken wurden plötzlich

Wieder flott

Rückwärts am roten Faden

Durch die Schnellen gegen den Strom

Und an der Quelle

Die Wurzel: der Mensch

Das Gattungswesen

So erst bekam der trockene Stoff

Seinen unwiderstehlichen Pfiff

Alles in allem: Identität

Zwangslos brachte sich das Geschehene

Auf den Begriff

Inhalt

1Ein ambivalentes Erbe

2Den Mund aufmachen

3Homo ludens

4Lehrjahre

5Provinzler und Kosmopolit

6Deutschsein heißt …

7Körper und Geist

8Antiautoritärer Aufbruch

9Freunde und Genossen

10Die Politik nicht den Politikern überlassen

11Flügelkämpfe und Rechthabereien

12In diplomatischer Mission

13Hanauer Straße 60

14Netzwerk Selbsthilfe

15Welcher Fortschritt?

16Franziska

17Literatur und Politik

18Unterwegs mit Sisyphos

19Amerika! Amerika!

20Das gute Leben

21Am Starnberger See

22Wendezeiten

23In den Schluchten des Balkans

24Für die Freiheit des Wortes

25Todesfälle

26Der Schoß ist fruchtbar noch …

27Europa und Israel

28Meine Landschaften

29Skepsis, Zweifel, Glaube

30Ach, SPD!

31Unterm Strich

Personenrgister

1Ein ambivalentes Erbe

Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört eine Szene, die sich im Flur unseres Hauses in der niederländischen Provinzhauptstadt Leeuwarden abspielte. Ich kann damals nicht viel älter als drei Jahre gewesen sein. Es war später Nachmittag oder früher Abend, mein Vater kam heim von der Schreibstube. So hieß das Büro, in das ihn, der dem Pass nach Österreicher war, die deutschen Besatzer gesetzt hatten. Ich hörte ihn, rannte aus dem Wohnzimmer in den Flur, um ihn zu begrüßen, da sah ich gerade noch, wie er hastig den großen Bauernschrank schloss, der dort stand. Ich hatte sofort das Gefühl, dass er etwas vor mir versteckte, und als er im Wohnzimmer saß und den Leeuwarder Courant, die örtliche Zeitung, las, schlich ich in den Flur, öffnete die Schranktür und fand ein Gewehr.

Merkwürdigerweise hat mein Vater, als ich ihn Jahrzehnte später – wir waren längst in Deutschland – darauf ansprach, immer bestritten, ein Gewehr bei sich geführt zu haben. Die Deutschen hätten ihn dienstverpflichtet, sagte er, aber zum Glück nicht zum Kriegsdienst, sondern in der Standortverwaltung, und als Angestellter in der Standortverwaltung habe er kein Gewehr tragen müssen. Entweder täuscht mich meine Erinnerung – ich habe als Kind tatsächlich lange Schwierigkeiten gehabt, Traum und Wirklichkeit auseinanderzuhalten – oder ihm war die Sache so peinlich, dass er sie auch Jahrzehnte danach nicht wahrhaben wollte.

Meine Geburtsstadt Leeuwarden. Zuletzt bin ich Mitte der Achtzigerjahre fast zwei Wochen dort gewesen, als ich für meinen Roman Der Klang der Fanfare recherchierte. Ich war in der Camminghastraat, wo ich in einem der einstöckigen Häuser aufgewachsen bin, sah die Anlagen des Prinsentuin, das alte Gemäuer des Oldehove und das Haus meines Großvaters am Groentemarkt. Genau gegenüber – eine Kupfertafel weist darauf hin – das Geburtshaus von Margaretha Geertruida Zelle, besser bekannt als Mata Hari, der Tänzerin, die in allen Hauptstädten Europas den Menschen den Kopf verdrehte und schließlich als deutsche Spionin von den Franzosen verhaftet und am 15. Oktober 1917 in Vincennes bei Paris von einem zwölfköpfigen Erschießungskommando hingerichtet wurde. In einer solchen Stadt bin ich geboren, einer Stadt, in der die Menschen über ihre Verhältnisse träumen, in die Welt hinausgehen und Wunder wirken. Aber dann, wenn der Applaus verklungen ist, werden sie von der großen Welt wieder ausgespien, weil sie, wo immer sie sind, Fremde bleiben, weil auch nach vielen Jahren in den Metropolen ihr neugieriger Provinzlerblick sie verrät.

Meine Eltern waren Esperantisten und Pazifisten. Sie glaubten daran, dass durch die Verbreitung der von Ludwik Zamenhof erfundenen Kunstsprache Esperanto alle ethnischen, religiösen, kulturellen Gräben überwunden werden und die Menschen auf der ganzen Welt friedlich miteinander leben könnten. Oder, wenn sie vielleicht auch nicht felsenfest daran glaubten, so hielten sie es doch für einen Versuch wert. Kennengelernt haben sich meine Eltern auf einem Esperanto-Kongress in Paris Ende der Zwanzigerjahre. Nach der Heirat lebten sie einige Jahre in Frankreich, zunächst in Avignon, später in Mulhouse im Elsass. In Mulhouse kamen zwei meiner Brüder zur Welt. Dann zog die Familie nach Holland um, wo ich am 1. Mai 1939 und ein weiterer Bruder drei Jahre später geboren wurden. Nach dem Krieg landeten wir alle in Norddeutschland; hier kam als letztes Geschwister im kalten Winter des Jahres 1947 schließlich noch ein Mädchen dazu. Den drei Söhnen, die vor dem Zweiten Weltkrieg geboren waren, gaben meine Eltern Esperantonamen: Roberto Amato, Ludoviko Bennato und Johano Roberto. Aber als der Zweite Weltkrieg ausbrach, gingen nicht nur ihre pazifistischen Hoffnungen zu Bruch, sondern auch ihr Glaube an die völkerversöhnende Kraft des Esperanto bekam Risse. Der im Krieg geborene vierte Sohn wurde nach der holländischen Königin Wilhelm genannt, die nach dem Krieg geborene Tochter nach der französischen Nationalfigur Marianne.

Johano Strasser im Alter von 2,5 Jahren in Holland

Warum, als die Ideale des Esperanto für meine Eltern ihren Glanz verloren, Wilhelm und Marianne? Setzten meine Eltern nun plötzlich auf die Kraft der Nationen, der niederländischen und der französischen? Und warum zogen sie dann, als der Krieg zu Ende gegangen war, mit der ganzen Familie nach Deutschland, wo Menschen wie sie, die in der Tradition der Aufklärung und des Kosmopolitismus standen, von den nationalen Kräften doch nicht viel erwarten konnten? Ich habe sie merkwürdigerweise nie danach gefragt, damals nicht und auch später nicht. Und nun ist es zu spät, denn meine Eltern leben nicht mehr. Mein Vater ist mit 87, meine Mutter mit 98 Jahren in Kalifornien gestorben.

Was wir Erinnerung nennen, ist eine seltsame Mischung aus dem, was uns das Leben mitgegeben hat, und dem, was wir träumend, uns selbst und andere täuschend, hinzufügen. Manche entwickeln, wenn sie älter werden, von sich aus eine Neigung, das eigene Leben im Rückblick zu erfassen, sich die einzelnen Stationen, die Höhen und Tiefen, die charakteristischen Details zu vergegenwärtigen und daraus eine Geschichte zu formen: eine Biographie. Vielleicht bin ich immer noch nicht alt genug, vielleicht ist es auch die für meine holländisch-friesisch-norddeutsche Herkunft typische Scheu, sich allzu intensiv mit sich selbst zu befassen, die mich zögern lässt. Ich habe bisher mein Leben immer nur als Fundus benutzt, als Fundus für argumentativ verwendbare Erfahrungen und als Fundus für Geschichten, in die ich meine literarischen Figuren verwickelte. Auf die Idee, es als ein mehr oder weniger sinnreiches, zusammenhängendes Ganzes zu sehen und daraus eine Biographie zu formen, bin ich lange nicht gekommen; und eine Autobiographie zu schreiben, noch dazu der üblichen Art, habe ich auch jetzt nicht im Sinn.

Aber sagen das nicht die meisten von sich, wenn sie daran gehen, ihr Leben aufzuschreiben? Als Schriftsteller gibt man, ob man es will oder nicht, in jedem Buch, in jedem Satz, in jeder Zeile eines Gedichts ein Stück von sich selbst preis. Auch dann, wenn man mit dem Ich ein Versteckspiel treibt, sich mal diese, mal jene Maske aufsetzt. So gesehen, ist alles Schreiben autobiographisch. Auch kann ich mich nicht der Erkenntnis entziehen, dass viele meiner Ansichten und Einstellungen, politische, moralische, religiöse oder lebensphilosophische, ihre besondere Ausprägung und einen Großteil ihrer Überzeugungskraft aus dem beziehen, was mir im Leben widerfahren ist. Weil dies so ist, mag es vielleicht sinnvoll sein, dem Zusammenhang zwischen diesen Überzeugungen und dem, was ich mein Leben nenne, an einigen zentralen Punkten genauer nachzugehen, freilich ohne dabei dem unter Verfassern von Autobiographien verbreiteten Irrtum zu verfallen, dass alles, was mir zugestoßen ist, schon deswegen mitteilenswert ist, weil es mir zugestoßen ist.

Ich, der ich Philosophie studiert und in diesem Fach promoviert habe, unterschätze nicht den Einfluss von Theorien und Theoretikern auf meine moralischen, philosophischen, religiösen und politischen Grundüberzeugungen. Zu gut erinnere ich mich, welchen nachhaltigen Eindruck die Lektüre von Büchern auf mich hatte: ganz früh so unterschiedliche wie die Forsyte Saga von Galsworthy, die ich mit zwölf Jahren verschlang, und Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts, später dann die Schriften Immanuel Kants, die Bekenntnisse des Augustinus, Montaignes Essais, Camus’ Der Mensch in der Revolte und nicht zuletzt die Schriften von Marx und Engels. Aber, das ist mir im Laufe der Jahre immer klarer geworden, alle in diesen Büchern versammelten Ideen hätten mich wohl nicht so sehr ergriffen, wenn der Boden dafür nicht durch Herkunft, Erziehung und Lebenserfahrung bereitet worden wäre.

Als ich während des Philosophiestudiums zum ersten Mal Kants kleine Schrift Zum ewigen Frieden las, war ich längst im Kopf Kosmopolit und vom Gefühl her Europäer. Unsere Verwandten – Tanten, Onkel, Nichten und Neffen – lebten in Frankreich, in Italien, in Österreich und Holland, meine beiden älteren Brüder waren in die USA ausgewandert und wohnten mittlerweile mit ihren Familien in Kalifornien. Als ich, bis dahin Inhaber eines österreichischen Passes, Mitte der Sechzigerjahre Deutscher wurde, hatte das unter anderem einen ganz praktischen Grund: Ich wollte endlich auch einmal an den deutschen Leichtathletikmeisterschaften teilnehmen können. Hätte es die Möglichkeit gegeben, ich hätte wohl lieber einen europäischen Pass erworben oder zumindest die österreichische als zusätzliche Staatsangehörigkeit behalten. Wie sehr ich schon damals Deutscher war, wurde mir erst im Laufe der Jahre richtig bewusst.

Als ich wenig später Friedrich Engels’ Die Lage der arbeitenden Klasse in England las, ließ mich das Thema der sozialen Gerechtigkeit und der politischen Emanzipation der Arbeitenden auch deswegen nicht mehr los, weil ich selbst als Kind und auch noch in den ersten Jahren des Studiums erfahren hatte, was es heißt, unter ökonomisch prekären Verhältnissen zu leben, weil ich, in den Semesterferien auf dem Bau und in einer Betonfabrik, später bei Magirus in Mainz und bei Ford in Köln arbeitend, einen ersten Eindruck davon bekam, dass arbeitende Menschen immer noch und immer wieder um ihre Rechte kämpfen mussten. Vielleicht spielte aber auch eine Rolle, dass ich am ersten Mai geboren wurde und meine Mutter mir lange weiszumachen suchte, der festliche Umzug der Gewerkschaften mit Pauken und Trompeten und all den roten Fahnen werde ganz allein meinetwegen veranstaltet.

Wenn Personen des öffentlichen Lebens gefragt werden, wie sie zu ihren politischen Einstellungen gekommen sind, so geben sie dafür meist Gründe an, die mit den Problemen und politischen Kämpfen ihrer Zeit zusammenhängen; sie verweisen auf Politiker, die ihnen vorbildhaft, auf politische Manifeste oder Parteiprogramme, die ihnen wegweisend erschienen. In vielen Fällen ist eine solche Erklärung durchaus einleuchtend. Auch bei mir spielten Politiker und Programme eine nicht unerhebliche Rolle. Und dennoch bin ich sicher, dass die Entscheidung für einen linken Humanismus bei mir viel früher gefallen ist, zu einem Zeitpunkt, da ich mich für Politiker und ihre Programme noch gar nicht interessierte, und lange bevor ich hätte sagen können, was einen Sozialisten von einem Konservativen oder Liberalen unterscheidet.

Es sind frühe Bilder und Erfahrungen, die meinen Weg vorbestimmten. Die schlichte Würde der einfachen Menschen, mit denen ich aufwuchs, die Abende am torfbeheizten Kachelofen, an denen zuweilen die Mutter auf Holländisch, zuweilen eines der älteren Kinder auf Deutsch aus einem Buch vorlas, der ständige Kampf ums Überleben in der Nachkriegszeit, der auch uns Kinder zwang, neben der Schule beim Bauern auf dem Feld oder auf Schützenfesten mit dem Bauchladen voller Süßwaren und Zigaretten ein wenig Geld zu verdienen, der Swing und der Jazz, die Musik der Freiheit, die wir auf AFN und später in der Milchbar in Rotenburg hörten, einem ersten Treff subversiver Kräfte, die der gouvernantenhaften Enge der Adenauer-Zeit zu entkommen suchten.

Nein, es sind keine bedrückenden Erinnerungen, die mich mit meiner Kindheit verbinden. Meine Kindheit und Jugend erlebte ich insgesamt als eine glückliche Zeit. Dass wir nach heutigen Maßstäben arm waren, mit sieben, zeitweilig sogar acht Personen in zwei Zimmern wohnten, dass wir Kinder früh schon mitarbeiten mussten, die jeweils Jüngeren die Kleider und Schuhe der Älteren auftrugen, all das erschien mir damals normal, jedenfalls nicht unerträglich. Die meisten Menschen, mit denen wir umgingen, waren nicht viel besser gestellt. Was vielleicht noch wichtiger war: Wir waren eine große Familie, die, wenn es darauf ankam, zusammenhielt, um die sich ein Kranz von Freunden bildete. Und wir hatten eine Mutter, die wie eine Löwin kämpfen konnte, wenn einem ihrer Kinder Unrecht geschah.

Nicht alle hatten dieses Glück. Als ich elf oder zwölf Jahre alt war und die Mittelschule in der nordniedersächsischen Kleinstadt Zeven besuchte, hatte ich einen Klassenkameraden, der bei den Lehrern als dumm, faul und renitent galt. Er wohnte in einer Barackensiedlung, die im Volksmund »Klein Moskau« hieß, weil dort Flüchtlinge aus Ostpreußen und Schlesien untergebracht waren, Frauen mit vielen Kindern zumeist, deren Männer im Krieg umgekommen oder vermisst waren. Kurt war das älteste von sechs Kindern. Wenn er von der Schule nach Hause kam, machte er für sich und seine Geschwister das Essen, putzte die Wohnung, windelte das Baby, hackte Holz für den Ofen, kaufte ein und trug zwischendurch noch Zeitungen aus, um etwas zum Haushaltseinkommen beizutragen. Gegen sechs Uhr abends kehrte seine Mutter von der Arbeit in der Fabrik heim. Dann ging Kurt ihr beim Bereiten des Abendessens zur Hand, und manchmal musste er ihr auch beistehen, wenn ihr Lebensgefährte, ein aggressiver Alkoholiker, wieder einmal betrunken und lärmend auf sie eindrang. Für Kurt selbst und die Schule blieb da keine Zeit übrig.

Ich bin, soviel ich weiß, nur ein einziges Mal bei Kurt zu Hause gewesen, um mein altes Dreirad, das er als Geburtstagsgeschenk für seinen kleinen Bruder herrichten wollte, gegen eine Dreigangnabe für mein Fahrrad einzutauschen. Ich war verblüfft, mit welcher Selbstverständlichkeit er seinen Geschwistern Anweisungen gab, Streit schlichtete, sie tröstete, den älteren bei den Schulaufgaben half. Ich bemerkte aber auch das nervöse Zucken in seinem Gesicht, und plötzlich wurde mir bewusst, dass ich ihn noch nie hatte lachen sehen – und dass die Lehrer sehr ungerecht waren, die diesen Jungen als dumm und faul bezeichneten.

Ich erinnere mich noch heute genau daran, wie sehr mich diese Ungerechtigkeit empörte. Die Erfahrung hat sich mir bis heute eingebrannt. Als ich später Albert Camus las, zuerst Der Mensch in der Revolte, später auch Licht und Schatten, da begriff ich, dass damals, als ich Kurt in »Klein Moskau« besuchte, mit mir etwas geschah, was Camus mit dem Begriff der Revolte zu fassen sucht. Meine Empörung hatte nichts mit Ressentiment oder Neid zu tun, nicht einmal mit einem mir persönlich zugefügten Leid. Es war – damals hätte ich natürlich nie ein so großes Wort benutzt – eine Empörung im Namen der Menschenwürde, das, was Camus mit der Formulierung kennzeichnet: ich empöre mich, also sind wir, eine spontane Reaktion, in der ich blitzartig entdeckte, was mich mit diesem Jungen verband. Die Erfahrung wühlte mich auf, und rückblickend meine ich, dass sie mir eine erste vage Vorahnung davon vermittelte, was es heißt, ein politischer Mensch zu sein.

Heute bin ich sicher, dass mein späteres politisches Engagement unter anderem aus dieser Quelle kommt. Wahrscheinlich waren mir bei aller Faszination, die politische Theorien bald auch für mich hatten, deswegen jene wissenschaftlichen Sozialisten immer suspekt, für die vor allem die stringente Analyse der bestehenden Verhältnisse zählte, die aber nicht selten blind und taub waren für das konkrete Leid um sie herum. Auch als es in den späten 1960er- und 1970er-Jahren unter der akademischen Linken weithin üblich wurde, moralische Begründungen des politischen Engagements als »kleinbürgerlich« zu belächeln, blieb ich ethischer Sozialist und misstraute all jenen kalten Strategen zutiefst, die Hegels Wort, dass sich der Fortschritt seinen Weg mit blutigen Stiefeln durch die Geschichte bahne, als Entschuldigung für ihren eigenen Mangel an Menschlichkeit nahmen.

In Camus’ Licht und Schatten las ich auch den Satz: »Die Armut habe ich nie als Unglück empfunden.« Genauso war es auch mir gegangen, wie Camus hatte auch ich schon früh jenes Glück des Seins kennengelernt, das nicht von der Fülle des Habens abhängig ist. Es war, denke ich, diese Erfahrung, die mich zeitlebens vor der gutgemeinten, aber im Kern doch herablassenden sozialarbeiterlichen Auffassung bewahrte, dass wer arm ist, nicht in Würde leben, nicht ein voll entfalteter Mensch, nicht in Maßen glücklich sein könne. Es war nicht das nagende Bewusstsein, zu kurz gekommen zu sein, das mich zum politischen Engagement trieb. Mich trieb kein Ressentiment gegen die, denen es besser ging als mir. Es war eher ein Grundgefühl elementarer Zugehörigkeit, das mich bewog, Partei zu ergreifen für die, denen es schlechter ging als mir, denen offensichtlich Unrecht geschah. Darum leuchtete mir der kategorische Imperativ des jungen Marx, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, unmittelbar ein.

Politik im engeren Sinn spielte in meinem Elternhaus kaum eine Rolle. Wir Kinder hörten unsere Eltern dann und wann sagen, dass dieser oder jener ein alter Nazi sei, mit dem man besser nichts zu tun haben sollte. Adenauer, das war gelegentlichen Bemerkungen zu entnehmen, war bei meinen Eltern nicht besonders beliebt, und einmal in den frühen 1950er-Jahren, daran glaube ich mich zu erinnern, ist meine Mutter mit dem Bus nach Bremen gefahren, um Kurt Schumacher zu hören. Mein holländischer Großvater, der in den Fünfzigern einige Zeit bei uns lebte, war wie die meisten Holländer damals nicht gut auf die Deutschen zu sprechen. Stundenlang konnte er über die Kränkungen berichten, die die deutschen Besatzer den Holländern angetan hatten. Aber auch er war im Grunde kein politischer Mensch. Dass nicht wenige Holländer mit den Deutschen kollaboriert hatten, dass die fast vollständige Vernichtung der holländischen Juden ohne die Mithilfe vieler seiner Landsleute gar nicht möglich gewesen wäre, wusste er nicht oder wollte er nicht wissen. Und wenn er sich über die Missetaten der Deutschen ausließ, gipfelte seine Empörung regelmäßig darin, dass sie ganze Güterzüge voll unausgereiften Gouda ins Reich hatten abtransportieren lassen. Da zeige sich, pflegte mein Großvater zu sagen, dass die Deutschen letztlich eben doch kein Kulturvolk seien.

Für meine älteren Brüder war Politik in jenen frühen Jahren überhaupt kein Thema. Sie interessierten sich für Musik, für Jazz und Unterhaltungsmusik, die von jenseits des Atlantiks bis zu uns in die abgelegene Nordheide drangen. Ludoviko, den wir Louis nannten, spielte Gitarre, mit Plektron und elektrischem Tonabnehmer, Roberto, der in der Familie nur Roger hieß, Klarinette, Trompete und, weil ein Klavier nicht in die Wohnung gepasst hätte, Akkordeon. Das Akkordeon wurde dann auch mein Instrument, das ich leidlich zu spielen lernte, sodass ich damit in den ersten Jahren meines Studiums meinen Lebensunterhalt verdienen konnte.

Hochzeit der Eltern in Leeuwarden (1928)

Von heute aus gesehen, war unsere Familie eher unpolitisch. Aber das hieß keineswegs, dass wir alles über uns ergehen ließen. Angefeuert von unserer tatkräftigen holländischen Mutter, nahmen wir die Dinge selbst in die Hand. Da auf dem Dorf, in dem wir zunächst lebten, ein Sportplatz fehlte, planierten wir zusammen mit anderen Flüchtlingskindern ein Stück Heideland, errichteten Tore aus Holz, das wir im nahen Wald schlugen, obwohl das, streng genommen, nicht erlaubt war, und gründeten einen Fußballverein. Den Fußball hatte mein ältester Bruder Roger aus Frankreich mitgebracht, als er Anfang 1948 von dort, wo er einige Jahre bei einer Tante gelebt hatte, wieder zu uns stieß. Da es in unserem Dorf außer einem grauenvoll spielenden Musikzug mit Pikkoloflöten, Tuba und Pauke keine Musikkapelle gab, gründete mein ältester Bruder eine Familienband, die sich Los Amigos nannte und bald in der näheren und weiteren Umgebung, insbesondere bei jungen Leuten, ein gewisses Ansehen genoss.

Vielleicht ist diese früh eingeübte Gewohnheit, nicht darauf zu warten, dass andere für einen die Probleme lösen, sondern selbst zuzupacken, der Grund dafür, dass ich mich als Erwachsener fast selbstverständlich zuständig fühlte, wenn es darum ging, gegen ein Unrecht aufzubegehren oder einem Übel abzuhelfen. Mag schon sein, dass es auch meiner Eitelkeit schmeichelte, mich selbst in der Rolle des Rächers der Enterbten und des uneigennützigen Helfers zu sehen. Allerdings glaube ich, letztlich ausschlaggebend war das in Kindheit und Jugend erworbene Vertrauen, dass man aus eigener Kraft, zusammen mit anderen, etwas verändern kann.

Und doch bleibt es eine der Erklärung bedürftige Tatsache, dass dieselben oder ähnliche Bedingungen bei verschiedenen Personen sich so ganz unterschiedlich auswirken. Meine beiden älteren Brüder zum Beispiel sind eher unpolitisch geblieben, der älteste war, eine Zeit lang zumindest, sogar ein gläubiger Anhänger Ronald Reagans und hat, inzwischen 80 Jahre alt, nach eigenem Zeugnis Donald Trump gewählt, weil der es dem arroganten Establishment in Washington zu zeigen versprach. Ein Grund für die eher unpolitische Haltung meiner amerikanischen Brüder ist sicher, dass sie, Ende der Fünfziger der eine und Anfang der Sechziger der andere, in die USA auswanderten und somit jene für mich, meine jüngeren Geschwister und viele meiner Generation politisch so überaus prägende Zeit der Sechzigerjahre in der Bundesrepublik verpassten. Bei meinem jüngeren Bruder liegt der Fall anders. Er heiratete früh, blieb in der norddeutschen Provinz, verstrickt in all jene kraftraubenden und den Blick verengenden kleinen Aufstiegskämpfe, die ihn schließlich zu einem leidlichen Einkommen, einem Mittelklassewagen und einem hypothekenbelasteten Eigenheim verhalfen. Erst nachdem ihm das Leben schon erheblich zugesetzt hatte, engagierte er sich, vielfältig begabt und verletzlich wie er war, gelegentlich auch politisch. Nur meine Schwester, die die unruhige 68er-Zeit als Studentin erlebte und später Lehrerin wurde, ist politisch einen ähnlichen Weg gegangen wie ich.

Ich habe es immer als ein großes Privileg angesehen, dass ich studieren konnte, obwohl ich aus kleinsten Verhältnissen kam und als Ausländer keine Chance auf Studienförderung nach dem »Honnefer Modell« hatte. Natürlich könnte ich, wie es heute unter den selbsternannten »Leistungsträgern« üblich geworden ist, hierin ganz und gar nur mein Verdienst sehen. Schließlich habe ich vom ersten bis zum letzten Tag mein Studium am Auslands- und Dolmetscherinstitut der Universität Mainz in Germersheim selbst finanziert: durch Akkordeonspielen in Cafés und Bars, durch Knochenarbeit auf dem Bau und später durch Mitarbeit an einem deutsch-englischen Lexikon. Und das spätere Philosophiestudium finanzierte ich mit dem Geld, das ich mir als Übersetzer bei den Ford-Werken in Köln zusammengespart hatte. Aber den Mut dazu und das Vertrauen in die eigene Kraft verdanke ich den frühen Erfahrungen in meiner Familie, vor allem der Tatsache, dass meine Mutter mir die Überzeugung einpflanzte, ich könne alles schaffen, wenn ich es nur wolle – was natürlich maßlos übertrieben war, wie sich denn auch bald herausstellen sollte. Doch als meine Mutter, die zunächst ganz anderes mit mir vorhatte, schließlich in meine Studienpläne einwilligte und mir das Geld für die Zugreise in die ferne Vorderpfalz in die Hand drückte, sagte sie zu mir: »Du schaffst das schon.« Und entsprechend optimistisch machte ich mich auf den Weg, in der Rechten einen großen Koffer, in der Linken das Akkordeon.

Was ist wichtig im Leben? Geld war immer knapp in unserer Familie, auch als rund um uns herum die Anzeichen für ein Wirtschaftswunder unübersehbar wurden. Oft genug reichte es nicht, um das Nötigste zum Leben anzuschaffen. Entsprechend erfinderisch mussten wir sein, um dennoch irgendwie über die Runden zu kommen. Sicher wäre vieles leichter gewesen für meine Eltern, für meine Mutter zumal, aber auch für uns Kinder, wenn mein Vater in seinen kleinen Geschäften erfolgreicher, wenn die materielle Lage der Familie etwas großzügiger gewesen wäre. Dennoch: Geld war nicht wichtig. Es war notwendig, und wir mussten uns immer wieder etwas einfallen lassen, um genügend davon zu verdienen, aber wirklich wichtig war es nicht. Außer für meinen ältesten Bruder, der sich nach seiner Auswanderung in die USA eine Zeit lang amerikanischer gab als die Amerikaner. Ich selbst bin in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass Geld, Besitz, auch Macht nichts über den Wert eines Menschen aussagen, dass es auf ganz andere Dinge ankommt im Leben: auf Anstand, Mut, Zivilcourage, geistige Offenheit und Selbstständigkeit, auf Kreativität, Esprit und Lebensfreude.

Darum habe ich auch immer Distanz gehalten zu dem linken Ökonomismus der Vulgärmarxisten, die allein materielle Interessen als Triebkräfte der Geschichte anerkannten und denen das Geistige als bloßer Überbau galt; und aus dem gleichen Grunde ist es mir zutiefst zuwider, wenn der Kapitalismus, wie das heute unter dem Einfluss des Neoliberalismus geschehen ist, zur Weltanschauung und zum Modell der praktischen Lebensführung wird, wenn die ökonomische Logik zunehmend alle Lebensbereiche durchdringt und es am Ende für immer mehr Menschen womöglich keine höheren Werte gibt als diejenigen, die an der Börse gehandelt werden. Gelänge es den Propagandisten des Neoliberalismus tatsächlich, die Welt durch und durch nach ihren Vorstellungen zu formen, so wäre das für mich nichts als Barbarei.

Dabei ist mir die Geschäftswelt nicht fremd. Mein Vater war viele Jahre lang Klein- oder Kleinstunternehmer, und nach Lage der Dinge waren alle Familienmitglieder, ob sie es wollten oder nicht, in seine Unternehmungen verwickelt. Nachdem wir nach Deutschland umgezogen waren, trieb mein Vater, von einer kurzen Zeit als Dolmetscher bei der englischen Besatzungsmacht abgesehen, immer mit irgendetwas Handel. Zunächst mit Kurzwaren, später mit Süßwaren, und schließlich mit Bausparverträgen und Versicherungspolicen. Immer wieder entdeckte er phantastische neue Möglichkeiten, die Familie aus der finanziellen Dauerkrise herauszuführen, sogenannte »Goldgruben«, die sich regelmäßig als Fallgruben entpuppten. Ich erinnere mich, dass er eines Nachmittags heimkam, als wieder einmal eines dieser großartigen Geschäfte geplatzt war, kein Wort sagte, seine Geige nahm und stundenlang so ergreifend spielte, dass selbst meine Mutter, die sonst mit Kritik und Vorwürfen nicht sparte, nichts zu sagen wagte.

Mein Vater war als Geschäftsmann ein Versager, teils weil er, arglos und vertrauensselig wie er war, Betrügern und Scharlatanen auf den Leim ging, teils weil sich bei ihm Phasen der Euphorie und der abgrundtiefen Melancholie ablösten, was eine zielstrebige Verfolgung seiner zahlreichen Projekte sicher erschwerte. Er litt unter seiner Erfolglosigkeit nicht minder als unsere Mutter; seine Magengeschwüre und die ihm vom Arzt wiederholt verordneten Rollkuren zeugten davon. Aber er strahlte eine elegische Würde aus, die die Menschen, mit denen er in Berührung kam, beeindruckte. Mag sein, dass er manchen als ein Don Quichote des Geschäftslebens erschien, aber die meisten achteten ihn, der eine oder andere bewunderte ihn wohl gar als eine Gestalt, die es aus einer fernen romantischen Zeit in unsere Gegenwart verschlagen hatte.

Gibt es so etwas wie einen romantischen Rationalismus, einen elegisch getönten Fortschrittsglauben, einen Utopismus, der seinen eigenen Verheißungen misstraut? Bei meinem Vater gab es das, und je älter ich werde, umso klarer wird mir, dass ich viel von dieser merkwürdigen Ambivalenz geerbt habe. Mein Vater konnte mit Begeisterung ein Projekt entwickeln und mitten im Pläneschmieden plötzlich innehalten, seufzen und in seinem österreichisch gefärbten Deutsch sagen: »Schwamm drüber, ’s wird eh nichts draus!«, um gleich darauf mit der Entfaltung seiner kühnen Idee fortzufahren. Viele Jahre später, wenn in einer der politischen Auseinandersetzungen, in die ich verwickelt war, die Fronten allzu klar, die sich gegenüberstehenden Gewissheiten allzu ehern erschienen, erinnerte ich mich daran. Es half mir, mich zumindest für einen Augenblick aus der Logik des Konflikts zu lösen, und es schärfte mir den Blick für den dunklen Rest, der bei aller zur Schau gestellten Gewissheit unseren Projekten anhaftet.

Wahrscheinlich sind es überhaupt eher die Ambivalenzen, die unvereinbar erscheinenden Charakterzüge, die unaufgelösten Spannungen in uns selbst, die unsere Persönlichkeitsentwicklung bestimmen. Das Erinnerungsgepäck, das wir mit auf die Lebensreise nehmen, ist einerseits beschwerlich, andererseits enthält es die Lebensmittel, ohne die wir nicht existieren könnten. Ja, die Sechzigerjahre, nicht erst die aufgeregten späten Sechziger, sondern schon die Jahre der Ostermärsche, der Spiegel-Affäre, der Auschwitzprozesse und des Hochhuth’schen Stellvertreters, haben mich nachhaltig politisiert. Aber selbst in den Siebzigerjahren, als ich wie viele andere vorübergehend dazu neigte, mich für die Lösung aller Weltprobleme für zuständig zu halten, habe ich immer mal wieder das Bedürfnis gehabt und die Zeit gefunden, mich aus dem aktivistischen Betrieb zurückzuziehen und meinen kontemplativen Neigungen nachzugeben. Manche werden sagen, dass mir die Zielstrebigkeit, die Härte und die Ausdauer fehlten, mich mit Haut und Haaren der Politik zu widmen. In der Tat habe ich mich allen Versuchen, mich zum Bundestagsabgeordneten zu machen, nach kurzem Zögern entzogen. Vielleicht war es Angst vor der eigenen Courage, vielleicht Verantwortungsscheu. Ganz ausschließen kann ich nicht, dass auch dies dabei eine Rolle gespielt hat. Insgeheim habe ich mir allerdings eine schmeichelhaftere Erklärung zurechtgelegt: Ich glaube, mich hat ein wohlmeinender Instinkt davor bewahrt, mich auf etwas einzulassen, was mich nicht wirklich ausgefüllt und mich am Ende unglücklich gemacht hätte.

Bis heute versuche ich, die verschiedenen, zum Teil gegensätzlichen Seiten meiner Persönlichkeit irgendwie unter einen Hut zu bringen – mit wechselndem Erfolg. Ich rede und schreibe über Politik, manchmal über Detailfragen der sozialen Sicherung oder des ökologischen Umbaus der Gesellschaft, manchmal über die großen Linien der Gesellschaftspolitik und über Grundfragen der Demokratie oder über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft. Neben politischen Sachbüchern verfasse ich Gedichte, Romane, Hörspiele und Theaterstücke, ich mische mich in politische Kontroversen ein, kümmere mich im P.E.N.-Club um verfolgte Schriftsteller, bin immer noch in der Grundwerte-Kommission der SPD und ziehe mich doch allzu gern aus dem Getümmel in meine Nische zurück. Dass eine solche Widersprüchlichkeit oder, freundlicher ausgedrückt, Vielseitigkeit manchen überfordert, wurde mir schlagend demonstriert, als vor Jahren ein Feuilletonredakteur, der einen meiner Romane rezensiert hatte, mich fragte, ob ich mit dem Strasser verwandt sei, der diese politischen Bücher schreibe.

Bin ich ein 68er? Im Gegensatz zu manchem früheren Mitstreiter aus den Jahren der Studentenrebellion habe ich eine solche Etikettierung nie als peinlich oder ehrenrührig empfunden. Wenn ich an diese Jahre zurückdenke, fällt mir wenig ein, was ich zu bereuen oder als groben Irrtum einzuräumen hätte. Auch heute noch glaube ich, dass der antiautoritäre Grundimpuls, der die Jungen damals leitete, Deutschland gutgetan hat, dass die Bewegung, auch wenn viele ihrer Aktivisten Größeres im Sinn hatten, wesentlichen Anteil daran hat, dass die Bundesrepublik im Laufe der Zeit zu einer mehr oder weniger normalen westlichen Demokratie geworden ist. Dennoch bin ich nicht das, was für die meisten heute ein typischer 68er ist, war es nie. Ich habe nie die revolutionäre Emphase geteilt, die manche damals beseelte. Ich habe nie daran geglaubt, dass die Lösung aller Welträtsel in den blauen Bänden der Marx-Engels-Ausgabe zu finden sei oder bei Frantz Fanon oder bei Wilhelm Reich oder in der Mao-Bibel. Ich war von Anfang an äußerst skeptisch gegenüber der These, dass allein die Zuspitzung der gesellschaftlichen Widersprüche Fortschritt erzeuge, und war immer der Ansicht, dass unter demokratischen Bedingungen nur der mühsame Weg der argumentativen Überzeugung legitim, gewaltsame Aktionen unter den Bedingungen der Demokratie und garantierter Rede- und Versammlungsfreiheit dagegen illegitim seien.

Links sein war für mich von Anfang an vor allem ein an humanistischen Idealen orientiertes Projekt, und auch heute noch heißt links sein für mich vor allem eins: die unveräußerliche Würde des Menschen zum Maßstab des politischen Handelns zu nehmen. Dabei geht es um den ganzen Menschen, nicht um einen auf seine materiellen Bedürfnisse oder standardisierte Durchschnittswerte reduzierten Menschen. Adornos Wort, dass die bessere Gesellschaft zu denken sei als eine, in der die Menschen »ohne Angst verschieden« sein könnten, erschien mir schon immer einleuchtend. Im Stillen habe ich für mich allerdings hinzugefügt, dass dies auch das Recht umfassen sollte, selbst nicht immer konsequent sein zu müssen, sogar in sich selbst widersprüchlich sein zu dürfen.

Ich will im Folgenden versuchen, am Leitfaden meiner Biographie und an einigen Grundfragen der politischen, philosophischen und religiösen Lebensorientierung deutlich zu machen, wie ich zu meinen Auffassungen gekommen bin. Dabei wird, für die meisten Leser sicher nicht überraschend, das Politische im Zentrum stehen, denn die Absicht dieses Buches ist durchaus eine werbende: Ich möchte anschaulich werden lassen, dass politisches Engagement nicht, wie heute vielfach angenommen wird, Zeitvergeudung oder gar Lebensverfehlung ist, sondern zu einem vollständigen und erfüllten Leben gehört. Wir haben nur die Wahl, entweder Objekt des politischen Geschehens zu sein, das heißt, es grollend oder gottergeben über uns ergehen zu lassen, oder Subjekt der Politik zu werden und in die politischen Prozesse, so gut es eben geht, einzugreifen. Meine Lebenserfahrung hat mich gelehrt, was Hannah Arendt immer wieder betont hat, dass es so etwas wie das »Glück des Politischen« gibt, dass es allemal lustvoller – und wohl auch gesünder – ist, sich politisch einzumischen, als sich beleidigt und grantelnd in eine Nische zurückzuziehen. Und wer sich auf der Welt umschaut, wer sich die gewaltigen Probleme vergegenwärtigt, vor denen wir stehen, der kann meiner Ansicht nach ohnehin nur zu dem Schluss kommen, dass wir uns aus Verantwortung für uns selbst und für die Zukunft unserer Kinder und Enkel nicht auf die Rolle des gleichgültigen oder missmutigen Zuschauers beschränken dürfen, sondern uns einmischen müssen.

2Den Mund aufmachen

Die jiddische Mamme ist sprichwörtlich: Superweib und Urmutter in einem, umhegt sie ihre Kinder, ihre Söhne zumal, mit einem Übermaß an Liebe und Fürsorglichkeit, erwartet aber von ihnen im Gegenzug lebenslange ausschließliche Hingabe. Aus Woody Allens Filmen ist uns die zugleich liebenswerte und strapaziöse Figur vertraut. Meine Mutter war so etwas wie die friesisch-protestantische Version der jiddischen Mamme: von spröder Strenge, aber kompromisslos in der Verteidigung ihrer Brut. Nicht dass wir als Kinder mit besonderer Umsicht und Sorgfalt erzogen worden wären – das ließen die streckenweise chaotischen Umstände, unter denen wir damals lebten, gar nicht zu. Aber unsere Mutter trieb uns mit ihren maßlosen Erwartungen ständig an, und wenn uns jemand auch nur ein Haar krümmen wollte, dann wurde sie zur Furie.

Das musste auch mein Klassenlehrer in der Mittelschule, ein ehemaliger Nazi, erfahren, als er sich weigerte, mir die nötige Empfehlung für den Übertritt ins Gymnasium auszustellen. Meine Mutter nahm mich an die Hand, stellte ihn im Flur der Schule, hielt ihm das Formular unter die Nase und fragte: Warum unterschreiben Sie das nicht? Ist mein Sohn etwa nicht gut genug fürs Gymnasium? Der Mann zog die Augenbrauen hoch und streifte mich mit einem leicht angewiderten Blick. Der Notendurchschnitt, antwortete er, reiche in meinem Fall zwar aus, aber es gebe darüber hinaus gewisse moralische Voraussetzungen für den Besuch eines deutschen Gymnasiums, und die … Weiter kam er nicht. Noch heute sehe ich das verdutzte Gesicht des Mannes vor mir und die roten Streifen, welche die Hand meiner Mutter auf seiner linken Wange hinterlassen hatte. Und dann geschah etwas, womit wohl nicht einmal meine Mutter gerechnet hatte. Er nahm das Formular, legte es auf die Fensterbank, zog seinen Füller und unterschrieb, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Merk dir das, sagte meine Mutter zu mir, als wir wieder draußen waren. Von so einem darf man sich nichts gefallen lassen. Ich merkte es mir, obwohl ich zugeben muss, dass mir der martialische Auftritt meiner Mutter damals vor allem peinlich war. Noch peinlicher war allerdings, was einige Wochen später folgte.

Ich schnitt bei der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium von achtzig Bewerbern am besten ab, was in einer Rangliste sorgfältig vermerkt wurde. Meine Mutter ließ es sich nicht nehmen, mit einer Abschrift dieser Liste in die Mittelschule zu gehen und sie meinem ehemaligen Klassenlehrer triumphierend zu präsentieren. Als sie am Abend der versammelten Familie stolz davon berichtete, wäre ich, der ich damals eher schüchtern war, vor Scham am liebsten im Boden versunken.

Nie wieder habe ich einen Menschen kennengelernt, der so furchtlos war wie meine Mutter. Sie hatte vor niemandem Angst, ließ sich, wenn sie sich im Recht wähnte, durch keinen Hinweis auf Paragraphen und Vorschriften einschüchtern, und erwartete von uns Kindern, dass wir es ihr gleichtaten. Nur manchmal, wenn nachts ein Unwetter tobte, der Wind ums Haus heulte und der Regen gegen die Fenster klatschte, saß sie in Mantel und Nachthemd auf einem Stuhl, ihre schwarze Kunstledermappe mit den Papieren auf dem Schoß. Wenn dann eines der Kinder vom Lichtschein aufwachte und sie fragte, was los sei, antwortete sie immer mit dem gleichen Satz: Het is noodweer! Es ist Notwetter. »Noodweer« – das war das Schlüsselwort; es beschwor das Drama einer Springflut herauf, die sie als Kind bei Verwandten auf der Insel Overflakkee im Süden der Niederlande erlebt hatte. Nun saß sie hier, hundert Kilometer von der nächsten Küste entfernt und achtzig Meter über dem Meeresspiegel auf dem Geestrücken zwischen Hamburg und Bremen, und hielt Wache, um ihre Kinder, falls das Wasser kommen sollte, jederzeit in Sicherheit bringen zu können.

Von einer starken Mutter gilt, was einer meiner späteren Leichtathletiktrainer, ein richtiger Leuteschinder, von seinem winterlichen Kraft- und Ausdauertraining sagte: »Wer’s überlebt, den macht es stärker.« Die fordernde Strenge meiner Mutter war für uns Kinder ein permanenter Stress, aber sie war wohl auch notwendig, zumindest für mich, der ich manchmal zu gefährlichem Unsinn neigte; und sie bildete das Gegengift gegen die zugleich betörende und verstörende melancholische Fantasterei unseres Vaters. Ein Grundsatz meiner Mutter lautete: rechtzeitig den Mund aufmachen, statt hinterher zu jammern! Was ihr vermutlich nicht klar war: Sie verlangte von uns Kindern ein Maß an Zivilcourage, das wohl auch die meisten Erwachsenen überfordert hätte.

Dabei neigt man als Heranwachsender natürlicherweise zum Konformismus, jedenfalls in der eigenen Gruppe und in Gegenwart derjenigen, deren Achtung man gewinnen möchte. Man ist als junger Mensch viel zu sehr darauf angewiesen, Verhaltenssicherheit zu gewinnen, indem man sich seiner Umgebung anpasst, als dass man dauernd jene »Tapferkeit vor dem Freund« beweisen könnte, die meine Mutter ganz selbstverständlich von uns erwartete. Ich erinnere mich, dass es mir Gewissensbisse bereitete, wenn ich, um von den Klassenkameraden akzeptiert zu werden, etwas mitgemacht hatte, was ich eigentlich – zumindest in den Augen meiner strengen Mutter – nicht hätte mitmachen sollen. Und wenn ich tatsächlich rechtzeitig den Mund aufgemacht und widersprochen hatte, litt ich unter der Angst, nun für immer aus dem inneren Kreis verstoßen zu werden. Immerhin waren wir Ausländer, dem Pass nach Österreicher, aus Holland zugezogen, was für manchen damals Grund genug war, uns mit besonderem Misstrauen zu begegnen.

Die Mutter um 1930 in Frankreich

Erst sehr viel später begriff ich, wie wichtig die Lektion war, die meine Mutter mir erteilt hatte. Da hatte ich allerdings auch schon erfahren, dass man keineswegs alles mitmachen musste, um akzeptiert zu werden, und dass man durchaus überleben konnte, wenn man wegen seiner Haltung oder seiner Meinung eine Weile ziemlich allein dastand. In solchen Momenten fand ich Trost und Unterstützung in Büchern, die ich damals las, vorzugsweise solchen, in denen einsame Helden sich einer Welt von Feinden entgegenstellten und am Ende mitsamt ihrer guten Sache siegten. Als wir auf dem Gymnasium Schillers Don Carlos lasen, trieb mir, der ich ansonsten nicht leicht zu rühren war, die Kühnheit, mit der der Marquis von Posa von seinem König Gedankenfreiheit fordert, die Tränen in die Augen. Dasselbe passierte mir übrigens auch noch Jahrzehnte später, als ich im Fernsehen die Bilder des einsamen Studenten sah, der sich einem der Panzer in den Weg stellte, mit denen die kommunistische Führung Chinas die Demokratiebewegung auf dem Tian’anmenplatz niederwalzte. Zeitlebens habe ich davon geträumt, selbst einmal diesen Mut vor Königsthronen zu beweisen, aber zum Glück wurden mir solche Heldentaten bisher nicht abverlangt.

Der aufrechte Gang – als in den Sechzigerjahren die Kritik an der selbstgefälligen Wirtschaftswunderwelt der Bundesrepublik heftiger wurde, war es diese von Ernst Bloch gern benutzte Metapher, die auch mir sinnfällig machte, was demokratisches Engagement zu bedeuten hatte. Aufrecht gehen, das erschien mir und vielen meiner Generation als plausible Chiffre für eine radikal demokratischen Ansprüchen genügende Lebensführung in einer Gesellschaft, die in ihrer großen Mehrheit die Nazi-Verbrechen verdrängte und sich duckmäuserisch und großsprecherisch zugleich im neuen Wohlstand eingerichtet hatte. Schon 1960 hatte ich an einer Dokumentation über die vielen ehemaligen Nazis auf deutschen Richterstühlen mitgearbeitet, einer eher schlampig recherchierten Arbeit, deren teilweise hochfahrend-denunziatorischer Ton mir heute peinlich ist. Nachdem ich ein Jahr später mein Übersetzerexamen abgelegt hatte, arbeitete ich einige Zeit als Übersetzer in der Entwicklungsabteilung der Ford-Werke in Köln, wo der von Hitler begeisterte Henry Ford viele Jahre lang Lastwagen für die Nazi-Armeen hatte bauen lassen. Ich wohnte mit zwei anderen Übersetzern im Stadtteil Niehl in einer Wohngemeinschaft, die damals noch nicht so hieß. Wir lasen Jean-Paul Sartres Roman Der Ekel und Karl Jaspers’ provozierendes Buch Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, kleideten uns vorzugsweise in existenzialistischem Schwarz und diskutierten bis in die Nacht über die verdrängte deutsche Vergangenheit und die halbherzige Demokratisierung nach 1945.

John F. Kennedy, der junge amerikanische Präsident, war damals unsere große Hoffnung. Später war es Martin Luther King. Vor allem mit ihm verband sich meine Vorstellung von dem, was es hieß, aufrecht zu gehen. Aber sein Beispiel zeigte mir auch, wie schwer das sein konnte und wie gefährlich. Umso wichtiger erschien es mir, dass wir uns unter ungleich günstigeren Bedingungen als Kritiker der deutschen Zustände und auf Veränderung drängende Demokraten bewährten. Für uns ging es in diesen frühen Sechzigerjahren ja nicht um Leben und Tod, sondern allein darum, heute weithin selbstverständliche demokratische Verhaltensweisen gegen den strukturellen Konvervatismus der Institutionen einzuüben und durchzusetzen.

Jahre später, als Benno Ohnesorg erschossen worden war und Rudi Dutschke ein Attentat nur knapp überlebt hatte, glaubten viele, dass nun auch in Europa amerikanische Zustände einziehen würden. Manche redeten sich und anderen sogar ein, in der Bundesrepublik herrsche ein formaldemokratisch getarnter Faschismus. Ich war damals gerade im linken Bezirk Hessen-Süd in die SPD eingetreten und zu den Jungsozialisten gestoßen. Die Gewalt gegen die Linke schockierte und empörte auch mich. Aber bei den Jungsozialisten hielten wir daran fest, dass unter den Bedingungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, auch wenn sie noch so halbherzig praktiziert wurden, Gewalt nicht mit Gewalt beantwortet werden dürfe, dass aufrechter Gang jetzt erst recht bedeuten müsse, den Mund aufzumachen und öffentlich einzuklagen, was das Grundgesetz als Versprechen enthielt.

Diese Position war nicht immer leicht durchzuhalten, denn unter konservativen Politikern war es damals üblich, sich zur Rechtfertigung autoritärer Maßnahmen gegen die aufmüpfige Jugend – ab 1972 besonders penetrant in der beschämenden Praxis der Anhörungen zur Zulassung zum Öffentlichen Dienst – auf die »freiheitlich demokratische Grundordnung«, kurz: FDGO, zu berufen, was im Gegenzug bei Teilen der Linken die Auffassung nährte, das Grundgesetz sei nichts anderes als ein Instrument bürgerlicher Klassenherrschaft und die bürgerliche Demokratie letzten Endes nur ein besonders subtiles Unterdrückungssystem. Die missbräuchliche Verwendung demokratischer Begriffe auf der einen Seite förderte die Verachtung der – angeblich – »bloß formalen« Demokratie auf der anderen.

Es gibt Situationen, da sitzt man zwischen allen Stühlen und muss es aushalten, dass man von den einen als Kompromissler und Feigling, von den anderen als Umstürzler und Verfassungsfeind beschimpft wird. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung in der Frankfurter Universität, bei der es um die damals viel diskutierte »Gewaltfrage« ging. Als ich mich auf Martin Luther King und die amerikanische Tradition des bürgerlichen Ungehorsams berief und das Prinzip der Gewaltlosigkeit beschwor, sah ich mich einer hohnlachenden Menge gegenüber, darunter, wenn ich mich nicht irre, auch der junge Joschka Fischer. Meine Frage, ob den Befürwortern von Gewalt klar sei, dass ein Stein, der gegen das »System« geschleudert werde, womöglich einen Menschen treffen und verletzen könne, wurde von einem Debattenredner als »kleinbürgerliche Bigotterie« abgetan, und ein Zwischenrufer, der mir riet, doch zur Heilsarmee zu gehen, erhielt tosenden Beifall.

Es war aussichtslos. Die lange Tradition des zivilen Widerstands in den USA von Henry David Thoreau bis Martin Luther King, erst recht die neueren Überlegungen zu zivilem Ungehorsam und gewaltfreiem Aufstand von Ronald Dworkin und Theodor Ebert, waren hier ebenso wenig rezipiert worden wie der gewaltlose Freiheitskampf der Inder unter Mahatma Gandhi. Alles, was die Mehrheit der Versammelten in einem Plädoyer für Gewaltlosigkeit zu erkennen vermochte, war mangelnde Konsequenz, Feigheit und – ein Begriff aus dem Sprachschatz der Stalinisten, der damals an den dogmatischen Rändern der Bewegung aufkam – Defaitismus. Was noch schlimmer war: Von meinen eigenen Leuten, den Jungsozialisten, wagte in diesem Klima organisierter Intoleranz so gut wie niemand, den Mund aufzumachen. Nur ein älterer Sozialdemokrat, der sich wer weiß wie in diese Versammlung verirrt hatte, sprang mir bei, aber, da er unübersehbar weit jenseits der Dreißig war, wurde er von den Versammelten nicht ernst genommen.

Als hätte ein begabter Ironiker Regie geführt, erschien wenige Tage später im Bayernkurier, dem Parteiblatt der CSU, ein Artikel, in dem ich als ein aus Südamerika eingeschleuster Guerillero porträtiert wurde – eine phantastische Geschichte, die ihre Überzeugungskraft vor allem daraus bezog, dass der Autor meinen Esperanto-Vornamen für einen spanischen hielt oder ausgab. Viele Jahre später war dieser Artikel übrigens einer der Gründe dafür, dass mir vorübergehend ein Visum zur Einreise in die USA verweigert wurde. Amerikanische Geheimdienstler gehörten offenbar zu den wenigen, die diese schlicht erfundene Geschichte für bare Münze nahmen, und John Kornblum, damals oberster Vertreter der Amerikaner im noch geteilten Berlin, später US-Botschafter im vereinigten Deutschland, mit dem ich darüber sprach, hatte einige Mühe, den Unsinn in den Computern der amerikanischen Behörden löschen zu lassen.

Den Mund aufmachen, öffentlich zu seiner Überzeugung stehen, auch wenn rundherum alle oder doch die meisten anderer Meinung waren, das konnte einem Hass und Feindschaft eintragen in einer Gesellschaft, die Kritik oft noch als Majestätsbeleidigung oder Verrat behandelte, die abweichende Meinungen vor allem als Bedrohung empfand und dazu neigte, in jedem Demonstranten einen Agenten fremder – kommunistischer – Mächte zu wittern. Die große Mehrheit der Deutschen glaubte damals wohl allen Ernstes, es müsse ins allgemeine Chaos führen, wenn man es der Jugend durchgehen ließe, die Autoritäten in Staat und Gesellschaft infrage zu stellen. Dass die Stärke der Demokratie genau darin besteht, jede Autorität immer wieder der kritischen Überprüfung zu unterziehen, sodass sie sich rechtfertigen muss, begriffen nur wenige.

Aber auch als überzeugte Antiautoritäre, die wir damals waren, brauchten wir Vorbilder, die uns halfen, einigermaßen Kurs zu halten. Die kategorische Forderung meiner Mutter, den Mund aufzumachen, wenn einem etwas nicht passte, ließ sich zweifellos leichter erfüllen, wenn man sich an einer Autorität wie Martin Luther King orientierte und seinem Beispiel nacheiferte. Überhaupt scheint mir, dass Grundsätze am ehesten dann verlässlich internalisiert werden, wenn sie, in eine ästhetische Form gekleidet, zum Habitus werden. Ich bin sicher, dass ohne solche Vorbilder und die von ihnen übernommenen ästhetischen Muster, ohne zur Nachahmung anregende Gesten und Posen, ohne die Rituale der Teach-ins, Sit-ins, Go-ins, ohne die Theatralik der großen Demonstrationen die Haltung der Kritik und der Widerspruchsgeist sich damals nicht so schnell hätten ausbreiten können.

Freilich lag hierin auch eine Gefahr: die Gefahr nämlich, dass zur bloßen Pose, zum leeren Ritual, zum gedankenlosen Aktivismus verkam, was ursprünglich als kritischer Beitrag zum demokratischen Prozess gemeint war. Auch ich selbst war vor dieser Gefahr nicht gefeit. Wenn ich heute Flugblätter und politische Aufrufe lese, die ich damals verfasst oder unterschrieben habe, dann bin ich manchmal bestürzt über die klischeehafte Sprache, in der »Betroffenheit« – ein Wort, das damals Karriere machte – und Protest zum Ausdruck gebracht wurden. Wir, die wir alle Konventionen kritisch zu hinterfragen meinten, unterlagen ganz offenbar selbst nicht selten dem geistlosen Zwang konventioneller Sprach- und Aktionsmuster. Unter solchen Umständen kann es nicht verwundern, dass, als in den Siebzigern zunächst eine dogmatische Verhärtung und in den Achtzigern dann auf breiter Linie ein politischer Modenwechsel einsetzte, auch viele aus der Garde der Achtundsechziger die Fronten wechselten. Kritisches Bewusstsein, Linkssein, Engagement – das war offenbar für viele weniger existenziell, als es zunächst den Anschein hatte. Wenn ich mich heute frage, warum manche, die damals eine kritische, radikal demokratische Position einnahmen, später so leicht zu Mitläufern dogmatischer Parteien oder zu gänzlich unpolitischen Zeitgenossen wurden, und andere – übrigens auch nicht wenige – das damals eingeübte kritische Verhalten auch Jahrzehnte später noch an den Tag legten, dann glaube ich, dass die Gründe sehr tief in der jeweiligen Persönlichkeit liegen und viel mehr mit frühen Lebenserfahrungen zu tun haben, als die meisten wahrhaben wollen.

Was an den frühen Aufklärern des 17. und 18. Jahrhunderts zugleich besticht und befremdet, ist der fast religiöse Glaube an die Kraft des Wortes und das unumstößliche Vertrauen darauf, dass die Wahrheit progressiv ist. Es war dieser aufklärerische Glaube, den meine Eltern – meine Mutter wie immer energischer und unzweideutiger, vielleicht auch eine Spur naiver als mein Vater – auf uns Kinder übertrugen: Jeder historische Fortschritt, jede Besserung auch der eigenen Lage fängt damit an, dass man den Mund aufmacht und der Wahrheit zu ihrem Recht verhilft. Zu unseren Hausheiligen gehörten neben Ludwik Zamenhof, dem Schöpfer des Esperanto, und der Pazifistin Bertha von Suttner vor allem Spinoza, Voltaire, Rousseau und Lessing. Meine Mutter fügte dieser Liste immer noch den Namen Descartes’ hinzu, weil dieser eine Zeit lang, als er im absolutistischen Frankreich Probleme mit der Obrigkeit bekam, im friesischen Universitätsstädtchen Franeker untergekommen war, wo er übrigens auch, vielleicht aus Verzweiflung darüber, dass er die Einheimischen so gar nicht verstand, an einer Universalsprache bastelte. Wahrscheinlich hatten meine Eltern alle diese Geistesgrößen gar nicht oder wenn, dann nur in Auszügen und oberflächlich gelesen. Jedenfalls erinnere ich mich nicht, damals Bücher der Genannten bei uns gesehen zu haben. Sie waren, mit Ausnahme Zamenhofs natürlich, ganz offensichtlich weniger wegen ihrer Schriften als wegen ihres beispielhaften Lebens interessant. Wenn wir Kinder uns stritten, wenn wir in der Schule mit Schulkameraden oder Lehrern Ärger hatten, wenn wir begriffsstutzig waren, unbescheiden, feige, faul, wenn wir etwas ausgefressen hatten und uns um die Verantwortung dafür herumdrückten, wurde uns das Beispiel dieser Lichtgestalten vorgehalten, die im Gegensatz zu uns Kindern offenbar keinerlei Mühe damit gehabt hatten, in jeder Situation das Richtige zu tun.

Ich erinnere mich, dass in meiner Klasse auf dem Gymnasium ein dicklicher Junge war, dessen Eltern den Zeugen Jehovas angehörten. Jonas hatte es in der Klasse schwer, weil seine Eltern ihn aus irgendeinem Grunde nie an den Klassenfahrten teilnehmen ließen und er im Sport eine Niete war. Wenn wir Geschichte oder Gemeinschaftskunde hatten und er sich zu Wort meldete, wurde er von Rektor Krause grundsätzlich nicht aufgerufen. Was die Zeugen Jehovas dazu meinen, interessiert uns hier nicht, pflegte er zu sagen. Als ich meiner Mutter davon erzählte, fragte sie: Und du? Was hast du gesagt? Ich hatte nichts gesagt, ich hatte den Kopf eingezogen und geschwiegen, weil rundherum alle meine Mitschüler gelacht hatten, wie sie auch immer lachten, wenn Jonas in der Turnstunde wie ein nasser Sack am Reck hing. Ich hatte geschwiegen, weil ich Angst hatte, ebenso ausgegrenzt zu werden wie der Verlachte. Mir war klar: Das war feige gewesen, ich hätte den Mund aufmachen müssen.

Meine Mutter machte mir keine Vorwürfe. Diesmal nicht. Erst am nächsten Morgen, als ich mich auf den Weg zum Bahnhof machen wollte, um zur Schule zu fahren, sagte sie unvermittelt zu mir: Weißt du, was Voltaire einmal gesagt hat? Ich halte Ihre Meinung zwar für falsch, aber ich bin bereit, mein Leben dafür zu geben, dass Sie sie äußern dürfen. Die Botschaft war klar: Ich sollte nicht nur selbst den Mund aufmachen, sondern darüber hinaus auch noch dafür sorgen, dass allen anderen das gleiche Recht auf freie Meinungsäußerung zugestanden würde. Und wenn es ganz schlimm käme, daran ließ meine Mutter allerdings keinen Zweifel, dann würde sie mich schon raushauen. So oder so. Ich habe dann tatsächlich beim nächsten Mal all meinen Mut zusammengenommen und Rektor Krause vor der versammelten Klasse gesagt, dass ich es nicht richtig fände, wie er Jonas behandele. Das Ergebnis war, dass ich eine Eintragung im Klassenbuch wegen »ungebührlichen Benehmens« erhielt und Rektor Krause von nun an auch mich mit Nichtachtung strafte. Aber im Verhalten der Klassenkameraden änderte sich etwas. Jonas wurde nicht mehr dauernd gehänselt und ausgelacht, und als sich bald darauf im Sportunterricht herausstellte, dass er als Handballtorwart zu verwenden war, wurde er sogar in Maßen geachtet.

»Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar«, sagte Ingeborg Bachmann in der Dankrede bei der Entgegennahme des »Hörspielpreises der Kriegsblinden« am 17. März 1959 im Bundeshaus in Bonn. Ich glaube immer noch, dass Rechtstaatlichkeit und Demokratie, ein Klima der geistigen Offenheit und der Achtung vor anderen Menschen sich nur aufrechterhalten lassen, wenn sich die Menschen – oder zumindest eine hinreichend große Zahl politischer und gesellschaftlicher Akteure – von diesem aufklärerischen Glauben leiten lassen. Aber natürlich weiß auch ich, dass viele Politik- und Medienprofis, viele der dynamischen Erfolgsmenschen in der Wirtschaft eine solche Ansicht nur belächeln. In jedem Wahlkampf höre ich von eifrigen Genossen, dass jetzt nicht die Zeit sei, die eigene Partei zu kritisieren und interne Meinungsunterschiede offenzulegen, sondern dass es um des Wahlerfolgs willen darauf ankomme, Geschlossenheit zu demonstrieren, auch wenn man sich in diesem oder jenem Punkt in Wahrheit nicht einig sei. Diejenigen, die das sagen, haben stichhaltige Argumente parat: das verheerende Medienecho zum Beispiel, das regelmäßig zu erwarten ist, wenn in einer Partei zu einer wichtigen Frage der Politik unterschiedliche Ansichten geäußert werden, oder die fast einhellige mediale Anerkennung, die in unserer Öffentlichkeit einer Kanzlerin oder einem Kanzler, einer oder einem Parteivorsitzenden gezollt wird, die mit einem Basta! jede offene Diskussion in den eigenen Reihen unterbinden.

In einer Medienöffentlichkeit, die politische Akteure und Parteien vorwiegend an vordemokratischen Kriterien wie Machtbewusstsein und Geschlossenheit misst, die offenbar nichts mehr schätzt als Spitzenpolitiker, die ihre Partei, ihre Fraktion und ihr Kabinett wie Rekruten auf dem Kasernenhof behandeln, der die gelungene Inszenierung wichtiger ist als der Austausch von Argumenten, ist es nicht immer leicht, den Glauben aufrechtzuerhalten, dass die Wahrheit progressiv ist. Zum Glück habe ich auch andere, positive Erfahrungen gemacht. Immer wieder habe ich erlebt, dass es weit eher gelingt, nachdenkliche Menschen für die eigene Sache zu gewinnen, wenn man Kontroversen in den eigenen Reihen offen austrägt, wenn man nicht unerschütterliche Gewissheit vorspiegelt, wo in Wirklichkeit Zweifel bestehen, wenn man sich nicht mit der Aura unbezweifelbarer Objektivität umgibt, sondern die Verwurzelung der eigenen Ansichten in subjektiven Neigungen und Erfahrungen offenlegt.

Aber natürlich wird man mir entgegenhalten, das gelte vielleicht für die Nachdenklichen, für die große Mehrheit der Menschen gelte es aber nicht. Die Mehrheit – das ist die Meinung fast aller, die sich von Berufs wegen mit Politik befassen – will Autorität und Führungsstärke, orientiert sich an Personen, die vorgeben, für praktisch alle Probleme die einzig richtigen Lösungen parat zu haben, die den Bürgern das Denken abnehmen und den Eindruck erwecken, dass alles in Ordnung komme, wenn man die Politik nur ganz und gar ihnen überlasse. Ihnen oder »dem Markt«, von dem im neoliberalen Zeitgeist als ausgemacht gilt, dass er die menschlichen Verhältnisse allemal vernünftiger ordne als die Politik. Zumal in Zeiten der Globalisierung, in denen sich Demokratie, Mitsprache und Mitentscheidung der Bürger zunehmend als Standortnachteil erweise.

Diejenigen, die so denken und reden, gehören wahrscheinlich zu den statistisch belegten 64 Prozent, die sich für klüger halten als die Mehrheit im Lande. Es ist merkwürdig: Das, worauf wir so stolz sind, wenn es gilt, aus feierlichem Anlass die Vorzüge unserer demokratischen Verfassung herauszukehren, scheint im politischen Alltag hinderlich, und wenn nicht hinderlich, so doch kaum von Bedeutung zu sein. Berufspolitiker, PR-Fachleute, Medienprofis, Politologen und Soziologen, nahezu alle, die für sich in Anspruch nehmen, das politische Geschäft zu kennen und zu durchschauen, sind anscheinend der Meinung, dass das, was wir feiertags unserer Demokratie nachrühmen, für den Alltag der Politik weitgehend irrelevant oder gar störend ist.

Ich mag das immer noch nicht akzeptieren. Wenn man mich in dieser Weise belehrt, bringe ich dagegen meine eigenen Erfahrungen in Stellung, Erfahrungen nicht nur mit einer Handvoll Gebildeter, sondern auch mit sogenannten »einfachen« Leuten. Demokratie ist, darauf bestehe ich, mehr als nur eine schöne, aber leider nicht praktikable Idee. Bisher haben sich die Demokratien noch immer leistungsfähiger gezeigt als alle technokratischen und diktatorischen Systeme, und wenn heute überall auf der Welt, auch in Europa, sich wieder starke Männer (gelegentlich auch Frauen!) als Heilsbringer inszenieren, die zu kritisieren ein strafbares Vergehen ist, sollten wir unsere historische Erfahrung dagegensetzen. In Deutschland haben wir doch nach 1945 ganz von vorn, so richtig erst Ende der Sechzigerjahre, mit der Demokratie angefangen; dass das auf Anhieb nicht gleich zur allgemeinen Zufriedenheit klappte, wen kann das verwundern? Vor allem aber: Wer die Demokratie verwirklichen will, muss mit Rückschlägen rechnen, er darf nicht vor den tristen Tatsachen kapitulieren. Fortschritt, humaner, sozialer und politischer Fortschritt, konnte in der Geschichte der Menschheit immer nur erkämpft werden, wenn die gesellschaftlichen Akteure mehr Mündigkeit unterstellten, als zum betreffenden Zeitpunkt empirisch nachweisbar gewesen wäre. Wer zuerst das allgemeine Wahlrecht forderte, tat gut daran, nicht auf jene dünnlippigen Realisten zu hören, die ganz genau wussten, dass das nie und nimmer funktionieren könne, weil die große Mehrheit der Menschen gar nicht wisse, worum es in der Politik gehe. Und als die Arbeiterbewegung im Kaiserreich das Frauenwahlrecht auf die Tagesordnung setzte, war es ein Glück, dass sie nicht von empirischen Soziologen beraten wurde, die ihr leicht hätten nachweisen können, dass sich 86,9 Prozent der deutschen Frauen für Politik gar nicht interessierten.

Schlagende Argumente. Aber während ich sie vorbringe, steht plötzlich das Bild meines Vaters vor mir, wie er mitten in einer enthusiastischen Suada innehält, wie ein Schatten seine Stirn streift und ein verschämtes Lächeln seine Lippen kräuselt, wie seine Hand jene für ihn so typische Geste der Vergeblichkeit macht. Ich höre ihn seufzen: Schwamm drüber, ’s wird eh nichts draus. Ja, wir haben Grund anzunehmen, dass unsere kühnen Projekte jederzeit vom Scheitern bedroht sind. Wir können nicht sicher sein, dass sich das, was sich als Fortschritt ankündigt, auch tatsächlich als Fortschritt erweist. Es ist nicht ausgeschlossen, dass am Ende doch immer wieder die Zyniker recht behalten, die sich Realisten nennen. Und dennoch: Was würde aus der Welt, wenn wir unsere Träume vom Besseren aufgäben? Was würde aus uns Menschen, wenn wir nicht immer wieder contra factum unternehmen würden, was die Neunmalklugen für unmöglich erklären?

Den Mund aufmachen – das ist nicht nur eine Frage der Moral. Es ist auch eine Frage der Vitalität. Wer den Mund aufmacht, wer sich einmischt, der zeigt damit, dass er sich nicht zum passiven Objekt der Politik, nicht zum bloßen Zuhörer und Zuschauer, nicht zur Staffage degradieren lassen will. Er will eingreifen, aktiv teilnehmen an der Gestaltung seiner Welt, zusammen mit anderen und im Wettstreit mit ihnen. Und wenn er dabei auf Widerstand trifft, so reizt ihn das, seine Geschicklichkeit und seine Kraft zu erproben. Das, was Platon mit Thymos bezeichnete, den Drang des Menschen, in Wettbewerb mit anderen zu treten und sich auszuzeichnen, manifestiert sich am humansten und zivilsten im Spiel und im geistreichen Gespräch, im Austausch der Argumente und in der Freude am Debattieren.

Als Kind und als Jugendlicher bin auch ich gelegentlich in eine richtige Rauferei geraten, was bei mir selbst dann ein schales Gefühl hinterließ, wenn ich daraus als Sieger hervorgegangen war. Als Erwachsener habe ich mich ganz auf die zivilisierte Form der Rauferei verlegt: die Diskussion. Die Auseinandersetzung mit dem Mittel des Arguments wurde neben dem Sport meine thymotische Leidenschaft, und je turbulenter es dabei zuging, umso mehr fühlte ich mich in meinem Element. Hij houdt van dijning, pflegte mein holländischer Großvater von mir zu sagen, was so viel heißt wie: Er liebt die raue See. Und in der Tat, ich betrieb den Wortkampf nicht nur mit Begeisterung, sondern bald auch mit einer gewissen Raffinesse und fast immer mit unbändigem Siegeswillen, was einen Münchener Freund später dazu veranlasste, mich zugleich liebevoll und entlarvend als »Argumentationsgangster« zu bezeichnen. Auch wenn es in diesen Diskussionen um die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu gehen schien, so spielte es doch immer eine Rolle, sich nicht unterkriegen zu lassen, nach Möglichkeit als Sieger vom Platz zu gehen. Und je häufiger mir dies gelang, umso zuversichtlicher warf ich mich in die Auseinandersetzung und umso freudiger befolgte ich die Forderung meiner Mutter, den Mund aufzumachen.