Alte Kirche - Kurt Erlemann - E-Book

Alte Kirche E-Book

Kurt Erlemann

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Beschreibung

Das Lehr- und Arbeitsbuch behandelt zentrale Themen der Geschichte der Alten Kirche bis zum Ende des 5. Jahrhunderts und stellt sie in ihren historischen und weltanschaulichen Kontext. Insbesondere werden die Wechselwirkungen zwischen theologischen, politischen, sozialen und religionsgeschichtlichen Entwicklungen in den Blick genommen. Nach einer methodischen Grundlegung porträtieren einzelne Kapitel jeweils ein Jahrhundert der altkirchlichen Geschichte. Sie behandeln nacheinander die äußere Geschichte, religionsgeschichtliche Kontexte, Verflechtungen zwischen Kirche und Umwelt, innerkirchliche Entwicklungen, theologische Themen, das Schrifttum sowie Porträts prägender Figuren des jeweiligen Zeitabschnitts. Ein ausführlicher Serviceteil, inhaltliche Überblicke, Karten und Grafiken erleichtern die Lektüre und das Studium. utb+: Zusätzlich zum Buch steht den Leser:innen ein E-Learning-Tool mit Kontrollfragen zur Wiederholung und Vertiefung des Wissens zur Verfügung.

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Seitenzahl: 586

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Kurt Erlemann

Alte Kirche

Entwicklungen – Kontexte – Vermittlung

Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen

Umschlagabbildung: Kloster Qalʿat Simʿan / Nordsyrien (Kloster des Symeon Stylites). Foto: Kurt Erlemann

 

Prof. Dr. Kurt Erlemann ist Inhaber des Lehrstuhls für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche an der Bergischen Universität Wuppertal.

 

https://doi.org/10.36198/9783838561943

 

© Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 2023— ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung

 

utb-Nr. 6194

ISBN 978-3-8252-6194-8 (Print)

ISBN 978-3-8463-6194-8 (ePub)

Inhalt

VorwortKapitel 1: Einführung1.1 Erste Beobachtungen1.1.1 Die Fiktion objektiver Erkenntnis1.1.2 Die Fiktion neutraler Quellen1.1.3 Divergente Geschichtsbilder1.1.4 Zahlreiche Wechselwirkungen zwischen Kirche und Umwelt1.2 Epochenbezeichnungen1.2.1 „Alte Kirche“1.2.2 Weitere Epochenbegriffe1.2.3 Fazit1.3 Zur Quellenlage1.3.1 Historiographische Werke1.3.2 Theologische Hauptschriften1.3.3 Texte marginalisierter Gruppen1.3.4 Außerchristliche Quellen1.4 Erste Fragen und Antworten1.4.1 Hat Jesus die Kirche gegründet?1.4.2 Ist die Kirche die Folge eines Irrtums?1.4.3 Ab wann gibt es die „katholische Kirche“?1.5 Disposition und Lektürehinweise1.6 Begriffsklärungen1.6.1 Hellenismus1.6.2 Synkretismus1.6.3 Imperium Romanum1.6.4 Gemeinde1.6.5 Judenchristen, Heidenchristen1.6.6 ApokryphenKapitel 2: Das erste Jahrhundert2.1 Äußere Geschichte2.1.1 Die hellenistisch-römische Umwelt2.1.2 Judentum2.1.3 Christentum2.2 Religionsgeschichtlicher Kontext2.2.1 Römische Staatsreligion und Kaiserkult2.2.2 Philosophie2.2.3 Gnostizismus2.2.4 Judentum2.2.5 Hellenistische Volksfrömmigkeit2.2.6 Mysterienkulte2.3 Verflechtungen2.3.1 Verhältnis zum Staat2.3.2 Verhältnis zur Philosophie2.3.3 Verhältnis zum Gnostizismus2.3.4 Verhältnis zum Judentum2.4 Innerkirchliche Entwicklung2.4.1 Organisation2.4.2 Gemeindeleben2.4.3 Lebensformen jenseits der Ortsgemeinde2.4.4 Konkurrenzen und Spaltungen2.4.5 Bekenntnisbildung2.4.6 Genderaspekte2.5 Theologische Themen2.5.1 Christologie2.5.2 Trinitätstheologie2.5.3 Pneumatologie2.5.4 Eschatologie2.5.5 Ethik2.5.6 Soteriologie2.5.7 Sonstiges: Ekklesiologie2.6 Schrifttum2.6.1 Historiographische Werke2.6.2 Theologische Hauptschriften2.6.3 Texte marginalisierter Gruppen2.6.4 Außerchristliche Quellen2.7 Steckbriefe2.7.1 Simon Petrus2.7.2 Der Herrenbruder Jakobus2.7.3 Die Zebedaiden Jakobus und Johannes2.7.4 Thomas2.7.5 Paulus2.7.6 Der „Lieblingsjünger“2.7.7 Maria Magdalena2.8 Ergebnis: Impulse und ReaktionenKapitel 3: Das zweite Jahrhundert3.1 Äußere Geschichte3.1.1 Römisches Reich3.1.2 Judentum3.1.3 Christentum3.2 Religionsgeschichtlicher Kontext3.2.1 Römischer Staatskult3.2.2 Philosophie3.2.3 Gnostizismus3.3 Verflechtungen3.3.1 Verhältnis zum Staat3.3.2 Verhältnis zur Philosophie3.3.3 Verhältnis zum Gnostizismus3.3.4 Verhältnis zum Judentum3.4 Innerkirchliche Entwicklung3.4.1 Organisation3.4.2 Gemeindeleben3.4.3 Ortsunabhängige Lebensformen3.4.4 Konkurrenzen und Spaltungen3.4.5 Bekenntnis- und Kanonbildung3.4.6 Genderaspekte3.5 Theologische Themen3.5.1 Christologie3.5.2 Trinitätstheologie3.5.3 Pneumatologie3.5.4 Eschatologie3.5.5 Ethik3.5.6 Soteriologie3.5.7 Sonstiges3.6 Schrifttum3.6.1 Historiographische Werke3.6.2 Theologische Hauptschriften3.6.3 Texte marginalisierter Gruppen3.6.4 Außerchristliche Quellen3.7 Steckbriefe3.7.1 Ignatios von Antiochia3.7.2 Justin der Märtyrer3.7.3 Irenäos von Lyon3.7.4 Klemens von Alexandria3.7.5 Tertullian von Karthago3.8 Ergebnis: Impulse und ReaktionenKapitel 4: Das dritte Jahrhundert4.1 Äußere Geschichte4.1.1 Römisches Reich4.1.2 Judentum4.1.3 Christentum4.2 Religionsgeschichtlicher Kontext4.2.1 Römischer Staatskult4.2.2 Philosophie4.2.3 Gnostizismus4.3 Verflechtungen4.3.1 Verhältnis zum Staat4.3.2 Verhältnis zur Philosophie4.3.3 Verhältnis zum Gnostizismus4.3.4 Verhältnis zum Judentum4.4 Innerkirchliche Entwicklung4.4.1 Organisation4.4.2 Gemeindeleben4.4.3 Ortsunabhängige Lebensformen4.4.4 Konkurrenzen und Spaltungen4.4.5 Bekenntnis- und Kanonbildung4.4.6 Genderaspekte4.5 Theologische Themen4.5.1 Christologie4.5.2 Trinitätstheologie4.5.3 Pneumatologie4.5.4 Eschatologie4.5.5 Ethik4.5.6 Soteriologie4.5.7 Sonstiges4.6 Schrifttum4.6.1 Historiographische Werke4.6.2 Theologische Hauptschriften4.6.3 Texte marginalisierter Gruppen4.7 Steckbriefe4.7.1 Hippolyt von Rom4.7.2 Origenes4.7.3 Novatian4.7.4 Cyprian von Karthago4.8 Ergebnis: Impulse und ReaktionenKapitel 5: Das vierte Jahrhundert5.1 Äußere Entwicklung5.1.1 Römisches Reich5.1.2 Judentum5.1.3 Christentum5.2 Religionsgeschichtlicher Kontext5.2.1 Römischer Staatskult5.2.2 Philosophie5.2.3 Gnostizismus5.3 Verflechtungen5.3.1 Verhältnis zum Staat5.3.2 Verhältnis zur Philosophie5.3.3 Verhältnis zum Gnostizismus5.3.4 Verhältnis zum Judentum5.4 Innerkirchliche Entwicklung5.4.1 Organisation5.4.2 Gemeindeleben5.4.3 Ortsunabhängige Lebensformen5.4.4 Konkurrenzen und Spaltungen5.4.5 Bekenntnis- und Kanonbildung5.4.6 Genderaspekte5.5 Theologische Themen5.5.1 Christologie5.5.2 Trinitätstheologie5.5.3 Pneumatologie5.5.4 Eschatologie5.5.5 Ethik5.5.6 Soteriologie5.5.7 Sonstiges: Schriftauslegung5.6 Schrifttum5.6.1 Historiographische Werke5.6.2 Theologische Hauptschriften5.6.3 Texte marginalisierter Gruppen5.6.4 Außerchristliche Quellen5.7 Steckbriefe5.7.1 Euseb von Cäsarea5.7.2 Arios von Alexandria5.7.3 Athanasios von Alexandria5.7.4 Apollinaris von Laodikea5.7.5 Eustathios von Antiochia5.7.6 Die drei „großen Kappadokier“5.7.7 Markell von Ankyra5.7.8 Ambrosius von Mailand5.8 Ergebnis: Impulse und ReaktionenKapitel 6: Das fünfte Jahrhundert6.1 Äußere Entwicklung6.1.1 Römisches Reich6.1.2 Judentum6.1.3 Christentum6.2 Religionsgeschichtlicher Kontext6.2.1 Römischer Staatskult6.2.2 Philosophie6.2.3 Gnostizismus6.3 Verflechtungen6.3.1 Verhältnis zum Staat6.3.2 Verhältnis zur Philosophie6.3.3 Verhältnis zum Gnostizismus6.3.4 Verhältnis zum Judentum6.4 Innerkirchliche Entwicklung6.4.1 Organisation6.4.2 Gemeindeleben6.4.3 Ortsunabhängige Lebensformen6.4.4 Konkurrenzen und Spaltungen6.4.5 Bekenntnisbildung6.4.6 Genderaspekte6.5 Theologische Themen6.5.1 Christologie6.5.2 Trinitätstheologie6.5.3 Pneumatologie6.5.4 Eschatologie6.5.5 Ethik6.5.6 Soteriologie6.5.7 Sonstiges: Schriftauslegung6.6 Schrifttum6.6.1 Historiographische Werke6.6.2 Theologische Hauptschriften6.6.3 Texte marginalisierter Gruppen6.6.4 Außerchristliche Quellen6.7 Steckbriefe6.7.1 Johannes Chrysostomos6.7.2 Theodor von Mopsuestia6.7.3 Kyrill von Alexandria6.7.4 Eutyches6.7.5 Nestorios6.7.6 Flavian von Konstantinopel6.7.7 Leo I. d.Gr.6.7.8 Augustin von Hippo6.8 Ergebnis: Impulse und Reaktionen7 Bilanz und kritischer AusblickServiceteilS 1 AbkürzungenS 2 GlossarS 3 Synoden, Konzilien und DekreteS 4 Schlagwörter (in Auswahl)S 5 Textstellen (in Auswahl)S 6 NamensregisterS 7 Literaturangaben2. SekundärliteraturS 8 Karten, Grafiken und Stammbäume

Vorwort

Die ersten fünf Jahrhunderte Christentumsgeschichte waren für die weitere Entwicklung der Kirche entscheidend. So sind die Bekenntnisse der ersten vier ökumenischen Konzilien die gemeinsame Glaubensgrundlage aller Konfessionen bis heute. Die heutige Struktur, Lehre und Praxis der Kirche(n) sind das Ergebnis zahlreicher Konflikte und Diskurse mit der nichtchristlichen Umwelt, mit konkurrierenden Religionen und abweichenden Lehrmeinungen. Die zahlreichen Wechselwirkungen zwischen äußeren Impulsen und Reaktionen der Alten Kirche stehen im Fokus des Buches. Dementsprechend ist der Stoff nicht nach Themen, sondern nach Jahrhunderten geordnet. Der Band bietet ein breites Spektrum an Einzelaspekten – von der äußeren politischen Entwicklung des Römischen Reiches und seiner Nachbarn über konkurrierende Weltanschauungen, innerkirchliche Strukturen, theologische Debatten und Literaturbildung bis hin zu Einzelporträts wichtiger Personen jener Zeit.

Das Buch ist aus langjähriger Beschäftigung mit dem Thema in Forschung und Lehre entstanden. Es vereinigt Impulse aus Alter Geschichte, Patristik, Theologie und biblischer Zeitgeschichte. Damit bietet es ein lebendiges Porträt jener Zeit mit all ihren Verflechtungen und Wechselwirkungen. Das Buch ist Fach- und Lehrbuch zugleich: Erstens, es bietet einen leichten Einstieg in Phänomene und Begriffe. Zweitens, kurze Überblicke, Zeittafeln und Karten erleichtern den Einstieg in Epochen und komplexe Themen. Schaubilder visualisieren historische und theologische Zusammenhänge. Wichtige Quellentexte sind als Zitat eingebunden, altsprachliche Begriffe werden übersetzt. Drittens, das Buch enthält einen ausgiebigen Serviceteil inkl. Glossar, Abkürzungsverzeichnis, Textstellen-, Schlagwort und Namensregister sowie Literaturangaben. Viertens, das Buch unterstützt durch digital verfügbare Fragen die Prüfungsvorbereitung (E-Learning).

Mein Dank gilt dem Engagement vieler hilfsbereiter Menschen: Clarissa Stelzmann und Dalina Plümer leisteten akribische Korrekturarbeit. Kristina Dronsch und Stefan Selbmann begleiteten das Projekt von Verlagsseite mit konstruktiven Ideen und sachlichen Hinweisen. Herrn Kollegen Udo Schnelle und dem Brill-Verlag sei herzlich für die großzügige Erlaubnis zur Nutzung des Kartenmaterials gedankt! Meine Frau Steffi Springer leistete wie immer großartige Geduldsarbeit und unterstützte mich in ihrer einzigartig liebevollen Weise. Dem langjährigen Kollegen Martin Ohst danke ich für wichtige Hinweise, zahlreiche Fachgespräche und für seine stets verlässliche kollegiale Haltung während 25 Jahren Tür an Tür an der Bergischen Universität Wuppertal. Dem frischgebackenen Pensionär ist das Buch gewidmet.

Kurt Erlemann, Neviges, Oktober 2023

 

Hinweise zum Buch

Zu diesem Buch gibt es einen ergänzenden eLearning-Kurs

 

Mithilfe des Kurses können Sie online überprüfen, inwieweit Sie die Themen des Buches verinnerlicht haben. Gleichzeitig festigt die Wiederholung in Quiz-Form den Lernstoff.

 

Der eLearning-Kurs kann Ihnen dabei helfen, sich gezielt auf Prüfungssituationen vorzubereiten.

 

Der eLearning-Kurs ist eng mit vorliegendem Buch verknüpft. Sie finden im Folgenden zu den wichtigen Kapiteln QR-Codes, die Sie direkt zum dazu gehörigen Fragenkomplex bringen. Andersherum erhalten Sie innerhalb des eLearning-Kurses am Ende eines Fragendurchlaufs neben der Auswertung der Lernstandskontrolle auch konkrete Hinweise, wo Sie das Thema bei Bedarf genauer nachlesen bzw. vertiefen können. Diese enge Verzahnung von Buch und eLearning-Kurs soll Ihnen dabei helfen, unkompliziert zwischen den Medien zu wechseln, und unterstützt so einen gezielten Lernfortschritt.

Kapitel 1: Einführung

Ein Lehr- und Arbeitsbuch zur Geschichte der Alten Kirche über fünf Jahrhunderte bedarf einer sorgfältigen Disposition: Es soll wesentliche Aspekte jener Epoche beinhalten, zugleich aber übersichtlich sein, Entwicklungen im Kontext bieten und ein effizientes Lernergebnis ermöglichen. Das erfordert Kompromisse und eine Reduktion der dargestellten Forschungsdiskurse. Vor der eigentlichen Darstellung sind einige Vorfragen in den Blick zu nehmen: Zuerst einmal sind der Titel des Buches und der zeitliche Rahmen der Darstellung zu klären (1.2). Grundsätzliche Beobachtungen zur Quellenlage gehören zum wissenschaftlichen Standard (1.3). Erste Fragen und Antworten dienen der Einstimmung (1.4). Die Disposition des Buches ist darzulegen (1.5) und grundlegende Begrifflichkeiten sind zu klären (1.6).

1.1Erste Beobachtungen

Überblick: Es gibt keine umfassende, „objektive“ Rekonstruktion vergangener Geschehnisse und Entwicklungen. Jede Geschichtsschreibung ist per se Deutung durch die subjektive Brille des Geschichtsschreibers.1 Fakten lassen sich daher nicht von Fiktionen trennen. Der vorliegende Band strebt eine integrative Sicht auf die Geschichte der Alten Kirche an, welche die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Kirchengeschichte und profaner Geschichte in den Blick nimmt.

1.1.1Die Fiktion objektiver Erkenntnis

Die Kirchengeschichtsschreibung teilt das Grundproblem von Historiographie überhaupt: Ereignisse, Entwicklungen und so genannte Fakten unterliegen seit jeher der Deutung; historiographische Berichte und Notizen sind nicht frei von Wertung.1 Es geht immer um Deutungshoheit, wie sich an der unterschiedlichen Darstellung des „Apostelkonvents“ in Gal 2,1–10 und in Apg 15,1–35 zeigen lässt. Dazu kommt, dass „harte Fakten“ ohne Einbettung in den historischen und literarischen Kontext wenig aussagekräftig sind. Dass etwa Jesus von Nazareth unter Pontius Pilatus ca. 33 n. Chr. gekreuzigt wurde, darf als „hartes Faktum“ gelten. Das allein sagt aber noch nichts über die Wertigkeit und Bedeutung dieses Ereignisses in der frühchristlichen Gemeinschaft, im frühen Judentum oder in der Perspektive des römischen Imperiums aus. Kurzum: Eine moderne Darstellung der Alten Kirche muss sich dessen bewusst sein, dass ihre Quellen und Grundlagen alles andere als „objektiv“ erfassbar sind. Schon die Evangelien sind keine Biographien im strengen Sinne einer Darbietung des Lebens Jesu, sondern Deutungen der Geschehnisse durch die Brille des nachösterlichen Christusglaubens. So sind die Evangelien Glaubenszeugnisse, aber keine „objektive“, (be-)deutungsfreie Geschichtsschreibung.

1.1.2Die Fiktion neutraler Quellen

Auch die altkirchlichen Quellen beschreiben die Geschehnisse und Entwicklungen ihrer Zeit nicht neutral-distanziert bzw. „objektiv“, sondern durchaus tendenziös und parteilich. Einigermaßen sicheren Boden über die tatsächlichen Vorgänge haben wir nur, wenn ein und dasselbe Geschehnis aus mehreren Blickwinkeln überliefert ist, etwa im Sinne von Darstellung und Gegendarstellung. Welche Perspektive zutreffender ist, lässt sich aus der historischen Distanz kaum beurteilen. Hier gilt: Auf jedes Geschehnis gibt es prinzipiell mehrere Sichtweisen, die einander im besten Falle ergänzen. „Die“ Wahrheit gibt es nicht, lediglich unterschiedliche Deutungen desselben Geschehens, die mehr oder weniger plausibel sind.1

Die höchste Plausibilität herauszufiltern, ist eine Kernaufgabe der Geschichtsschreibung. Plausibilität ergibt sich aus dem Abgleich erkenntnisleitender Interessen (wer hat aus welchem Anlass heraus wie geschrieben?), aus Textvergleichen (wer hat außerdem vom selben Ereignis berichtet, wie und aus welchen Motiven heraus?) und gegebenenfalls aus außertextlicher Recherche (gibt es archäologische, epigraphische oder andere Manifestationen des Geschehens?).

1.1.3Divergente Geschichtsbilder

Zur Frage der historischen Plausibilität kommt die Frage einer integrativen Deutung der altkirchlichen Geschichte. Hier geht es um erkenntnisleitende Interessen des modernen Geschichtsschreibers, um sein Geschichtsverständnis, um seine Deutung des Gesamtgeschehens: Ist die Geschichte der Alten Kirche im Sinne einer Geistes- bzw. Ideengeschichte zu fassen oder eher als Geschichte von Wechselwirkungen zwischen politisch-sozialen Entwicklungen einerseits und theologisch-organisatorischen Entscheidungen andererseits? Gibt es ein einheitliches „Vorzeichen vor der Klammer“ der altkirchlichen Geschichte, ist alles auf eine bestimmte Zielrichtung hin ausgerichtet (teleologische Deutung), müssen mehrere Deutungsschlüssel ineinandergreifen, um das komplexe Geschehen zu erfassen, oder ist es schlicht und einfach das Produkt unzähliger historischer Zufälle?

1.1.4Zahlreiche Wechselwirkungen zwischen Kirche und Umwelt

Der vorliegende Band setzt die Prämisse, dass die altkirchliche Geschichte weder von vornherein auf ein alternativloses Ergebnis hin angelegt war noch dass sich die Ergebnisse (Plural!) einer Summe von Zufällen verdanken. Er geht vielmehr von einer intensiven Wechselwirkung zwischen Kirchen-, Theologie- und Religionsgeschichte sowie politisch-sozialen Entwicklungen aus. Eine Grundtendenz ist die allmähliche Ausbildung einer christlichen (Glaubens-)Identität bzw. einer kirchlichen Organisationsstruktur in Dialog und Auseinandersetzung mit außerchristlichen Religionen, innerchristlichen Häresien, antiken Philosophien, staatlicher Macht- und Religionspolitik im Rahmen von Akzeptanz bzw. Ablehnung des Christentums durch die Gesellschaft. Dieser Prämisse folgt die Disposition des Buches (→ 1.5).

1.2Epochenbezeichnungen

Der Titel des Buches spricht von „Alter Kirche“. Dieser Begriff und in der Forschung gängige Alternativbegriffe wie „Urchristentum“, „frühes Christentum“ und „Frühkatholizismus“ sind Gegenstand der folgenden Betrachtung.

1.2.1„Alte Kirche“

„Alte Kirche“ umfasst nach gängiger Begrifflichkeit die Zeit der ersten fünf Jahrhunderte Christentumsgeschichte, also von der Jesusbewegung bis zur Völkerwanderung und zum Ende des Weströmischen Reiches (476). In dieser Epoche bilden sich wesentliche kirchliche Strukturen heraus, münden grundlegende theologische Diskussionen in ökumenisch verbindliche Konzilsbeschlüsse (bis 451) und entwickelt sich das Christentum von einer verfolgten Minderheitenreligion zur alleinigen Reichskirche im römischen Imperium (380).

Einschränkend ist zu sagen, dass von einer „(Amts-)Kirche“ im heutigen Sinne frühestens ab der Konstantinischen Wende (313) zu sprechen ist. Für die Zeit davor ist korrekter von pluriformen christlichen Gruppierungen sowie von einer stets wachsenden Zahl von Ortsgemeinden mit heterogenen Organisationsstrukturen zu sprechen. Trotzdem taugt der Begriff zur Bezeichnung jener Epoche: Kirche (gr. ekklesía, lat. ecclesia), meint wörtlich die Schar der Herausgerufenen, laut NT die endzeitliche, von Jesus initiierte Heilsgemeinschaft. In der Alten Kirche wird aus einer spontan-charismatischen ecclesia eine vom römischen Staat anerkannte Körperschaft mit festen Organisationsstrukturen.

1.2.2Weitere Epochenbegriffe

a)„Urchristentum“

Der im 18. Jh. aufgekommene Begriff des „Urchristentums“ ist deutlich enger als „Alte Kirche“ und verweist auf die Geschichte der ersten christlichen Generation(en).1 Jedoch ist eine zeitliche Abgrenzung schwierig. Auch suggeriert der Begriff einen idealen Ursprungszustand in der Jerusalemer „Urgemeinde“. Apg 2–4 vermittelt die Fiktion einer ursprünglichen Einheit und Reinheit der Kirche. Dagegen betonen François Vouga und andere die Vielfalt teilweise konkurrierender christlicher Gruppierungen schon von Anfang an (→ 2.4.4).2

b)„Zeit der Augenzeugen“

Neutraler und den ntl. Texten angemessener ist es, von der „Zeit der Augenzeugen“ bzw. der „ersten Generation“ zu sprechen. Allerdings besteht auch hier die Schwierigkeit der genauen Abgrenzung bzw. der Berechnung einer Generation zu jener Zeit: Beträgt sie 30 Jahre oder endet sie mit dem Tod der Augenzeugen spätestens gegen Ende des 1. Jh.? Wie dem auch sei: Zur Bezeichnung für fünf Jahrhunderte Christentumsgeschichte scheidet der Begriff aus.

c)„(Nach-)Apostolisches Zeitalter“

Der Begriff „Apostolisches Zeitalter“ bezeichnet die Zeit zwischen Ostern und dem Tod der Apostel, also bis Mitte der 60er Jahre des 1. Jh., der Begriff des „Nachapostolischen Zeitalters“ die Zeit danach. Beide Begriffe sind wertend: Das „Apostolische Zeitalter“ erscheint gleichsam als Insel, auf der das Christentum in „Reinkultur“ zu entdecken sei – frei von jüdischem, „frühkatholischem“ oder gnostischem Gedankengut. Der Begriff des „Nachapostolischen Zeitalters“ ist zudem zeitlich schlecht abzugrenzen und wird daher ebenfalls nicht verwendet.

d)„Neutestamentliches Zeitalter“

Dieser Begriff fokussiert die Zeitspanne von Jesus bis zum Zweiten Petrusbrief, der nach allgemeiner Auffassung als späteste Schrift des NT um 130 zu datieren ist.1 Der Übergang von ntl. Literatur zu frühchristlicher Literatur ist fließend; manche außerkanonischen Schriften wie etwa die „Apostolischen Väter“ sind älter als die Spätschriften des NT (→ 3.6.2a). Das macht eine zeitliche Abgrenzung schwierig. Für das vorliegende Buch ist der Begriff ungeeignet.

e)„Frühes Christentum“

Der Begriff „frühes Christentum“ lässt sich durchaus mit mehreren Jahrhunderten Christentumsgeschichte verbinden.1 Jedoch ist auch er wertend: Er suggeriert eine qualitativ einzigartige Epoche eines in sich homogenen Christentums. Diese Fiktion wurzelt im degenerativen Geschichtsbild der Romantik.2 Wo er trotzdem im Buch Verwendung findet, wird er als Sammelbegriff für pluriforme christliche Gruppierungen der altkirchlichen Zeit benutzt.3

f)„Frühkatholizismus“

Dieser Begriff lässt sich ebenfalls mit der hier zu behandelnden Epoche assoziieren.1 Doch auch er ist wertend, denn er betrachtet die altkirchliche Geschichte als lineare Verfallsentwicklung von einem idealen „Urchristentum“ hin zu „katholischen“ Kirchenstrukturen. Markiert werde der Verfall durch das Ende der Naherwartung und der charismatischen Gemeindestruktur sowie durch den Übergang zu einer Kirche, die das Seelenheil an eine monepiskopal verfasste Institution bindet. Dem entspricht die in der protestantischen Exegese des 20. Jh. vorgenommene Unterscheidung zwischen ursprünglichem, paulinischem Christentum und „frühkatholischen“ Elementen schon im NT selbst; dabei werden Letztere der theologischen Sachkritik unterzogen. Außerdem ist der Begriff „katholisch“ konfessionell geprägt und stellt, so verstanden, für die fragliche Zeit einen Anachronismus dar.

1.2.3Fazit

Betrachtet man die Entstehungszeit des Christentums bis zur Konsolidierung und Formalisierung der Strukturen und Inhalte, erscheint der Begriff „Alte Kirche“ am angemessensten. Andere Begriffe sind unpräzise, zeitlich zu sehr begrenzt und / oder ideologisch vorbelastet. Die Zeit der Alten Kirche beschreibt den Weg der pluriformen apostolischen Gemeinden hin zur staatstragenden Institution „Kirche“.

1.3Zur Quellenlage

Die Quellenlage zur altkirchlichen Geschichte ist uneinheitlich und problembehaftet. Die Quellen ermöglichen kein lückenloses Gesamtbild und sind oftmals tendenziöse Glaubenszeugnisse oder polemische Kampfschriften gegen Häretiker. Das heißt, die Quellen sind tendenzkritisch zu lesen. Zu unterscheiden sind historiographische Werke christlicher und nichtchristlicher Autoren, christlich-theologische Schriften mit normierender Wirkung, Texte christlicher Gruppen, die sich nicht durchsetzen konnten, und außerchristliche Quellen. Der kurze Überblick dieses Abschnitts wird im Unterpunkt 6 eines jeden Kapitels vertieft.

1.3.1Historiographische Werke

Gesamtüberblicke bis zur Konstantinischen Wende bieten Epiphanios von Salamis und Euseb von Cäsarea. Ihnen verdanken wir viele Informationen über innerkirchliche Entwicklungen und Verflechtungen mit der nichtchristlichen Umwelt. Am reichhaltigsten ist Eusebs „Kirchengeschichte“ (lat. Historia ecclesiae; 4. Jh.). Die Texte sind tendenziös, Vergleiche mit anderen Quellen unabdingbar (→ 5.6.1). – Ein wichtiger Zeuge für die Geschehnisse um die Konstantinische Wende ist Laktanz, für die Folgezeit sind der Fürstenspiegel des Synesios von Kyrene (399) und die Historia adversus Paganos des Orosius (417/418) zu erwähnen.

Prominente römische Geschichtsschreiber des 1. und beginnenden 2. Jh. sind Tacitus und Sueton. Sie erwähnen Übergriffe der Kaiser Claudius und Nero gegen Juden und Christen. Darüber hinaus finden sich nur spärliche Andeutungen, etwa über „Chrestus“ als religiösen Unruhestifter und über das gesellschaftliche Ansehen der Christen in nichtjüdischer Umgebung. Gerade diese Hinweise können manch einseitige Darstellung der Geschehnisse in ein anderes Licht rücken. – Für die spätere Zeit sind stellvertretend die Res Gestae des Ammianus Marcellinus (378) und die Byzantinische Geschichte des Priskos von Panion (ca. 450) zu nennen.

Die Werke des jüdischen Geschichtsschreibers Flavius Josephus (* ca. 37–100) sind für die Geschichte des Judentums im 1. Jh. die Hauptquelle. Jedoch sind sie, wie die späteren rabbinischen Schriften, recht unergiebig für unser Thema. Ihr Schweigen ist auffällig; es spricht dafür, dass das Christentum erst allmählich als ernstzunehmender Faktor akzeptiert wurde. Eine theologisch-theoretische Auseinandersetzung mit frühchristlicher Lehre findet kaum statt.

1.3.2Theologische Hauptschriften

Neben dem NT gehören zu dieser Gruppe die „Apostolischen Väter“, eine dem NT nahestehende Schriftengruppe (→ 3.6.2a). Zeitlich schließen sich Texte der Apologeten des 2. Jh. an (Aristides, Justin, Tatian, Athenagoras, Minucius Felix u. a.). Von ihnen erfahren wir viel über das Verhältnis von Kirche, Judentum und Staat sowie über kirchenpolitische Positionen während des 2. Jh. (→ 3.6.2b).

Schriften der Kirchenväter1 sind die wichtigsten theologischen Dokumente der altkirchlichen Zeit. Sie geben Einblick in die theologischen Diskussionen ab dem 2. Jh. und enthalten wichtige Informationen über historische Entwicklungen und häretische Gruppen des Christentums. Wichtige Kirchenväter sind Irenäos von Lyon, Klemens von Alexandria und Tertullian (2. Jh.), Hippolyt von Rom, Origenes und Cyprian von Karthago (3. Jh.), Euseb von Cäsarea, Athanasios von Alexandria, Apollinaris von Laodikea, die drei „großen Kappadokier“ und Ambrosius von Mailand (4. Jh.) sowie Theodor von Mopsuestia, Johannes Chrysostomos, Papst Leo I. d.Gr., Ambrosius und Augustin von Hippo (5. Jh.).

Ab dem 3. Jh. finden sich bischöfliche Lehrschreiben, Synodalakten, Kanonverzeichnisse und liturgische Texte. Wirkungsgeschichtlich prägend sind das Muratorische Fragment (Canon Muratori, vor 200?)2, die syrische Didaskalie (syrDid, Anfang 3. Jh.), die Apostolischen Konstitutionen (Const. Ap., um 380) sowie die Beschlüsse der ökumenischen Konzilien mit ihren Symbolen.

1.3.3Texte marginalisierter Gruppen

Die frühchristlichen Apokryphen (nichtkanonische Evangelien, Apokalypsen, Apostelgeschichten, Märtyrerakten etc.; → 2.6.3; 3.6.3) lassen marginalisierte Positionen erkennen und bezeugen die Vielfalt des frühen Christentums. Zum Begriff Apokryphen und Marginalität → 1.6.6. Ihr historischer Wert schwankt allerdings sehr. Neben den Apokryphen selbst geben die Kirchenväter aus ihrer Sicht Einblick in das Denken und die Geschichte der marginalisierten Gruppen.

Christlich-gnostische Schriften entwickeln frühchristliche Traditionen eigenständig weiter (z. B. zu Maria Magdalena [→ 3.2.3a; 3.6.3]) und beinhalten zum Teil sehr alte Vorstellungen. Viele Denkweisen finden sich polemisch verzerrt bei den Kirchenvätern. Die Funde von Nag Hammadi (NHC, 1945–1948) förderten zahlreiche Originaldokumente des Gnostizismus zutage.

1.3.4Außerchristliche Quellen

Neben historiographischen Schriften ermöglichen zahlreiche politische und philosophische Texte einen Blick auf die altkirchliche Geschichte. So erwähnt der bithynische Statthalter Plinius d. J. in einem Brief an Kaiser Trajan (um 112) christliche Gottesdienste (Ep. X 96,2f.). Der syrische Stoiker Mara bar Serapion schreibt im 1./2. Jh. in einem privaten Brief über das Unrecht an großen Menschen wie Sokrates, Pythagoras und wohl auch Jesus:

„[…] was hatten die Athener für einen Nutzen davon, daß sie Sokrates töteten, was ihnen mit Hungersnot und Pest vergolten wurde? oder die Samier von der Verbrennung des Pythagoras, da ihr ganzes Land in einem Augenblick vom Sand verschüttet wurde? oder die Juden von der Hinrichtung ihres weisen Königs, da ihnen von jener Zeit an das Reich weggenommen war? Denn gerechtermaßen nahm Gott Rache für jene drei Weisen: die Athener starben Hungers, die Samier wurden vom Meere bedeckt, die Juden umgebracht und aus ihrem Reiche vertrieben, leben allenthalben in der Zerstreuung. Sokrates ist nicht tot: wegen Platon, noch Pythagoras: wegen der Herastatue, noch der weise König: wegen der neuen Gesetze, die er gegeben hat.“1

Philosophische Texte von Kelsos, Porphyrios und Fronto bezeugen die antichristliche Stimmung im 2. und 3. Jh. Ergänzt wird der Textbefund durch zahlreiche Inschriften, wie etwa die Gallio-Inschrift und im Titusbogen in Rom. Erstere wurde zu Beginn des 20. Jh. in Delphi entdeckt und enthält Notizen zu Gallio, Statthalter der Provinz Achaja von 51–53. Sie ermöglicht die chronologische Einordnung der Paulus-Vita und seiner Briefe. Letzterer, 81 von Kaiser Domitan auf dem Forum Romanum errichtet, dokumentiert die Zerstörung Jerusalems durch Kaiser Titus im Jahre 70.

1.4Erste Fragen und Antworten

Fragen im Vorfeld der Betrachtung betreffen das Verhältnis Jesu von Nazareth zur späteren Kirche und das „katholische“ Element der Alten Kirche.

1.4.1Hat Jesus die Kirche gegründet?

Die Frage, ob sich Jesus als Religionsstifter verstand, der nicht nur einen Jüngerkreis um sich scharte, sondern auch mit der Einsetzung des Petrus als „Fels der Kirche“ und mit der Stiftung des Abendmahls die Kirche gründete, ist in dieser pointierten Form zu verneinen. Jesus hatte, dem Zeugnis der Evangelien zufolge, eine apokalyptische Naherwartung (→ 2.5.4). Er sah die Gottesherrschaft in seiner Zeit und mit seinem Wirken anbrechen (Mt 12,28; Mk 9,1; 13,30; Lk 17,20f.). Eine Kirche mit langfristig tragfähigen Strukturen passt nicht in dieses Denken. Wohl aber begründete Jesus mit seinen Jüngern eine innerjüdische Reformbewegung, eine eschatologische Heilsgemeinschaft, welche die Menschen auf die nahe Gottesherrschaft vorbereiten und sie zur Umkehr bewegen sollte. In dieser Gemeinschaft bekam Petrus eine führende Rolle zuerkannt (Mt 16,18f.). Das Abendmahl sollte die Jünger an Jesu Heilstod und seine baldige Wiederkunft (Parusie) erinnern. Ein sakramentales Verständnis ist in den Texten nicht zu erkennen.

1.4.2Ist die Kirche die Folge eines Irrtums?

Vom französischen Theologen und Modernisten Alfred Loisy (1857–1940) stammt das Statement:

„Jesus hatte das Reich angekündigt, und dafür ist die Kirche gekommen. Sie kam und erweiterte die Form des Evangeliums, die unmöglich erhalten werden konnte, wie sie war, seitdem Jesu Aufgabe mit dem Leiden abgeschlossen war.“1

Damit bringt Loisy das Dilemma der eschatologischen Naherwartung Jesu auf den Punkt. Die Kirche ist demnach eine minderwertige Verlegenheitslösung und Ergebnis eines Überlebenskampfes der frühen Christen – wenn auch ein insgesamt akzeptables Ergebnis, wie Loisy betont.

Richtig ist an dieser Sichtweise, dass sich bei eingelöster Parusieerwartung keine Kirche hätte entwickeln können und müssen. Die lk. Apostelgeschichte platziert die Entstehung der Kirche in die Wartezeit zwischen Himmelfahrt und Parusie, die sich aus bei Gott liegenden Gründen (scheinbar) in die Länge zieht.2 Das Ausbleiben der Parusie und das durch das Ende der Augenzeugen Jesu entstandene Vakuum einerseits und das enorme Wachstum der christlichen Gemeinschaft andererseits fordern und fördern eine Entwicklung, die letztlich zur Institution „Kirche“ führt. Dieser eigendynamische Prozess wird im NT auf den Missionsauftrag Jesu (Mt 28,18–20) und auf das Wirken des Heiligen Geistes (Apg 2 u. a.) zurückgeführt und ist, gegen Loisy, ohne Bewertung zur Kenntnis zu nehmen.

1.4.3Ab wann gibt es die „katholische Kirche“?

Der Begriff „katholisch“ (von gr. kat’ hólon, allumfassend) ist heutzutage konfessionell geprägt und wird in der protestantischen Theologie zum Teil als Kampfbegriff verwendet (→ 1.2.2f). Von „römisch-katholischer“ Kirche ist erst ab der Reformation bzw. ab dem Tridentinum (1545–1563) zu sprechen. Im wörtlichen Sinne kann jedoch schon da von „katholisch“ gesprochen werden, wo sich eine „rechtgläubige“ kirchliche Gemeinschaft mit diesem Etikett von häretischen Gruppierungen abzugrenzen versucht. Das ist erstmals bei Ignatios von Antiochia (um 117) der Fall. In Abwehr doketischer Christologie formuliert IgnSm 8,2:

„Wo immer der Bischof sich zeigt, da sei auch das Volk, so wie da, wo Jesus Christus ist, auch die katholische Kirche ist.“

Das Etikett wird ab da von namhaften Apologeten und Kirchenvätern aufgegriffen und präzisiert. Kyrill von Jerusalem bietet eine umfassende Definition (4. Jh.):

„[Die Kirche] wird also katholisch genannt, weil sie in der ganzen Ökumene vom (einen) Ende bis ans (andere) Ende der Erde ist und weil sie umfassend und lückenlos alle Dogmen lehrt, die zur Kenntnis der Menschen gelangen müssen.“1

Die Bezeichnungen „katholisch“ und „orthodox“ (rechtgläubig) sind hier Synonyme, jedenfalls bis zum Großen Abendländischen Schisma 1054, als sich östlich-orthodoxe und westlich-katholische Kirche voneinander trennen.

Die dogmatische Verwendung von „katholisch“ impliziert das Axiom der Unteilbarkeit und Einzigkeit der „einen katholischen Kirche“ (Apostolikum, 3. Artikel), denn nur die umfassende, ungeteilte Kirche könne die Wahrheit der christlichen Lehre repräsentieren. Neben der katholischen Kirche kann es demnach per definitionem keine anderen Kirchen geben, allenfalls auf die katholische Kirche hin zugeordnete kirchliche Gemeinschaften.2 Ziel ökumenischer Bemühungen von römisch-katholischer Seite ist folgerichtig die Überwindung der Spaltungen bzw. die Wiederherstellung der einen, allumfassenden „katholischen“ Kirche unter Leitung Roms.

1.5Disposition und Lektürehinweise

Den unter → 1.1 dargestellten Beobachtungen folgend, betrachten die Kapitel 2–6 jeweils ein komplettes Jahrhundert, um die genannten Wechselbeziehungen in den Blick zu bekommen. Das bedeutet eine teilsynchrone Darstellung statt einer diachronen, den gesamten Zeitraum umspannenden Darstellung von Einzelthemen. Eine diachrone Lektüre, um bestimmte Themenfelder durchgängig verfolgen zu können, ist trotzdem möglich und wird durch die weitgehend einheitliche Nummerierung der Einzelabschnitte erleichtert. Die Darstellung fokussiert sieben Punkte: Entwicklungen, Kontexte, Verflechtungen, Ordnungen, Themen, Texte und Personen. Die Punkte entsprechen den jeweiligen Unterkapiteln 1–7. Punkt 8 bietet ein Fazit. Im Einzelnen gestaltet sich der Aufbau wie folgt:

Informationen über die politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und damit Herausforderungen der Alten Kirche bietet das jeweilige Unterkapitel 1 (Entwicklungen). Weitere Herausforderungen ergeben sich aus dem religionsgeschichtlichen Kontext, der in Unterkapitel 2 thematisiert wird (Kontexte). Die Verflechtungen mit der nichtchristlichen Umwelt sind Teil des Unterkapitels 3, bevor die innerkirchliche Entwicklung (Ordnungen), die theologischen Themen einer Epoche und die christliche Literaturbildung (Texte) betrachtet werden (Unterkapitel 4–6). Nach exkursiven Porträts wichtiger kirchlicher Personen („Steckbriefe“, Unterkapitel 7) folgt ein Fazit über die Antwort der Alten Kirche auf die Herausforderungen des jeweiligen Jahrhunderts (Unterkapitel 8). Die genannten Aspekte sind zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. Einzelne Redundanzen, die sich daraus ergeben, bitte ich zu entschuldigen.

Als Kirchengeschichtler greife ich, neben einschlägiger Fachliteratur, auf profanhistorische Darstellungen wie Gottlieb 1991, Bellen 2010/2016 und Leppin 2021 zurück. Im Sinne eines übersichtlichen Lehr- und Arbeitsbuches wird auf einen enzyklopädischen Einbezug von Sekundärliteratur verzichtet und stattdessen auf wesentlich erscheinende Meinungen und Aspekte verwiesen. Literaturangaben in den Fußnoten verstehen sich als Hinweise auf ergänzende Lektüre.

Abkürzungen patristischer Quellen orientieren sich an der Liste der Abkürzungen antiker Autoren und Werktitel.1 Eigennamen werden, der Mutter- bzw. Werksprache eines Autors gemäß, in griechischer oder lateinischer Schreibweise wiedergegeben.

1.6Begriffsklärungen

Fachbegriffe werden umfassend im Glossar erklärt. Einige Begriffe, die im Buch regelmäßig auftauchen, werden vorab ausführlicher erläutert.

1.6.1Hellenismus

‚Hellenismus‘ als Epochenbegriff ist eine Prägung des Historikers Johann Gustav Droysen (1808–1884). Der Begriff kennzeichnet die Durchdringung des Orients und des Römischen Reiches durch die griechische Kultur sowie die Einwirkung orientalischen Kulturgutes auf Griechen und Römer (vergleichbar der Amerikanisierung der europäischen Kultur nach dem 2. Weltkrieg). Kennzeichnend sind die gegenseitige Beeinflussung ursprünglich selbständiger Kulturräume, deren Angleichung, aber auch ihr Fortbestand in einer pluralen Kulturwelt vom Indus bis Spanien, vom Schwarzen Meer bis Nordafrika (Synkretismus; → 1.6.2).

Die zeitliche Abgrenzung des Hellenismus ist mit den Eroberungszügen Alexanders d.Gr. (356–323 v. Chr.) bis nach Indien und dem Aufstieg der Araber im 7. Jh. n. Chr. gegeben.1 Kennzeichen des Hellenismus sind:

Die griechische Sprache als einheitliche Geschäftssprache (lingua franca) der Diadochenreiche und des römischen Imperiums für mehrere Jahrhunderte.

Die hellenistische Stadt (gr. pólis) mit ihrer typischen Architektur, ihrer offenen Lebensform und ihren technischen und sozialen Vorzügen.2

Der dynastische Verwaltungsstaat (König, Verwaltung, insbesondere Finanzverwaltung durch Beamte, direkte Steuern, staatlich gelenkter Außenhandel, stehendes Söldnerheer sowie Diplomatie über dynastische Verflechtungen der Staaten untereinander).

Die besitzende Oberschicht als Kulturträgerin. Die Unterschichtist vom Kulturleben ausgeschlossen und damit wenig hellenisiert. Ab 220 v. Chr. nimmt der Einfluss der indigenen Schichten zu; es kommt zu einer allmählichen Vermischung von Oberschicht und indigener Bevölkerung.

Philosophische Schulen: 1) mittlere Stoa (Ersetzung der Religion durch einen Pantheismus, Hauptvertreter Panaitios, gestorben 110 v. Chr.); 2) Kyniker und Epikureer als aufklärerische, religionskritische Strömungen. 3) Skepsis (neue Akademie, Karneades, Kleitomachos, Philo).

Religiöse Strömungen: 1) Isis- und Adoniskult; 2) griechisch-römisches Götterpantheon mit den dazugehörigen Tempelkulten; 3) allgemein anerkannter Herrscherkult (Könige als Wohltäter des Volkes; → 2.2.1b).

Synkretismus (→ 1.6.2).

1.6.2Synkretismus

Der Begriff meint das Zusammenwachsen mehrerer Weltanschauungen. Die Eroberungszüge Alexanders d.Gr. (356–323 v. Chr.) und die nachfolgende Hellenisierung des Mittelmeerraums und der östlich angrenzenden Territorien wirken förderlich für synkretistische Entwicklungen in Philosophie, Kultur und Religion. Ein klassisches Beispiel ist der Gnostizismus (→ 3.2.3). In ihm sind Elemente aus Juden- und Christentum, Platonismus, persischen Religionen sowie aus Esoterik, Volks- und Zauberglauben enthalten. Das Christentum trägt jüdische und philosophische Elemente und solche aus griechisch-römischen Kulten in sich und kann, so betrachtet, ebenfalls als synkretistisch bezeichnet werden. Beispiel für einen modernen Synkretismus ist das Verschmelzen christlicher mit nichtchristlichen Bräuchen und Traditionen wie Christkind, Nikolaus, Weihnachtsmann und Santa Claus oder wie St. Martinstag, Allerheiligen und Halloween. Positiv gewendet, werden in synkretistischen Strömungen als wertvoll erachtete Traditionen zu einer fruchtbaren Synthese vereinigt.

1.6.3Imperium Romanum

a)Ausdehnung und Organisation

Das Römische Reich (lat. Imperium Romanum) ist der politische, ökonomische und kulturelle Bereich, in welchem die Alte Kirche zu einer Weltreligion heranwächst. Es umspannt, von historischen Schwankungen abgesehen, den gesamten Mittelmeerraum. Seine natürlichen Grenzen sind im Norden die Alpen, im Nordwesten der Rhein und der Ärmelkanal, im Nordosten die Donau und das Schwarze Meer, im Osten Euphrat und Tigris, im Süden die nordafrikanische Wüste und im Westen die iberische Atlantikküste. Zeitweise erstreckt sich das Reich über die natürlichen Grenzen hinaus bis nach Britannien, Germanien und Dakien sowie im Osten bis zum Persischen Golf. Diese Gebiete werden großenteils durch künstliche Grenzbefestigungen (Limes) gesichert. Die größte Ausdehnung erreicht das Reich unter Kaiser Trajan (98–117 n. Chr.).

Das Römische Reich gliedert sich zeitweise in die Verwaltungseinheiten Rom und Italien sowie in angegliederte Provinzen mit regionalen Einheiten, die zum Teil eine Selbstverwaltung haben, zum Teil von kaiserlichen Beamten verwaltet werden.1 Die Zahl der Provinzen schwankt ständig. Zur Aufrechterhaltung des Friedens setzen die Römer in den Provinzen Statthalter (lat. propraetores) ein. Daneben gibt es procuratores als Verwalter des kaiserlichen Vermögens und weitere Funktionsträger wie Prokonsuln, Präfekte und Legate. In den Provinzen werden ständig neue Kolonien für römische Kriegsveteranen gegründet.

Die Epoche vom 1. bis 5. Jh. n. Chr. ist die Zeit des römischen Prinzipats und der Spätantike2, das heißt der Herrschaft eines Kaisers (lat. imperator, Ehrentitel Caesar bzw. Augustus). Das römische Kaisertum wird vorrangig dynastisch gedacht; wo das dynastische Prinzip nicht greift, wird die Legitimationsfrage durch Adoption, göttliche Würde oder herausragende militärische Leistungen geklärt. Zeitweise wird das römische Imperium aus organisatorischen Gründen in mehrere Herrschaftsgebiete, die einem Gespann aus zwei oder mehreren Kaisern (z. B. die Tetrarchie zu Beginn des 4. Jh.) unterstellt sind, aufgeteilt. Usurpationen des Kaiserthrons und militärische Auseinandersetzungen mit illegitimen Gegenkaisern sind an der Tagesordnung und tragen je länger, desto mehr zur Schwächung des Prinzipats bei.

b)Soziale Schichten

Neben dem Kaiser und seiner Familie gehören konsularische Senatoren und leitende (meist senatorische) Priesterfamilien Roms zur Führungsschicht des Imperiums.1 Sie sind das Bindeglied zwischen der alten res publica und dem Prinzipat. Ihre Rolle wird von den Kaisern im Verlauf der Jahrhunderte unterschiedlich wertgeschätzt. Daneben sind die militärischen Befehlshaber, die sich zumindest in der Anfangszeit aus dem römischen Adel rekrutieren, Teil der gesellschaftlichen Elite. Ritterstand und Senatoren mit Konsulat sowie regionale Fürsten bilden die Oberschicht; aus ihren Reihen stammen die Provinzstatthalter.

Die römische Mittelschicht besteht aus Menschen mit römischem Bürgerrecht und ausreichendem Einkommen bzw. Vermögen (Großgrundbesitzer, Händler, Handwerker, Staatsbeamte, Offiziere u. a.). Sie genießen besondere Privilegien. Der Apostel Paulus kann sich in Jerusalem auf sein römisches Bürgerrecht berufen und wird daraufhin nach Rom überstellt. Zahlenmäßig dominant ist im kaiserlichen Rom die Unterschicht (lat. plebs). Vor allem Menschen ohne genügendes Einkommen, unselbständige Arbeiter sowie Sklavinnen und Sklaven sind hier zu nennen.2 Auch Lehrer gehören zur Unterschicht, ebenso wie Kleinbauern, Pächter, Tagelöhner, Bettler, Witwen und Waisen.

c)Wirtschaft

Das Römische Reich reiht sich in die antiken Agrargesellschaften ein, die in der Hauptsache von Landwirtschaft (Getreide, Weinbau, Oliven, Schafzucht u. a.) leben.1 Ca. 90 % der Gesamtbevölkerung leben in ländlichen Regionen und von der Landwirtschaft. Handwerk und Handel ergänzen das ökonomische Spektrum. Ägypten und Nordafrika sind die Kornkammer Roms; den freien Handelswegen aus diesen Regionen nach Italien kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Missernten sowie Blockaden der Handelswege haben regelmäßig eine fatale Auswirkung auf die Versorgung der Stadt Rom (vgl. Tac Ann. XII 43).

Der Grundbesitz ist großenteils in der Hand städtischer Eliten; der Landbesitz in eroberten Regionen geht an den Kaiser oder an römische Investoren über; ursprünglich selbständige Kleinbauern werden zu Pächtern auf der eigenen Scholle (vgl. Mk 12,1–12parr. u. a.; weiter → 2.1.2e). Sklavinnen und Sklaven sind billige Arbeitskräfte im Ackerbau und anderen arbeitsintensiven Bereichen.

Handwerker, Händler und Dienstleister leben vornehmlich in den Städten und sind in Kleinbetrieben organisiert. Ziegel, Glaswaren u.Ä. sind Massenprodukte und gängige Exportartikel. In- und Export verlaufen mithilfe von Zugtieren oder menschlichen Lastenträgern über Land sowie per Schiff über die Flüsse, das Mittelmeer und das Schwarze Meer. Dienstleister wie Geldverleiher, Lehrkräfte, Ärzte und Juristen vervollständigen das ökonomische Portfolio.

d)Kult

Das Römische Reich, kulturell Erbe der hellenistischen Königreiche, sorgt in seinem Einflussbereich für eine einheitliche Kultur und einen einheitlichen Wirtschaftsraum.1 Das ist eine wesentliche Voraussetzung für die rasche Verbreitung des Christentums und anderer, ursprünglich regionaler Kulte über das gesamte Reichsgebiet. Die Kaiser verfolgen eine grundsätzlich tolerante Religionspolitik, solange die Staatsräson (lat. salus publica) dies als vernünftig erscheinen lässt und die Kulte im Reichsgebiet die Verehrung der Staatsgötter und des Kaisers mittragen. Insbesondere das Judentum und die christliche Kirche geraten mit ihrer kultischen Verweigerungshaltung immer wieder ins Visier staatlicher Religionspolitik und erleidet regelmäßig Repressalien bis hin zu physischer Verfolgung.

Griechisch und Latein sind die vorherrschenden Sprachen im römischen Reichsgebiet; das bestimmt wesentlich die Entwicklung der altkirchlichen Theologie in eine östliche (orthodoxe) und westliche (katholische) Richtung.

e)Politische Krisen

Während der Zeit der Alten Kirche wird das römische Imperium ständig durch Völker bedroht, die insbesondere im Zuge der Völkerwanderung auf römisches Reichsgebiet vordringen. Die wichtigsten Völker sind die Parther und Perser im Osten, die Goten, Sarmaten, Hunnen und Vandalen im Nordosten, die Germanen, Alamannen, Britannier und Pikten im Nordwesten und nordafrikanische Nomadenstämme im Süden. Eine Sonderrolle spielt das jüdische Volk, das sich gegen die römische Religionspolitik, insbesondere gegen den Kaiserkult, zur Wehr setzt und mehrfach Waffengänge provoziert. – Das Weströmische Reich endet mit dem Einmarsch germanischer Truppen in Rom (476), das Oströmische Reich mit der Eroberung Konstantinopels durch die türkischen Osmanen (1453).

1.6.4Gemeinde

„Gemeinde“ ist zum einen Oberbegriff für die Gesamtheit christlicher Gemeinschaften, zum anderen Bezeichnung einer Ortsgemeinde. Etymologisch bezeichnet ekklesía die Schar der Herausgerufenen, Erwählten, aber noch keine abgrenzbare (Orts-)Gemeinde im späteren Sinn.1 Der Jüngerkreis um Jesus symbolisiert das Urbild von Gemeinde. Der eschatologische Grundzug wird in Umschreibungen wie „Reich des Menschensohns“ (Mt 13,41) deutlich. Für Paulus repräsentiert die Gemeinde als „Leib“ den erhöhten Christus in der Welt (1 Kor 12,12–31). Zusammengehalten wird die paulinische Gemeinde durch ihr Christusbekenntnis und ihre Gemeinschaft (gr. koinonía; 2 Kor 13,13; Phil 2,1). Alternativ spricht das NT von „Volk Gottes“ zur Umschreibung christlicher Gemeinschaft.

1.6.5Judenchristen, Heidenchristen

Die in der Forschung gängige Unterscheidung ist problematisch und findet daher in diesem Band keine Verwendung.1 „Judenchristen“ meint Christen, die ursprünglich zur jüdischen Community gehörten und auch nach der Taufe Toravorschriften einhalten2, „Heidenchristen“ solche, die aus einem nichtjüdischen Religionskontext („aus den Völkern“) stammen. Der Ausdruck „Heiden“ suggeriert entweder die Religionslosigkeit eines Menschen und ist daher abwertend. Oder er suggeriert, dass es jenseits des jüdisch-christlichen Kulturkreises eine homogene religiöse „Masse“ gab. Beide Lesarten treffen historisch nicht zu; die Menschen hatten eine große Auswahl an Kultgemeinschaften, denen sie sich zugehörig fühlen konnten (→ 2.2). Aus diesen Gründen wird der Begriff „Heiden“ und damit auch „Heidenchristen“ als unsachgemäß und wertend vermieden.

Der Begriff „Judenchristen“ suggeriert ein homogenes Judentum zur Zeit des NT. Davon kann jedoch nicht die Rede sein (→ 2.2.4). Zumindest ist zwischen palästinischen (aramäisch sprechenden) und hellenistischen (griechisch sprechenden) Juden zu unterscheiden. Anstelle des etablierten Begriffspaars „Judenchristen“ und „Heidenchristen“ verwendet das vorliegende Buch präzisere Formulierungen wie ehemalige Juden oder ehemalige Nichtjuden.

1.6.6Apokryphen

Der gr. Begriff apokryph bedeutet verborgen, geheim und ist weithin negativ, im Sinne von verboten, häretisch, konnotiert.1 Dem entspricht nicht das Selbstverständnis etwa des EvThom: Der Hinweis im Prolog auf apokryphe Worte Jesu ist hier mit dem Bewusstsein verknüpft, ein besonders wertvolles, elitäres Wissen, das nur dem Trägerkreis des EvThom zugänglich ist, zu besitzen und darzubieten. Um der negativen Konnotationen willen und um den vielfältigen Verflechtungen kanonischer und nichtkanonischer Texte gerecht zu werden, schlägt Nicklas den Begriff „parabiblische Texte und Traditionen“ vor. Das vorliegende Buch hält am Begriff ‚apokryph‘ fest und versteht es im etymologischen, nicht abwertenden Sinne.

Die Trägerkreise apokrypher Texte werden im Folgenden als „marginalisierte Gruppen“ bezeichnet. Das markiert die Wahrnehmung und die Politik der „offiziellen“ Kirche. Der Begriff besagt nichts über die Rechtgläubigkeit und die tatsächliche historische Wirkung apokrypher Texte und ihrer Trägerkreise.2

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Kapitel 2: Das erste Jahrhundert

2.1Äußere Geschichte

Datum

Politische Ereignisse

Alte Kirche

Sonstiges

ca. 4 v.

 

Geburt Jesu

Herodes d.Gr. †

4 v.–37 n.

Herodes Antipas König von Judäa

 

 

14

 

 

Ks. Augustus †

14–37

Kaiser Tiberius

 

 

26–36

P. Pilatus Präfekt v. Judäa

 

 

ca. 30

 

Tod Jesu, Ostern; Pfingsten

 

37–41

Kaiser Caligula

 

Caligulakrise

41–44

Herodes Agrippa I. Kg. von Palästina

42 Zebedaide Jakobus †

 

41-54

Kaiser Claudius

„Logienquelle Q“? 1 Joh?

Wirken des Simon Magus

45–47

 

1. Missionsreise

des Paulus

 

48/49

 

Apostelkonvent

 

49–52

49 Claudiusedikt

2. Missionsreise des Paulus; 1 Thess

 

50–52/55

51/52 Gallio Prokonsul von Korinth

Paulus in Korinth/in Ephesos; 1 Kor? 2 Kor?

 

54–68

Kaiser Nero

 

 

55/56

 

3. Missionsreise des Paulus; Röm, Gal, Phil?

 

60–64

 

Petrus und Paulus † in Rom. Deuteropaulinen? Pastoralbriefe?

 

62

 

Herrenbruder Jakobus †

 

64

 

Neron. Verfolgung (?)

Brand Roms

66–73

Erster Jüdischer Krieg

Hebr? 1 Petr? MkEv?

 

68/69

Vierkaiserjahr

 

 

69–79

Kaiser Vespasian

 

 

70/73

70 Belagerung und Eroberung Jerusalems

73 Fall Masadas; Ende des 1. Jüdischen Krieges

ab ca. 70 Entstehung der Evangelien

ab 70 Neuformierung des (rabbinischen) Judentums

79–81

Kaiser Titus

 

 

79/80

 

 

Vesuvausbruch,

Pestepidemie

81–96

Kaiser Domitian

 

 

ca. 85

 

birkát ha-minním

 

96–98

Kaiser Nerva

 

 

Das Kapitel versucht, die Komplexität der politischen und weltanschaulichen Lage zu Beginn des Christentums überschaubar zu machen (2.1 – 2.3), gibt Einblick in die innergemeindliche und theologische Entwicklung (2.4 – 2.6) und porträtiert wichtige Personen der ersten christlichen Generationen (2.7). Abschnitt 2.8 fasst die Wechselwirkungen zwischen äußerer und innerer Entwicklung zusammen.

Die Herausforderungen für die Christen betreffen die politisch-soziale Großwetterlage des Römischen Reiches, insbesondere der Provinz Iudaea (2.1.1) sowie die Einbettung in das plurale Judentum mit seinem spannungsvollen Verhältnis zur römischen Oberherrschaft (2.1.2). Abschnitt 2.1.3 zeichnet die historische Entwicklung der neuen Religionsgemeinschaft in diese Kontexte ein. Weitere Herausforderungen sind Thema von → 2.2 und 2.3.

2.1.1Die hellenistisch-römische Umwelt

Überblick: In der Nachfolge Alexanders d.Gr. (336–323 v. Chr.) entstehen im östlichen Mittelmeerraum mehrere Diadochenreiche. Sie setzen die Hellenisierung im Sinne kultureller Globalisierung fort und bestimmen in unterschiedlicher Intensität die Geschichte Palästinas (→ 1.6.1). Der hellenistische Herrscherkult sieht im König mit seiner Machtfülle eine göttliche Gestalt; diese Überzeugung findet im römischen Kaiserkult ihre Fortsetzung (→ 2.2.1b; 2.3.1a).

a)Diadochenreiche

Nach dem Tod Alexanders d.Gr. (323 v. Chr.) wird sein Großreich an verschiedene Feldherren verteilt. Es entstehen drei Nachfolgestaaten und -dynastien (gr. diadoché: Nachfolge): Ptolemäer in Ägypten, Seleukiden in Syrien und Vorderasien sowie Antigoniden in Griechenland. Die Geschichte der Diadochenreiche bis zur Vorherrschaft Roms verläuft in drei Phasen: Erstens, im 3. Jh. v. Chr. herrscht ein recht stabiles Gleichgewicht der Großmächte. Zweitens, ab ca. 220 v. Chr. treten griechische Kleinstaaten hervor; einzelne Machtvakuen fördern den politischen Aufstieg Roms. In den Provinzen um Alexandria und Antiochia, in Griechenland, Makedonien und Pergamon kommt es vermehrt zu Aufständen. Drittens, ab 120 v. Chr. gewinnen nichthellenistische Königreiche wie Kappadokien, Pontos, Judäa, Parthien und Armenien an Einfluss.

b)Geschichte Ägyptens unter den Ptolemäern

Kulturelles und politisches Zentrum im ptolemäischen Ägypten ist Alexandria mit seinem Museion und seiner einzigartigen Bibliothek. Weitere Zentren sind Naukratis und Ptolemais. Zahlreiche Papyrusfunde aus Fajjum und Oxyrhynchos spiegeln das Alltagsleben der Zeit. Die Außenpolitik ist geprägt durch ständige Rangeleien mit den Seleukiden. Als letzte Königin regiert Kleopatra VII., Geliebte Cäsars und Marc Antons (51–30 v. Chr.). 30 v. Chr. wird Ägypten römische Provinz. Religiös bedeutsam ist der Sarapiskult (ab ca. 270 v. Chr.; → 2.2.1b). In Alexandria ist eine große jüdische Gemeinschaft ansässig; ab 163 v. Chr. gibt es einen jüdischen Tempel in Leontopolis.

c)Geschichte Syriens unter den Seleukiden

Die Seleukiden haben sich mit den Ptolemäern im Süden und mit den Galatern im Norden auseinanderzusetzen (Niederlage bei Ankyra 292 v. Chr.). 198 v. Chr. bringen die Seleukiden Palästina in ihre Gewalt. Antiochos IV. Epiphanes (175–163 v. Chr.) sorgt für die Verbreitung des Kultes Zeus Olympios. Er erobert 167 v. Chr. Jerusalem und entweiht den Tempel (vgl. Dan 11; 1 Makk 1; → 2.1.2c). Das zieht den Makkabäeraufstand nach sich (1 Makk 2ff.). Antiochos fällt 163 v. Chr. im Feldzug gegen die Parther. Das Seleukidenreich wird auf Syrien begrenzt. Nach Bruderkriegen kommt es zur Teilung Syriens. In dieser Zeit können die Hasmonäer in Judäa ihre Macht erheblich ausdehnen (→ 2.1.2d). 64 v. Chr. bereitet der römische Feldherr Pompejus dem Seleukidenreich das Ende.

d)Entwicklung Roms zur Großmacht

753 v. Chr. wird der Sage nach Rom durch Romulus und Remus gegründet („753 kroch Rom aus dem Ei“). Im 4. und 3. Jh. v. Chr. gelingt den Römern die Einigung Italiens inkl. Sizilien, Sardinien und Korsika. In drei Kriegen setzt sich Rom gegen die Seemacht Karthago durch (264–146 v. Chr.) und sichert sich so die Vorherrschaft im Mittelmeer. Im 1. Jh. v. Chr. beherrscht Rom Westeuropa, Nordafrika (Karthago, Ägypten) und Vorderasien (Palästina, Syrien etc.).

Aus dem 49 v. Chr. beginnenden Bürgerkrieg geht Gaius Julius Cäsar als Sieger hervor. Sein Griff nach der Alleinherrschaft wird durch seine Ermordung verhindert (44 v. Chr.). 42 v. Chr. wird das Reich in zwei Einflussgebiete aufgeteilt: Marc Anton erhält den Osten inkl. Ägypten (Liaison mit Königin Kleopatra). Octavian, Cäsars Adoptivsohn (der spätere Kaiser Augustus), erhält den Westen. In der Schlacht bei Actium (31 v. Chr.) besiegt Octavian seinen östlichen Rivalen. Der römische Senat trägt Octavian die Alleinherrschaft an und verleiht ihm den Ehrentitel Augustus („der Erhabene“, 27 v. Chr.), später auch „oberster Priester“ (pontifex maximus) und „Vater der Vaterlands“ (pater patriae, 2 v. Chr.). Die alte res publica ist damit Geschichte. Gleichwohl behalten Senat und Ritterstand ihre angestammten Privilegien und sind in die Regierungsarbeit eingebunden.1

e)Geschichte des Prinzipats im 1. Jh.

Überblick: Jesus wird unter Kaiser Augustus geboren (ca. 4 v. Chr.) und unter Kaiser Tiberius gekreuzigt (ca. 30 n. Chr.). Kaiser Caligula plant, den Jerusalemer Tempel umzuwidmen (39/41 n. Chr.). Unter Kaiser Claudius müssen viele Juden Rom verlassen (Claudiusedikt 49 n. Chr.). Kaiser Nero lässt 64 n. Chr. Rom anzünden und verfolgt angeblich die stadtrömischen Christen als Sündenböcke. Unter Kaiser Vespasian wird Jerusalem zerstört (70 n. Chr.). Kaiser Domitian huldigt dem Kaiserkult und geht als Tyrann in die Geschichte ein.

1.Julisch-claudische Dynastie (31 v. Chr. – 68 n. Chr.)

Augustus begründet die julisch-claudische Dynastie; er wird als Imperator und neuer Romulus gefeiert. Er propagiert die Pax Romana, eine Friedenszeit politischer und kultureller Blüte (Augusteische Klassik, vgl. das Stadtbild Roms). Reichsweit entstehen neue Tempelanlagen, Theater und Straßenverbindungen. Zahlreiche Aquädukte werden errichtet. Der Handel blüht, viele Menschen in den Provinzen erhalten das römische Bürgerrecht (unter anderem Paulus). Dichter wie Strabo, Diodor, Varro, Horaz, Ovid und Vergil bereichern die Epoche.

In Lk 2 sind Augustus und sein syrischer Statthalter Quirinius verewigt. Letzterer organisiert ab 6 n. Chr. von Syrien aus die Provinz Iudaea und führt den in Lk 2,1f. erwähnten Zensus durch.1 Der von Quirinius eingesetzte Präfekt von Judäa residiert in Cäsarea am Meer (Caesarea Maritima; → 2.1.2e).

Unter Augustus’ Nachfolger Tiberius (14–37) wird die Niederlage des Varus (9 n. Chr.) durch militärische Erfolge des Germanicus, unter anderem gegen den Cheruskerfürsten Arminius, ausgemerzt (15; Tac Ann. I 60f.; II 41,1f.). Tiberius schlägt Aufstände in Gallien und Nordafrika nieder. Ansonsten beschränkt er sich auf Grenzsicherung. Eine Randnotiz seines Prinzipats ist die Kreuzigung Jesu unter dem judäischen Präfekten Pontius Pilatus (ca. 30).

Kaiser Caligula (37–41) betreibt Abschreckungspolitik gegenüber den Germanen, hält sich aber an jener Front ansonsten zurück. Gegen Ende seiner Herrschaft entsteht das Gerücht, Caligula wolle den Jerusalemer Tempel für den römischen Staats- bzw. Kaiserkult umwidmen. Doch wird er vorher ermordet (Tac Hist. V 9,2). Er verfällt aufgrund der ständigen Demütigungen des Senats – unter anderem lässt er sich als Gott verehren und möchte sein Pferd zum Konsul ernennen – der damnatio memoriae.

Sein Nachfolger Claudius (41–54) integriert Gallien ins Römische Reich und erobert teilweise Britannien.2 Auf göttliche Verehrung verzichtet Claudius (Suet Claud. 12). 49 n. Chr. erlässt er ein Edikt, das die Juden aus Rom verbannt (Suet Claud. 25,4). Am Ende wird er von seiner Frau Agrippina vergiftet; das Edikt wird aufgehoben. Agrippina macht ihren 17-jährigen Sohn aus erster Ehe, Nero, zum neuen Imperator (54–68). Die eigentliche Macht liegt vorerst beim Stoiker Seneca (→ 2.2.2a); danach geht Nero eigene, von der Senatsaristokratie kritisch beäugte Wege. Nero unterwirft für kurze Zeit Armenien (58). Die Auseinandersetzung mit den Parthern wird zum militärischen Dauerbrenner. – Nero lässt sich selbst als Schauspieler, Sänger und Wagenlenker feiern. Im Jahr 64 brennt die Hauptstadt neun Tage lang. Laut Tacitus werden die stadtrömischen Christen zu Sündenböcken erklärt, verhaftet und viele von ihnen hingerichtet (→ 2.3.1d).3 Den Aufstand der Juden lässt Nero durch seinen Heerführer Vespasian bekämpfen (ab 66). Mordabsichten des Senats und der Prätorianer kommt Nero am 9. Juni 68 durch Suizid zuvor. Er verfällt der damnatio memoriae.4

2.Das Vierkaiserjahr und die flavische Dynastie (69–96 n. Chr.)

Das Jahr 68/69 ist ein Vierkaiserjahr; es herrscht Bürgerkrieg. Der spanische Statthalter Galba wird zum neuen Imperator ausgerufen (Suet Galb. 11, Plut Galb. 10,5), kurze Zeit später auch der Heerführer Vitellius und Otho, der Statthalter Lusitaniens. Galba wird auf dem Forum ermordet, Vitellius setzt sich auf dem Schlachtfeld durch. Er unterliegt im Dezember 69 n. Chr. seinem Konkurrenten Vespasian, dem Heerführer in Judäa. Vor seinem Abmarsch aus Judäa überträgt Vespasian seinem Sohn Titus den Oberbefehl. Titus belagert Jerusalem, zerstört den Tempel am 10. August 70 n. Chr. und plündert ihn mitsamt der Stadt. Der Erste Jüdische Krieg ist damit entschieden (→ 2.1.2e). Die Beute wird in einem Triumphzug durch Rom getragen, der Sieg auf dem Titusbogen im Sinne römischer Propaganda verewigt.

Vespasian zieht im selben Jahr als Retter des Staates in Rom ein. Sein Prinzipat steht unter dem Zeichen von Aufstandsbewegungen in Germanien, Gallien und Dakien. Vespasian bestimmt frühzeitig seine Söhne Titus und Domitian zu Nachfolgern. Ein ausgeklügeltes Steuersystem sorgt für solide Staatsfinanzen. Die ehemalige Tempelsteuer der Juden wird für Iupiter Capitolinus eingefordert (fiscus Iudaicus; Jos Bell. 7,218; vgl. Cass 65,7,2). Insgesamt geht Vespasian als bürgerfreundlicher und nachsichtiger Kaiser in die Geschichte ein.1

In die Regierungszeit des Titus (79–81 n. Chr.) fallen der große Vesuvausbruch mit der Zerstörung von Pompeji, Stabiae und Herculaneum (24. August 79), eine Pestepidemie und ein erneuter Großbrand in Rom (80). Titus, zuvor als grausam berüchtigt, agiert als Wohltäter Roms.2 Sein Bruder Domitian (81–96 n. Chr.) entwickelt sich gegenteilig: 86 lässt er sich als dominus et deus noster anreden und fordert Opfer beim Kaiserbild.3 Er errichtet einen riesigen Kaiserpalast auf dem Palatin (92) und vollendet das spätere Kolosseum.4 Domitians Größenwahn zerrüttet die Staatskasse nachhaltig. Kritische Stimmen im Senat und unter den Philosophen unterdrückt er mit brutaler Gewalt.5 Die Stoiker Epiktet und Dio Chrysostomos weist er 93 n. Chr. aus Rom aus, andere lässt er hinrichten, ihre Bücher verbrennen (Suet Dom. 10,3; Cass 67,13,1ff.). Selbst enge Familienmitglieder trifft dieses Schicksal. Juden und deren Sympathisanten leiden unter Repressalien, möglicherweise auch Christen (Suet Dom. 12,2; → 2.3.1d). – Außenpolitisch siegt Domitian gegen Chatten (Hessen) und Daker. 28 Legionen sichern die Außengrenzen des Römischen Reiches; das Militär wird großzügig gefördert und privilegiert.

Mit seiner Tyrannis schafft sich Domitian eine Opposition im gesamten Reichsgebiet. Überliefert ist satirische Zeitkritik durch Statius, Martial, Juvenal, Quintilian und Tacitus. Im Jahr 96 wird Domitian Opfer einer Palastverschwörung. Er verfällt der damnatio memoriae, Erinnerungen an ihn und seine Regierungszeit werden aus dem öffentlichen Gedächtnis getilgt (Suet Dom. 23,1).

3.Ausklang

Mit Kaiser Nerva (96–98 n. Chr.) beginnt eine neue Ära. Der Neubeginn wird als „Wiederherstellung der Freiheit“ und Beginn eines „glücklichen Zeitalters“ gefeiert (Corp. Inscr. Lat. VI 472; Tac Agr. 3.1). Nerva betätigt sich als Wohltäter der Armen; dies wird von seinen Nachfolgern weitergeführt. Der fiscus Iudaicus wird auf beschnittene Juden reduziert.1 Mit der Adoption Trajans im römischen Jupitertempel führt Nerva das göttlich legitimierte Adoptionsprinzip, unabhängig von Blutsverwandtschaft, zur Sicherung des Prinzipats ein; nicht mehr der Erste in der dynastischen Erbfolge, sondern der Fähigste soll die Geschicke des römischen Imperiums leiten. Das ist die Konsequenz aus den negativen Erfahrungen mit dem dynastischen Prinzip.

2.1.2Judentum

Überblick: Die Geschichte des frühen Judentums ist eine Geschichte der Fremdherrschaft, der politischen und religiösen Krise. Palästina ist Spielball der Ptolemäer, Seleukiden und Römer. Übergriffe der Fremdherrscher durchbrechen die religiöse Autonomie und provozieren zum Teil gewaltsamen Widerstand. Konservativ und hellenistisch eingestellte Kräfte konkurrieren. Der Jerusalemer Tempel ist Zentrum jüdischen Lebens. Religiöse boundary markers bilden sich heraus.

a)Vorbemerkungen

Die folgende Darstellung setzt mit der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil (539 v. Chr.) ein. Zwischen israelitischer und jüdischer Religion gibt es keine harte Zäsur. Die Tora ist bleibendes Zentrum des religiösen Lebens. Ab dem Bau des Zweiten Tempels (Ende 6. Jh. v. Chr.; Esr, Neh) ist von (frühem) Judentum zu sprechen.1 Mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. Chr. beginnt die rabbinisch-talmudische Epoche des Judentums.

b)Die Errichtung des Zweiten Tempels (Esr, Neh)

Quellen für diese Epoche sind das chronistische Geschichtswerk, nachexilische Propheten wie Hag, Sach, Mal, Jon und das Buch Ruth. Auch die jüngere Weisheitsliteratur entsteht in dieser Zeit (Hi, Koh, Tob). Vorstufen apokalyptischen Denkens finden sich in Joel, Jes 24–27 und Ez 36f.

539 v. Chr. zieht Perserkönig Kyros in Babylon ein. Ein Jahr später gibt er die aus dem Jerusalemer Tempel geraubten Tempelgeräte zurück und lässt den Tempel neu aufbauen (Esr 5,14–16; 6,3–5). Jüdische Rechtsträger sind die Davididen (Serubbabel) und die Zadokiden (hohepriesterliche Familie, Jeschua). Ca. 521 v. Chr. kehrt ein Großteil der Exilierten unter Serubbabel und Jeschua (Esr 5,1f.; Hag 1,1; Sach 1,1) nach Hause zurück. Eine Integration der vor dem Exil in Israel verbliebenen Landbevölkerung findet nicht statt; diese bleibt von Tempelbau und Tempelkult ausgeschlossen (Esr 3,3; 4,1ff.).

515 v. Chr. wird der Zweite Jerusalemer Tempel eingeweiht. Eschatologische Hoffnungen auf eine Restauration des Davidischen Reiches bleiben unerfüllt. Jerusalem ist lediglich in Kultfragen autonom und muss den Persern Steuern zahlen. Anstelle eines Königs repräsentiert der Hohepriester das Volk nach außen (Hierokratie). Das Streben nach politischer Souveränität bleibt lebendig. Juda wird um 450 v. Chr. politisch selbständig; 445 v. Chr. ist Nehemia Statthalter von Juda.

In jener Phase herrscht eine ausgeprägt jüdisch-exklusivistische Gesinnung (deuteronomistische Theologie, Maßnahmen gegen Mischehen). Passa- und Laubhüttenfest sowie der Sabbat werden zu boundary markers.1 Eine Abgrenzung erfolgt gegenüber den Samaritanern mit ihrem Tempel auf dem Berg Garizim. Es entwickelt sich ein autonomes Rechts- und Gerichtswesen auf Grundlage der Mosetora (Esr 7,14). Trotz des strengen Religionsgesetzes assimiliert sich die Oberschicht an die hellenistische Umgebung. Wachsende Gegensätze zwischen Hierokratie und eschatologischen Strömungen im Volk sind die Folge.

c)Geschichte Palästinas in der Diadochenzeit

Als Quellen für die ägyptische Zeit (3. Jh. v. Chr.) sind die Zenon-Papyri zu nennen. Für die syrisch-makkabäische Zeit gibt apokalyptische Literatur (Dan, äthHen u. a.) Auskunft. Daneben sind 1–3 Makk und das Jubiläenbuch (Jub; ca. 100 v. Chr., ein midraschartiger Text) auskunftsstark.

323 v. Chr. erfolgt der Anschluss Palästinas an das Alexanderreich. Judäa bildet bis in die Römerzeit hinein die Pufferzone zwischen den Großmächten Ägypten und Syrien. Dies führt innenpolitisch zu Fraktionsbildungen (pro-ptolemäische Tobiaden vs. pro-seleukidische Oniaden). Von 301 bis 198 v. Chr. ist Palästina Teil des Ptolemäerreichs; das Judentum öffnet sich nach außen. Aufgrund wirtschaftlicher Faktoren (Versklavung jüdischer Bauern u. a.) entstehen neue Diasporazentren wie Alexandria. Palästinische Städte werden hellenisiert (Gründung von Philadelphia-Amman, Ptolemais-Akko; Skythopolis-Beisan). Palästina genießt in dieser Epoche kulturelle und religiöse Freiheit. Der hellenistische Einfluss prägt das Alltagsleben, bezeugt durch griechische Theater, Badeanstalten, Aquädukte, Hippodrome und viele zweisprachige Inschriften.1

198 v. Chr. erobert Seleukidenkönig Antiochos III. d.Gr. Palästina (Schlacht von Paneas). Die Selbstverwaltung Jerusalems auf Grundlage der Tora bleibt gesichert. Die pro-seleukidischen Oniaden werden großzügig privilegiert (Hoherpriester Simon, ca. 200 v. Chr.; vgl. Sir 51). Für das Volk ändert sich jedoch nichts zum Guten. Die sozialen Gegensätze steigen weiter, die (Zwangs-)Hellenisierung beschleunigt sich. In religiöser Hinsicht führt dies teilweise zur Gleichsetzung von Jahwe und Zeus; dabei kollaborieren die Oniaden teilweise mit den Seleukiden.

Antiochos IV. Epiphanes (175–162 v. Chr.) strebt danach, sich Ägypten einzuverleiben; das wird laut Dan 11,29f. durch die Römer vereitelt. Hellenistische Gebräuche wie Herrscherkult und Polisverfassung werden unter dem Hohenpriester Jason (175–172 v. Chr.) eingeführt. Jerusalem wird in Antiochia umbenannt. Die Tora wird als Staatsgesetz aufgehoben, das Volk politisch entrechtet (2 Makk 4,9). Es formieren sich radikal-religiöse Oppositionsgruppen wie die Chasidim und die Asidäer. Ein Kulturkampf und ein Bürgerkrieg brechen aus.

Als Reaktion darauf, möglicherweise auch als Strafe wegen pro-ägyptischer Aktivitäten, plündert Antiochos IV. im Herbst 169 v. Chr. den Jerusalemer Tempelschatz und damit Judäas „Bundesbank“. Es kommt zur offenen Erhebung des Volkes (1 Makk 1,20); sie wird im Sommer 168 niedergeworfen (2 Makk 5,11ff.). Jerusalem wird Militärkolonie, Haus- und Grundbesitz wird konfisziert, der Tempel entweiht. Viele Bürger und Priester verlassen Jerusalem (1 Makk 1,36.38–50; 3,45; 2 Makk 5,27) und formieren im Umland Guerillatrupps.

Ein Dekret vom Mai/Juni 167 v. Chr. verfügt die Einführung des Königsopfers und die Weihung des Jerusalemer Tempels zu Ehren von Zeus Olympios (1 Makk 1,41f.; 2 Makk 6,4; Dan 11,31: „Gräuelbild der Verwüstung“). Verboten werden Beschneidung, Sabbatheiligung und die Einhaltung von Speisegeboten. Stattdessen wird die Teilnahme an nichtjüdischen Kulthandlungen erzwungen.

Daraufhin entwickelt sich ein Aufstand der jüdischen Landbevölkerung unter der Priesterfamilie der Hasmonäer bzw. Makkabäer.2 Es bildet sich eine antihellenistische Front aus Makkabäern, Asidäern u. a. (1 Makk 7,13; 2 Makk 14,6);3 ein Bürgerkrieg gegen hellenisierte Städter und Reiche, verbunden mit einer hohen Bereitschaft zum Martyrium, bricht aus. Ende 164 v. Chr. wird Jerusalem zurückerobert; die traditionelle Verfassung und der Jahwekult im Tempel werden wiederhergestellt (2 Makk 1,1–9; 1,10–2,18; vgl. das Channuka-Fest). Der Erfolg wird in apokalyptischen Kreisen (Dan 11,34) jedoch nur als „kleine Hilfe“ angesehen; es bleibt die Erwartung der eschatologischen Rettung durch Jahwe selbst.

161 v. Chr. schließt Judas Makkabäus einen Vertrag mit Rom. Die hasmonäischen Hohenpriester werden durch Rom anerkannt. 142 v. Chr. erkennen die Seleukiden die Unabhängigkeit Judäas offiziell an (1 Makk 13,42). Die „große Ratsversammlung“ beschließt die Vereinigung von weltlicher und geistlicher Gewalt in Personalunion (139 v. Chr.; 1 Makk 14,27f.). Die Makkabäer regieren in Erbfolge mit einem messianischen Anspruch, der jedoch von frommen Kreisen als „pseudomessianische Anmaßung“ bestritten wird.

Unter Johannes Hyrkan I. (134–104 v. Chr.) werden die Idumäer zwangsbekehrt, Gesamtpalästina wird judaisiert (Eroberung von Gaza, Galiläa, Samaria und Ostjordanland). Die wachsende Entfremdung zwischen Hasmonäern und konservativen Bevölkerungskreisen führt zur Emigration der Qumrangruppe („Lehrer der Gerechtigkeit“), und es formieren sich die Pharisäer (Laienschriftgelehrte) als Oppositionsbewegung gegen die „heidnische“ Politik der Hasmonäer.

Ab Aristobul Philhellenos (Griechenfreund) und Alexander Jannaj kommt es auch unter den Hasmonäern zu einer massiven Hellenisierung. Alexander erhält 100 v. Chr. die Königswürde zugesprochen. In Anlehnung an das hellenistische Königtum steht er über dem Gesetz und das, obwohl er zugleich Hoherpriester ist. Daher drängen die Pharisäer auf Ämtertrennung; es entsteht der Sanhedrin (gr. Synhedrion) als legislatives und richterliches Gremium („Staatssenat“; s. u.). Die Folgezeit ist von inneren Streitigkeiten und Bruderkämpfen geprägt, in denen Pompejus d.Gr. als Schiedsrichter agiert und 63 v. Chr. Jerusalem erobert.

d)Das religiöse Leben in der Makkabäerzeit

Bis 70 n. Chr. ist der Jerusalemer Tempel Mittelpunkt des religiösen und öffentlichen Lebens.1 Er hat eine vierfache religiös-ideologische Funktion: Erstens als Wohnstatt Gottes; zweitens als Ort, an dem die Heilstaten Gottes repräsentiert werden (kultisch-nationale Feste wie Channuka, Passa, Purim etc.); drittens als national-religiöses Zentrum: Auch die Diasporajuden entrichten eine Tempelsteuer und besuchen Wallfahrtsfeste (identitätsstiftende Funktion); viertens als „Bundesbank“. Es herrscht eine Theokratie, es gibt einen Tempelstaat.

Über die Tempelliturgie ist wenig bekannt. Zu unterscheiden sind öffentliche Liturgie und Opferkult einerseits und eine interne, auf die Priester beschränkte Liturgie andererseits. Wer den Tempel(-kult) kontrolliert, hat die Macht (Hohepriester, Sadduzäer, das politische Regime). Die anderen sind machtlos oder gehen in die Opposition (Pharisäer, Qumrangruppe, apokalyptische Gruppierungen).

Synagogen gibt es seit dem Babylonischen Exil (Neh 8–10). Sie sind Zentren des Gemeindelebens in der Diaspora (→ 2.2.4c). Für die ntl. Zeit sind Synagogen in Galiläa bezeugt. Die synagogale Infrastruktur rettet das Judentum aus der Katastrophe von 70 n. Chr. Über das Verhältnis von Tempel und Synagoge ist wenig bekannt. Möglicherweise ist die Synagoge für Gruppen, die wenig Einfluss auf den Tempelkult haben, eine kultische Alternative. Die Liturgie des synagogalen Gottesdienstes besteht aus Schriftlesung, Predigt, Gebet und Benediktion.

Synhedrium/Sanhedrin: Der Sanhedrin entsteht in makkabäischer Zeit als Gegeninstanz zum König. Er ist ein politisch-religiöses Führungsgremium vergleichbar hellenistischen Kronräten. Er besteht aus 71 Mitgliedern aus unterschiedlichen Gruppen wie Sadduzäern und Pharisäern; den Vorsitz führt der Hohepriester. Interne Interessengegensätze münden in Führungskämpfen zwischen Pharisäern (konservativ) und Sadduzäern (hellenismusfreundlich). Herodes d.Gr. beschränkt den Sanhedrin auf religiöse Aufgaben. Die römische Verwaltung (ab 6 n. Chr.) gesteht ihm die Rolle der obersten Repräsentanz Judäas zu. – Das Hohepriesteramt wird von den Seleukiden an den jeweils Meistbietenden vergeben. Hierdurch kommt es zu einer Hellenisierung des Priesterstandes. Die niederen Priester und Leviten sind vom Hohenpriester als „Finanzamt“ abhängig.

e)Geschichte Judäas als einer römischen Provinz

1.Politische Entwicklung

Überblick: Palästina ist seit 63 v. Chr. römische Provinz und unter Herodes d.Gr. weitgehend autonom.1