3,99 €
„Wer ist der Herr über meinen Körper“, fragt sich die rothaarige Halbwaise: „Wer bin ich?“, und was erwartet uns nach dem Tod. Alva kam bereits mit dem Tod auf die Welt, als ihre Mutter bei der Geburt starb. Er wurde zu ihrem ständigen Begleiter. Sie ist ein zerbrechliches Geschöpf und ihre Wahrnehmung unterscheidet sich stark von der anderer Kinder. Ihre ganze Aufmerksamkeit knüpft sie an Kräfte jenseits des Hier und Jetzt und immer wieder begegnen ihr ungewöhnliche Dinge. Als sie dann bei einem Unfall ins Koma fällt, tritt sie ihre Reise in die geistigen Welten an. Ihr Körper liegt wie eine leblose Puppe im Bett, während ihr Geist fremdweltlichen Wesen begegnet. Aus einer höheren Dimension heraus lässt sie den Leser an ihren Erlebnissen und Eindrücken teilhaben, indem sie ein Tagebuch schreibt. Doch wird sich ein Beweis für die Wahrhaftigkeit ihrer Erlebnisse finden lassen? Im Vordergrund des Geschehens steht der Kampf gegen finstere Mächte. Es werden beliebte Motive wie Schwur, Freundschaft, Liebe zur Familie und die romantische Liebe aufgegriffen, der Alva in all ihren Facetten begegnet und bei der ihre Hellsichtigkeit versagt. Geistwesen, eigenartige Tiere und Träume, ein Spiegel, ein mysteriöses Tagebuch, ein Orakel, ein Amulett und ein Paar Ringe, ein Elixier und der Stein der Weisen sind nur einige der Dinge, die dabei eine tragende Rolle spielen. Klappentext: Alva, ein zartes Mädchen mit einer Haut wie Porzellan und flammenrotem Haar begann ihr irdisches Leben, während ihre Mutter ihres gab. Sie trägt schwer am Tod und dem Sterben um sich herum. So ist sie kein sorgloses Kind, das sich gedankenlos beim Spielen entwickelt. Ihr Geist macht sich auf in eine Welt außerhalb unserer Vorstellungskraft. Dabei knüpft sie ihre ganze Aufmerksamkeit an Kräfte jenseits des Hier & Jetzt. Und immer wieder begegnen ihr ungewöhnliche Wesen. Sie begegnet dem grenzenlosen Sein von Geistern und dem düsteren Schatten. Als sie bei einem Unfall ins Koma fällt … Die Idee zu der Story findet ihren Ursprung in Berichten über out-of-Body-Experiences während Nahtodzuständen, die selbst von der Wissenschaft in ihrem Wahrheitsgehalt nicht angezweifelt werden. Diese sucht jedoch Beweise, dass ein nachweisbares Sehen und Hören im klinisch toten Körper nur restlichen Hirnaktivitäten entspringen. Kinder erheben keinen Anspruch auf solch forensische Analyse. Sie leben instinktgesteuert, zunächst ohne Impulskontrolle und angepasstem Verhalten. Die Kleinen vertrauen noch voll ihrer Wahrnehmung. Dies ist die Voraussetzung für den Glauben, die Nahrung des Geistes. Sollte unser Gehirn die Schnittstelle zu einem höheren Bewusstsein außerhalb des Körpers sein, ist es nur der Geist, der uns die besagten Einblicke ermöglicht und nicht die Leistungen des Gehirns. Die Geschichte fußt auf die essenzielle Frage nach dem Sinn des Lebens und dem, was hinter allem steht. Warum sollen dem Menschen jenseitige Dinge verborgen bleiben? Die Autorin präsentiert uns mit dem ersten Band »Alva Schummer – Im Raster der Welten« einen Fantasyroman mit philosophischem Einschlag, den sie durch eine bildhafte Sprache und dem Wechsel der Erzählperspektive in Spannung hält. Während im ersten Teil des Buches, deren Kapitel durch Gedichte der Titelheldin Alva getrennt sind, die auktoriale Erzählweise bestimmend ist, erfolgt im zweiten Teil der Wechsel zur Tagebuchform und damit zur ICH-Perspektive. Dies macht die Geschichte lebendig und die Titelheldin so nahbar.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 445
Veröffentlichungsjahr: 2021
Alva Schummer
Im Raster der Welten
1. Band
Erhältlich in +250 Online-Shops
Kostenfreie Tracks auf Youtube
Soundtrack zum Roman
Komponist Falko Mäbert
1. Intro
01:12
2. Ohne Raum & Zeit
02:16
3. Schöner Weltenzauber
04:20
4. Düstere Weltenmagie
03:20
5. Verlust & Abschied
04:04
6. Liebe & Glück
02:40
7. Zorn & Verwirrung
02:52
8. Wettkampf
02:02
9. Katastrophe & Niedergang
01:28
10. Angst & Schrecken
03:00
11. Sieg & Erlösung
03:20
12. A Violet From Mothers Grave by W. H. Fox 1881
02:58
– Videoclip auf Youtube –
© Rechte liegen bei T.R. Rademaekers und dem Urheber F. Mäbert.
Thora Rademaekers
Alva Schummer
Im Raster der Welten
Neuausgabe
„Im Raster der Welten“
Eine fiktive Geschichte, inspiriert von zahlreichen Erfahrungsberichten, die auf individuellen Wahrnehmungen basieren.
Fantasy trägt Philosophie
Impressum:
© 2022 Thora Rademaekers
(Erstauflage 2017)
Autorin: Thora Renata Rademaekers
Korrektorat: Dr. A. Rademaekers/ R. Nötzel
Illustrationen und Umschlagentwurf: Autorin
Soundtrack: Falko Mäbert - Six Crown Entertainment
Verlag & Druck: Tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN: 978-3-347-18951-5 (Hardcover)
ISBN: 978-3-347-22692-0 (Paperback)
ISBN: 978-3-347-18954-6 (E-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische u. sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Cover
Halbe Titelseite
Titelblatt
Urheberrechte
Der weite Weg
Ein Amulett
Geliebte Geister
Der Tag, an dem sie 14 wurde
Was die Nacht verschleiert
Ein Bienenelf
Oläfchen
The ghostly man
Pinus sylvestris
Flash- der weiße Hengst
Thorn
Der geheimnisvolle Spiegel
Aufregung in der Waschküche
Traum oder Wirklichkeit?
In Flagranti
Freund oder Geliebter?
Hexe!
Auf die Plätze …
Im Zwiespalt
Die 13 …
Elixirum cogniti
Im Schulgarten …
Zur Seelenruhe im Speisesaal
Zum Visualisierungsraum
In der Exponatothek
Ins Niederreich
An der nebeligen Weggabelung
Das Wiedererstehen
Die Autorin
Die Mitwirkenden
Und so geht es weiter:
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Der weite Weg
Und so geht es weiter:
Cover
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
100
101
102
103
104
105
106
107
108
109
110
111
112
113
114
115
116
117
118
119
120
121
122
123
124
125
126
127
128
129
130
131
132
133
134
135
136
137
138
139
140
141
142
143
144
145
146
147
148
149
150
151
152
153
154
155
156
157
158
159
160
161
162
163
164
165
166
167
168
169
170
171
172
173
174
175
176
177
178
179
180
181
182
183
184
185
186
187
188
189
190
191
192
193
194
195
196
197
198
199
200
201
202
203
204
205
206
207
208
209
210
211
212
213
214
215
216
217
218
219
220
221
222
223
224
225
226
227
228
229
230
231
232
233
234
235
236
237
238
239
240
241
242
243
244
245
246
247
248
249
250
251
252
253
254
255
256
257
258
259
260
261
262
263
264
265
266
267
268
269
270
271
272
273
274
275
276
277
278
279
280
281
282
283
284
285
286
287
288
289
290
291
292
293
294
295
296
297
298
299
300
301
302
303
304
305
306
307
308
309
310
311
312
313
314
315
316
317
318
319
320
321
322
323
324
325
326
327
328
329
330
331
332
333
334
335
336
337
338
339
340
341
342
343
344
345
346
347
348
349
350
351
352
353
354
355
356
357
358
359
360
361
362
363
364
365
366
367
368
369
370
371
372
373
374
375
376
377
378
379
380
Widmung
Für alle, denen es Vergnügen bereitet, über den Tellerrand zu schauen.
„Der intuitive Geist ist ein heiliges Geschenk und der rationale Verstand sein treuer Diener. Wir haben eine Gesellschaft geschaffen, die den Diener verehrt, doch das Geschenk vergessen hat.“
Albert Einstein
Der weite Weg
Weite.
Nur Weite.
Im Sein ohne Bild und Ton.
Weder Raum noch Zeit.
Die Gefühle gelöst, aber da.
Und wie ein sicherer Schwimmer gleitet eine feine Seele durch ein scheinbares Nichts. Ein Nichts, das plötzlich viele Wege ausleuchtet. Wege in eine Welt voll des pulsierenden Lebens. Geschubst von einem Impuls, treibt es sie in diese Welt der Begrenzungen. Geführt von einer Kraft, die selbst weder oben noch unten kennt, einer Kraft, die es weit, licht und warm werden lässt.
„Sei gut!“, pflanzt es sich, wie vom Blitz geschlagen, in jene Seele und dann ist sie ein pochendes Leben am Rande eines kleinen, gemütlichen Dorfes.
Die Glockenstäbe des Windspiels ertönten in seltsamer Reihenfolge, sodass eine fertige Melodie erklang. Die alte Hebamme protokollierte die Zeit »11:55 Uhr« und durch das Fenster des Geburtshauses blitzte die Frühlingssonne. Vögel schäkerten und probten ihr Musizieren. Alles in der Natur wollte einander übertrumpfen. Frei verneigten sich die hohen Tannen im frisch duftenden Wind; einer zarten Brise Holunder, früher Apfelblüte und frisch gewaschener Wäsche, die in den Gärten zum Trocknen auf langen Leinen hing.
„Alva, die Weise, soll sie heißen“, hauchte Ursel, als ihre zart streichelnde Hand vom Kinde sank. Die Seele dieser Frau trat nun einen anderen Weg an. Ohne jeden Versuch zu handeln oder zu feilschen, schlief sie mit einem Lächeln hinüber. Zurück blieb ein zerbrechliches Frühchen, dessen Überleben zweifelhaft schien. Aus ihrem Tragekörbchen, zwischen Wolle und Leinen, griffen Alvas zarten Händchen unermüdlich in die Lüfte.
Die Familie versuchte, dem faltenlosen Porzellankind die mütterliche Liebe zu ersetzen. Es sollte dem Mädchen an nichts fehlen. Doch wie sie sich auch mühten, es wollte nur schlecht gedeihen. Es machte den Anschein, als lastete sie sich an, ihrer Mutter den Atem gestohlen zu haben und so stockte oft der ihre. Sie blieb zart und schmächtig mit einer derart blassen Haut, dass sie beinah durchsichtig wirkte. Ein feines Geflecht aus Äderchen überzog wie ein Kunstwerk ihren Körper. Und direkt über ihrer puppengleichen Nase saß eine samtig rote Stelle. Nur ein Storchenbiss, wie es die Hebamme charmant nannte, der im Laufe der Jahre verblassen sollte.
Vater Albert ging vorsichtig mit der Trauer um. Mit dem Verlust seiner Frau wurde doch auch die Freude an einem Kind geboren, das keinen Schaden nehmen sollte. Aber es schwebte immer ein Schatten über der Familie Schummer. Er erlaubte sich kaum ein Vergnügen und nahm derart viel Arbeit an, wie es bedurfte, um eine Großfamilie anständig zu versorgen. Er rackerte wie ein Vogelmännchen, dessen Nest angeschlagen oder beraubt wurde und der dennoch immer weitermachte, solange es irgendetwas für seine Brut zu erledigen und zu retten gab.
Auf Bruder Karl, den ältesten der Geschwister, wirkte Alva unheimlich. Der Junge sah in ihr wenig Vertrautes. Er, dem die Welt mit ihren Launen derart früh zusetzte, sah in diesem Spross etwas Schicksalhaftes, das ihm scheinheilig wie ein Dorn ins Herz fuhr. Schließlich war sie der Stachel, der seiner geliebten Mutter das Leben gekostet hatte.
Klara jedoch liebte ihre kleine Schwester bedingungslos. Sie fühlte sich für sie verantwortlich, obwohl nur drei Jahre zwischen ihnen lagen. Und so wurde sie zu schnell reif für ihr selbst noch junges Alter. Sie wirkte wie die junge Eiche, die aufrecht vor Alvas Zimmer wuchs und schon eine recht große Krone ausbreitete. Ein tief verwurzelter Baum, der im Sommer kühlenden Schatten spendete und im Winter den gefiederten Musikanten Schutz bot. Klärchen hatte dort den bunten Federbällen eine Futterstelle eingerichtet. Damit bot sich zu jeder Jahreszeit durchs Fenster zum Vorgarten ein lebendiges Panorama.
Und genau vor dieser Aussicht stand oft Helene, eine alte Frau mit silberweißem Haar und knautschig weicher Haut. Nur ihr wacher Geist trotzte noch ihrem Alter. Sie schaute auf den Gartenzaun, wenn sie auf ihre Lieben wartete und auch nur einer von ihnen fehlte.
„Ach, ich bin nur noch eine lästige Stubenfliege“, sagte sie, wenn ihre Familie meinte, sie sei die Seele des Hauses.
Die Großmutter trug viele Namen, die sie sich versuchte zu verdienen. Die beiden Mädchen nannten sie liebevoll ihr Mütterchen, Karl hieß sie das Muttchen und für den Vater Albert blieb sie die Lene Mutti. Sie war wie ein Bindfaden, der ihre Leiber und Seelen zusammenhielt.
Mit dem Tod ihrer geliebten Tochter Ursel drehte sich ihr Leben nicht mehr um ihre eigene Person. Da sie das Alter hatte, um ihre Arbeit als Krankenschwester niederzulegen, stellte sie sich in den Dienst ihrer Familie. Dabei wurde sie Zeugin von etwas Ungewöhnlichem. Es klärte sich für sie ein Geheimnis anhand von Alvas Gedichten, Briefen und Tagebucheinträgen. Die Großmutter durfte alles lesen, die vielen Worte, die sich in Alvas Kopf drängelten. Sie fanden keinen anderen Ausweg, als sich kreuz und quer auf allerlei Papier zu winden und zu quetschen, um dann nahtlos wie die Maschen in einem Strickwerk einen sinnvollen Platz in ihrer Schöpfung einzunehmen. So erfuhr diese alte Dame hinter dem Schmerz einer Mutter, die ein Kind verloren hat, einen Sinn, um dessentwillen es sich lohnte, tapfer zu sein.
Sie zog alle Schummerlinge aus ihren Kinderschuhen in die Fußstapfen ihrer Eltern. Und nebenbei übernahm sie die ehrenvolle Aufgabe, die Schriftwerke ihrer Enkelin Alva zu sammeln und in einen Zusammenhang zu bringen, um den Menschen einiges bewusst werden zu lassen.
O Mutter, liebes Mütterlein. Hier fühl ich mich zu Haus, wo du mich reingeboren hast, doch tauschte man uns aus.
Das kann kein guter Wechsel sein. Du warst so gut und schön. Wie nehm ich hier dein’ Platz nur ein? Wie könnt ich mich aussöhn’?
Aussöhnen mit des Schicksals Hand, die solche Wunde riss, mich zeitlebens hat verbannt in diese Kümmernis.
Und war es nicht des Schicksals Hand, dann war ICH es allein, Alva, die deine Liebe fand, holte dir den Atem ein!
Von Alva Schummer
Ein Amulett
Feengleich saß Alva auf dem knorrigen Steg am grünblauen Waldsee, ihre schilfbraune Angelrute in der Hand, gestützt von ihrem spitzen Ellenbogen. Der aufgehende Mond warf ein kühles Licht auf die rote Pose, die aufgeregt im Wasser zuckte. Möglich, dass es ihr blaues und grünes Auge war, mit denen sie es vermochte, durch all die Dinge hindurchzusehen. Sie sahen derart hell aus, dass sie leuchteten, eines in der Farbe des Sommerhimmels, das andere wie der Wald im Frühling. Fremde wichen diesem strahlenden Blick entweder aus oder schauten sich darin fasziniert fest.
Alva musste schmunzeln. Die Fische unter dem Wasserspiegel spielten einander den Teig am Haken zu. Ein dicker Karpfen rollte mit den Glotzaugen, während seine Barteln um das breite Maul herumwedelten. Gelassen glitt er unter die Seerosen. Und wie in einem Gemälde steckend, ruhte Alva in sich, im Frieden dieses klaren Abends, durch den die Welt allmählich ihre Farben verlor. Nur das Haar des Mädchens schimmerte noch immer scharlachrot. Es fiel in Kordeln über ihre schmalen Schultern und drohte, durch die Holzspalten in den abendtrüben See zu stippen.
Obwohl die Worte der Reden oft in ihrer zierlichen Brust stecken blieben, fanden Töne der Melodien in erstaunlicher Resonanz ihren Weg. Wann immer Alva wie gerahmt am Wasser saß zwischen sattgrünen Bäumen, die sich eitel im Nass spiegelten, entfalteten sich ihre Lungenflügel. Hohe, sehnsuchtsvolle Klänge ergriffen schwingend all die Tiere, jede Pflanze, ja selbst die Steine; wie eine natürliche Magie. Es schien fast, als entlocke sie ihnen so ihre Geheimnisse, die ihren spitzen Ohren und ihrem dritten Auge nicht mehr verborgen bleiben konnten.
Der sogenannte Storchenbiss, dieses samtig rote Hautmal zwischen ihren Brauen, sah aus wie der grobe Umriss eines Auges. Er trat kräftiger hervor, presste sie die hohen Töne glasklar an ihren Stimmbändern vorbei. Und immer wenn sich Alva konzentrierte, rieb sie jene Zeichnung, als wolle sie damit den Geist einer Lampe herbeirufen.
Fast hatte sie alles ringsum in einheitliche Schwingung versetzt, tänzelte Klara über die alten Holzbohlen zu ihrer kleinen Schwester. Sie versuchte, die Bretter zu vermeiden, die knarrten und flüsterte: „Hallo mein Liebes, pst … sing weiter!“
Die Halbwüchsige verhielt sich sehr verantwortungsvoll für ihr Alter, das erst sechzehn Herbste zählte. Sie war ein Spross des Oktobers, geboren im Sternzeichen der Waage. Ihr erdfarbenes Haar flocht sie oft zu zwei dicken Zöpfen, die sie mit Klammern nach oben zwang. Sie umgarnten ihre bereits reifen Gesichtszüge, die braunen Mandelaugen und den immer spitz gehaltenen roten Mund.
„Du bist hübsch, Schwesterlein.“ Neidlos hob sie Alvas seidig leichte Korkenzieherlocken vom Steg auf, teilte sie im Nacken und schlug sie unter dem milchigen Kinn ihrer Schwester zusammen, als wolle sie ihr daraus einen Schal binden. Rasch griff sie die dicke Strickjacke und legte sie ihr um die Schultern. „Es ist abends noch viel zu frisch!“
Sie lächelten sich an, um dann über das ruhige Wasser hinwegzuträumen.
„Alvi, fragst du dich auch, warum bisher niemand auf der Halbinsel war?“ Gerüchte und mystische Geschichten rankten sich um dieses Stück Seelandschaft, das mit Birken gespickt und von Seerosen umsäumt war. „Vater sagt, dass es einen Zugang von der anderen Seite gibt, der morastig und gefährlich sein soll.“
Doch Alva starrte nur regungslos und stumm auf ihre rote Pose im Wasser. Sie schien mit den Gedanken weit weg zu sein.
„Komm, Alvi, es wird Zeit!“ Ordentlich sammelte Klara alle Angelsachen auf und führte ihre Schwester heim über den matschigen, kühlen Waldweg, den sie im Sommer gern barfuß nahmen. Vorbei an einer verwachsenen Buche, den hochgestapelten Holzscheiten und dem eingezäunten Misthaufen, der direkt an der Holpersteinstraße lag. Von dort aus zwischen den beschnittenen Weiden bogen sie zu ihrem angrenzenden Gehöft ab.
Sie öffneten den Gartenzaun und standen vor dem weiß verputzten Vaterhaus, das ihm die Großmutter übereignet hatte. Viele Sprossenfenster und eine dicke Holztür, die von einer Laterne mit gelbem Licht beleuchtet wurde, zierten die Hausfront. In der Stube wartete frisches Brot und heiße Schokolade, auf die sich die Kinder jeden Abend freuten. Am meisten aber liebten sie den Anblick ihrer Großmutter, wie sie in der bunten Kittelschürze auf einem Stuhl saß, die Beine in hellen Feinstrumpfhosen übereinandergeschlagen, und einen Glimmstängel hielt mit der Warnung: „O Kinder, fangt bloß nie damit an!“
Dann spitzte Alva lächelnd ihre Lippen, schüttelte ihren Kopf und schnalzte: „Tna, also Mütterchen!“
Aber die Dame wähnte sich viel zu alt, um mit diesem einzigen Laster aufzuhören, und pustete den Qualm ganz gemächlich in Richtung Flimmerkiste, einem Fernsehgerät, der lebende Bilder in allen Schattierungen zwischen weiß und schwarz abspielte. Und obwohl die Filme keine Farbe zeigten, sagte die Großmutter oft verträumt: „Ah, wenn wir als Kind doch auch sowas gehabt hätten.“ Dann erzählte sie aus ihrer Kinderzeit. Wie sie die Gänse hüten musste, von dem fuchtigen Ganter, den Rennpferden des Onkels, ihrem Bruder Gerd, dem Jockey, den Kutschfahrten im Sommer und den Schlittenfahrten im glitzernden Schnee. Sie klagte über den langen Schulweg, schwärmte von den Dorftänzen und von ihren geliebten Schwestern.
Immer wieder fesselte sie damit ihre Enkel. Doch es gab für sie kaum etwas Spannenderes, als aus dem Leben ihrer Mutter zu hören.
„Ich weiß bis heute nicht, wer dieser Mann war“, sagte sie kopfschüttelnd. Dabei pustete sie langsam den Rauch aus ihren Lungen, der bläulichweiß aussah wie ihr kurzes, in Locken gelegtes Haar. „Er trug einen Arztkittel und hatte ein Stethoskop um. Fhhhhh …“, hauchte sie. „Eure Mutter hatte es enorm eilig, geboren zu werden. Und dann stand er am Bett, nahm nur meine Hand und meinte, dass alles gut werden würde. Mehr tat er nicht. Aber so wurde ich ruhig. Keiner erinnerte sich im Nachhinein, wie er überhaupt ins Haus hereingekommen war oder wieder verschwand.“
„Damit war Mutti auf der Welt? Gesund?“, fragte Karl.
„Ja, es ist alles gut gegangen. Und ich konnte mich nicht einmal bei diesem Mann bedanken. Er war plötzlich fort, noch bevor die Hebamme und der Arzt kamen.“
„Aber ihr habt ihn alle gesehen? Habt ihr denn nach ihm geforscht?“, bohrte Klara mit großen Augen nach.
„Ja, Kind. Jeder hat ihn gesehen, meine Schwester und eine Nachbarsfrau, nur eben nicht mehr der Dorfarzt. Und es fand sich weder unter den Pflegern noch den Ärzten der Umgebung jemand, der ihm ähnelte.“
„Seltsam!“
„Komisch!“
„Merkwürdig!“, staunten die Kinder nacheinander und schüttelten den Kopf.
„Ja“, erwiderte die Großmutter nickend, „Das meinten alle. Es gab keinen Mann in der Gegend, der so aussah oder in der Freizeit weiß gekleidet ging. Und niemand stellte je diesen Dienst in Rechnung. Na ja, wie gesagt, er hatte auch kaum etwas getan.“
„Doch!“, hauchte Alva, während sie das gerahmte Bild ihrer Mutter anstarrte, das auf dem Vorsprung des bernsteinfarbenen Kachelofens stand, „Ohne ihn hätte dir die Kraft gefehlt.“
„Oh, du hast recht. Ich fühlte, wie ich alle Energie verlor, bis dieser Mann meine Hand nahm.“ Auch die Großmutter fixierte mit ihrem Blick das Foto auf dem Ofensims, das ihre verstorbene Tochter Ursel im blauen Kleid zeigte, dem Kleidungsstück, das gemeinsam mit einer Haarsträhne im oberen Flurschrank hing. „Und als er schließlich sagte, dass mein Baby lebte, begann es sich zu bewegen. Eure Mutter wurde ein kräftiges Kind. Sie kränkelte doch nie“, kippte der Großmutter die Stimme, während sie mit den Tränen kämpfte. Sie schüttelte den Kopf und wiederholte monoton: „Er verschwand so überraschend, wie er kam.“
Klara zitterte, obwohl die Temperaturen einen warmen Sommer versprachen. Vielmehr schienen es ihre Nerven zu sein, die bei solchen Themen überspannt wurden.
Vater Albert aber tönte aus der Küche, wobei er mit dem Abwasch polterte: „Na ja, es achtete eben niemand darauf, woher er kam und wohin er ging. Es gab Wichtigeres.“ Er zwinkerte Alva zu, als er ins Sichtfeld des Wohnzimmers trat. „Zweifellos hatte es sich zügig herumgesprochen und dann entstanden daraus Geschichten von Schutzengeln und so. Engel in Weiß mit Bärten und Stethoskop“, ließ er recht geschickt jede mystische Spannung weichen und trocknete dabei heftig einen der gespülten Essteller.
„O ja! Plötzlich berichteten viele von Spuk und solchen Dingen“, sagte die Großmutter lächelnd, den Zauber ihrer Schilderung zurücknehmend.
Aber Alva erhob sich zufrieden und erwiderte zart, doch selbstsicher: „Ja, womöglich ist ein Großteil solcher Berichte auszusortieren, prüft man ihren Wahrheitsgehalt. Trotzdem genügen die wenigen der geheimnisvollen Begebenheiten, die übrig bleiben.“ Dann atmete sie schwer im Bemühen, den Satz zu formulieren, dass er mit einem Male alles aussagte, „Und wenn es auch nur die eine Geschichte ist, deren Glaubwürdigkeit man gewiss ist, die auf ein echtes Wunder schließen lässt, nämlich die eigene!“ Hinter dieser Aussage setzte sie im Geiste ein Ausrufezeichen.
Mit einem leichten Tuch bedeckte sie den weißen, reich verzierten Käfig ihres Wellensittichs Poldi, der pastellblau aussah wie ein Bübchenstrampler. Lauthals quietschte er: „O Gott, o Gott, o Gott.“
Dann gab Alva jedem ein Küsschen zur Nacht. Sie hielt jedoch kurz bei Karlchen inne, umfing den goldenen Ring an der Kette, die er um seinen Hals trug, und erinnerte sich: „Mütterchen. An jenem Abend fandest du ein Amulett in deinem Bett. Du hast es Mutter geschenkt, stimmt das?“
Die Großmutter nickte verwundert. Hatte sie den Enkeln je davon erzählt?
Schleichend ging Alva die Stufen der Holztreppe hinauf in ihr weiß und violett gestrichenes Zimmer. Darin fühlte sie sich geborgen wie in einer gütigen Hand. Hier konnte ihr nichts passieren, daran glaubte sie fest. Dieser kleine Raum fasste lediglich einen weiß lackierten Schreibtisch mit Stuhl und eine Schlafinsel mit ebenfalls weißem Rahmen, aber fliederfarbener Bettwäsche. Ihr Kleiderschrank fand hier keinen Platz mehr. Mal las sie hier, dann zeichnete und schrieb sie wieder oder faltete einfach nur ihre Hände und betete.
Am meisten aber liebte sie die tragenden Momente des Hinübergleitens in den Schlaf, eingekuschelt mit Bildern im Kopf, auftauchende Fotos ihrer Mutter. Alva visualisierte sie alle, jene, die sie aus Alben und Rahmen kannte, ebenso wie die, die sie sich allein im Geist erstellte. Bis diese immer eigentümlicher wurden und sie die Macht darüber verlor und sich selbst dazu, im Reich der Träume.
Beschnitten stehen die alten Weiden, gezähmt in Reih und Glied. Und neben meinem hohen Neste die Lerche sang mein Abendlied. Die Daunen decken weich mich zu, es spielt der Mondenschein. Oh, durch das Fenster blickst da du, mein liebes Mütterlein?
Von Alva Schummer
Geliebte Geister
Etwas gebar sich aus der Nacht eigener Ruhe an Alvas Bett und erweckte sie zielsicher aus ihrem Schlaf. Sie schreckte hoch und glaubte fest, auf ein durchschimmerndes Wesen zu schauen. Es stand über sie gebeugt, eine junge Frau oder ein reiferes Mädchen, das aber nichts Besonderes von ihr zu wollen schien. Friedvoll wandte es sich sogleich weg von ihr, die kaum zu blinzeln wagte, um die Gestalt im Kegel des Lichtes am Fenster weiter beobachten zu können. Doch während jene Erscheinung ein Kleeblatt von ihren Fingerspitzen hauchte, löste sie sich vor Alvas Augen auf.
„Nur der Übergang vom Traum zum Wachsein“, hörte sie im Geiste ihre Schwester sagen.
„Das Gehirn eines Menschen ist ein Mysterium“, würde sie der Vater belehren.
Barfuß patschte sie die kalten Stufen zum Wohnzimmer hinunter, in dem kühles, ruhendes Licht lag, vom Vollmond durch das nackte Fenster weitergegeben. Dies stand meist angekippt und so atmete das Haus des Nachts einige der Tageslasten der Schummers aus und ließ die Frische des Waldes ein. Und die unsichtbare Hand des vollen Mondes zog schließlich auch Alva dorthin.
„Mein Kind, du bist ja auf“, hörte Alva ihre Großmutter flüstern, deren Kammer neben dem Wohnzimmer lag. Ihre Zimmertür stand stets einen Spaltbreit geöffnet. Schwer mühte sie ihren alten Körper aus dem Bett und schlüpfte in ihre Fellpantoffeln: „Liebes, was machst du hier so spät?“
Ihre Enkelin antwortete leise, aber eindringlich: „Mütterchen, ich wache gern zur Nachtzeit“, während sie mit ihrem Kopf nach draußen deutete. „Fühlst du es nicht?“, flüsterte sie und hielt inne. – Brauchte es denn Worte? –, fragte sie sich. Es waren die Augenblicke ohne eine Zeit. Die wenigen Momente, wo die Gedanken leer sein konnten. Alles ruhte und es herrschte viel Raum für Gefühle. Nur die pendelnde Uhr erinnerte läutend an die vollen Stunden. All die Bilder an den Wänden sahen dann so lebendig aus wie zu dem Zeitpunkt, als sie fokussiert und geschossen worden waren. Keiner erwartete etwas und es gab nichts zu erledigen.
„Ja, ich weiß, was du meinst“, erwiderte die Großmutter.
Alva lehnte an der Wand zwischen den Fotos, träumte sich durch die große Stube und sprach mit klarer Stimme, noch immer sanft: „Ihr schlaft dann genau wie Mutter und seid trotzdem da. Damit fühle ich euch alle gleichermaßen bei mir.“ Draußen drückte der Wind gegen die Tür. „Unsere Welten treffen aufeinander und ich bin genau dazwischen.“ Ihre langen Haare umspielte ihren nymphenhaften Körper, während die offene Nacht alles einließ, was das blasse Kind erwählte. Der frische Atem des Waldes rüttelte sacht an den Fensterläden. Helle Schatten huschten vorbei, kühl und zart streichend. „Überall klingt Musik … In allem höre ich eine Melodie“, säuselte Alva melodisch.
Sie kannte keine Furcht vor dem losen Geist der Ruhe. Nein, sie genoss es, ganz bei sich zu sein, und lauschte dem Unendlichen. Sie schlug Bahnen in die Stille und knüpfte an übersinnliche Kräfte wie die Großmütter Schnüre an einen Webrahmen.
Plötzlich packte es sie. Alva trippelte zum Beistelltisch, wühlte in der Schublade und zog ein leeres Blatt Papier und einen Bleistift heraus, der ungleichmäßig mit einem Messer gespitzt war. Damit setzte sie sich zu ihrer Großmutter ans Nachtschränkchen und fing an, den Stift sauber zu führen. Scharrend zeichnete sie einen großen Kreis. In diesen malte sie mit etwas Abstand einen weiteren und darin wiederum eine runde Einfassung, die sie sorgfältig schraffierte. Von jenem Mittelpunkt aus strich sie zurück zur Innenseite des zweiten Kreises und füllte diese gesamte Fläche, ohne den Bleistift abzusetzen, mit acht gleichmäßigen Strahlen aus. Dann legte sie den Stift nieder und schaute hoch.
„Sieh, Mütterchen, das sehe ich im Geiste!“
Die Großmutter drückte sich ihre Hand vor den Mund, sodass sie nur undeutlich nuschelte: „Kind, das ist ja das Amulett.“ Sie sah konzentrierter hin. „Genau, es bestand aus zwei Teilen. Einer Scheibe aus Silber und einer darüberliegenden goldenen Sonne mit offenen Strahlen.“
Alva schien nicht überrascht zu sein, starrte aber ebenso gebannt auf ihre eigene Zeichnung. Dann griff sie erneut zum Bleistift und ergänzte etwas im äußeren Rand.
„Und ich sehe dort Buchstaben.“ Sie schrieb drei große geschwungene Zeichen über den Rand und wie sie den Stift absetzte, grübelte sie: „Das könnten ein T und ein A sein.“
Die alte Dame zog ihren Morgenmantel an und strich mit zitternden Händen über ihr faltiges Gesicht, als würde sie es waschen. Im Versuch zu entspannen, atmete sie lang aus und flüsterte: „Ja, es gab darauf Initialen. Und zwar genau diese!“ Dann ging die Großmutter ans Fenster und schaute hinaus wie zuvor ihre Enkeltochter.
„Mütterchen, was drückt Dich?“, forschte Alva.
Sie antwortete schwer atmend: „Seither verfolgen mich die Namen Torun und Anders, ohne dass ich mit ihnen was anzufangen verstehe.“ Sie drehte sich langsam zu Alva um und fragte: „Begreifst du, T und A?“
Im Haus kam Unruhe auf. Oben fiel eine Tür laut in ihre Zarge. Es folgte ein Knipsen wie das Umlegen eines Lichtschalters und ein Räuspern. Die Großmutter griff nach dem Blatt Papier und zerriss die Zeichnung. Rasch riegelte sie die Roheisentür des Ofens auf und scharrte die Schnipsel mit dem eisernen Schürhaken unter die kalte Holzkohle.
„Bald ist die Nacht vorbei. Jetzt aber ab in dein Bettchen! Versuche zu schlafen!“, ermahnte sie ihre Enkeltochter, die mit dem Morgen ihren vierzehnten Geburtstag feiern sollte. Die Großmutter musste früh aufstehen, um alles für diesen Tag vorzubereiten.
Ohne Widerrede wanderte Alva zurück in ihre Federn, um für den kommenden Tag ausgeruht zu sein.
Wie wunderbar der Ruhe Klang. Kein Laut, kein Sang, kein Stören. Nur eine breite Stille lang, die Geister kann ich hören.
Die Ewigkeit in dem Moment hält sicher mich umfangen, die uns von allen Nöten trennt, lässt mich nun nicht mehr bangen.
Herum schläft Haus und Hof und Tier und alle meine Lieben. Nur Geister wachen treu mit mir, Familie eins geblieben.
Geblieben aus längst entschlafenen Zeiten und in den Betten nebenan. So kann ich zwischen ihnen gleiten, hab ALLE bei mir dann.
Von Alva Schummer
Der Tag, an dem sie 14 wurde
Die Großmutter zog im noch kümmerlichen Morgenlicht alle Vorhänge zurück. Einige Fenster riss sie auf, damit ein Durchzug den Nachtmief aus Räumen und Lungen trieb. Es klapperte in der Küche und der Wasserkessel pfiff in vertrauter Tonlage, bevor ein kräftig-würziger Duft aromatisch sämtliche Zimmer durchströmte. Eine leise Musik ertönte aus dem Radio und überspielte das emsige Umherschlurfen von Pantoffeln. Es knisterte hier und rappelte dort, bis sich alles formiert vor Alvas Zimmertür aufstellte und plötzlich Ruhe einkehrte. Sacht klopfte es an der Tür des Teenagers.
„Mäuschen, auf, auf!“, sagten sie zunächst zaghaft und polterten dann durch ihre Tür. „Hey, alles Gute zu deinem Geburtstag!“ Sie tapezierten Küsse auf das blasse Gesicht.
Selbst Karl stand lächelnd, wenn auch unbeholfen, am Bett seiner Schwester und schmatzte ihr einen Kuss auf die Hand. Er war ein athletischer, hochgewachsener Mädchenmagnet von 19 Jahren, der sich kühne Pläne modellierte, denn die schulischen Leistungen ließen einiges zu. Verlegen strich er durch sein helles Haar, welches dem der Mutter ähnlich war, und führte das Geburtstagskind die massive Holztreppe hinab direkt zum festlichen Tisch. Karl gefiel es, wenn er gebraucht wurde, und das wurde er an dem Tag. Die Liebe ihres Bruders bedeutete Alva viel. Insbesondere an jenem Apriltag, dem Todes- und Geburtstag zugleich, empfand sie solche Gesten von ihm wie eine Absolution.
Und wie jedes Jahr zu diesem Anlass zierte das gerahmte Foto ihrer Mutter, einer schlanken Frau, den Festtagstisch.
Der Geburtstag zählte zu den letzten Tagen im Sternkreis des Widders mit den ersten, wenn noch geschlossenen Maiglöckchen. Sie standen wie ein dichter Blumenteppich in dem nährstoffreichen Boden am Waldrand und warteten auf ihren kurzen Auftritt.
Glöckchen, die mir den Weg fein krönen, so stolz und voller Leben, mit diesem Tage mich versöhnen und spielend Trost mir geben.
Von Alva Schummer
Die Geschenke fanden kaum Platz auf dem Tisch. Alva lief so aufgeregt herum, dass der Dielenboden unter ihren nackten Füßen knarrte.
In dem ersten Päckchen lag ein in Silber gefasster, grüner Aventurin, den Klara besonnen aus den vielen Heilsteinen des kleinen Konsums ausgewählt hatte. „Trage ihn stets bei dir! Man sagt ihm nach, er fördere die Selbstbestimmung und die Verwirklichung von Träumen“, erklärte sie, wobei sie mit einem Lächeln auf ihren Zehenspitzen wippte.
Karl beschenkte seine jüngste Schwester mit einer grobgliedrigen Halskette aus reinem Silber, wie sie alle Jugendlichen dieser Zeit ohne Anhänger trugen.
Ihr Vater bedachte sie mit einem verschnörkelten Kugelschreiber und einer roten Kaffeetasse. Kaffee war einer der Genüsse, für die das Kind als zu jung galt, der ihr aber mit viel Milch erlaubt wurde. Und somit war ihre Vorliebe für Tassen in allen denkbaren Variationen geboren.
Aber damit war es nicht genug. Er überreichte ihr ein in Tuch geschlagenes Geschenk und sprach: „Ich musste auf dem Markt lange mit einer seltsamen Dame feilschen, um es schließlich für mein Geburtstagskind zu bekommen. Sie meinte, in den Händen des rechten Menschen spräche es auf eine besondere Weise zu ihm. Na, du weißt ja, was ich von sowas halte.“ Er zwinkerte ihr zu. „Aber ich kenn doch mein kleines Mädchen. Du kannst gewiss etwas damit anfangen.“
Alva wickelte bedächtig das mit glitzernden Goldfäden durchzogene Baumwolltuch ab, das sich noch wunderbar als Halstuch gebrauchen ließe. Und sie fand es hochwertig, was da zum Vorschein kam. Doch erkannte sie nichts von dem, was diese Dame ihrem Vater versprochen hatte. Völlig regungslos hielt sie es in ihren Händen, ein altes Buch, in gebleichtes Leder gebunden, mit leeren Seiten, unbedruckt und unbeschrieben.
„Du kannst es als Tagebuch nutzen oder für deine vielen Gedichte“, regte er schließlich an und klatschte laut in seine Hände.
Sie nickte, „Ja, ein Haus für meine Gedanken. Ich freue mich!“ Damit kam endlich wieder Bewegung in ihre Finger, sie schaute auf und warf ihr offenes Haar zurück. Lächelnd griff sie zu ihrem nächsten Geschenk.
Auch die alte Nachbarsfrau Knorck, deren Haus weiter den Weg hinauf lag, hatte das Kind mit einer netten Geste bedacht, einem Keksherz in buntem Geschenkpapier.
Sanft stupste die Großmutter ihre Enkelin an und reichte ihr einen Gedichtband. Sie hatte ihn einst selbst geschenkt bekommen. Poesie, die Alva verschlang wie das Gebäck aus Mürbeteig, das es nur zu Feiertagen gab. Zu Ostern und an Geburtstagen wurden die Plätzchen mit Schokolade und zur Weihnachtszeit mit Zuckerguss und Zimt überzogen. Das Geschenk des mittellosen Großmütterchens: Backen, kochen und dekorieren, um den Tisch zu jeder Mahlzeit des Tages in eine Festtafel zu verwandeln. Und da ihr Fest nun auf einen Sonntag fiel, blieb alle Zeit für die Familie ohne Schule und Arbeit.
Nach der Morgentoilette und der Mittagstafel samt dem Spaziergang zur Verdauung traf Alvas Gast ein, ihr bester Freund Olaf Rilke. Sie mochte ihn gern. Er war der einzige Spielgefährte, den sie hatte, und ihm ging es mit ihr ebenso. Vermutlich weil sie beide zart und etwas anders wirkten als die übrigen Kinder der Klasse, nein, der gesamten Gegend.
Ihre Spiele unterschieden sich von den üblichen Kinderspielen. Gummihopse oder Abzählreime begeisterten sie kaum. Sie kletterten auf Bäume und bauten Wohnungen im Maisfeld. Wenn der Vater Zeit fand, half er ihnen beim Bau von Hochständen und Höhlen. Doch nie, um darin Vater-Mutter-Kind zu spielen. Sowas tauschten sie gegen Reisen in die Vergangenheit oder Abenteuer an mystischen Orten ein. Die blanke Fantasie trieb sie durch den Wald, wo sie oft vor einem Tyrannosaurus Rex flüchteten oder sich einem Zyklopen auf der Suche nach der Wunderlampe stellten.
An diesem Nachmittag knoteten sie Lederriemen an die Fahrradgriffe und ritten auf ihren Drahtpferden die Wege und Abhänge entlang. Ein riskanter Sport, der den Familien den letzten Nerv geraubt hätte, wenn sie es gewusst hätten. Aber dann kam Olaf eine neue Spielidee. Es hatte sich ihm längst gezeigt, dass seine Freundin zu außergewöhnlichen Dingen fähig war, die unbedingt geheim bleiben mussten. Er wollte nicht riskieren, dass sie entführt, an ihr geforscht und sie dabei traktiert und gepiesackt wird. Darum lockte er sie unauffällig in den Holzschuppen, wo er zwei polierte, aber ausrangierte Weingläser hervorzog.
„O!“, staunte Alva. „Was hast du vor? Soll ich uns eine Flasche Traubensaft holen?“, fragte sie voller Erwartung.
Doch Olaf winkte verschmitzt ab und stellte die Gläser nebeneinander auf, holte tief Luft und kreischte schrill. Als nichts geschah, sagte er forsch: „Jetzt du! Du schaffst das!“, und er klatschte aufgeregt in die Hände.
„Aha …“ Sie nickte lächelnd, seinem Ansinnen auf die Spur gekommen. Daraufhin atmete sie so tief ein, wie sie konnte, und formierte die Luft zu einem scharfen Schrei, durch den sie die Gläser nacheinander zerspringen ließ.
„Wow!“, schnaufte Olaf laut, „Alvi, das ist der absolute Wahnsinn!“, zeigte er sich begeistert, bis Klara die Tür zum Schuppen aufschlug.
„Na sagt mal, was ist denn hier los? Und ich mache mir Sorgen“, schimpfte sie und starrte zu Boden. Und ohne es zu hinterfragen, befahl sie: „Los, Handfeger und Kehrblech stehen im Hausflur!“
Mit dem Jungen war an diesem Nachmittag nicht mehr viel anzufangen. Er schaute immer wieder auf Alva. Und sobald es jemand bemerkte, setzte er ein breites Grinsen auf und wirkte so etwas einfältig. Nach einem Streuselkuchen mit Sahne, einem Kartenspiel und dem traditionellen Fondue wurde ihr Freund abgeholt.
Allmählich schlossen sich die Vorhänge vor den Fenstern wie müde Augenlider. Jedes Nachtgepolter fand zu seinem Herrn. Es ging in die letzte Runde. Vater Albert klimperte auf den weißen und schwarzen Tasten des alten Spinetts. Karl nippte an einem Kelch Rotwein und suchte ein offenes Ohr, bei dem er sich in wortgewandten Reden üben konnte. Und Klara fühlte sich dazu berufen, seinem Verstand die geistreichen Anstöße zu geben. Alva aber lag nur auf dem Schoß der Großmutter, die genüsslich an ihrer verbotenen Zigarette zog und stolz auf ihre Familie blickte.
Als die Gläser trocken und die Zungen schwerer wurden, drifteten alle im Geist mehr und mehr vom Tagesufer ab.
Das rothaarige Mädchen spielte an dem Heilstein herum und redete offenherzig: „Mütterchen, ich weiß nicht, wie alt ich war, als ich seltsam intensiv von Mutti geträumt habe. Es wirkte völlig echt, so wahrhaftig.“
Die Großmutter atmete den Rauch aus und fragte: „Was hast du denn geträumt, mein Spatz?“ Sie lächelte entspannt in das zarte Gesicht und streichelte ihrer Enkelin dabei über Stirn und Haar.
„Sie saß neben mir und ich erzählte ihr entsetzt, dass ich geträumt hätte, sie sei tot. Darauf hat sie mich gestreichelt und erklärt, dass Menschen kommen und gehen, gestern, heute und morgen. Alles, was geboren wird, stirbt wieder. Aber das Sterben ist weder Stillstand noch Ende, sondern die nächste Veränderung. Und in diesem Moment wusste ich es: Sie IST bereits tot und mir wird keine Zeit mehr mit ihr bleiben. Eilig umarmte ich sie und sagte, wie doll ich sie liebe. Sie tröstete mich: Nicht traurig sein, ist doch nicht so schlimm! Doch, das ist furchtbar, konnte ich gerade noch antworten. Und dann zog es mich wie in einem Strudel von ihrem Hals ins Hier und Jetzt zurück. Ich hatte sie genau erkannt. Sie sah aus wie auf unserem Foto.“
Die Großmutter lächelte glücklich, beugte sich zum Kind hinunter und flüsterte: „Bewahre dir solche Erfahrungen mein Spatz! Im Traum gibt es eine Verbindung zur anderen Seite, sagt man. Leider erinnert man sich kaum daran. Man soll es nicht.“
„Warum nicht?“, forschte das Mädchen und seine Augen fixierten die Großmutter.
„Wer würde die lieben Verstorbenen loslassen? Wer noch an dieser Existenz hängen mit all den Chancen, die einem die Zeit und die Zukunft bietet? Das wäre eine Erklärung, weshalb man sich nicht an frühere Leben erinnern kann.“
Alva drehte ihren Kopf weg und murmelte: „Und weil man vielleicht über seine eigenen Taten zu schockiert wäre, dass man sich selbst keine Chance mehr geben würde.“
„Ja, wissen macht traurig“, stimmte die Großmutter zu.
Die verbrauchte Luft kroch schwer durch das Haus und ermüdete mehr als nur die Kerzen.
Alva gähnte und freute sich wie immer auf ihr Bett.
Der Vater half seinem Geburtstagskind auf und führte es die Stufen hoch ins Zimmer, vor dessen Fenster es summte. Aus dem Summen wurde ein Surren, das ans Glas klickte.
„Herein!“, schäkerte Alva und gähnte, als das gelbe Licht vorm Haus flackerte.
„Wie der Mond seinen Schein ans Fenster spielt“, staunte der Vater nur und zog die Gardine vor die Scheibe, „Und deine Schmuckbänder führen ja einen Tanz auf.“
Das Mädchen dagegen ahnte in diesem geräuschvollen Lichtspiel andere Wesenheiten und murmelte müde: „Vati, du und deine fünf Sinne.“
Sanft stupste er ihre blasse Nase und drückte ihr einen Kuss auf das Feuermal zwischen den Brauen.
„… Ich habe gar keine Bändchen am Fensterrahmen.“
„Träume was Schönes, meine Kleine!“, überhörte er ihren Einwand und zog leise die Tür hinter sich zu.
Ihre karminroten Haare lagen wuselig über dem weißen Spitzenkissen. Der Atem des Mädchens ging gleichmäßig und ungewohnt tief. Ihre Gedanken drohten bereits, in das Reich der Träume abzugleiten. 14 … vierzehn … blitzte es hinter ihren geschlossenen Augenlidern. Ein Wirrwarr zog durch ihren Geist und vermischte sich mit den Bildern des Tages, die sie eben abrufen wollte. Noch einmal rasch die Augen öffnen, dachte sie, um zu prüfen, dass niemand an ihrem Bett stand. Oft sah sie lichte Leiber huschen. Angst davor kannte sie nicht. Schließlich lebte ihre Mutter auf der anderen Seite, der Lichtseite, wie sie es nannte. An diesem Abend jedoch sehnte sie sich nach normaler Ruhe. Aber ihr aufgeheizter Geist ließ das nicht zu. Im Regal an der Wand schimmerte das Tagebuch auffallend hell. Auf dem Rücken des Buches erkannte sie einen violetten Schriftzug:
14 … vierzehn …
Alva blinzelte angestrengt, um diese alt verschnörkelte Aufschrift zu entziffern. Da schrieb sich der Satz von selbst weiter.
… vierzehn Jahre ist es her,
da wurdest Du von dem Schoß getrennt,
der Dich in diese Welt geboren hat.
Sie kniff die Augen leicht zusammen im Bemühen, ihren Blick zu schärfen. Alva konnte nicht glauben, was sie dort las, richtete sich auf und griff nach dem Buch. Das erste Mal im Leben wurde ihr unheimlich. Doch der Buchrücken lag wieder schlicht und leer in ihren Händen. Es schien nur ein gewöhnliches Tagebuch zu sein. Sie wollte es füllen mit den Gedichten und allem, was ihr noch im Kopf umherspukte. Hastig blätterte sie die unbeschriebenen Seiten durch und stockte abermals. Irritiert schlug sie einige Blätter zurück, weil dazwischen erneut etwas stand.
Und mit einer Regelmäßigkeit löst die Nacht den Tag ab, damit er stets neu geboren werden kann.
„Herrlich“, hauchte sie zufrieden und ließ sich mit dem Buch in die weichen Federn zurückfallen. Sie lächelte leicht. Ihre Verwunderung über die auftauchenden Schriften hatte sich gelegt und sie drückte einen Kuss auf das weiße Leder.
Stille erfüllte sämtliche Räume des Hauses der Familie. Und der Geburtstag sank in die Nacht, in ihre unbekannten Tiefen und Weiten.
Der Tag, an dem ich 14 wurde
Liebes Tagebuch,
ich habe mich sehr über dich gefreut. Es gibt Dinge, die kann ich niemandem erzählen, weil sie zu verrückt sind. Aber dir werde ich sie anvertrauen.
Ich wäre gern normal, ein Mädchen wie die übrigen. Eine, die überall dazugehört. Manchmal stelle ich mir vor, eine andere zu sein, dann gebe ich mich wie Nele. Sie ist so schön und wichtig. Jeder ist freundlich zu ihr, sogar Fräulein Ziegenhals. Und wer bin ich dagegen? Nur neben Olaf Rilke, du kennst ihn gewiss, bin ich ein Jemand.
Nein! Ich darf nicht undankbar sein. Bei meiner Familie bin ich glücklich. Hier kann ich sein, wie ich bin. Der Klassenraum wankt oft um mich herum, aber zu Hause steht alles fest und ich finde Halt. Am besten wäre es, ich ginge nie wieder zur Schule. Daheim fühle ich mich nicht so im Raume verrückt und weniger absonderlich. Hier werde ich geliebt und es ist völlig egal, ob ich rote Haare und zwei verschiedenfarbige Augen habe oder ob ich in den Himmel wachse.
Du weißt, ich bin jetzt 14 Jahre alt und von der Sohle bis zum Scheitel 1,74 Meter groß. Ich wünschte, ich wäre kleiner, sodass ich niemanden überrage … Also halte ich mich krumm. Deshalb klemmt mir Klara ständig einen Zweig hinter den Rücken in die Armbeugen, damit ich kein schiefes Kreuz bekomme, so sagt sie. Der Stock zwingt mich, aufrecht zu gehen. Ähnlich macht sie es mit unseren jungen Bäumen und Sträuchern, wenn sie zu viele Früchte tragen.
Mütterchen schwärmt, ihre Schwester habe für Modenschauen genäht und die Damen, die alles vorführten, mussten mindestens so groß sein wie ich. Nur möchte ich keine Kleidung präsentieren.
Karlchen meint, 1,75 Meter wäre das Gardemaß, aber ich will gewiss nie ein Gardeoffizier werden.
Vater schwärmt immer, ich hätte Beine wie ein Fohlen. Doch wer will denn wie ein Pferd aussehen?
Und Klärchen behauptet, dass man in der Pubertät unbedingt schlaksig sein muss, damit man später nicht proper wirkt wie sie. Dabei zeigt sie auf ihre schönen Rundungen.
Ich weiß, sie meinen es alle lieb und gut mit mir.
Nun bin ich müde, bestes Tagebuch, und sage dir Gute Nacht.
Deine Alva
O Herz,
so leicht gehst du in meiner Brust, so friedvoll ist dein Schlagen, als ob die selige Lebenslust man hat zu mir getragen. Möchte noch nachdenken, möchte es nachspüren bis in die Nacht hinein, doch fällt ein Traum, es fällt ein Traum in meinen Geist Jetzt … ein.
Von Alva Schummer
Was die Nacht verschleiert
Wie von der Marktdame versprochen, führte das Tagebuch ein Eigenleben. Kaum hatte Alva es zugeklappt, schrieb es sich selbst auf geheimnisträchtige Weise weiter.
1. Unausgereifte Wege
Die Gestaltung der Zukunft vollzieht sich,
doch ist noch nicht vollends entworfen.
Entwickle Deine Intuitionen und
Deine spirituellen Fertigkeiten.
Doch an diesem späten Abend sollte es Alva nicht mehr bemerken. Ihre Augenlider blieben fest geschlossen. Und so wohlig wie sie schlief und wie geborgen ihr Geist auch auf Reisen ging, so schaurig wurde es für die übrige Familie.
Die Nacht brach herein. Alle lagen in ihren Betten. Jeder wollte schlafen, doch sie zogen ihre Decken hoch bis zu den Augen und ihre Blicke streiften von einer Zimmerecke zur anderen, wieder zur Tür und eine Zeit lang zum Fenster. Die Geräusche dieser Stunde waren schwer auszumachen, von niemandem. Ein dumpfes Dröhnen ließ vermuten, das Haus arbeite und die Wände setzten sich. Dann erinnerte ein schabender Laut an eine Schaufel oder Kette, die über Pflastersteine geschleift wurden. Dazu reihte sich ein lautes metallisches Hämmern, als hantiere jemand an den Rohren der Heizung herum. Ein scharfes Zischen drohte, irgendwo würde Luft entweichen.
Nach dreißig Minuten stieg Zorn im Vater auf, schließlich musste er in wenigen Stunden wieder hart arbeiten. Also, wer auch immer es hier wagte, seine Ruhe zu stören, würde von ihm zur Rechenschaft gezogen werden. Was dort auch polterte, er würde es im Keim ersticken. Und da all diese Geräusche keine Anstalten machten zu verschwinden, fand er bequem die Zeit, in Kleidung zu schlüpfen. Mit geballten Fäusten und etwas Gänsehaut trat er aus dem Zimmer und schaute den langen Flur entlang. Doch dort zeigte sich ihm nichts Ungewöhnliches. Nur ein seltsam modriger Geruch hing in der Luft. Detektivisch lief er zur Treppe.
„Siehst du bitte nach, ob mein Fahrrad noch da steht?“, rief ihm Klara durch einen Türspalt zu.
„Warte!“ Karl hetzte ihm zügigen Schrittes hinterher. An der Seite seines Vaters wirkte er um einiges mutiger.
„Kinder, was ist los?“, kam ihnen die Großmutter auf den unteren Stufen entgegen. Im Erdgeschoss konnte sie nichts von alledem hören.
Der Vater schlug seine Hände über dem Kopf zusammen. „O nein, zu viel Gerede von Geistern und solchem Quatsch. Jetzt haben wir den Salat. Sie sind da!“, schimpfte er und meinte es gewiss nur ironisch.
Es half nichts, die Familie brauchte ihren Schlaf. Und allmählich entfernten sich diese störenden Geräusche aus dem oberen Stockwerk. Prompt leuchtete es dem Hausherrn ein: Irgendeine Person zog draußen eine Eisenstange über die Pflasterung. Kam selten vor, aber es musste eine Erklärung geben. Prüfend schaute er aus dem hohen Flurfenster, doch nur um weiter nichts zu sehen außer der verlassenen Nacht.
Zur gleichen Zeit entglitt Alvas Geist dem friedfertigen Reich der Träume. Ihr begegnete etwas Düsteres, eine Art Schatten, der sich auf sie warf, sie einhüllte und aufzulösen drohte. Sie fand sich allem Vertrauten entrissen und wusste weder, wo noch wer sie war, schutzlos ausgeliefert. Furcht und Panik durchströmte ihr Wesen. Und obwohl es sie aus ihrem Körper in die Ferne rückte, hielt sie die Verbindung zu dem Mädchen im geblümten Nachthemd, das im Bett lag. So schrie sie aus erstarrtem Leib.
Vater und Bruder stürzten in Alvas Zimmer, sodass ihre nackten Füße und die Griffe zur kalten Türklinke einander ins Gehege kamen. Wie eine Ewigkeit empfunden, standen sie bei ihr, bis sich Karl an ihr Fußende setzte und sie sanft festhielt. Tatsächlich waren es nur Minuten, während Alva irgendwo verharrte, gefangen in einem fremden Zustand.
„Alva! Alvi! Schwesterlein!“, rief ihr Bruder unentwegt, als sie einfach nicht zu Bewusstsein kam. Obwohl ihr zarter Körper mittlerweile aufrecht saß und weiterschrie, blieb sie im Unvermögen des Erwachens.
Doch ruckartig zerriss dieser Augenblick. Endlich schlug sie die Augen auf. Der Schrei verhallte. Ihre im Mondlicht himbeerrot leuchtenden Haare lagen angeklatscht an ihrem verschwitzten Gesicht.
„Ahh!“, hörte sie sich selbst noch stöhnen. „Ich konnte nicht wieder zurückfinden … Nur durch Karl … Karlchen, Dich habe ich gehört und dann gespürt“, seufzte sie völlig außer Atem und wirkte verstört. Ein dunkler Schatten lag um ihren Kopf, der darunter zitterte. Ihre Hand griff hastig nach der ihres Vaters und ihre Blicke suchten eine Antwort. – Was war passiert? –
„Nur ein böser Traum“, beruhigte sie der Vater und zog fürsorglich die Bettdecke über ihren zitternden Körper.
Karl dagegen starrte entsetzt auf Alva, vielmehr durch sie hindurch. Er schien etwas anderes zu fixieren, als suche er nach was Verborgenem in ihrem Geiste.
„Karl, durch dich konnte ich zurückfinden“, säuselte sie dankbar.
Der Vater schlurfte zur Tür und hielt beide erneut zum Schlafen an, die Nacht wäre jetzt noch kürzer. Daraufhin wollte auch der Sohn ihm folgen. Und spätestens in diesem Moment erkannte Alva, dass ihnen irgendetwas Gewaltiges auflauerte, etwas mit finsteren Absichten.
An der Wand über der Tür baute sich eine Pranke auf. Farblich wie ein Schatten, doch dimensional halb greifbar, als würden die Krallenfinger aus der Fläche hervortreten. Ihr Bruder konnte es aus seiner dichteren Perspektive nicht gesehen haben, dennoch blieb er stehen.
Zögernd griff er an seinen Brustkorb und drehte sich zu Alva um. Dabei schaute er so fürsorglich wie nie zuvor, als wäre ihm soeben ein Geheimnis offenbart worden. Prompt ging er zu ihr zurück und zog den kleinen goldenen Ring der Mutter von seiner Halskette.
„Dir geht es wie mir, Schwesterlein. Wir vermissen sie beide furchtbar. Doch wir haben uns!“ Ihm stiegen Tränen auf. Karl schämte sich niemals für ein Gefühl. Er sah nicht weg, sondern direkt in ihr Gesicht. Er öffnete die silberne Kette, die er ihr geschenkt hatte, fädelte den Fingerring auf und legte den Schatz um ihren milchigen Hals. „Pass nur sehr gut darauf auf! Er gehört in unsere Familie. Zur Zeit brauchst du ihn am meisten. Er sollte jetzt bei dir sein.“
„O Karl!“, konnte Alva nur erstaunt sagen, umfing den Ring und zog pendelnd an der Kette in der Andeutung, ihn abziehen zu wollen. „Danke, aber das möchte ich nicht … Will ihn dir nicht wegnehmen“, rutschte ihr die Stimme ab und in ihre Augen schossen ebenfalls Tränen.
„Doch! Genauso soll es sein. Du hättest ihn von Anfang an tragen müssen. Pass nur auf ihn auf!“, wiederholte er.
Alva schaute gebannt auf das Schmuckstück und sagte leise, aber in sicherem Ton: „Das werde ich. Ich verspreche es. Es ist, als binde er einen Teil des Wesens und der Liebe unserer Mutter.“ Dann küsste sie den Ring und hielt ihn an ihren Mund gedrückt.
Karl nahm seine kleine Schwester mit kräftigem Griff in die Arme. Nach einer kurzen Weile streichelte er ihre Stirn und ging in sein eigenes Zimmer. Die Tür schien wieder frei zu sein. Das unheimliche Gebilde war fort.
Auch Alva zog jetzt ihre Decke bis hoch zu den Augen und spähte von einer Ecke in die andere. Doch bald darauf schlief sie wieder ein, als ihr Vertrauen auf das Gute über die Angst vor dem Bösen triumphierte, den Ring fest mit ihrer Hand umfangen. Und oben, tief in ihrem Bücherregal stand ordentlich eingereiht ihr eigensinniges Tagebuch. Es klopfte von Zeit zu Zeit sachte von innen heraus an und erwies sich als ihr Orakel. Doch zu jener Stunde nahm sie keine Notiz mehr davon. Fleißig arbeitete es weiter.
2. Trauer und Verlust
Eine Zeit der Verzweiflung bricht an.
Es könnte sich um einen Abschied handeln.
Das Leben ist ein breiter Fluss. Es reißt mich in die Strömung. Mal ist’s ein eisig kalter Guss, mal lauwarme Versöhnung.
Es treibt mich ohne Unterlass. Es findet kein Erbamen. Kennt weder Grenze oder Pass, hält nie den gleichen Rahmen.
Veränderung in Groß und Klein. Wie soll ich ihr begegnen? Wie auf der rechten Woge sein für Gottes Heil und Segen?
Von Alva Schummer
Ein Bienenelf
Es tickte, klickte und pochte. Die Geräusche klangen immer fordernder, bis sie derart eindringlich wurden, dass Alva davon erwachte. Mit zusammengekniffenen Augen schaute sie zu ihrem Wecker, dessen Glocken nie läuten mussten. Ihre Großmutter kam jeden Morgen leise ins Zimmer, um sie aufzuwecken. Dann schob sie den Vorhang beiseite und knuffte ihr sanft in die Wangen.
Aber dieser Tag begann ungewohnt. Es dauerte, bis Alva erkannte, wo genau der kleine Zeiger der Uhr stand. Und von einer auf die nächste Sekunde fühlte sie sich hellwach. Sie schnellte aus ihrem Bett.
„So spät? Mütterchen!“, mahnte sie fragend, während sie die Strumpfhose über ihre Beine rollte, „Was hämmert denn da so?“ Ihr Blick wanderte die Wand der Bettseite entlang, rauf zum Bücherregal. Sie zog ihr weißes Tagebuch hervor, das in ihrer Hand weiterpochte, und wendete es mehrmals, um die Herkunft des Geräusches auszumachen. Forschend schlug sie es auf und stieß beim Blättern auf die letzte Eintragung, die nicht von ihrer eigenen Feder stammte.
Zunächst huschte über ihr ausgeruhtes Gesicht ein Zug freudiger Erwartung, bis sie abrupt den Kopf zurücknahm, die Brauen zusammenschob und für sich leise wiederholte: „Eine Zeit der Verzweiflung bricht an?“ Sie schüttelte sich. „Na super! Vielen herzlichen Dank!“ Energisch verbannte sie das Tagebuch in ihre Schultasche und murmelte: „Puh, damit fängt der Tag jedenfalls genauso an.“
Die Fenster waren alle noch geschlossen, der taufrische Waldatem ausgesperrt. Das Klappern in der Küche und das anschwellende Pfeifen des Wasserkessels blieb aus, wie der aromatische Duft überbrühter Kaffeebohnen. Es schien, als hätte die Großmutter verschlafen.