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Worum geht es im Buch? Erwacht aus dem Koma, hat Alva das Gefühl, lediglich wieder in ihre alte Form zurückzuschlüpfen. Doch sie bringt Fähigkeiten mit von ihrer langen Reise, die sie quälen. Klarer als je zuvor erkennt sie, wie Gut und Böse nebeneinander auf der Erde existieren – und dass sie nicht mehr wegsehen darf. Zum Glück findet sie neue Freunde, die ihr ähnlich sind und mit ihr gemeinsam große Aufgaben bestehen. Doch der Junge, den sie liebt, bleibt für sie ein Rätsel. Am Ende aber wird sich für sie in einem finalen Kampf alles entscheiden. Im Vordergrund des Geschehens steht der Kampf gegen finstere Mächte. Beliebte Motive wie Schwur, Verantwortung, Freundschaft, Familienbande und romantische Liebe werden aufgegriffen – Themen, denen Alva in all ihren Facetten begegnet. Doch gerade in der Liebe versagt ihre Hellsicht. Dämonen, Fabel- und Geistwesen, ein Spiegel, ein Amulett und zwei Ringe sind nur einige der Dinge, die im zweiten Band eine tragende Rolle spielen. Klappentext: Alva ist körperlich geschwächt, doch ihr Geist ist genährt vom Elixier der Erkenntnis. Doch Wissen bringt Verantwortung mit sich. Zudem quält sie ihr „Drittes Auge“, das ihr abscheuliche Dinge zeigt. Um sich davor zu schützen, bastelt sie sich ein Stirnband – doch ihre Bestimmung lässt sich nicht aufhalten. Sie gelangt ins Dovetails, eine geheime Herberge für Kinder mit übersinnlichen Fähigkeiten. Über Briefe hält sie Kontakt zu ihrer geliebten Familie und zu Thorn Winter – dem Jungen, der ihr noch immer ein Rätsel ist. Zur selben Zeit bedrohen unheimliche Ereignisse die Menschheit: Erstgeborene, junge Männer, geraten unter den Einfluss einer obszönen Besessenheit, die sich wie eine geistige Seuche ausbreitet. Nun stellt sich Alva ihrer Gabe und blickt genauer hin. Was sich ihr dabei offenbart, raubt ihr erneut den Atem. Wird sie den Mut finden, sich dem zu stellen, was Menschen am meisten fürchten? Kann sie den Kampf gewinnen – den um die Menschheit oder den ihres Herzens? Hintergrund der Story: Die Geschichte beruht auf parapsychologischen Phänomenen, die unter dem Begriff „Psi-Phänomene“ zusammengefasst werden. Dazu zählen Erscheinungen wie das Zweite Gesicht, Gedankenübertragung, Wahrträume, Vorahnungen und Geistersichtungen. Alles nur Mumpitz? Tatsache ist, dass viele dieser Phänomene den bekannten Naturgesetzen widersprechen – und dennoch weltweit dokumentiert wurden. Selbst Albert Einstein zeigte Interesse an der Parapsychologie und schrieb 1932 in seinem Glaubensbekenntnis in Caputh: „Das Schönste und Tiefste, was der Mensch erleben kann, ist das Gefühl des Geheimnisvollen.“ Auch moderne Forschung belegt, dass es Hinweise auf Psi-Effekte gibt. Naturwissenschaftliche Versuche in heutigen Labors entreißen die Parapsychologie zunehmend der Domäne der Scharlatane. Letztlich zählt nur die eigene Wahrnehmung – das persönliche Erleben mentaler Zustände. Philosophischer Kern & Zielgruppe: Diese Geschichte kreist um die essentielle Frage nach dem Sinn des Lebens – und dem, was hinter allem steht. Wozu ist unser Geist fähig? Eingebettet in das Genre Fantasy mit märchenhaften Einschlägen, aber erzählt aus spirituellen wie wissenschaftlichen Blickwinkeln, richtet sich das Buch weniger an ein bestimmtes Alter als an eine bestimmte Geisteshaltung. Es ist geschrieben für Menschen, die Hoffnung suchen – und den Mut, neue Sichtweisen zuzulassen. Für alle, die über den Tellerrand hinausblicken möchten.
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Seitenzahl: 504
Veröffentlichungsjahr: 2025
Alva Schummer
Im Auge der Hexen
2. Band
Demnächst erhältlich in +250 Online-Shops
Kostenfreie Tracks auf Youtube
Soundtrack zum Roman
Komponist Falko Mäbert
1. Intro
2. Erwachen & Erleuchtung
3. Drängen & Hoffen
4. Traumreise
5. Hexenküche
6. Heimsuchung
7. Grauen & Pein
8. Zwischen Posaunen & Liebe
9. Auf immer & ewig
10. O Mio Babbino Caro by Giacomo Puccini 1918
– Videoclip auf Youtube –
© Rechte liegen bei T.R. Rademaekers und dem Urheber F. Mäbert
Thora Rademaekers
Alva Schummer
Im Auge der Hexen
Erstausgabe
„Im Auge der Hexen“
Eine fiktive Geschichte, inspiriert von Berichten paranormaler Erlebnisse, Mythen, Legenden und Märchen.
Fantasy küsst Parapsychologie
Impressum:
© 2025 Thora Rademaekers
Autorin: Thora Renata Rademaekers
Korrektorat: Dr. A. Rademaekers/ R. Nötzel
Illustrationen und Umschlagentwurf: Autorin
Soundtrack: Falko Mäbert - Six Crown Entertainment
Druck und Distribution:
Tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
ISBN: 978-3-347-74904-7 (Hardcover)
ISBN: 978-3-347-74898-9 (Paperback)
ISBN: 978-3-347-74908-5 (E-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, DE.
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected].
Handlung und Figuren sind frei erfunden. Die Theresienschule Weißensee und das Bistum Berlin sind reale Einrichtungen, hier aber fiktiv eingebunden.
Cover
Halbe Titelseite
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Das dritte Auge
Der Buchstabe V
Doktor Aman von Rath
Wettbewerb für junge Talente
Die Entscheidung
Am Ende des Tages
Die drei Schwestern
Erntedank
Das Krankenlager
Er liebt sie, er liebt sie nicht …
Die Reise an der Silberschnur
Sechzehn Hufe
Alte Schriften und Drucke
Sage nie, das kann ich nicht!
Neuigkeiten
… wenn die Hölle dich verschlänge
Post aus der Heimat
„Wo bist Du?“
Die Zeitreise
Der Blutkristall
„Was siehst du?“
Per Express
Im Hexenkessel
Die Zaubersalze
Heimsuchung
Das kühle Grab
Mondschein, Sturm und rote Rosen
Zwischen Posaunen und Liebe
Auf immer und ewig
Die Autorin
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Das dritte Auge
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Widmung
Für alle, die ihre Unendlichkeit spüren, die in der Bedeutung ihres Lebens mehr sehen, als das kurze Aufleuchten eines Blitzes, der den Weg zum Boden sucht.
„Was Materie angeht, lagen wir alle falsch. … Was wir Materie nannten, ist Energie, dessen Schwingung so gesenkt wurde, dass sie für die Sinne wahrnehmbar wird. Es gibt keine Materie.“
Albert Einstein
Das dritte Auge
Schritte stoppten, Reifen quietschten, Fenster und Türen öffneten sich einen Spalt weit. Wann immer sich auch nur zwei aus dem Dorfe begegneten, wurde über die wundersame Genesung der Alva Schummer getuschelt. Es zeigte sich für alle, dass diese Halbwaise ein Sonderling war, die ihnen Rätsel auferlegte. Aus welcher Welt mag sie erwacht sein, grübelten die Menschen, da sie sich ihre Fähigkeiten nicht erklären konnten. Kranke Tiere flüchteten zu ihr, die sie alle durch eine einzige Berührung heilte. Für die Leute, die sie von je her mochten, lag jetzt ein Leuchten auf dem Kind. Sie nahmen ihren Zuspruch, wie einen Garanten für den Erfolg ihrer Herzensdinge. Alva wurde für sie zu einer Bank, die man in Zeiten der Not und Krankheit aufsuchen konnte, um Hilfe oder einen Kredit für ihre Lebensjahre zu erhalten. Doch für die Übrigen war sie nur jemand, der sich in den Mittelpunkt spielte. Sie sahen in ihr eine Person, die beabsichtigte, aus all dem Profit zu schlagen, wie es Frau Trude Spielmann überall anklingen ließ. Ihr Gatte gehörte nicht zu den Menschen, die diese Meinung teilten.
„Meine Enkeltochter braucht jetzt Ruhe“, appellierte die Großmutter an die Vernunft der Leute vor ihrem Haus, die sie nicht mal kannte; Kranke die zu ihnen nur auf Hörensagen hin pilgerten. Doch Alva verbrachte selbst noch die meiste Zeit im Bett, so wie es die Ärzte angeordnet hatten. Aber sie erholte sich schnell wie die tiefen Schnittwunden auf der Stirn, die unter ihrem Verband wundersam heilten. Sie prangten wie ein dichter Kranz um ihren Kopf von dem zersprungenen Glas des Spiegels. Ihr Vater schwärmte von ihrem guten Heilfleisch, wie er es nannte und dass sie dies von ihm geerbt hätte. Tatsächlich wirkte Alva schon immer unempfindlich gegenüber Verletzungen, doch sie reagierte verstärkt auf Hitze oder Kälte.
Allmählich, der straffen Bettruhe überdrüssig, wollte sie all diese Leute, die ihre Nähe suchten, gewähren lassen. Sie sagte entschlossen, alle sollten sich das abholen, was sie bei ihr zu empfangen glauben, denn weder gehöre ihr etwas allein, noch käme es von ihr selbst.
Als das Mädchen die zitternden Hände einer klagenden, leicht ungepflegten Frau hielt, klickerte es an ihrer Fensterscheibe. Sie starrte hinaus und es brauchte kaum Zeit, um ihren Bienenelf zu erkennen. Rasch sprang sie aus dem Bett, dass ihr geblümtes Nachthemd aufflog. Freudig erhitzt riss sie mit erröteten Wangen das Fenster auf. Sacht umfing sie mit beiden Händen ihren gefiederten Freund, von dem sie nun wusste, dass es Olaf war.
„Oläfchen, wie ist es dir ergangen? Wie geht es Donni?“, jauchzte sie, doch atmete dabei schwer, als trüge sie Last an dieser Überraschung.
„Jut jehts uns“, krakelte ein dicker Spatz von der Eiche und ließ an dem frechen Dialekt und dem stolzen Gehabe eindeutig ihre Freundin erkennen.
„Alvi, es hat geklappt“, fiepte Olaf in ihrer Hand, „Flash hat uns abgeholt und zurück ins Licht gebracht. Stell dir vor, du hast all die gefangenen Seelen gerettet! Was für ein Spektakel. Das gab ein Feuerwerk. Aber …“, unterbrach er sich selbst.
Sie wollte sich auf den Fenstersims schwingen, da sahen sie unten seine Mutter winken, die zarte Frau Rilke. Noch immer trug sie dunkle Kleidung mit einer Ansteckrose, rot wie die an dem Rosenstamm, den sie verkrampft in ihrer Hand hielt.
„Eigentlich komme ich wegen ihr …“, piepste Oläfchen, während er mit einem Auge schräg herunter starrte. „Bitte, sage ihr, dass ich sie lieb habe und der Schlüssel zwischen dem Kaminbesteck liegt!“
Alva spürte noch den warmen, gefiederten Bauch, als er schon in die Lüfte davon hastete.
Von unten rief Frau Rielke: „Alva, ich möchte dich nicht überfordern, doch es ist mir ungemein wichtig, mich bei dir zu entschuldigen. Ich war neulich sehr abweisend zu dir. Erinnerst du dich? Es tut mir leid! Ich brauchte Zeit, um zu verarbeiten, was du mir über meinen Jungen gesagt hast. Das wollte ich dir nur erklären.“
Da quietschte es. Durch die Zauntür kamen Vater Albert und Bruder Karl. Sie mussten sich nach einem langen und schweren Arbeitstag durch ihren eigenen Vorgarten zum Hauseingang drängeln.
Der Vater schimpfte mit stur gesenktem Blick: „Herrje! Wir sollten langsam Geld für diesen Unsinn nehmen!“
Karl lachte nur leise auf, aber so derb, dass er dabei den Kopf hob. Obwohl auch er gern gebraucht wurde, schien ihm dies alles maßlos übertrieben. Er murrte, als ihn etwas zaghaft am Arm zurückhielt. Bissig sah er sich um.
„Hast du ein Gläschen Wasser für meine Mutter?“, fragte ihn ein Mädchen seines Alters und lächelte verschämt.
Er nickte mehrfach und mit leuchtenden Augen schaute er jetzt in die Runde: „Wer möchte noch etwas trinken?“ „Wer noch?“, wiederholte der Vater und schüttelte nur den Kopf. Und als die Großmutter die Tür öffnete und ihm obendrein eine Fremde aus dem Haus entgegenkam, drehte er sich zu den Leuten um und sagte bestimmend: „Geben sie unser Gehöft frei! Ich hatte einen harten Tag und möchte meine Ruhe!“ Dann bemerkte er die Mutter Rilke, die sich beschämt zurückziehen wollte, sich aber ertappt fühlte.
„Verzeihen sie Herr Schummer! Bitte, pflanzen sie diesen Rosenstock für Ihre Alvi!“, sprach sie leise doch hastig und reichte ihm den jungen Stamm. „Er gehörte meinem Sohn. Sie finden gewiss einen guten Platz für die Rosen; lockerer Boden, am besten südwestlich an einem lichten, aber nicht zu heißem Standort.“
Da rief Alva ihr von oben zu: „Olaf geht es gut. Er liebt sie. Ach, und der Schlüssel liegt unter dem Kaminbesteck.“
Frau Rilke strauchelte einen Schritt zurück, auch um das Mädchen genauer sehen zu können, hielt die Hand vor ihre Brust und stammelte: „W… Woher, oh … Am Kamin? Ja, da habe ich noch gar nicht gesucht.“ Sie blinzelte, sah Herrn Schummer an und meinte, erklären zu müssen: „Ich wollte das Erinnerungskästchen von meinem lieben Jungen nicht mit Gewalt öffnen.“
Er nickte mit angehobenen Brauen und stellte den Rosenstamm vorsichtig neben die Tür. „Diese Pflanze muss Ihnen viel bedeuten. … Ja, dann bedanken wir uns recht herzlich. Gewiss finden wir den richtigen Platz. Ich verspreche es!“ Eine Minute des Anstands blieb er stehen, danach ging er kopfschüttelnd ins Haus.
Karl verteilte unterdessen Trinkwasser. Und da sich jeder Pilger genötigt sah, recht zügig ohne eine Berührung von Alva verschwinden zu müssen, rissen sie ihm die kühlen Tropfen aus der Hand. Es erweckte den Anschein, als versprachen sie sich darüber den erhofften Erfolg für ihr Heil.
Mit der Dämmerung des Abends versammelte sich die Familie im Wohnzimmer hinter zugezogenen Fenstern.
Der Vater überlegte, wie er demnächst seine Jüngste vor diesem Tumult bewahren könnte.
Alva hingegen, die an den Leuten keinen Anstoß nahm, hockte in ihrem Bett und war mit ihrem Kopf beschäftigt. Es juckte unter ihrem Verband. Sie tastete nach dem Ende des weißen Wickels und rollte ihn über ihrem Zeigefinger ab. Die Wunden waren zu winzigen Kratzern geschrumpft, die nur leicht spannten. Sie hüpfte aus dem Bett, um den Spiegel vom Tisch zu holen, da bemerkte sie am Kopfende des Bettrandes eine durchscheinende Gestalt.
„Hallo!“, sagte diese vertraut wie eine Freundin.
Alva flüsterte so, als wollte sie ein Missgeschick geraderücken: „Ich kann dich sehen.“ Dann setzte sie sich aufrecht ins Bett zurück und faltete langsam ihre Hände ineinander. So saß sie da mit starrem Blick, steif wie ihre Plüschtiere. Sie machte weiter nichts, als zu warten, was nun geschehe, in der Hoffnung die Erscheinung zöge gleich an ihr vorbei.
Selbst dieses geisterhafte Wesen wirkte irritiert. Starrend sammelte es Flusen von der Bettdecke ab und schaute dann mit gesenktem Kopf seitlich zu Alva auf.
„Du siehst aus wie mein Spiegelbild“, konstatierte Alva und spitzte den Mund. Ihr missfielen die Situation und der Gedanke, einen Zwilling als ständigen Begleiter zu haben. Laut prustend rückte sie sich bequemer zurecht und damit auch dieses Ebenbild von ihr, das gleichermaßen aus seiner Erstarrung fand. Sie zog ihre Oberlippe hoch zur Nase und fragte: „Und? Bleibst du immer so dicht bei mir?“
Doch der Geist blieb stumm, zog nur ebenfalls die Lippe kraus und schien wenig einverstanden mit jener sichtbaren Situation.
„Ich weiß, was du bist“, sagte Alva und grub mit einem Lächeln Grübchen in ihre Wangen. „… Mein Schutzgeist?“
Das Lichtwesen zog die gleiche Grimasse, aber öffnete das Grinsen zu einem Lachen, so dass seine Zähne blitzten. Es zog die Brauen kräftig an und schnellte den Kopf derart auf die Seite, als wollte es sagen: „Tataa, ja, hier bin ich!“
Alva lächelte und versuchte, dankbar zu sein. Sie wusste von den Aufgaben jener Geistwesen, dass sie nur im Dienst des Schützlings stehen, sich aber nie zu dessen Gewissen oder Richter aufschwingen. Trotzdem hoffte sie insgeheim, dass ihr Geist stumm ist, denn sonst müsste sie fürchten, sich in der Öffentlichkeit zu Antworten hinreißen zulassen. „E n g e l!“, sprach Alva überzogen langsam, „O bitte, ich brauche dich, aber sehne mich danach, mal allein zu sein!“
Das Wesen schaute sie geräuschlos an und doch hörte sie seine Widerrede: „Du bist ich und ich bin du. Du hast von mir nichts zu befürchten und musst dich nicht schämen. Du bist mir vertraut seit deiner Geburt.“
„Nein!“, schüttelte Alva ihren Kopf, „Ich fürchte mich doch nicht“, stöhnte sie bedrückt und wandte ihren Blick zum Fenster. Sie fand sich in einer Zwickmühle, wie sollte sie je wieder in ihr gewohntes Leben zurückfinden. Zudem verabscheute sie das Gefühl, jemanden kränken zu können. In diesem Augenblick sah sie aus dem Augenwinkel, wie sich das Geistwesen zu einem Nebelschwall zusammenzog. Wie ein Luftzug verschwand es in einer der Taschen ihrer Kleidung, die sorgfältig über ihrem Stuhl hing. Fort war es, zumindest außer Sicht. Alva war erleichtert und genoss den Augenblick des Alleinseins. Doch das Wissen, dass ihr stets jemand zur Seite stand, fand sie durchaus tröstlich.
Woher ihre plötzliche Gabe kam, war für sie zweifelhaft. Sie fragte sich, ob sie die Hellsichtigkeit von ihrer weiten Reise mitgebracht und ihr dieses Vermögen anhaftete, weil das Elixier ihre Augen geöffnet hatte. Oder war es nur ein vorübergehendes Fieber? Denn auch wenn sich für sie die Ereignisse der jenseitigen Welt wahrhaftig anfühlten, lebte sie jetzt wieder in der trauten Realität von Fleisch und Blut.
Sie drückte das Mal zwischen ihren Brauen und spürte eine seltsame Gelöstheit. Es schien, als stünde ein Fenster auf, aus dem ihre Seele dem Körper entweichen und nach belieben wieder einfahren könne. Augenblicklich erkannte sie es: Hier lag die Ursache. Sie vermochte plötzlich, Wesen und Dinge zu sehen, die das Diesseits und Jenseits überschneiden, alle Welten in sich vereint. Alva wurde bewusst, ihr drittes Auge war geöffnet.
Der Buchstabe V
Die Nacht war unruhig für Alva. Seit ihrem Erwachen, dem Wiedererstehen, fand sie kaum Schlaf. Sie spürte keinen Bedarf mehr danach und schob die fehlende Müdigkeit auf das Faulenzen tagsüber. Sie vermisste das Reich, aus dem sie zurückgekehrt war sehnlicher, als es ihr dort andersherum erging, obwohl sie ihre Familie liebte. Jetzt kam es ihr vor, als müsste sie wieder auf hartem Boden ruhen, in einer Welt, wo sich das Gute mit dem Bösen mischte.
Sie grübelte, was sie mit ihrem dritten Auge anfangen sollte und ob sich das Treiben des Schattens bald deutlicher spüren ließe, da er in Besitz der Ringe war. Dann holte sie Stoff und Faden und schnitt einen Streifen Pappe zurecht, der mittig ähnlich dem Buchstaben V eine tiefe Kerbe hatte. Sie umnähte ihn zu einem Stirnband. Dabei wählte sie den Stoff in der Farbe rot, dass es bei ihrem Haar nicht auffiel, doch zuverlässig die Stelle zwischen ihren Augenbrauen bedeckte. Sie setzte diesen Deckel auf das Mal, das ihr sonst keine ruhige Minute bescheren würde. Geschickt wickelte sie einige Haarsträhnen ihrer Schläfen um das Hutgummi. Damit hielt ihr Kopfschmuck. Sie schaute aus dem Fenster und schob das Stirnband hoch zum Haaransatz und wieder herunter auf die Stirn. So sah sie einmal auf die Welt voller sonderbarer Gestalten in merkwürdiger Perspektive und dann wieder auf die Umgebung, wie sie ihr vertraut war. Letztlich ließ sie das Stirnband tief sitzen wie zuvor ihren Wundverband. Entspannt träumte sie hinunter in den Vorgarten.
Mit jenem Morgen kündigte der Herbst sein Kommen an und drückte zugig an die Scheiben. Er stahl dem Tage das Leuchten, doch schenkte den Menschen die Aussicht auf Ruhe, die Alva trügerisch fand. Sie sträubte sich vor dem neuen Schuljahr.
Einen halben Tag später klingelte es wild an der Haustür und die Großmutter lief, so schnell es ihr noch möglich war, und öffnete sie.
Nele Spielmann stand dort herausgeputzt und umspielt von frischer Luft mit Heften und Büchern unter ihrem Arm. „Hier, für Alva! Alles, was sie noch für die nächste Klasse braucht. Mutter hat es gleich doppelt bestellt. Ich hoffe, sie haben genügend Geld im Haus … Der Kassenbon liegt im Mathebuch“, sagte sie und drückte der kleinen, alten Frau den gesamten Stapel in die Hände. Dann blieb sie vor der Tür stehen, während ihr Kopf umherwanderte. „Und, wo sind denn jetzt die Leute, die hier so nerven?“
Die Großmutter ließ die Bücher auf den Esstisch rutschen und schlurfte in ihren Fellpantoffeln zur Vitrine. Sie zog die obere Schublade auf und zählte konzentriert das Haushaltsgeld. Doch Nele unterbrach sie wiederholt.
„Wir haben das Geld solange ausgelegt, obwohl Mutter ja kein Kreditinstitut ist“, sagte das Mädchen und wippte auf ihren Zehenspitzen. „Und? … Haben sie es auch passend?“ Nele strich sich das Kinn und bohrte weiter: „Wo bleiben denn all die komischen Leute, die immer zu Alva wollen?“
Die Großmutter wirkte erleichtert, als sie das volle Geld zusammen hatte. Sie machte ungern Schulden. „Es war nett von deiner Mutter. Womöglich hätte ich gar nicht pünktlich daran gedacht“, bedankte sie sich.
„Ja … schon gut! … Und kommen hier denn immer so Aussätzige, wie Mutter sagt?“, scharrte das Mädchen leicht mit einem Fuß.
„Aber ich bitte dich, keineswegs! Weder Aussätzige noch komische Leute. Wohl etwas anstrengend, das mag sein. Sie hofften auf Hilfe. Hast du nicht das Schild an unserer Pforte gelesen?“
Nele nickte: „Das Betreten verboten? Ach so, ja, hab ich. Egal! Wünsche nen schönen Tag!“, rief sie, während sie aus dem Gartentor stolzierte.
Die Großmutter blickte sich um. Auch sie wunderte sich, warum die Pilger vor einem selbstgeschriebenen Verbotsschild stoppten? Sonst hielten sie weder Wind noch Wetter davon ab, in ihren Vorgarten zu stapfen.
Da bogen die zwei Männer der Familie ungewohnt früh und mit festen Schritten um die Ecke und wirkten erfrischt.
„Na, Lene Mutti, fehlt dir etwa der Trubel?“, scherzte der Vater und umarmte seine Schwiegermutter kurz im Vorbeigehen. Karl dagegen hielt inne, um die Großmutter einmal am Tag hochzuheben. Diesen liebevollen Spaß ließ er sich nie nehmen.
Der Hausherr riss sofort den Kühlschrank auf, griff zu einer Salami und berichtete schmatzend: „Ich hab unter die Verbotsschilder noch einen Zettel angebracht, dass ich zu siebzehn Uhr mit meiner Tochter ins Gasthaus Drei Eichen komme.“
Karl strich durch seine Haare und sagte leise: „Da bin ich aber verabredet …“
Die Großmutter schmunzelte. „Du bist ja keine Tochter.“
Er schmiss sich breitbeinig in den Sessel und lachte.
In der Küche klimperte und zischte es. „Ein kühles Bier nach dem Feierabend steht jedem Mann zu“, rechtfertigte sich der Vater und trat mit etwas flegelhaften Geräuschen in die Stube zurück. „Natürlich schleppe ich nicht unsere Alva mit ins Gasthaus, um sie begaffen und antatschen zu lassen. Sie ist ja kein Zirkuspferd.“
Die Großmutter setzte sich ebenfalls, doch so vorsichtig, als hätte sie Angst sich daneben zu platzieren. Auf dieselbe Weise fragte sie: „Oh, aber was hast du vor?“
„Keine Sorge Lene Mutti … Ich habe ja noch eine Tochter! An Klara finden sie sowenig Interesse wie an mir. Niemand nimmt Schaden und ich halte mein Wort“, lachte er.
Die Großmutter schüttelte den Kopf, doch der Familienvater wich jeder Widerrede aus, indem er seine Stiefel auszog und zu sich selber sprach: „Es mögen ja gute Menschen sein, aber es wird zu anstrengend für unsere Kleine. Ich bin ihr Vater und werde sowas nicht zulassen. Basta! Ich mache denen das schon klar. Wartet ab! Das wird sich genauso fix rumsprechen, wie alles andere. Außerdem ist sie ein Kind.“
Obwohl es für die Großmutter bequemer gewesen wäre, seine Ansicht zu teilen, wehrte sich etwas in ihr dagegen. „Albert, ich verstehe dich. Du hast ja die besten Absichten, aber du vergisst was dabei …“
Im Obergeschoss knarrte die Treppe. Das alte Mütterchen trat dicht zu ihm heran. „Du darfst es doch nicht über ihren Kopf hinweg bestimmen! Du solltest es wenigstens mit ihr besprechen, es ihr erklären! So ein kleines Mädchen ist sie nicht mehr. Sie ist vierzehn Jahre alt.“
„Vater! Ich bin im fünfzehnten Lebensjahr“, klang es aus der Höhe. Alva stand dort auf halber Treppe und seufzte.
„Kindchen!“, rief die Großmutter erschrocken.
Das Mädchen hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest und sah in ihrem weißen Hemdchen aus wie ein Geist, so blass und dünn. Ihr Leib verlangte kaum nach Nahrung.
Doch jetzt fühlte sich der Vater selbst bevormundet. Kein Stück weit wollte er nachgeben. Schließlich sah er sich in der alleinigen Verantwortung für Alva, obwohl sie derart gereift und erhaben wirkte trotz der körperlichen Zartheit.
„Was soll das werden? Bildet ihr eine Front gegen mich? Wer bin ich für euch, dass ihr mir sagt, was ich zu tun hab? Ich weiß am besten, was gut für meine Kinder ist!“
Alva wollte zu ihm laufen, doch als er noch heftiger zu schimpfen begann, blieb sie steif stehen.
„Bin ich denn euer Hans Wurst? Nur dafür gut, das Geld zu verdienen? Geh jetzt sofort zurück auf dein Zimmer! Du hältst so lange Bettruhe, wie es die Ärzte anweisen!“, befahl er mit hochrotem Gesicht. „Und noch etwas. Hört gut hin!“, peitschte er mit dem Zeigefinger in die Runde, „Wenn ich von Ärzten spreche, meine ich Mediziner und keine Tricks und Zauberei. Schluss jetzt mit diesem Hokuspokus!“
Alva lief mit lauten Schluchzen nach oben und schlug die Tür hinter sich in die Zarge. Und als das Großmütterchen ihr nacheilen wollte, erhielt sie eine separate Standpauke.
„Du läufst ihr nicht wieder hinterher! Wenn du das Beste für sie willst, dann hilfst du mir, sie zu beschützen. Seid ihr denn alle verrückt geworden?“
„Muttchen“, rief Karl, lief zu ihr und stützte sie, da sie zu schwanken begann. Strafend sah er seinen Vater an.
„Aber Albert“, sagte die alte Dame gedämpft, „Ich sage doch nur, dass du mit ihr derartige Dinge bereden solltest. Fühl dich nicht angegriffen! … Wir haben keinen Besitz an unseren Kindern, nur weil sie das Näschen oder ihre Füße nach unserem Bilde haben. In ihrem Wesen sind sie vielleicht reifer als wir selbst! Ja, die Natur hat uns die Aufgabe zugewiesen, sie bei ihrem Erwachsenwerden zu behüten, aber nicht um über ihre Seelen zu verfügen.“
Der Vater ließ sich derart plump in den Sessel fallen, als wollte er jetzt allem nachgeben, was ihn drückte. Er grub die Hände in sein dichtes Haar und verharrte so mit aufgestütztem Kopf. Die Großmutter schlich gebückt zu ihm und streichelte seine Wange wie bei einem kleinen Jungen. Da löste er sich in Tränen auf, für die er sich wohl schämte, da er mit ganzer Kraft versuchte sie zu verbergen.
„Lene Mutti, verzeih mir, das war in der letzten Zeit alles zu viel für mich!“, schluchzte er und rutschte dabei in ein Lachen ab: „Sagt mal, was trug sie denn da für ein Band auf der Stirn?“
„Könnte modisch werden“, sagte Karl mit einem breiten Lächeln. Dann folgte er einem Wink der Großmutter und lief die Treppe hinauf, seiner Schwester hinterher.
„Glaube mir bitte Albert, ich kann mir keinen besseren Schwiegersohn vorstellen. Du bist ein großartiger Vater für meine Enkel“, beteuerte sie und ließ ihre Hand dabei auf seiner Schulter ruhen. „Aber sieh doch, es ist nun mal ihre Herzensangelegenheit, über die du da verfügen willst. Alva bedeutet es viel, für diese Menschen ein Seelsorger zu sein. Sie beteuert fest, dass sie dabei keinerlei Schaden nimmt.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Es ist jetzt so weit, ihr den nötigen Raum zu lassen. Sind sie klein, brauchen sie Wurzeln … Nun müssen wir ihr Flügel geben.“
Der Vater schwieg dazu, aber nickte. Er atmete tief ein, erhob sich und folgte den Kindern auf ihre Zimmer. Nach einiger Zeit, in der ruhige Gespräche zu hören waren, kam er mit ihnen die Treppe herunter. Sie zogen ihre Jacken an, stiegen auf ihre Drahtesel und radelten gemeinsam in das Dorf, auch Karl, der eine romantische Verabredung hatte. Die Großmutter blieb mit Alva zurück. Sie standen vor der Haustür, den frischen Wind im Gesicht und schauten ihrer Familie hinterher. Der Abend war jung und klar.
Für einen Moment lüftete das Mädchen ihr Stirnband; zwei Ausblicke legten sich übereinander, ohne dass es sie schwindelte. Die Gegend blieb dieselbe, doch sie hatte an Tiefe gewonnen. Ihr Blick bahnte sich durch alles hindurch. Innerhalb dieses ausgedehnten Rasters sah sie Gestalten, Geistgänger, aber auch ihre beiden Schutzengel.
Da dachte sie an das Pferderennen mit seinem tragischen Ausgang. Aus dieser Erinnerung heraus erkannte sie, dass es der Schutzgeist ihrer Großmutter war, der sie beim Sturz mit abfing. Und dies hatte ihrem Mütterchen den verletzten Arm eingebracht. Sie war zu ihrer Enkelin gestolpert, ohne selbst ihren Schutz an der Seite zu haben. Jetzt begriff Alva: Jene Menschenmenge, die Doppelbilder der Zuschauer, die sich nicht synchron bewegten, waren deren Schutzgeister, mit demselben Aussehen.
Während Alva ihr Gesicht drehte, fuhr sie erschrocken zusammen. Im Winkel zwischen Stall und Haus hing eine große insektenartige Figur mit gelben Pupillen, die in ihre Richtung starrte. Wie ein kleines Kind, das sich die Augen zuhielt, um nicht gesehen zu werden, schob sie schnell ihr Stirnband tiefer und umarmte seufzend ihre Großmutter. Sie wusste, dass es wesentlich mehr gab, als die fünf Sinne erfassen konnten. Wesen, die sich weit unter jeder menschlichen Vorstellung tummelten, so dass sie ihnen kaum ins Bewusstsein kamen. Und ihr war klar, dass sie jederzeit aus dem kollektiven Unterbewusstsein in dieses Leben gezogen werden konnten.
Die Uhr im Wohnzimmer schlug ihren Gong inzwischen zum dritten Mal zur vollen Stunde. Die Großmutter stand hinter der Gardine am Fenster. Sie schaute zum Gartentor und nestelte in der Tasche ihrer bunten Haushaltsschürze.
Alva lag auf dem Sofa und fragte wiederholt in immer kürzeren Abständen: „Wo bleiben die denn?“
„Da kommen sie endlich“, rief die Großmutter und eilte zur Haustür. „Das wurde aber höchste Zeit. Es ist ja bald stockdunkel. Es lässt sich ja kaum noch der Weg erkennen.“
Daraufhin schraubte der Vater murmelnd an der Glühbirne der Außenlampe: „Na, kein Wunder, die ist ja auch durchgebrannt.“
Sie stampften ins Haus und ihre Jacken flogen über die Stuhllehnen.
Alva sprang auf und fragte hastig: „Oh, wie lief es?“
Vater Albert atmete tief durch und sprach: „Diese Pilger werden dich zunächst mal in Ruhe lassen. Aber sobald du wieder die Schule besuchst, entscheidest du selbst, ob und wie du denen helfen willst … Na für mich ist das ohnehin alles totaler Quatsch.“
„Vati, lass sie mal machen!“, sagte Klara und lief lächelnd an Alva vorüber in die Küche.
Die Großmutter nickte und schlurfte ihr hinterher.
Doktor Aman von Rath
Das neue Schuljahr startete. Alte Gewohnheiten knüpften an den ersten Schultag, als wäre nichts vorgefallen. Alles schien wie immer, ein Frühstück, der Abschied und dann der Weg zum Schulgebäude.
Klara brachte ihre Schwester bis zum Schulhof. Danach ging sie zu ihrem Lehrplatz in dem Konsum »Weinkauf«.
Alva zögerte, marschierte dann aber durch das Tor auf den asphaltierten Platz. Weiße Linien markierten die Stellplätze der einzelnen Schulklassen. Auf einem der hinteren Flächen für die neunten Klassen erkannte sie die bekannten Gesichter der Mitschüler. Sie wirkten verändert, in den acht Wochen Ferien gereift. Die Jungen hatten an Größe zugelegt und die Mädchen deutlich längere Haare bekommen. Alle waren von der Sonne gebräunt, schienen erholt und bester Laune zu sein. Ein beklemmendes Gefühl stieg in Alva auf. Ihre Schritte wurden zögerlicher, da sich sämtliche Augen auf sie richteten. Es wurde getuschelt und gelacht.
„Was hast du denn Schickes auf dem Kopf? Soll das so?“, fragte Nele kichernd und sprach damit nur aus, was jeder dachte. Sie warteten auf eine Antwort.
Alva lächelte beschämt mit einem Kopfschütteln. Rasch zog sie das Band von der Stirn und stopfte es in ihre Tasche. Doch kaum schaute sie wieder hoch, schreckte sie zurück. Ihr Blick fiel in den Schlund einer teerschwarzen Gestalt. Schrille und stinkende Schreie drangen aus dieser Kreatur, während aus seiner Fratze gelbe Augäpfel hervorquollen. Panisch wehrte sie dieses Wesen geduckt von sich ab.
„Hat die nen Anfall?“, „Guckt mal!“, „Was ist denn mit der los?“, „… Krämpfe!“, redeten alle durcheinander und starrten auf das Mädchen wie auf eine Attraktion. Sie sahen und spürten nicht, mit was es zu kämpfen hatte.
Alva hörte unterdes jeden dieser Sätze, wie von einem verstimmten Instrument in einem Konzert an Geräuschen, schief und schrill. Plötzlich ließ das Wesen von ihr ab und streckte sich weit nach hinten. Mit einer der langen Krallen zog es Nele eine Scharte ins Gesicht.
„Du Hexe!“, schrie sie und sah vorwurfsvoll zu Alva.
Besorgt schlurfte ein altes Ehepaar herbei. Alva erkannte sie. Es war vor Jahren in der Schulspeisung tätig, doch seit kurzem verstorben. Der Mann schaute suchend umher, als hätte er seine Reisegruppe verloren. Die Frau pustete sanft über Neles Schramme. Doch das eitle Mädchen bemerkte nur den Hauch und hielt sich das Gesicht zu.
Die dunkle Kreatur schrie abermals, diesmal stoßweise einem Ruf gleich. Wie aus dem Nichts tauchten viele dieser Wesen auf. Gierig bewegten sie sich zwischen den Schülern hindurch. Allzu gern hätten sie sich mit der jungen Energie gestärkt, gäbe es da nicht die Wacht der Schutzgeister. Doch die schienen urplötzlich abgelenkt zu sein. Und niemand bemerkte etwas von all dem Treiben, nur Alva. Sie erkannte den Futterplatz vor sich für die düsteren Bestien. In ihrer Not kreischte sie und unter diesem spitzen Ton verpufften diese Kreaturen in einem schwarzen, stinkenden Qualm.
Die Schutzgeister neigten ihre Köpfe leicht zur Seite und lächelten ihr zu. Damit verloren die Mitschüler für sie ihre Dominanz, da ihre Geister ihnen frappierend ähnlich sahen und nicht auf sie herabschauten.
Alva dachte daran, was sie in der jenseitigen Welt gefühlt hatte, wer sie dort war und wer sie hier sein könnte. Damit entschied sie, nicht länger den Stempel ihrer Schulklasse zu tragen. Sie rückte ihre Kleidung zurecht und korrigierte ihre Haltung. Doch es schwindelte sie. Sie zog wieder das Stirnband hervor und setzte es auf. Um so deutlicher hörte sie jetzt ein reges Klatschen, auf das sich jeder umdrehte.
An der Litfaßsäule der Schule stand ein Mann mit langen schwarzen Haaren, einen knorrigen Gehstab unter den Arm geklemmt. Mit einem Hüsteln klebte er ein Flugblatt fest. „Ich bin ein Talentsucher. Unser Staat fördert all die jungen Künstler. Wenn eine Begabung in euch steckt, erscheint zur Aufnahmeprüfung … Heute um Punkt fünfzehn Uhr in der Sporthalle!“, sagte er mit fester Stimme. Liniengerade stand er nickend neben seinem Plakat. Er ähnelte einem indischen Mystiker. Sein durchdringender Blick wanderte durch die Klassen. Nur die Bewegung des Kiefers verriet eine gewisse Erwartung. Dann marschierte er mit fliehenden Haaren an den Schülern vorbei. Urplötzlich stieß er die Stabspitze auf den Boden und hielt inne. Er setzte drei Schritte zurück und beugte sich langsam zu Alva. Mit einem leichten Wink in Richtung ihres Stirnbands flüsterte er: „Es gibt noch andere Dinge, um sich zu schützen. Also bis fünfzehn Uhr!“ Eilig ging er weiter und verschwand im Schulgebäude.
Zur selben Zeit schob die Lehrerin Fräulein Ziegenhals ihren quadratischen Dauerwellkopf hinter der Tür hervor. Sie winkte wild ihre Klasse herein, ohne sich dabei in die zugig feuchte Herbstluft zu stellen. Kaum hatte der erste Schüler seinen Fuß ins Gebäude gesetzt, fragte sie streng: „Was wollte der Fremde?“
Nele rief sofort aus der dritten Reihe: „Der sucht Talente. Er hat …“ Grob drängelte sie sich zu ihr vor und berichtete: „… einen Aufruf an unsere Litfaßsäule geklebt.“ Sie deutete auf Alva. „Ihr hat er irgendetwas ins Ohr geflüstert.“
Fräulein Ziegenhals streckte ihren Kopf nach hinten, jede Sehne an ihrem Hals war gespannt wie eine Gitarrensaite. Sie spuckte, während sie sprach: „So so! Denkt stets daran! Die Kunst wird euch nicht ernähren. Künstler waren immer schon Träumer und Rumtreiber. Sie enden alle ohne Ohren oder in bitterster Armut.“ Sie schüttelte ihren Kopf, kniff die Augen zusammen und sah Alva an. Mit ihrem spitzen Fingernagel zeigte sie zur Treppe. „Im dritten Stock spielt die Musik, junge Dame! Erwarte nur keine Rücksicht! Wer krank ist, muss zu Hause bleiben.“
Alva ließ sich nicht mehr einschüchtern. Sie zuckte mit ihrer Schulter und lief zügig zu ihrem neuen Klassenraum. Auch sonst wirkte sie vollkommen verändert. Sie behielt ihr Wissen nicht nur im Kopf, sondern meldete sich bei jeder Gelegenheit. Zuerst rief die Lehrerin sie mit einem Grinsen auf. Die gesamte Klasse drehte sich zu ihr um. Doch all die Köpfe wanderten gelangweilt in ihre alte Position zurück. Alva lieferte ohne jedes Zögern stets eine perfekte Antwort. Das führte dazu, dass ihre gehobene Hand keine Beachtung mehr fand. Fräulein Ziegenhals versuchte, an ihr vorbei zu sehen. Dabei kroch ihr eine schwellende Röte ins Gesicht, bis sie mit offenem Mund zu pumpen begann und keifte: „Nimm endlich dieses alberne Ding von der Stirn! Steck das jetzt weg! So ein Klimbim wird in meinem Unterricht nicht geduldet!“
Alva zögerte, gab aber der Anweisung nach und streifte ihr Stirnband ab. Da schlug es ihren Kopf wie durch einen derben Hieb zurück. Die Bilder, die sich vor ihren Augen übereinanderlegten, flimmerten. Sie fächerte sich Luft zu, doch die Fülle von süßsaurem Mief hob ihr den Magen. Ihr Schädel hämmerte. Ein Wirrwarr an Stimmen und schrillen Laute drangen in ihren Kopf. „Darf ich bitte nach draußen? Ich fühle mich komisch“, fragte sie.
Die Lehrerin runzelte die Stirn und machte eine Kopfbewegung zur Tür. Das Mädchen lief schwankend aus dem Raum, die gewienerten Treppenstufen herunter, durch die Ausgangstür. An die Hauswand gelehnt, rutschte sie in die Knie. So blieb sie hocken, ihre Stirn auf die Finger gestützt.
„Du fühlst dich schwach?“, forschte eine tiefe Stimme. Es war dieselbe, die ihr vor Unterrichtsbeginn den Termin ans Herz legte.
Alva zuckte zusammen, behielt aber die Hand vor ihrer Stirn. „Ich weiß nicht. Ich fühle mich seltsam“, antwortete sie leise, ohne dabei aufzusehen.
Der fremde Mann trat zu ihr und entgegnete ernst: „Aber ich weiß es.“
„Ja?“, fragte sie erstaunt und vergaß für diesen Moment alles um sich her. Sie stützte sich mit beiden Händen vom Boden ab und schaute frei zu ihm hoch. Helles Tageslicht schlug ihr entgegen, ohne finstere Schatten, dem Irrsinn an Geräuschen oder den störenden Gerüchen.
„Du leidest öfter darunter, nicht wahr? Diese Schwäche, den Schwindel? Hörst du Stimmen? Erschreckt dich, was du siehst?“, fragte er, als kenne er längst die Antworten.
Hastig erwiderte sie: „Ja, aber niemand darf es wissen. Mein Vater fürchtet, dass es mich zu viel Kraft kostet, wenn ich anderen helfe. Verstehen sie? Außerdem würde man mich in eine Anstalt einweisen lassen.“
Der freundliche Mann hörte zu, während ihm der Herbst sein Haar über das Gesicht hauchte. Hell leuchteten seine Augen mit einem ehrlichen Lächeln. Er sah sie scharf an. „Und? … Fühlst du dich verrückt in dieser Welt?“
„Verrückt? Meine Sinne sind verschoben“, antwortete sie. „Also gehörst du in eine Klinik?“, stieß er sie fragend an. Alva griff nach ihrem Haarband, setzte es energisch auf und drehte sich zur Eingangstür. „Nein! Natürlich nicht!“, entgegnete sie beschämt und zugleich verärgert. „Es dauert eben etwas, bis ich gesund bin. Ich lag im Koma.“
„Oh, ich hörte davon. Auch, dass manche Menschen weit reisen, um durch deine Hände eine Linderung zu erhalten. Doch du hast noch einiges zu lernen. Es liegt Arbeit vor dir, wenn du mit der neuen Fähigkeit zurechtkommen willst.“ Er lächelte. „Es ist kein Fluch, sondern ein Segen. Aber du musst es beherrschen. Noch bist du wie ein Radio, das auf allen Frequenzen empfängt. Du solltest die Kanäle selbst wählen können, jederzeit in der Lage sein, umzuschalten. Und wichtig ist es, sie wieder ausstellen zu können.“
Alva nickte unentwegt mit offenem Mund.
„Dann wirst du dieses Stirnband nicht mehr brauchen. Obwohl ich es hübsch finde“, meinte er. Und bevor sie dazu etwas sagen konnte, schlenderte er mit einem Zwinkern zur Sporthalle davon und rief nur, ohne dabei zurückzusehen: „Denk dran … Fünfzehn Uhr!“
Wettbewerb für junge Talente
Die Schulklingel läutete und beendeten den Unterricht. Alle Kinder strömten aus dem Schulgebäude, bis nichts mehr von ihnen zu sehen war. Nur Alva blieb vor dem Plakat an der Litfaßsäule stehen und grübelte. Leise las sie vor sich hin: „Junge Talente gesucht! Hast du eine Begabung? Dann beeindrucke mich! Euer Doktor Aman von Rath.“
„Oh, Doktor von und zu, hä?“, spottete Nele Spielmann von der Seite, die ihrer Mitschülerin schleichend folgte.
Alva erschrak. Abweisend zuckte sie mit einer Schulter. „Und? Wie findest du sie?“, fragte das blonde Mädchen wie beiläufig.
„Wen?“, stöhnte Alva und knotete ihre Haare zusammen.
Nele senkte ihren Kopf und entgegnete: „Was, wenn sie eure Mutter wird?“
„Was willst du wieder von mir?“, fragte Alva und ließ ihren Zopf fallen.
„Na, was will dein Vater von meiner Tante?“, hetzte Nele. Sie sperrte ihre Augen überzogen auf und flüsterte durch die Hand: „Oh, hab ich jetzt was verpetzt?“
Alva schob ihre Brauen zusammen und nahm sie scharf ins Visier.
Doch sie erzählte weiter: „Tante Lili und dein Vater haben sich im Gasthaus »Drei Eichen« kennengelernt. Er liebt sie. Willst du seinen Brief sehen?“
Alva schüttelte den Kopf, forderte dann aber: „Gib ihn her!“
„Bist du irre? Doch nicht hier. Ich musste den klauen“, motzte Nele und deutete auf den Geräteschuppen zwischen Schule und Sporthalle. „Lass uns da rein! Der Liebesbrief ist in meiner Tasche.“
Sie sahen sich um und liefen schnell zu dem Holzhaus. Leise gingen sie hinein. Die Tür ließen sie einen kleinen Spalt auf, damit genügend Licht einfiel.
Nele wühlte in ihren Büchern. „Verstehe ich nicht. Dort muss er stecken.“ Sie verharrte einen Moment und sah auf. „Habe ich den unterm Schultisch liegen lassen?“, sagte sie mit gespitztem Mund und murmelte: „O nein! Ich hole ihn schnell, bevor ihn ein anderer findet.“ Nele griff nach ihrer Tasche, polterte hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.
Es wurde dunkel um Alva. Sie drückte fest gegen die Tür, die von innen keine Klinke hatte, und schrie ihr hinterher: „Komm zurück … Nele! Die Tür ist zu … Der Griff fehlt!“ Sie rüttelte laut an den Wänden. Aber es gab niemanden, der sie hätte hören können. Prompt schob sie das Stirnband hoch, um ihren Schutzgeist sehen zu können. Dort kauerte er in der Ecke zwischen dem Rasenmäher und der Schaufel. „Beschützt du mich nicht?“, rügte sie ihr luftiges Abbild.
Dies zuckte mit den gleichen spitzen Schultern wie sie und erwiderte entspannt: „Bist du am Verdursten oder am Fiebern? Ich greife nur bei akuter Gefahr ein.“
Bockig wollte sie ihr Band wieder auf die Stirn schieben, als sie ihn ein altes Kinderlied summen hörte.
Lächelnd mahnte er: „Glaube an deine Fähigkeiten!“
Alva seufzte laut und suchte den ganzen Schuppen nach Möglichkeiten ab, aus ihm zu entkommen. Aber es war viel zu dunkel und ihr Verstand fand keine brauchbare Lösung. In dem folgenden Moment, in dem sie entspannte, weil sie jede Anstrengung aufgab, geschah es. Sie kniete träumend vor der Tür, aufs kühle Metall der Klinke starrend. Und wie durch einen engen Tunnel schaute sie durch das Holz, das für sie urplötzlich seine Struktur verlor. Ihr Geist gab einer Energie das Signal, den Griff der Tür zu kippen, gleich dem Gehirn, das der Hand denselben Auftrag gäbe. Es klickte, das Türblatt lag frei in der Zarge. Sie drückte es vollständig auf und sprang hinaus ins helle Tageslicht. Hastig schob sie ihr Band zurück auf die Stirn und griff nach ihrer Tasche. Sie ahnte, dass sie zu spät war und lief mit langen Schritten zur Sporthalle. Außer Atem platzte sie dort hinein.
Einige Schüler sassen auf den Bänken und warteten auf ihren Auftritt. Murrend schauten sie zu ihr herüber.
Doktor Aman von Rath sprang auf und winkte sie heran. „Ich warte auf dich!“, sagte er und stellte sie in die Runde.
Doch statt Aufregung spürte sie jetzt eine Vertrautheit. Sie erinnerte sich an Willem, der ihr viel beigebracht hatte.
„Was hast du vorbereitet?“, fragte Doktor von Rath laut, dass es sie aus ihrer Träumerei riss.
„O je …“, stutzte sie mit wackliger Stimme. Sie hatte sich noch keine Gedanken darüber machen können und nichts einstudiert. Doch in dem Moment des Zögerns kam ihr das Kinderlied in den Sinn, das ihr Schutzgeist gesummt hatte. „Es gibt ein Lied, das ich mag. Ich passe nur den Text an.“
Er nickte und sagte: „Ja, bitteschön!“ Er drehte sich in die Runde der Bewerber und faltete die Hände.
Alva atmete tief ein, spannte den Rücken und richtete die Konzentration in ihren Körper. Mit den Beinen fest auf dem Boden stehend, fing sie an zu singen, zuerst zart, dann frei:
Ein Kind jetzt vierzehn Jahr.
Schon immer ein Halbweise war.
Ein Kind jetzt vierzehn Jahre, ja.
Schon immer ein Halbweise war.
Ach liebster Vater mein.
Wo ist denn mein Mütterlein?
Ach liebster Vater mein, ja mein.
Wo ist den mein Mütterlein?
Dein Mütterlein ist tot.
Es liegt im Grabe und ruht.
Dein Mütterlein ist tot, ja tot.
Es liegt im Grabe und ruht.
Da lief das Kind geschwind,
zum Grabe der Mutter hin.
Da lief das Kind geschwind, ja schwind,
zum Grabe der Mutter hin.
Da grub es sich ein Loch.
Ach liebste Mutter sprich doch!
Da grub es sich ein Loch, ja Loch.
Ach liebste Mutter sprich doch!
Das Sprechen fällt mir schwer.
Die Erde, sie drückt mich so sehr.
Das Sprechen fällt mir schwer, ja schwer.
Die Erde, sie drückt mich so sehr.
Lauf heim mein Kind, lauf heim.
Eine andere Mutter wird dein.
Lauf heim mein Kind lauf heim, ja heim.
Eine andere Mutter wird dein.
Plötzlich verschluckte sie sich an einigen aufschießenden Tränen. Sie drückte ihre Finger vor den Mund und wischte mit der Handfläche ihre Traurigkeit vom Gesicht. „Ich weiß noch nicht, wie das Lied ausgeht“, sagte sie. Darauf folgte ein Moment völliger Ruhe.
Viele die Alva nicht kannten, sahen sich rätselnd an. Sie spürten, dass es ihre eigene Geschichte sein musste.
Nur Frau Spielmann sprang auf und zeterte: „Wo bleibt da die Gerechtigkeit. Wir waren zuerst da. Soll meine Nele etwa die Letzte sein?“
Doktor von Rath stellte sich ihr mit ausgestellten Beinen entgegen. „Dieses Mädchen bekam von mir eine Einladung. Ich bin mir sicher, es gibt einen Grund für die Verspätung.“
„Na!“, fauchte Frau Spielmann die Arme auf ihre breiten Hüften gestemmt. „Und?“, fragte sie fordernd und sah zu Alva, die daraufhin zu Nele schaute.
„Warum hast du mich im Schuppen eingesperrt?“
Nele riss ihre Augen weit auf und stammelte: „Was ist? Im Schupp …? Bist du nicht raus gekommen?“
Das Gesicht von Frau Spielmann fiel in eine Starre, doch starrte sie jetzt auf ihre eigene Tochter.
„Aber Mutter!“, schrie Nele und griff nach deren Hand, „Du denkst doch nicht etwa …?“ Bangend fragte sie Alva: „Ging denn die Tür von innen nicht auf?“ Dann sprang sie empört hoch. „Vater meckert ja immer, wenn ich die Türen nicht schließe. Und ich konnte es nun mal nicht erwarten, dir von diesem Wettbewerb zu erzählen. Tja, da habe ich es wohl vergessen. Du verdächtigst mich doch nicht etwa …?“ Jaulend stürmte sie aus der Halle.
Die Mutter winkte ab und rannte ihr hinterher.
Herr Doktor von Rath klopfte Alva leicht auf die Schulter und sagte bestimmt: „Ich entscheide mich bald. Es gibt ein Förderprogramm.“ Dann sprach er laut in die Runde: „Hier kommt jeder dran und wer fertig ist, darf gehen.“ Doch als Alva sich zur Tür drehte, rief er: „Stop! Mit dir will ich noch reden. Warte vorm Lehrerzimmer auf mich!“
Sie nickte mehrfach und ging. Nach beinah zwei Stunden hörte sie schallende Schritte auf der Treppe. Das Schulhaus ohne seine Schüler war hohl wie eine leere Nussschale.
„Oh, es tut mir leid! Es hat länger gedauert als geplant“, entschuldigte er sich und schloss das Zimmer auf. „Tritt nur ein!“, sagte er mit deutlicher Handbewegung.
Alva zappelte herum, doch ihr Blick haftete fest an seinen Lippen.
„Du erinnerst dich an den Vergleich mit dem Radio?“, fragte er. Als Alva nickte, fuhr er fort: „Gut, ich erkläre dir jetzt, wie du deine mediale Tür schließt.“ Er streifte über ihr Haar und zog dabei das Stirnband ab. „Das wirst du nicht mehr brauchen“, meinte er mit ungewöhnlicher Stimmlage. Er legte den Gehstab zu Boden, zog seine polierten Schuhe aus und setzte sich im Schneidersitz hin. Fordernd klopfte er neben sich. Sie begriff und nahm auch diese Haltung ein. „Schließen wir deine Türen!“, sprach er und zwinkerte ihr mit beiden Augen zu. „Erspüre deinen physischen Leib!“ Er rieb seine Hände und wackelte mit den Fußspitzen. Alva imitierte die Bewegungen und er nickte. „Atme tief ein und lang aus, als pustest du den Staub aus dem Regal!“ Dann sagte er melodisch: „Dein Körper ist das Haus deiner Seele. Sprich mit!“
Sie gehorchte ihm und flüsterte es nach: „Mein Körper ist das Haus meiner Seele.“ Der Klang und die Schwingungen ihrer Stimmen brachten sie in einen Zustand der Gelöstheit.
„Schicke jetzt alle fremden Energien hinaus, die nicht zu dir gehören!“, raunte er. „Erfasse deine mediale Tür und schließ sie vor dir! Siehe das Licht im Haus deiner Seele! Es erleuchtet den ganzen Körper.“ Nach weiteren Atemzügen flüsterte er: „Wiederhole jetzt: Ich trenne mich von all den Verbindungen, die mir Kraft und Energie rauben.“
Alva summte es nach und empfand eine tiefe Harmonie.
Dann schnipste er mit den Fingern. „Wach auf, aber bleib in dem Bewusstsein! Jetzt bist du dein eigener Türsteher.“ Lächelnd zog er wieder seine Schuhe an, nahm Jacke und Stab und ging zur Tür. „Und bedenke, dass du nicht nur ein Empfänger bist, sondern auch sendest! Wenn du dich selbst nicht magst, signalisierst du das den anderen. Sie wittern es und glauben dir. Also, liebe dich und erkenne dich an! Du bist ein Teil des Ganzen.“ Damit verließ er das Zimmer.
Alva war müde. Sie musste heim. Ihre Familie erwartete sie längst. Drum trottete sie aus der Schule, den Bürgersteig entlang und schlenderte pfeifend den Waldweg hinunter. Das Stirnband steckte zerknüllt in ihrer Schultasche. Alles schien wie früher. Sie empfand Frieden. Unbehelligt ging sie ihren Gedanken nach.
Da griff sie eine Hand von hinten an die Schulter. Alva fuhr zusammen. „O Klärchen! Hast du mich erschreckt“, schimpfte sie. „Woher kommst du? Du bist ja auch zu spät.“ Sie wunderte sich über die veränderte Erscheinung ihrer Schwester, die nie Wert auf Äußerlichkeiten gab. Doch jetzt trug sie ihr Haar offen, ihre Lippen glänzten knallrot und ein grüner Schatten übertünchte ihre Augenlider hoch bis zu den gezogenen Brauen. Und woher hatte sie nur diese geschnürten Damenstiefel, fragte sich Alva. Dann schob sie den Trenchcoat ihrer Schwester beiseite und flüsterte: „O, ich fürchtete schon, du trägst nichts darunter.“
Klara schüttelte ihren Kopf und erwidertet ernst: „Bitte, für was hältst du mich denn?“ Dann schwenkte sie ihren kurzen Rock. „Gefalle ich dir nicht?“
„Doch, ja! Aber warum gehst du so aufgebrezelt durch den Wald?“, musterte Alva sie.
Klara zuckte mit beiden Schultern und schlenderte ohne eine Erklärung weiter. Alva folgte ihr. Und wie aus dieser Stille geboren, brach ein blechernes Dröhnen über sie ein.
„Hörst du das?“, fragte Alva, da ihre Schwester geduckt zum Himmel sah.
„Ich hab ja nichts an den Ohren“, antwortete sie und griff nach Alvas Hand. „Siehst du was?“
Aber für die Augen zeigte sich nichts.
Mit langen Schritten nahmen sie den restlichen Weg zum Vaterhaus. Erst vor der Tür hatte sich der Ton aufgelöst.
„Kinder!“, schlug die Großmutter ihre Hände über den Kopf zusammen, „Da seid ihr ja endlich. Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Euer Vater kommt jeden Moment heim.“
Schon polterte es. Der Hausherr streifte Schuhe und Jacke ab und Klara huschte flink die Treppe hinauf in ihr Zimmer.
„Hallo Vati!“, rief Alva und sprang ebenfalls nach oben.
Er nahm keine Notiz von dieser Flucht und ließ sich nur erschöpft in das Sofa fallen. „Hm, wie gut es hier duftet“, schwärmte er und die Großmutter brachte ihm eine Tasse Kaffee. Der Feierabend zog bei der Familie Schummer ein.
Kann er nicht bei mir sein,
fühl ich mich leer und schwach,
dann bin ich so allein
wie’s Hölzchen in dem Bach.
Dem Bach der Leben heißt
und dem man nicht entrinnt,
der treibt, was er auch reißt,
wenn man kein Halt gewinnt.
O Himmel,
steure mich, dein Holz
aus Strudel und aus Buchten,
um recht zu handeln, dir zum Stolz,
das Gute zu befruchten.
Von Alva Schummer
Die Entscheidung
Der Schultag hätte fast wie jeder andere begonnen, doch da gab es etwas, das Alva sofort ins Auge stach. Sie betrat den Schulhof und sah ein Mädchen aus der zehnten Klasse. Sie hatte ihr hellblondes Haar hoch toupiert und die Frisur mit einem roten Haarband gestützt. Als sie beiseitetrat, wurde der Blick auf weitere Schülerinnen frei, die demselben Trent folgten. Eine trug ein geflochtenes Band über ihrem Pony. Eine andere schmückte ihre Stirn mit einer Kordel. Aber die meisten trugen ein gedrehtes Tuch unterm Haaransatz.
Alva lief nur langsam weiter und schaute sich mit großen Augen um. Dabei steuerte sie den Stellplatz ihrer Klasse an. Die begegnete ihr mit prüfenden Blicken. Doch niemand traute sich, etwas zu sagen. Selbst Nele verkniff sich einen Kommentar. Keiner riskierte es, in seinem Urteil falschzuliegen.
Alva fühlte sich zwar nicht geborgen, aber geerdet. Jetzt erhielt sie endlich einen Platz in ihrer Klasse. Selbst wenn ihre Mitschüler nur über Kleidung und Spielfilme redeten.
Am Ende des Unterrichtes wollte Alva eilig nach Hause. Sie freute sich auf das heiße Mittagessen. Die Großmutter versprach Königsberge Klopse mit Kapern und mehligen Salzkartoffeln. Allmählich stellte sich bei ihr wieder Appetit ein. Doch Fleisch, das mal auf Beinen lief, sortierte sie jetzt aus. Sie sagte, sie könne die Todesangst dieser lieben Tiere schmecken. Deshalb blieb ihr Essteller stets übersichtlich.
Ihr sportlicher Gang wurde jedoch auf dem Schulplatz gestoppt. Erneut fiel ihr etwas ins Auge, das sie erstaunte.
Vor dem Schulhof stand Thorn. Er lehnte an seinem roten Moped, einem motorisierten Zweirad. So ein Gefährt an der Hand eines Jungen in enger Bluejeans schuf Eindruck auf die Mädchen. Sie standen in einer Traube und kicherten.
„Alva, ich musste mich fast mit deiner Familie prügeln, um dich mit diesem Esel abholen zu dürfen“, rief er ihr zu. Er schob das Rad vom Ständer, warf mit kräftigen Tritten den Kickstarter an und fuhr mit aufheulenden Geräuschen einen halben Meter vor. Springend rannte sie zu ihm und hopste auf die Sattelbank. „Halt dich fest!“, brüllte er gegen das Motorengeräusch an, fasste ihre Hände und zog sie um seinen Bauch. Und damit dröhnten sie davon.
Sie spürte ihr Herz prickeln und eine unbekannte Hitze stieg in ihr auf. Nur der Wind zog ihr kühlend ins Gesicht.
Thorn legte sich scharf in alle Kurven und im rasanten Wechsel der Geschwindigkeit kamen sie rasch am Haus der Familie an. Sein Moped bockte er in der Einfahrt auf, direkt hinter einem fremden Wagen.
Alva hatte solch ein Auto nie zuvor gesehen, nicht einmal im Fernsehen. Es wirkte nobel, aber äußerst bullig auf das zarte Mädchen. Zwischen den runden Vorderlichtern lag eine buckelige Motorhaube. Überhaupt war es wenig kantig und erinnerte in der Farbe an eine polierte Eierschale.
Vor ihrer Haustür stand ein breiter Mann im schwarzen Anzug. Alva sah ihn kurz an und grüßte derart beiläufig, dass zu meinen gewesen wäre, ihr sei der Posten bekannt. Doch sie fühlte sich nur beschämt, denn sie ahnte, dass es wieder mal ihrer Person galt. Im Flur lehnte dieser hölzerne Gehstab, dessen oberes Ende wie der Buchstabe »V« weit auseinanderklaffte.
Die Großmutter eilte ihr entgegen und nickte: „Komm!“
Doktor von Rath stand hinter ihrem Vater, der aus dem Fenster stierte. Er bat ihn: „Überlegen sie es sich!“, dann lächelte er Alva zu, nahm seine Utensilien und verschwand.
„Was ist los?“, fragte sie in die Runde.
Ihr Vater zog die Gardine leicht beiseite, um dem Mann mit seinen Blicken zu folgen. „Du willst Sängerin werden?“, forschte er in einem abfälligen Tonfall, ohne die Augen von dem Besucher zu lassen.
Sie wunderte sich laut: „Sängerin?“
„Na, hast du denn nicht an dem Wettbewerb für junge Talente teilgenommen?“, fragte er energisch.
Alva stütze sich starr am Türrahmen ab und sperrte ihren Mund erstaunt auf. „Ach so, ja, das meinst du. Dieser Herr hatte mich eingeladen, sonst wäre ich da nicht hin.“
„Na, sieh mal an“, murrte der Vater, „So ist das also.“
„Vati, was wollte er denn?“
Er zog die Nase hoch und antwortete: „Der möchte, dass du ihn begleitest. Er hat sich für dich entschieden.“ Schwer ließ er sich aufs Sofa fallen und brummte: „Wenigstens ist er anständig genug und spricht zuerst mit mir, bevor er dir Flausen ins Ohr setzt.“
Alva plumpste auf den Stuhl. Die Freude darüber wuchs erst gar nicht in ihr, im Angesicht seines Ärgers.
Die Großmutter legte ihre Schürze ab. „Ich finde, unsere Alva sollte sich dieses Angebot nicht entgehen lassen.“
Der Vater drehte sich zu seiner Jüngsten. „Du willst doch nicht deinen Lebensunterhalt mit Lampenfieber verdienen? Ewig auf dem Drahtseil stehen? An einem Tag im Überfluss leben, am nächsten nicht wissen, wovon die Miete zahlen?“
„Albert, dafür hat sie uns, die Familie!“, belehrte ihn die alte Dame.
Doch der Vater schnalzte nur mit der Zunge und sagte leise: „Ich werde nicht ewig leben und wer kümmert sich dann um sie?“
Schwungvoll trat Thorn in die Runde und lachte. „Selbst Alva wird mal erwachsen sein und ich bin mir sicher …“, er hielt eine kleine Pause, kniete vor ihr nieder und sagte: „Du wirst einen Mann finden, der dich liebt und umsorgt.“
Sie spitzte ihren Mund, um ein Lächeln gerade zurücken und erwiderte: „Ich werde für mich allein sorgen können.“
„Schluss damit!“, forderte ihr Vater und erstickte jede Romantik. Er polterte: „Ich gebe doch keines meiner Kinder einem Dahergelaufenen mit, wie eine Ware. Der könnte ein Axtmörder sein. Karl erzählt zu oft von solchen Kerlen.“
„Albert, das sollst du auch nicht! Aber Klara kann sich doch morgen nach diesem Herrn erkundigen.“
Der Vater nickte, als der Namen seiner zweiten Tochter fiel, die ihm in allem schier ähnelte. „Ja, wenn sie ihm auf den Zahn fühlt …“
Alva sprang auf und hopste zu ihrem Vater, der sofort Einhalt gebot: „Freu dich nicht zu früh! Damit ist gar nichts entschieden.“
Die Großmutter ergriff seine Oberarme und drückte ihn lächelnd. „So!“, sagte sie, „Zu Tisch, das Essen wird kalt!“
Kaum waren alle Bäuche gefüllt, räumte Klara den Tisch ab und die Großmutter deckte die Speisereste zu. Sie warf höchst ungern Lebensmittel fort. Doch da sie keine Tiere zu versorgen hatte, wurden die Reste einfach am nächsten Tag mit verwertet.
Träumend hielt sich Alva in der Küche vorm Spülbecken an nur einem Teller auf.
„Oh, du wirst gleich die Muster vom Porzellan putzen“, amüsierte sich Klara.
„Mütterchen, ich liebe unser Heim, aber ich bin unruhig hier! Was stimmt nicht mit mir?“, klagte sie.
Die Großmutter schloss den Kühlschrank und übernahm den restlichen Abwasch. „Wie kannst du nur erwarten, ein gewöhnliches Leben zu führen? Du bist etwas Besonderes. Geh und umarme die Welt! Sie ruft nach dir!“
„Wärst du denn nicht traurig? Ich könnte dich nie allein lassen“, seufzte Alva und ließ sich auf den Stuhl plumpsen.
Die alte Dame lächelte und wiegte ihren Kopf. „Zeit und Raum spielen für die Liebe keine Rolle. Manche hocken den ganzen Tag beisammen und empfinden nichts füreinander. Ja, ich würde dich vermissen, aber solange es dir gut geht, bin ich glücklich. Und kommst du uns dann besuchen, wird es dafür umso schöner.“
Klara trocknete das saubere Geschirr und räumte es ins Regal. Dabei stieß sie sanft ihre Schwester an und neckte: „Und auf deine Hilfe im Haushalt können wir verzichten.“
Das rothaarige Mädchen, das optisch gar nicht ins Bild ihrer Familie passte, atmete erleichtert auf. Ein Gefühl zog eine Spur in ihrem Kopf, das ihre innere Stimme abspielte. Allzu gern würde sie den Doktor von Rath begleiten.
Entschlossen zog sie am späten Nachmittag ihre Jacke an. Sie wollte heimlich einen Brief in der Schule abgeben. Sie wusste, dass dort eine Versammlung stattfand. Das Kuvert hatte sie doppelt verklebt. Auf seiner Vorderseite stand:
AN HERRN DR. AMAN VON RATH – vertraulich.
Lieber Herr Dr. von Rath
Ich freue mich, dass Ihre Wahl bei der Suche nach Talenten auf mich fiel. Herzlichen Dank.
Zudem glaube ich fest, dass sie mir mehr beibringen können, als nur die Töne zu treffen. Ihr offenes Ohr für mich und ihr Rat haben mir gut getan. Werden Sie mir helfen?