Am Ende der Gewissheiten - Frank Uekötter - E-Book

Am Ende der Gewissheiten E-Book

Frank Uekötter

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Beschreibung

Frank Uekötter erzählt die Geschichte der deutschen Umweltbewegungen, von ihren frühen Erfolgen bis zu den aktuellen Herausforderungen und Widersprüchen. Er zeigt, warum wir Umwelt heute neu denken müssen: global, bunt, vernetzt und weniger dogmatisch. Erst wenn man sich von alten Gewissheiten löst, eröffnen sich Chancen für ein ökologisches 21. Jahrhundert.

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Frank Uekötter

Am Ende der Gewissheiten

Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert

Über das Buch

Kein Zweifel, die Deutschen lieben den Umweltschutz, sie stehen zur Klimapolitik Marke Kyoto und protestieren gegen Stuttgart 21. Und doch klagen Umweltverbände über nachlassendes Engagement der Basis, und die spektakulären Erfolge vergangener Jahrzehnte bleiben aus. Frank Uekötter findet die Gründe für diese Krise in einem Gang durch die Geschichte der Umweltbewegung. Denn die aktuelle Umweltdebatte knüpft an Traditionen an, die einst ganz anderen Zusammenhängen entsprangen und im 21. Jahrhundert zweifelhaft geworden sind. So denken wir in einer globalisierten Welt noch immer in Klischees der alten Bundesrepublik – vom Atomprotest, der meist an der Landesgrenze endet, bis zur »Risikotechnologie« Gentechnik. Die Zukunft der Umweltbewegung hängt davon ab, ob sie es schafft, sich von lieb gewonnenen, aber überholten Gewissheiten zu lösen und neue Wege zu beschreiten. Frank Uekötter plädiert dafür, Umwelt neu zu denken: globaler, vernetzter und weniger dogmatisch. Dann eröffnen sich Chancen für ein ökologisches 21. Jahrhundert.

Über den Autor

Frank Uekötter, Dr. phil. habil., ist Privatdozent für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Er ist Dilthey-Fellow am Forschungsinstitut des Deutschen Museums sowie LMU-Fellow am Rachel Carson Center für Umwelt und Gesellschaft in München. Er beschäftigt sich insbesondere mit Themen der Umwelt-, Wissenschafts- und Technikgeschichte.

Inhaltsübersicht

Die ökologische Frage im Schatten von Fukushima: Eine Vorbemerkung aus aktuellem Anlass

Einleitung: Umweltbewegung zwischen Vergangenheit und Zukunft

Stell Dir vor, es gibt eine Krise und niemand redet darüber

Eine Chance für die Geschichte

Produktiver zweifeln

Im Zeitalter der Unübersichtlichkeit

Wohin treibt die Umweltbewegung?

I. Von Grünen, Gerechten und Graugänsen: Eine kurze Geschichte der deutschen Umweltbewegungen

»Umweltbewegungen«: Annäherungen an ein diffuses Thema

Natur- und Heimatschutz, Rauch und Staub, Lebensreform: Das Kaiserreich als Wendezeit

Krisenjahre: Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Nationalsozialismus

Heimat und Schmutz: Umweltprobleme in den fünfziger Jahren

Die Entdeckung des Planeten: Die erste Globalisierung der Umweltdebatte

Umwelt in den siebziger Jahren: Von der Umweltpolitik der sozialliberalen Bundesregierung zum Atomprotest

Zwischenbetrachtung: Die ökologische Revolution erklären

Ein bundesdeutscher Sonderweg: Die ökologischen achtziger Jahre

Das Grüne Ende des Kalten Krieges: Die zweite Globalisierung der Umweltdebatte

Vom Schwinden einer Tradition: Umweltbewegungen in der DDR

Umweltbewegungen im wiedervereinigten Deutschland

II. Große Worte und verborgener Stillstand: Acht Fallstudien

Stagnation im globalen Treibhaus: Die Klimadebatte

Unfrieden ums friedliche Atom: Die nukleare Kontroverse

Totgesagte leben lange: Die Persistenz der »neuartigen Waldschäden«

Agrarwende: Das unvollendete Projekt der ökologischen Landwirtschaft

Saubere Felder? Die Grüne Gentechnik

Trügerische Reflexe: Das Feinstaub-Gespenst

Von der Verwaltung zur Bewegung und zurück: Naturschutz in der Entgrenzung

Der Preis eines Baches: Vom diskreten Charme grüner Großprojekte

III. Wege in einem Jahrhundert der Umwelt: Zwölf Thesen

Für eine unabhängige Umweltbewegung

Für eine vielfältige Umweltbewegung

Keine Angst vor politischen Details!

Für ein ökologisches Subsidiaritätsprinzip

Lebensstil und Wissen: Schlüsselbegriffe eines ökologischen Jahrhunderts

Für eine Umweltbewegung mit sozialem Gewissen

Deregulierung als Chance

Für eine dialogfähige Umweltbewegung

Bewusstsein schaffen – aber richtig!

Die Zukunft der ökologischen Kampagne

Umweltbewegungen im globalen Zeitalter

Für eine unbequeme Umweltbewegung

Die ökologische Frage im Zeitalter der Unsicherheit: Ein Epilog

Dank

Anmerkungen

Hinweise zum Weiterlesen

Register

|9|Die ökologische Frage im Schatten von Fukushima: Eine Vorbemerkung aus aktuellem Anlass

Das vorliegende Buch war als Manuskript abgeschlossen, als vor der japanischen Küste die Erde bebte und ein Tsunami über den Nordosten der Insel Honshu hereinbrach. Zu den Folgen gehörten nicht nur mehrere tausend Tote und Sachschäden in Milliardenhöhe, sondern auch eine nukleare Katastrophe im Kraftwerkskomplex von Fukushima. Erstmals sah die Weltöffentlichkeit, wie ein Atomkraftwerk explodierte – gleich zweimal hintereinander, live und in Farbe, mit wild fluktuierenden Meldungen über Ursachen und entweichende Radioaktivität. Wochenlang bemühten sich Techniker, die Katastrophe unter Kontrolle zu bringen, während Rettungsmannschaften ringsum nach Überlebenden des Erdbebens suchten. Zeitweise waren eine halbe Million Menschen obdachlos.

Manches erinnerte den fassungslosen Beobachter an Tschernobyl. Es gab Ratlosigkeit, Fehlinformationen, Panik – mit dem Unterschied, dass all dies sofort dokumentiert, gesendet, kommentiert wurde. Während es nach der Katastrophe von Tschernobyl zunächst eine Mauer des Schweigens gab, die im Angesicht der Gefahr zu groben Schätzungen zwang, war es in Fukushima eher die Fülle der Meldungen, die Angst machte. Jeder Blick in die Nachrichten brachte neue Hiobsbotschaften: Die Kühlsysteme versagen. Die Reaktoren explodieren. Radioaktive Gase entweichen. Lager für Brennelemente stehen in Flammen. Journalisten diskutieren, ob Tokio evakuiert werden muss. Im globalen Dorf der Mediengesellschaft entstand eine ganz eigene Form von Ratlosigkeit. Man wusste gleichzeitig alles und nichts.

Die Katastrophe durchbrach die gewohnte Abfolge von Eilmeldungen, Rettungsaktionen und Spendenaufrufen, die dem Medienkonsumenten des 21. Jahrhunderts von ähnlichen Naturkatastrophen her vertraut ist. Noch am Abend des Tages, an dem in Fukushima der erste Reaktor explodierte, lud Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einem Krisengipfel. Eine Menschenkette vom Atomkraftwerk Neckarwestheim zur baden-württembergischen Staatskanzlei, seit langem mit großem Aufwand geplant, fand am 12. März |10|in dem traurigen Bewusstsein statt, dass man mit der Warnung vor der nächsten Katastrophe leider Recht behalten hatte. Zwei Tage nach dem Beben verkündete der Spiegel auf seiner Titelseite »das Ende des Atomzeitalters«.1Spiegel-AutorJan Fleischhauer warf unterdessen den Atomkritikern eine zynische Instrumentalisierung von Opfern vor, die ganz weit weg leben und sich dagegen nicht wehren können.2

Für den Autor dieses Buches liegt das Unglück aber nicht in weiter Ferne. Seit einiger Zeit arbeite ich mit einem japanischen Historiker zusammen, der eines meiner Bücher ins Japanische übersetzen lässt. Auf eine vorsichtige E-Mail antwortete er, dass er am Wochenende der Katastrophe einen lange geplanten Workshop in Kyoto durchführte. Nur ein paar Teilnehmer hätten aufgrund der Störung des Zugverkehrs nicht rechtzeitig anreisen können. Allerdings leben die Eltern seiner Frau in Sendai, einer Millionenstadt an der Nordwestküste der Insel Honshu, die nur 65 Kilometer nördlich von Fukushima liegt. Trotzdem klang die Nachricht in Anbetracht der Fernsehbilder seltsam ruhig. War das die Gelassenheit eines Landes, das Gregory Clancey als »Earthquake Nation« tituliert hat?3 Oder braucht es einige Zeit, bis man realisiert, dass in Japan nach Fukushima nichts mehr so sein wird wie zuvor?

Eine solche Katastrophe bedeutet wohl auch für eine robuste Volkswirtschaft eine Bewährungsprobe. Hier traf es jedoch ein Land, dessen Wirtschaft seit zwei Jahrzehnten schwächelt und das nach Simbabwe die zweithöchste Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt hat. Und in kaum einem Land der Welt hat Atomenergie eine derart zentrale Bedeutung wie in Japan. Das Land steht nach den USA und Frankreich auf Platz drei der größten Kernkraftnutzer und deckt mit 55 Reaktoren etwa ein Drittel seines Stromverbrauchs. Für die kommenden Jahre plante die japanische Regierung einen massiven Ausbau der Kernkraft, mit dem der Anteil des Atomstroms bis 2030 bei steigender Nachfrage auf 50 Prozent gebracht werden sollte.4 Ein Bericht der IAEO von 2004 feiert Japan als weltweit führendes Land in der Erforschung und Entwicklung der Kernenergie.5 Der nukleare Komplex ist in Japan fest institutionell verankert, und doch mag man sich unter dem Eindruck der Katastrophe kaum vorstellen, dass er in Zukunft noch legitimierbar sein wird. Aber zeigt die Geschichte nicht auch die enorme Beharrungskraft der Atomindustrie?

Noch schwerer ist zu sagen, was die Katastrophe von Fukushima für die deutsche Öffentlichkeit bedeuten wird, wenn dieser Band auf dem Buchmarkt erscheint. Schon jetzt ist klar, dass es sich um die größte Katastrophe |11|der atomaren Technologie seit Tschernobyl handelt. Aber was bedeutet das? Als ich im Frühjahr 2010 begann, dieses Buch zu schreiben, war die Havarie der Bohrplattform Deepwater Horizon monatelang in den Schlagzeilen. Inzwischen hört man kaum noch etwas von dieser Katastrophe, und es werden auch schon wieder die ersten Bohrlizenzen für die Tiefsee erteilt. Treten wir gerade in ein post-ökologisches Zeitalter ein, in dem die Kritik an solchen Katastrophen zur Kenntnis genommen wird und ein paar Symbolhandlungen hervorruft, bis dann nach einiger Zeit wieder Ruhe einkehrt und die Arbeit weitergeht, nur mit etwas schlechterem Gewissen?

Wenn man sich die eigene Ratlosigkeit offen eingesteht, dann wirkt es seltsam, mit welcher Selbstgewissheit das Geschehen von allen Fraktionen in Minutenschnelle eingeordnet wurde. Da geschieht ein Unfall, wie es ihn in dieser Form noch nie gegeben hat, und alle wissen Bescheid. Offenbar haben Befürworter wie Gegner der Kerntechnik einen festen Referenzrahmen, der für jeden anzunehmenden Unfall passt, ohne dass man viel nachdenken muss. »Die deutschen Atomkraftwerke sind sicher.« »Atomkraft ist eine unverantwortliche Risikotechnologie.« »Atomkritiker sind zynische Apokalyptiker.« In der Debatte des März 2011 kam man mit solchen Merksätzen erstaunlich weit.

Ich schreibe es nicht gerne, aber die Katastrophe und ihre politisch-mediale Verarbeitung sind eigentlich ein perfekter Beleg für die Kernthese dieses Buches: Wir Deutsche wissen, wie wir über Umwelt denken müssen. Nach mehreren Jahrzehnten lastet auf der ökologischen Debatte ein dicker Stapel von Gewissheiten, mit denen man jedes Ereignis zuverlässig abarbeiten kann, und so haben es unorthodoxe Ideen schon deshalb schwer, weil es keinen zwingenden Grund für ein neues Denken zu geben scheint. Selbst die aufsehenerregenden Kurswechsel schwarz-gelber Politiker nach dem japanischen GAU waren ja eigentlich keine Lernerfahrungen, selbst dann, wenn sie nicht bloß taktisch motiviert waren (was zum Zeitpunkt der Drucklegung noch unentschieden war). Die Konversionen brachten kein neues Denken hervor, sondern lediglich die Rhetorik der Gegenseite.

So zeigte sich einmal mehr jener volltönende Stillstand, den dieses Buch in seinen Ursachen und Folgen beschreibt. Das antagonistische Grundschema der Atomdebatte ist da nur eine von mehreren Ausdrucksformen. Beim Waldsterben oder beim Klimawandel gibt es beispielsweise längst einen konsensfähigen Tonfall getragener Sorge, der lagerübergreifend praktiziert wird. Und beim Feinstaub dokumentiert sich der Stillstand in Beißreflexen, die auf Problemstellungen der Vergangenheit zurückgehen. So schwelt unter der |12|Oberfläche der rhetorischen Gewissheiten eine unbeantwortete Frage: Passen unsere Denkschablonen eigentlich noch zu den Problemen des 21. Jahrhunderts?

Zu den publizistischen Entscheidungen, die am 12. März bereits getroffen waren, gehört auch der Titel dieses Buchs. Nach Fukushima klingt er leicht nach einer Anspielung auf Ulrich Becks Risikogesellschaft, ein Buch, das nach Tschernobyl die Konfrontation unserer Gesellschaft mit neuartigen Risiken diskutierte. Umso wichtiger ist es zu betonen, welche Art von Gewissheit hier gemeint ist. Es geht nicht um die Gewissheit, dass die deutschen Atomkraftwerke sicher sind – denn eine solche hat es tatsächlich nie gegeben. In diesem Buch geht es vielmehr um jene Gewissheiten, die in unserem Reden über Umweltprobleme verborgen sind. Der ökologische Diskurs drehte sich eben nicht nur um spezifische Probleme, sondern war auch ein Weg der gesellschaftlichen Identitätsstiftung in Krisenzeiten. So kommt dieses Buch mit Blick auf den bundesdeutschen Atomprotest zu einem nur scheinbar paradoxen Befund: Die Anti-Atom-Bewegung hat mit ihren Warnungen vor der nächsten Katastrophe Recht behalten, und trotzdem wird sie neue Antworten suchen müssen. Es ist nicht schwer, nach Fukushima gegen Atomkraft zu sein. Schwer ist, die nächsten Fragen zu beantworten.

Niemand kann sagen, dass die Katastrophe von Fukushima aus heiterem Himmel über uns hereinbrach. 2006 versagten bei einem Reaktor im schwedischen Forsmark zwei der vier Notkühlsysteme. Wie nahe Forsmark an einer Kernschmelze vorbeischlitterte, ist unter Experten umstritten. Im folgenden Jahr brannte direkt am Reaktorgebäude des Kernkraftwerks Krümmel ein Transformator. Nebenan liegt das Kernkraftwerk Brunsbüttel seit Sommer 2007 wegen technischer Probleme still und wird wohl nie wieder ans Netz gehen. Da könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Kraftwerkstechniker nachlässig wurden, nachdem im Gefolge des Atomprotests der siebziger und achtziger Jahre massiv in Sicherheit investiert wurde und die neunziger Jahre bemerkenswert frei von schweren Störfällen in Kraftwerken waren. Aber stimmt dieser Eindruck? Solche Fragen bleiben beim üblichen Für und Wider der Atomdebatte ohne Antwort.

Man könnte es mit Horkheimer auch so formulieren: Wer von den Experten nicht reden will, der soll auch von der Atomkraft schweigen. Es geht hier eben nicht um eine Technologie, die man einfach in die Ecke stellen kann wie einen Analog-Plattenspieler nach dem Siegeszug der Musik-CD. Es geht auch um ein riesiges Expertensystem, dessen Dynamik mit natur- und technikwissenschaftlichen Kategorien überhaupt nicht angemessen zu |13|beurteilen ist. Expertensysteme sind nach außen abgeschottet, pflegen ihren eigenen sprachlichen Code, und vor allem verfügen sie über ein enormes Trägheitsmoment: In ihnen sind finanzielle und immaterielle Investitionen in einem Ausmaß gebunden, das politische Entscheidungsträger zuverlässig einschüchtert – bis zur Katastrophe und manchmal auch noch darüber hinaus.

Für die Anti-Atom-Bewegung war Fukushima eine bittere Bestätigung. »Wir wollten niemals recht behalten«, sagte ein Aktiver auf der Stuttgarter Demonstration.6 Und doch bin ich im Rückblick froh, dass ich dieses Buch auch als Kritik der zivilgesellschaftlichen Bewegung geschrieben habe. Bei aller offenkundigen Sympathie für die Anliegen dieser Bewegung wird im Folgenden auch dargelegt, inwiefern die Anti-Atom-Bewegung nach mehr als drei Jahrzehnten gewisse Verkrampfungserscheinungen aufweist; dazu Näheres im zweiten Teil. Es wäre unklug, wenn die Umweltbewegung nun in eine Attitüde verfallen würde, man habe es ja schon immer gewusst. Im Schatten von Fukushima fällt es leicht, das ökologisch Richtige zu erkennen. Aber solche Eindeutigkeit ist im 21. Jahrhundert die Ausnahme.

So gesehen wäre es in der Tat überfällig, eine erstarrte Umweltdebatte mit neuen Perspektiven zu beleben, und das ist das Ziel des vorliegenden Buches. Es liefert nicht nur einen Überblick über die Geschichte der deutschen und internationalen Umweltbewegungen, sondern unternimmt darauf aufbauend den Versuch, diese Geschichte für die tagespolitische Debatte fruchtbar zu machen. Wie sehen die gängigen Sprech- und Denkweisen der Umweltdebatte aus, wenn man sie einmal als Produkte der Geschichte in den Blick nimmt? Bislang sind Historiker wie die meisten Geisteswissenschaftler nur ganz am Rande in der öffentlichen Debatte präsent, und das gewiss nicht, weil sie zu den aktuellen Herausforderungen nichts zu sagen hätten.

Das geschieht nota bene nicht in Konkurrenz zu anderen Disziplinen, wohl aber in selbstbewusster Ergänzung. Nach Fukushima war viel über kerntechnische Spezialthemen zu hören: Druckbehälter, Notkühlsysteme, Halbwertszeiten, Grenzwerte. Gewiss haben Geisteswissenschaftler zum Funktionieren einer Notkühlung nichts Klügeres zu sagen als die Kerntechniker. Sie können aber erklären, warum wir überhaupt über Notkühlsysteme reden müssen: weil die Entwicklung der Atomtechnologie zu einem Reaktortyp führte, der ohne Notkühlung nicht funktioniert. Der weltweite Siegeszug der Leichtwasserreaktoren, für den die Menschen in Fukushima und Umgebung nun einen bitteren Preis zahlen, ist ein gutes Beispiel für eine technische Entwicklung, die man ohne den Blick in die Geschichte nicht |14|verstehen kann. Der Reaktortyp hatte gegenüber konkurrierenden Modellen nämlich den großen Vorzug, dass er bereits existierte, als in den späten fünfziger Jahren die ersten Weichenstellungen erfolgten: Seit 1955 wurde das amerikanische Atom-U-Boot Nautilus von einem Druckwasserreaktor angetrieben. Zudem war Wasser als Kühlmittel ein Stoff, mit dem Kraftwerkstechniker vertraut waren, und das war mit Blick auf die anfängliche Skepsis der Stromwirtschaft gegenüber nuklearen Phantasien ein wichtiges Argument. Vor allem aber versammelte sich um die Leichtwasserreaktoren sehr früh eine Gemeinschaft von Experten, die durch ihr personelles und finanzielles Gewicht Fakten schuf. Die Leichtwasserreaktoren waren keineswegs technisch überlegen und erst recht nicht besonders sicher, sondern einfach jene Technologie, die mit einem Startvorteil begann und eine reelle Konkurrenz mit anderen Reaktortypen nie aufkommen ließ.

Diese kurzen Bemerkungen sind nur ein Beispiel dafür, wie der Blick in die Geschichte neue Perspektiven auf die Herausforderungen der Gegenwart eröffnet. Allzu sehr hat es sich die Umweltdebatte mit bestimmten Themen und Redeweisen bequem gemacht. Das heißt nicht, dass diese Redeweisen grundsätzlich falsch wären und überwunden werden müssten: Vollmundige Bücher, die den richtigen Weg in die ökologische Zukunft verkünden, gibt es schließlich schon mehr als genug. Mir geht es vielmehr darum, für eine Umweltdebatte zu werben, die die ausgetretenen Pfade verlässt und neue Zugänge zu den vertrauten Themen erprobt. Das Ende der Gewissheiten könnte in der Umweltdebatte auch eine Befreiung sein – ein Weg zu einer erfrischenden Diskussion mit neuen Gedanken, die endlich wieder Lust auf ökologische Themen machen. Und vielleicht wird man sich eines Tages fragen, warum man eigentlich so lange der Auffassung war, man könnte ohne Historiker über Umweltfragen diskutieren.

Das ist, ich gebe es gerne zu, eine etwas utopische Hoffnung, noch dazu eine durchaus egoistische. Aber vielleicht ist Hoffnung ja etwas, das man im Schatten von Fukushima gut gebrauchen kann.

|15|Einleitung: Umweltbewegung zwischen Vergangenheit und Zukunft

»Die achtziger Jahre waren keine gute Zeit, um erwachsen zu werden, jedenfalls keine Zeit, auf die man voller Sentiment zurückblicken kann«, schrieb Frank Goosen in seinem Roman Liegen Lernen. »Auf den Illustrierten waren entweder nackte Frauen oder Atompilze, manchmal beides, und man wußte oft nicht, was schlimmer war.«1 Hohe strukturelle Arbeitslosigkeit, Schulterpolster und schreckliche Frisuren, dazu die Agonie der Ära Kohl – es fällt in der Tat schwer, für die achtziger Jahre nostalgische Gefühle zu entwickeln. Nur eine Gruppe der bundesdeutschen Bevölkerung gerät beim Gedanken an dieses Jahrzehnt regelmäßig ins Schwärmen, und das sind die Natur- und Umweltschützer. Für sie sind die achtziger Jahre die Boomzeit schlechthin, als Waldsterben und Ozonloch die Menschen bewegten, als Sandoz und Tschernobyl die Risiken der Großtechnik demonstrierten und die Menschen in Scharen zu Umweltverbänden und Bürgerinitiativen strömten. Stetig gewann eine junge Partei mit dem seltsamen Namen »Die Grünen« an Wählerstimmen, die Presse schreckte selbst vor arkanen Details der Chlorchemie nicht zurück, und wenn die Regenbogenkämpfer von Greenpeace mal wieder einen Schornstein besetzt hatten, war es abends in der Tagesschau zu sehen. Die Sache der Umwelt segelte im Wind des Zeitgeistes, und Umweltaktivisten erfreuten sich allgemeiner Beliebtheit.

Die selige Erinnerung an die grünen achtziger Jahre ist auf den ersten Blick nicht leicht zu verstehen. Ist Deutschland nicht weiterhin das Umweltland schlechthin, in dem jeder aufgeweckte Zeitgenosse ein solides Umweltbewusstsein reklamiert? Längst sind ökologische Themen in Deutschland zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Lebenswelt geworden, ja geradezu zu einem Element der bundesdeutschen Identität. Vor allem in der selbstbewussten Abgrenzung gegenüber den Vereinigten Staaten gewinnt durchaus so etwas wie ein grüner Patriotismus Konturen. Während in den USA eine effektive Klimapolitik von einer hartnäckigen Lobby der »Klimaleugner« torpediert wird, ist die Realität der globalen Erwärmung in der |16|bundesdeutschen Öffentlichkeit kaum umstritten, und die Führungsrolle der Bundesregierung in den internationalen Klimaverhandlungen wird lagerübergreifend mit Wohlwollen unterstützt. Während die Vereinigten Staaten aufs Automobil setzen, pflegt Deutschland ein fein ziseliertes Netz des öffentlichen Nahverkehrs. Und während in Amerika nach gängiger Ansicht das »ex und hopp« regiert, spült der Bundesbürger brav seine Joghurtbecher, damit es beim Recycling auch ja keine Probleme gibt. Wozu also die wehmütige Erinnerung an die achtziger Jahre, wenn man weiterhin stolz ist auf das grüne Vaterland?

Wer sich in Umweltkreisen umhört, stößt rasch auf ganz andere Stimmen. Schon seit längerer Zeit überwiegt unter den Insidern das Gefühl der Stagnation: Die volltönende grüne Rhetorik verdeckt, dass man in Wirklichkeit auf der Stelle tritt. Einmütig klagen Umweltverbände über einen Mangel an Personal und ein nachlassendes Engagement der Basis. Es fehlen die spektakulären Erfolgserlebnisse – sehr im Unterschied zu den achtziger Jahren, als sich die einschlägigen Maßnahmen und Initiativen geradezu überschlugen. Während damals die Entschwefelung der Großkraftwerke gegen erheblichen Widerstand durchgeboxt wurde, hat die Umweltpolitik in der jüngsten Vergangenheit eher Errungenschaften von der Art des Dosenpfands hervorgebracht, auf das niemand stolz ist. Selbst die PR-Profis von Greenpeace haben seit der Brent Spar-Kampagne 1995 keinen öffentlichkeitswirksamen Coup mehr gelandet.

Kein Zweifel: Die Umweltbewegung ist in der Krise. Aber es ist eine schleichende Krise, die sich nicht in den üblichen Symptomen dokumentiert. Es fehlen die großen Rückschläge und Niederlagen, die gemeinhin den Niedergang einer sozialen Bewegung markieren, und von einer mächtigen Gegenbewegung ist weit und breit nichts zu sehen. Während die amerikanische Umweltbewegung unter George W. Bush einen spektakulären »Backlash« erfuhr, bläst in Deutschland kein ernstzunehmender Politiker zur Attacke auf den ökologischen Interventionsstaat. Selbst die FDP steht selbstverständlich zum Kyoto-Protokoll und verbannt den Ruf nach Deregulierung ins Kleingedruckte. Auch die Mitgliederzahlen der Umweltverbände geben auf den ersten Blick keinen Anlass zur Sorge: Der BUND hat fast eine halbe Million Mitglieder und Förderer, und bei NABU und Greenpeace Deutschland liegen die Zahlen in einer ähnlichen Größenordnung. Aber dahinter verbirgt sich ein Mangel an Elan, ein spürbarer Frust und zugleich eine allgemeine Ratlosigkeit über mögliche Antworten.

|17|Die Wahlerfolge der Grünen im Frühjahr 2011, die in der Wahl des ersten grünen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg gipfelten, haben diese Krise allenfalls notdürftig übertüncht – selbst dann, wenn man sie nicht nur als kurzlebige Momentaufnahmen in einem zunehmend unberechenbaren Parteiensystem betrachtet. Im Grunde genommen bestätigten die Erfolge eher, wie sehr die Umweltbewegung in den Strukturen der Vergangenheit verharrt. Der baden-württembergische Wahlsieg ähnelt jedenfalls frappierend jenen der achtziger Jahre: Atomprotest als Leitmotiv, das »rot-grüne Projekt« als Bündnis der Zukunft, hinzu kontroverse Infrastrukturprojekte – was damals die Startbahn West war, ist heute Stuttgart 21. Wie zur Bestätigung der Diagnose wurde mit Winfried Kretschmann ein Ministerpräsident gewählt, der schon 1980 für die Grünen in den baden-württembergischen Landtag eingezogen war. Die Zukunft der neuen Landesregierung ist naturgemäß offen, und doch kann man bereits jetzt ziemlich sicher sein, dass sich diese günstige Konstellation nicht wiederholen wird. Schon die nächste Bundestagswahl könnte die erste seit Jahrzehnten werden, in der die Atompolitik keine Rolle mehr spielt.

Stell Dir vor, es gibt eine Krise und niemand redet darüber

So sind die jüngsten Erfolge der Grünen eher ein Indiz für die seltsame Sprachlosigkeit, die die ökologische Frage seit einiger Zeit umgibt. Kurioserweise könnte die grün-rote Regierung von Baden-Württemberg zugleich an der Übermacht ihrer Gegner und der Übermacht ihrer Freunde scheitern. Zwar werden ihre Ziele in der Verkehrs- und Energiepolitik zweifellos eine Menge Konflikte heraufbeschwören, doch fehlt es an einem Gegenentwurf, gegen den man sich politisch profilieren könnte. Die »Energiewende« will eigentlich jeder, von Winfried Kretschmann bis Angela Merkel, und das ist nur eines von vielen Umweltproblemen, die im öffentlichen Diskurs einen seltsam amorphen Charakter gewonnen haben. Artenschutz, Renaturierung, Klimapolitik – man ist selbstverständlich dafür und zugleich irgendwie ratlos, und darin steckt eine Krise, die die Umweltbewegung viel zu lange verdrängt hat. Die Sklerose der ökologischen Debatte ist gerade deshalb gefährlich, weil sie so subtil ist: Es geht nicht um die Existenz der Umweltbewegung, sondern darum, ob sie attraktiv ist, lebendig und erfolgreich.

|18|In den USA hat die Krise der Umweltbewegung eine lebhafte Debatte ausgelöst. Intensiv streitet man dort zum Beispiel über die Thesen von Michael Shellenberger und Ted Nordhaus, die nichts weniger als den Tod der Umweltbewegung nahen sehen.2 In Deutschland herrscht dagegen Friedhofsruhe: Kritik an der Umweltbewegung wird allenfalls in homöopathischen Dosen geäußert. Dabei fehlt es nicht an Literatur zu Umweltthemen aller Art. Wer sich über Ursachen und Folgen etwa des Klimawandels informieren will, kann längst auf ein breites Sortiment an Titeln zurückgreifen, das den Leser in jeder gewünschten Detailschärfe informiert. Aber sobald es um Lösungen geht, wird es zumeist ziemlich schematisch: Kyoto-Protokoll, Umstellung auf Solarenergie, Ausstieg aus der Atomkraft – wer zur Umweltszene im weiteren Sinne gehören will, ist selbstverständlich dafür, und wer kritische Fragen stellt, landet bald im gesellschaftlichen Abseits. Gerne wird suggeriert, es fehle nicht an Lösungen, sondern nur am Willen, sie endlich entschlossen zu realisieren. Nach dieser Logik gibt es kein Wahrnehmungsproblem, sondern lediglich ein Umsetzungsproblem – und mithin keinen Grund zur umweltbewegten Selbstkritik. Aber stimmt das überhaupt?

Bislang krankt die überfällige Debatte nicht zuletzt daran, dass kritische Stimmen zumeist aus einer bestimmten Richtung kommen. Das gilt insbesondere für die Publizisten Dirk Maxeiner und Michael Miersch, die in der Umweltdebatte seit Mitte der neunziger Jahre eine Art Planstelle »Ätzende Kritik« für sich monopolisiert haben. Beide arbeiteten einst als Umweltjournalisten für das Magazin natur, wo Maxeiner einige Zeit sogar Chefredakteur war. 1993 schieden beide aus der Redaktion aus und investierten seither einen Gutteil ihrer intellektuellen Energie darin, mit Renegateneifer über Irrtümer und Verfehlungen der Umweltbewegung herzuziehen. Im Laufe der Jahre haben sie sich so ein stattliches Œuvre erschrieben: von Öko-Optimismus (1996) über das Lexikon der Öko-Irrtümer (1999) und Die Zukunft und ihre Feinde – Wie Fortschrittspessimisten unsere Gesellschaft lähmen (2002) bis Hurra, wir retten die Welt! (2007) – um hier nur einige der Produkte zu erwähnen.3

Wer berufsbedingt ständig Aufsätze und Bücher lesen muss, die im Tonfall getragener Sorge die Umweltprobleme der Welt referieren, wird den Arbeiten von Maxeiner und Miersch einen gewissen Reiz kaum absprechen können. Und doch stellt sich beim umweltbewussten Leser nach einiger Zeit ein unbefriedigtes Gefühl ein: Allzu eingleisig setzen die Autoren auf Entlarvung und Provokation. Spürbar sind sie von einer Lust am politisch Unkorrekten getrieben, und der empörte Aufschrei der Gegenseite ist als Teil des |19|publizistischen Projekts fest eingeplant – die Homepage der beiden Autoren umfasst auch eine »Hass-Seite«, die »ein Potpourri exquisiter Grobheiten aus den Federn von Rezensenten und Leserbriefschreibern« bietet.4 Wer die aktuellen Veröffentlichungen von Maxeiner und Miersch mit jenen aus den neunziger Jahren vergleicht, bemerkt einen zunehmend schrillen Tonfall, der jede Diskussion im Keim erstickt. Wer möchte noch ernsthaft mit Leuten reden, die den »Ökologismus« kurzerhand zu einer Spielart des religiösen Fundamentalismus erklären, die es »in Deutschland beinahe schon zur Staatsreligion gebracht« habe, und bei der Gelegenheit gleich »zehn Gebote des Öko-Glaubens« erfinden (mit Einsichten wie »Du sollst Dich fürchten« und »Du sollst die Technik gering schätzen«)?5 Letztlich läuft die Kritik von Maxeiner und Miersch darauf hinaus, die Umweltbewegung als eine Gruppe unverbesserlicher Hysteriker hinzustellen, denen man besser nicht zuviel Beachtung schenkt.

Man muss sich nur ein wenig in Umweltkreisen umsehen, um Zweifel an einem solchen Gruppenprofil zu hegen. Vom Klischee des notorisch ängstlichen Menschenfeinds, der überall nur Gefahren wittert, bleibt nach einiger Zeit nicht viel übrig. In der bundesdeutschen Umweltbewegung gibt es vorsichtige und risikofreudige Menschen, begeisterte Naturburschen und gesichtslose Apparatschiks, demonstrationsfreudige Aktivisten und kühle Manager, Heimat-, Vogel-, Insektenfreunde und so fort – ein breites Spektrum von Strömungen und Charakteren, das jeden Versuch, einen prototypischen »homo oecologicus« zu beschreiben, durch seine enorme Vielfalt unterläuft. Während die Umweltbewegung in anderen Ländern gelegentlich etwas sektenhafte Züge trägt, repräsentiert sie in Deutschland einen breiten Querschnitt der Bevölkerung. Nicht zuletzt spürt man in der Umweltszene auch einen enormen Idealismus. Im 21. Jahrhundert ist die Vorstellung einer Menschheit im Einklang mit der Natur eine der letzten populären Utopien.

Das macht es freilich umso dringlicher, die Diskussion über die Krise der Umweltbewegung zu eröffnen. Wenn sich Frustration breitmacht in einer Bewegung, die vom Idealismus lebt, ist das zweifellos ein Alarmsignal. Wäre es nicht eine fürwahr schmerzliche Vorstellung, wenn der kumulative Effekt all der gut gemeinten Initiativen von Umweltverbänden, Politikern und Journalisten letztlich nur ein grünes Geräuschband wäre, hinter dem die reale Zerstörung der natürlichen Umwelt ungebremst weiterliefe? Wie kann eine Umweltbewegung aussehen, die den Realitäten des 21. Jahrhunderts gewachsen ist: die die Menschen begeistert, ohne sie mit vorgestanzten Lösungen zu bevormunden; die unbequeme Wahrheiten nicht scheut, ohne |20|sich in utopischen Forderungen zu verlieren; die lokales Handeln ermöglicht, ohne die globalen Zusammenhänge zu verleugnen; die effektive Lösungen ansteuert, ohne dabei die Menschen zu verlieren? Es sind solche Fragen, auf die im Folgenden nach Antworten gesucht werden soll. Diese werden gewiss nicht die Form von »Musterlösungen« haben können, die nur noch als »politische Bausteine für erfolgreiches Handeln« in Umlauf gebracht werden müssen: Wer auf solche Rezepte setzt, hat die Krise der Umweltbewegung nicht verstanden.6 Aber die Misere der ökologischen Bewegung ist kein unabwendbares Schicksal, kein alternativloser Kollateralschaden von Globalisierung oder Politikverdrossenheit, den man nur noch achselzuckend zur Kenntnis nehmen kann. Ein neues ökologisches Zeitalter ist möglich, ja sogar wahrscheinlich – nur wird es ganz anders aussehen als die achtziger Jahre.

Eine Chance für die Geschichte

Es ist deshalb keineswegs nur einem professionellen Renommierbedürfnis geschuldet, wenn ich in diesem Buch die Umweltkrise der Gegenwart auf dem Umweg durch die Geschichte diskutiere. Es lohnt sich, die heutige Umweltdebatte aus einem etwas weiteren Blickwinkel zu betrachten – schon deshalb, weil viele der vermeintlich aktuellen Debatten inzwischen eine ziemlich lange Geschichte haben. Gerne gibt sich die Umweltszene als geschichtslos; aber man muss nur etwas an der Oberfläche kratzen, um auf jahrzehntelange Traditionen zu stoßen. Wer etwa der Klimadebatte der vergangenen Jahre folgte, konnte den Eindruck gewinnen, dass hier erstmals ein zuvor unterschätztes Problem diskutiert worden wäre. Tatsächlich ist die Klimadebatte inzwischen rund 25 Jahre alt, und die vermeintliche Entdeckung des Themas war nur einer von etlichen diskursiven Zyklen. Die Sorge um das Waldsterben gibt es inzwischen seit 30 Jahren. Und der Kollektivsingular »Umwelt« existiert im deutschen Sprachgebrauch schon seit 1970, als Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher ein »Sofortprogramm zum Umweltschutz« vorlegte. So präsentiert sich die gegenwärtige Umweltdebatte bei genauerer Betrachtung als Produkt der Geschichte, in dem sich inzwischen mehrere Schichten von generationellen Erfahrungen überlagern – allerdings ohne dass dies den meisten Diskussionsteilnehmern wirklich bewusst wäre. Es ist in der Tat ein ziemlich komplexes Gewirr von politischen, ökonomischen |21|und intellektuellen Traditionen, das sich dem aufmerksamen Beobachter in der Gegenwart präsentiert, und einiges spricht dafür, dass wir über Umweltprobleme in einer Sprache diskutieren, die zu wesentlichen Teilen einem anderen Zeitalter entstammt. Eine freimütige, ergebnisoffene Umweltdebatte wird nur dann beginnen können, wenn es gelingt, dieses Knäuel zu entwirren.

Man tritt der Umweltbewegung wohl nicht zu nahe, wenn man ihr ein ziemlich schwaches Interesse an der eigenen Geschichte unterstellt. Immer wieder begegnet man auch bei sonst gut informierten Personen der Vorstellung, dass das Thema eigentlich erst vor kurzem entdeckt worden sei und eine Geschichte der Umweltbewegung, die über die eigene Lebensgeschichte hinausreicht, entweder belanglos sei oder gar nicht existiere. Diese Haltung hat zweifellos viel mit dem Umbruch der Umweltszene seit den sechziger Jahren zu tun, der aus betulichen, meist konservativ-autoritären Heimatschützern kritische, liberal denkende »Ökos« machte. Damit rückten frühere Generationen in ein denkbar ungünstiges Licht: Das waren aus Sicht der ökologisch Bewegten lediglich reaktionäre Gestalten, nicht selten im Dunstkreis des Nationalsozialismus, mit denen man möglichst wenig zu tun haben wollte. Anders als die feministische Bewegung, die offensiv auf die Schaffung frauengeschichtlicher Professuren und Forschungseinrichtungen drängte, wurde die bundesdeutsche Umweltbewegung nie zu einer Lobby für historische Forschung.

In umgekehrter Beziehung sah dies etwas anders aus: Ein solides ökologisches Bewusstsein gehörte gewissermaßen zur Grundausstattung der ersten Umwelthistoriker, und das hinterließ in den frühen Arbeiten deutliche Spuren. Der Boom des Umweltthemas in den siebziger und achtziger Jahren beförderte teleologische Interpretationen, indem der Aufstieg der Umweltbewegung durch die historische Forschung gewissermaßen nach hinten verlängert wurde. Nach und nach kamen solche Lesarten jedoch in die Kritik, so dass sich eine Geschichte der Umweltbewegung heute kaum noch als Aufstiegsgeschichte schreiben lässt. Zum einen stand eine solche Interpretation arg im Ruch der Heroisierung, sie presste unterschiedliche Bestrebungen in eine homogene Reihe von Maßnahmen und Menschen und unterschätzte damit die Unterschiedlichkeit historischen und gegenwärtigen Engagements. Zum anderen wurde deutlich, dass von einem linearen Aufstieg, einer immer stärkeren Beachtung von Umweltproblemen im Laufe der Geschichte keine Rede sein konnte. Am ehesten kann man noch von mehreren »Schüben« des Themas reden, von wiederholten Boomzeiten mit unterschiedlichen Motiven, |22|die nach mehr oder weniger langer Zeit ausliefen und in Stagnation oder gar Rückschritte mündeten. Schon im Kaiserreich wurde intensiv über Hygiene und Lebensreform, Lärm und Staub und viele andere Probleme diskutiert, die wir heute als ökologische Probleme betrachten. Nur brachen die meisten Aktivitäten 1914 schlagartig ab, so dass George F. Kennans Diktum vom Ersten Weltkrieg als »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« auch für die Umweltgeschichte gilt. Die Jahre der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus waren dann trotz mancher Initiativen vor allem eine Zeit der Stagnation. Nur die Naturschutzbewegung erfuhr im NS-Staat einen heftigen Boom, über den noch zu reden sein wird.

Nach 1945 schien zunächst vieles auf Kontinuität hinzudeuten. Aber schon in den fünfziger Jahren gab es eine Reihe neuer Initiativen, die rückblickend in die Genealogie des Umweltzeitalters gehören. Im Ruhrgebiet entbrannte eine lebhafte Debatte über die Belastung der Luft mit Rauch und Staub, die das Bundesland Nordrhein-Westfalen für Jahrzehnte zum Vorreiter der bundesdeutschen Luftreinhaltung machte. Seit Mitte der fünfziger Jahre erarbeitete eine beim Verein Deutscher Ingenieure angesiedelte Kommission »Reinhaltung der Luft« Grenzwerte und Standards, die zur Grundlage der 1964 erlassenen »Technischen Anleitung zur Reinhaltung der Luft« wurden. In Bayern kämpften Naturschützer unter der charismatischen Leitung des Landesnaturschutzbeauftragten Otto Kraus gegen Bergbahnen und die hydroelektrische Erschließung der Alpenflüsse; im Südschwarzwald verhinderten Heimatschützer einen Staudammbau in der Wutachschlucht. Das meiste geschah hinter verschlossenen Türen, in Expertenrunden und administrativen Verfahren, ohne engagierte Beteiligung der breiten Öffentlichkeit – aber es war deshalb noch längst nicht unbedeutend. Auch in umwelthistorischer Beziehung war die Ära Adenauer ein letztes Aufblühen der Honoratiorenpolitik.

Auf die fünfziger Jahre, in denen Politik eine Sache schmaler Funktionseliten war, folgten die gesellschaftlich bewegten sechziger Jahre. Aber Umweltthemen hat dies auffallend wenig berührt; sie blieben zwar auf der Agenda, aber zumeist doch eher mit dem Ruch eines »technischen«, »unpolitischen« Themas, das vor allem die Experten ansprach. Der gesellschaftliche Aufbruch, der im berühmten »1968« kulminierte, konzentrierte sich auf andere Themen. So war es mit der schon erwähnten »Umweltpolitik« Hans-Dietrich Genschers eine Initiative der Bundesregierung, die den zweiten Schub der bundesdeutschen Umweltdebatte auslöste. Binnen weniger Jahre wurden zahlreiche Gesetze und Verordnungen verabschiedet oder novelliert, wobei |23|das Schwergewicht auf dem technischen Immissionsschutz lag. Der Innovationsgehalt der Gesetze variierte allerdings stark. Vor allem dort, wo in den fünfziger Jahren Reformen eingeleitet worden waren, setzte Genscher auf Kontinuität. Auch der Konflikt mit den Bundesländern, die zumeist für den Vollzug der Umweltgesetze verantwortlich waren, bremste den Elan spürbar. Als Genscher ins Außenministerium wechselte und Helmut Schmidt Kanzler wurde, verflüchtigte sich die umweltpolitische Initiative rasch.

Umweltpolitik kam somit zunächst »von oben«, aus einem kleinen Zirkel von Ministerialbeamten und Experten, die viel Energie investierten, um die lethargische Öffentlichkeit aufzurütteln. Noch die Gründung des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz 1972 geschah nur dank tatkräftiger Geburtshilfe aus dem Bundesministerium des Innern. Danach emanzipierte sich das bürgerschaftliche Engagement jedoch von seinen administrativen Ziehvätern, und an die Stelle der isolierten »Notgemeinschaften« der fünfziger und sechziger Jahre traten agile, gut vernetzte »Bürgerinitiativen«. Vor allem der Konflikt um die Atomkraft beförderte die Entfremdung zwischen Staat und Bürgern. Die legendäre Platzbesetzung im südbadischen Wyhl wurde zur Initialzündung für einen Konflikt, der die Gesellschaft spaltete wie wenige andere Themen: Was für die eine Seite eine existenzielle Angst vor dem »Atomstaat« war, erschien der anderen lediglich als technikfeindliche Hysterie. Langfristig folgenreich war, dass die Linke über den Atomkonflikt zum Umweltthema fand, denn der nukleare Komplex erschien für den geschulten Marxisten als Lehrbuchfall für jenes Bündnis von Staat und Großindustrie, das die Endzeit des Kapitalismus anzeigen sollte. Die Popularität des Themas ging jedoch auch mit einer wachsenden Gewaltförmigkeit des Protests einher, der in Grohnde und Brokdorf in bürgerkriegsähnlichen Zuständen kulminierte.

So wirkte der Stand der Umweltdebatte um 1980 ziemlich verfahren. Die Reformen seit den fünfziger Jahren hatten die Entwicklung zahlreicher technischer Lösungen beflügelt, gegen die Industrielle jedoch aufgrund der hohen Kosten heftig opponierten. Im Bundesinnenministerium hatte der Umweltschutz nach Genschers Abtritt einen schweren Stand, zumal die Aufmerksamkeit des Hauses mehr und mehr durch den Terror der RAF strapaziert wurde. Die Öffentlichkeit war zwar für Umweltthemen in hohem Maße sensibilisiert, aber die Konzentration auf das Atomthema und die Gewaltsamkeit des Protests stießen viele Bürger ab. Unterdessen traten Wissenschaftler und Publizisten mit Warnungen vor bislang vernachlässigten Themen auf, so etwa mit Hinweisen auf »neuartige Waldschäden«. Im |24|Hintergrund drängte außerdem eine entstehende Umwelttechnikbranche, die sich vom Aufschwung des Themas Wachstumsimpulse versprach. In heutigen Begriffen könnte man von einem »Reformstau« sprechen: Es gab genug Ideen und Lösungen, aber keine politische Koalition, die sie durchzusetzen vermochte.

So war es durchaus überraschend, dass die achtziger Jahre zum bundesdeutschen Jahrzehnt der Umwelt wurden. Der Reformstau löste sich binnen kürzester Zeit auf, als in hektischer Folge Gesetze und Verordnungen verabschiedet wurden. Überall starteten Umweltinitiativen zu den verschiedensten Problemen, und umweltbewegte Intellektuelle diskutierten über die Möglichkeit einer »ökozentrischen« Umweltethik und das »Prinzip Verantwortung«. Eine wichtige Rolle spielte die Debatte über das Waldsterben, die 1981 begann und rasch eine enorme Wirkung entfaltete: Die Sorge um den leidenden Wald vereinte Menschen von Greenpeace und den Grünen bis Franz Josef Strauß. Rasch griff die Umwelteuphorie von der politischen Sphäre in die Lebenswelt aus, und so sah man das Jahrzehnt der Umwelt nicht nur in der Zeitung, sondern auch auf der Straße und dem Küchentisch. Der ökologisch sensibilisierte Mensch trug Birkenstock, kaufte im »Ökoladen« ein und trug die Waren – »Jute statt Plastik« – in wieder verwendbaren Taschen nach Hause. Müsli und Vollkornbrot wurden populär wie nie zuvor.

Die umweltbewegten achtziger Jahre waren eine bundesdeutsche Besonderheit. In Frankreich und Großbritannien dominierten unter Mitterand und Thatcher ganz andere Themen, und in den Vereinigten Staaten begann die Präsidentschaft Ronald Reagans gar mit einer großangelegten antiökologischen Offensive, die freilich bald in sich zusammenfiel. So entstand Anfang der achtziger Jahre eine Vorstellung, die bis heute zu den hartnäckigsten Mythen der bundesdeutschen Umweltdebatte gehört: die Idee, dass Deutschland im internationalen Rahmen der Vorreiter in Sachen Umweltschutz sei. Es war, wie meist bei solchen Topoi, eine Mischung aus Realität und Legendenbildung. Tatsächlich ging die Bundesrepublik seinem westlichen Nachbarn mit »le Waldsterben« mächtig auf den Geist, zumal die Bundesregierung im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft auf energische Umweltinitiativen drängte. Aber zugleich wurde das Umweltthema so konturiert, dass unangenehme Themen weitgehend ausgeblendet wurden, insbesondere dort, wo Nachbarländer bereits weiter waren. Die chemieintensive Landwirtschaft blieb ein blinder Fleck und das fehlende Tempolimit auf Autobahnen erst recht.

|25|Wie sehr die deutsche Umweltdebatte bis heute im Schatten der achtziger Jahre steht, lässt sich schon daran erkennen, dass die heute dominierenden Debatten sämtlich in diesem Jahrzehnt begannen: Klimawandel, Biodiversität, Gentechnik. Die Institutionenlandschaft des bundesdeutschen Natur- und Umweltschutzes entstammt zu wesentlichen Teilen jener Zeit. 1980 konstituierten sich die Grünen als Bundespartei, 1986 wurde im Schatten von Tschernobyl das Bundesumweltministerium als symbolträchtige Vereinigung der bis dahin weit verstreuten Kompetenzen gegründet, 1991 entstand das Wuppertal Institut und 1992 das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Nicht weniger wichtig war die Prägekraft dieser Zeit für die gängigen Leitvorstellungen. Es entstand der kampagnenförmige, auf öffentlich-mediale Wirkung abzielende Verhaltensstil, der Umweltpolitik und Verbände bis heute beherrscht. Als generationelle Erfahrung hatten die achtziger Jahre eine kaum zu überschätzende Bedeutung: Umwelt war kein Nischenthema mehr, sondern hart am Puls der Zeit. Die Ökologisierung der Bundesrepublik hatte begonnen, und sie würde weitergehen – so glaubte man jedenfalls.

Produktiver zweifeln

Tatsächlich hatte das ökologische Jahrzehnt schon Ende der achtziger Jahre an Dynamik verloren. So bescherten die Ereignisse von 1989 der Umweltbewegung einen eleganten Abgang: Die Wiedervereinigung und ihre Folgen, die wirtschaftliche Krise und der scharfe Wind der Globalisierung schufen ein neues, unfreundliches Klima für die Umweltbewegten. Sie waren nicht mehr Speerspitze des gesellschaftlichen Fortschritts, sondern eher spaßfeindliche Nörgler, die einer notwendigen Modernisierung im Wege standen. Während der Spiegel in den achtziger Jahren mit Titelgeschichten über das Waldsterben und den Klimawandel noch Umweltgeschichte geschrieben hatte, brachte er die neue Stimmung 1995 auf den Punkt, als er plakativ über einen »Feldzug der Moralisten« lamentierte. Nachdem in den achtziger Jahren noch sorgenvoll über »Risikotechnologien« gesprochen worden war, entstand nun ein Hype um Computer- und Biotechnologie.

Dabei fehlte es seit 1990 durchaus nicht an wichtigen Initiativen im Umweltbereich. Aber sie entstammten nicht mehr so sehr der Umweltbewegung selbst und auch nicht anderen bundesdeutschen Akteuren, sondern vor allem supranationalen Impulsen. Nach und nach entwickelte sich die Europäische Kommission zum maßgeblichen Akteur der bundesdeutschen Umweltpolitik, ohne dass dies im bundesdeutschen Umweltbewusstsein oder in der Verbandslandschaft seinen Niederschlag gefunden hätte. Inzwischen gibt es kaum noch ein wichtiges Umweltproblem, bei dem die Bundesrepublik tatsächlich souverän ist, und Diskussionen wie jene über den Feinstaub wären ohne europäische Initiativen wohl gar nicht erst entstanden. Zugleich entstand seit dem Erdgipfel von Rio de Janeiro ein internationaler Verhandlungsprozess, der sich vor allem um die globale Erwärmung und die Biodiversität dreht. Für die Bundesrepublik waren diese internationalen Zusammenhänge Chance und Irritation zugleich: Einerseits bot die Internationalisierung Gelegenheiten zur Profilierung des ökologischen Musterlands – aber andererseits stand die Globalisierung der Umweltdebatte in deutlicher Spannung zur nationalen Verfasstheit der Umweltszene. Der Boom der achtziger Jahre hatte die deutsche Umweltlobby zwar zu einer vergleichsweise ressourcenstarken Gruppe gemacht, aber zugleich die Strukturen just in dem Moment auf nationalstaatlicher Basis verfestigt, als diese im Zuge der Globalisierung zunehmend ausgehöhlt wurden.

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Kultivierte die Bundesrepublik einen »Öko-Wahn«? Der Spiegel-Titelvom Herbst 1995 brachte die Öko-Skepsis der neunziger Jahre auf den Punkt.

|27|Natürlich hatte die bundesdeutsche Umweltszene auch vor 1990 schon über die eigenen Grenzen hinausgeschaut. Aber es ist doch bezeichnend, dass sich das Interesse zunächst stark auf exotische Themen wie etwa den Regenwald am Amazonas konzentrierte. Das waren ferne Länder, denen man bequem die vermeintlich richtigen Rezepte diktieren konnte, ohne Angst vor unangenehmen Rückwirkungen auf die eigene Lebenswelt haben zu müssen. Und es waren zumeist Themen, bei denen die bundesdeutschen Umweltschützer sich als Mahner und Warner gerieren konnten: Walfang, Robbenjagd, unsinnige Riesenstaudämme – stets konnten sich bundesdeutsche Vertreter als Inkarnation des überlegenen Bewusstseins fühlen, jederzeit bereit, anderen Völkern beim Weg ins ökologische Zeitalter freundliche Hilfestellung zu leisten. Das hatte in früheren Jahrzehnten noch etwas anders ausgesehen. Als im Ruhrgebiet in den fünfziger Jahren nach sauberer Luft gerufen wurde, war die amerikanische Stahlstadt Pittsburgh ein vielbejubeltes Vorbild, und auch beim Automobilkatalysator war Amerika ein wichtiger Präzedenzfall. Aber in den achtziger Jahren drehte sich die Stimmung, und die Vorstellung, dass das grüne Vaterland vom Ausland lernen könnte, erschien zunehmend absurd. Auch die Wiedervereinigung wurde vor allem als Chance gesehen, die Errungenschaften des Westens in das Beitrittsgebiet zu exportieren: Gesetze, Strukturen, Leitideen.

|28|Das international spürbare Selbstbewusstsein stand jedoch in wachsendem Kontrast zum Trend der Umweltpolitik in Deutschland. Die Stagnation der Umweltbewegung dokumentierte sich schließlich auch in der Politik. Deregulierung lautete das Schlüsselwort der Umweltpolitik in den neunziger Jahren: Die Wirtschaftskrise verlangte nach schlanken Verwaltungen und schnellen Genehmigungsverfahren, und die Wünsche der Umweltbewegung waren aus diesem Blickwinkel lediglich ein Bremsklotz. Das meiste geschah hinter den Kulissen, ohne spektakuläre Niederlagen und öffentliche Demütigungen, und doch war dies nach Jahren des Booms eine ernüchternde Erfahrung. Nicht zuletzt bemerkte die Umweltbewegung, dass sie nicht so recht aus der Defensive kam, denn nicht nur in der Politik, sondern auch in der Öffentlichkeit wehte nun ein anderer, schärferer Wind. So manche Gewissheit der achtziger Jahre wurde mit Fragezeichen versehen: Starben die Wälder wirklich? Gab es die globale Erwärmung tatsächlich? Der große Backlash blieb aus, aber die neue Skepsis von Medien und Öffentlichkeit war spürbar und wurde gelegentlich auch politisch virulent. Im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf 2005 machte der CDU-Kandidat Jürgen Rüttgers ätzende Bemerkungen über den Schutz des Feldhamsters zu seinem Markenzeichen – als Inbegriff einer rot-grünen Landespolitik, die angeblich über den Naturschutz die Menschen vergessen hatte.

Die Stagnation der ökologischen Sache wurde selten offen diskutiert, aber so manche Debatte in Umweltkreisen spiegelte unverkennbar ein Krisenbewusstsein wider. Ein einschlägiges Indiz war etwa die Überalterung der Umweltszene, die im Laufe der Zeit mit zunehmender Heftigkeit beklagt wurde. Es fehle der Nachwuchs und die klassische Stammmitgliedschaft, war zu hören. Ein seltsames Bild: Überall wurden die Funktionseliten immer jünger, nur nicht im Natur- und Umweltschutz. In keiner anderen Partei rekrutiert sich die Funktionselite so stark aus Aktiven der achtziger Jahre wie bei den Grünen. Die Sorge um die Jugend, die den eigenen Slogans immer weniger Glauben schenke, war und ist in der Umweltszene allenthalben zu spüren.

Wie aber tickt die Jugend wirklich? Als Universitätsdozent habe ich berufsbedingt viel mit jungen Erwachsenen zu tun, und da ergaben sich in den vergangenen Jahren zahlreiche Beobachtungen und Gelegenheiten zum Gespräch. Das war manchmal schon etwas befremdlich. Mit Gruseln erinnere ich mich zum Beispiel an eine Gentechnikdebatte, in der eugenische Phantastereien unwidersprochen im Raum standen. Aber im Großen und Ganzen stellte sich heraus, dass die heutige Jugend nicht weniger umweltbewusst ist, |29|sondern einfach anders über Umweltthemen denkt: freier, unbekümmerter, mit Zweifeln an herrschenden Dogmen, aber mit genuinem Interesse. In mancherlei Beziehung kam mir die etablierte Umweltdebatte plötzlich schrecklich verkrampft vor.

Die vielleicht wichtigste Erfahrung war dabei, dass für junge Leute auch Kritik an der Umweltbewegung kein Sakrileg ist. In dieser Beziehung waren Umweltaktivisten zumeist ausgesprochen zurückhaltend: Während bei der Kritik industrieller Verschmutzer keine Attacke scharf genug sein konnte, waren Zweifel am eigenen Lager unerwünscht oder nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit zugelassen. Als ich 2005 in der Zeitschrift Natur und Landschaft ein Plädoyer für eine reflexive Naturschutzbewegung veröffentlichte, die ihre Kraft gerade auch aus der kritischen Reflexion eigener Probleme beziehen könnte, war der Aufschrei der Empörung groß.7 Aber steht nicht heute in jedem Management-Handbuch, dass man aus Fehlern lernen kann? Mehr noch: Man kann aus dem Erfahrungsschatz, der sich in 40 Jahren Umweltbewegung angesammelt hat, wohl nur dann etwas lernen, wenn die Lehren der Geschichte nicht in Form festgefügter Dogmen formuliert werden, sondern in Form von Anregungen und Impulsen, die jeweils ergebnisoffen auf ihre Relevanz zu prüfen sind. Es ist deshalb höchste Zeit, dass in Deutschland wieder offen und konstruktiv über Umweltthemen gestritten werden kann, und vielleicht könnte ein Weg aus der Krise ja auch darin bestehen, dass Umweltthemen wieder intellektuelle Reizthemen werden, die zu klugen, niveauvollen Debatten hinführen. Ist es nicht Teil des Problems, dass Zweifel in Umweltkreisen fast schon reflexhaft als Bedrohung eingeordnet werden – und nicht etwa als Anlass zum Mitdenken? Zweifel haben eben nicht nur eine destruktive, sondern auch eine befreiende Kraft, von der die Umweltbewegung bislang viel zu wenig Gebrauch gemacht hat. Und vielleicht könnte sich daraus ja sogar ein Motto für ein neues Umweltzeitalter entwickeln: produktiver zweifeln.

Im Zeitalter der Unübersichtlichkeit

Wer so gerüstet den Versuch einer Gesamtbetrachtung der bundesdeutschen Umweltdebatte unternimmt, merkt dabei im Laufe der Zeit vor allem eines: Nach mehreren Jahrzehnten ist auch im Umweltbereich das meiste ziemlich kompliziert. Die Ära einfacher Weisheiten ist definitiv vorüber – sofern es sie |30|denn je gegeben hat. Zu jedem Umweltproblem gibt es längst eine lange Liste von Gesetzen und Verordnungen und darüber hinaus eine ausufernde Spezialliteratur; allein die Literaturdatenbank des Bundesamts für Naturschutz, die kompetenzbedingt nur einen Teil der Umweltdebatte abdeckt, umfasst mittlerweile mehr als 150.000 Einträge. Wer mit Insidern im Umweltbereich spricht, macht mehr als einmal die irritierende Erfahrung, dass sie sich eingehend über spezielle Aspekte eines augenscheinlich wichtigen Aktionsprogramms verbreiten, von dem man noch nie gehört hat.

Es sind letztlich drei Faktoren, die dem Umweltbereich eine besondere Unübersichtlichkeit bescheren. Da ist erstens die ungeheure Vielfalt von Flora und Fauna. Selbst innerhalb der deutschen Grenzen gibt es eine kaum zu überschauende Zahl von Landschaften mit jeweils besonderen Problemlagen. Auch einfache Prinzipien sind da schwer zu formulieren: So brauchen zum Beispiel manche Naturschutzgebiete eine ständige Betreuung und Pflege, andere dagegen lediglich Ruhe. Zweitens ist die Umweltszene in hohem Maße fragmentiert, und das gleich auf mehreren Ebenen: Es gibt mehrere große Verbände, Fokussierungen auf bestimmte Pflanzen- und Tierarten, unter denen die Vogelschützer wohl die größte Gruppierung sind, dazu Querschnittsthemen wie die globale Erwärmung und zahllose Sonderthemen. Wer sich zum Beispiel in die Details der Kerntechnik vertieft, wird irgendwann feststellen, dass vom Gelernten kaum etwas auf andere Themenfelder übertragbar ist. Drittens sind Initiativen, die auf Vereinfachung und Transparenz abzielen, in der bundesdeutschen Umweltgeschichte auffallend rar. Es mag dahingestellt bleiben, ob sich dahinter ein Eigeninteresse der Bürokratie verbirgt, die gut damit leben kann, wenn bestimmte Vorgänge dem Blick einer kritischen Öffentlichkeit verborgen bleiben. Entscheidend ist, dass die grassierende Unübersichtlichkeit nicht einfach nur Schicksal ist, sondern auch politisch toleriert.

Die Komplexität des Gegenstands ist also nicht nur insofern ein Problem, als aus dem Wust der Themen eine Auswahl zu treffen ist. Es geht zugleich darum, in den jeweiligen Themenfeldern ein Gesamtbild zu zeichnen, das einerseits von der Sache her vertretbar ist, aber zugleich klare Konturen aufweist. Dieser doppelten Herausforderung stellt sich der zweite Abschnitt dieses Buches, wo anhand von acht Fallbeispielen gewissermaßen »Probebohrungen« zum Stand der Umweltdebatte vorgenommen werden. Besonderer Wert wurde dabei auf möglichst große Vielfalt gelegt: Die Liste umfasst Dauerbrenner der Umweltdebatte wie Klimawandel, Gentechnik und Atomkraft, aber auch Feinstaub und Naturschutz, die nur gelegentlich in die |31|Schlagzeilen kommen; mit der Renaturierung der Emscher wird am Ende auch ein Thema aufgegriffen, das bislang noch gar nicht auf dem Radarschirm der Umweltszene aufgetaucht ist. Die Auswahl umfasst Verschmutzung und Naturschutz ebenso wie Artenschutz und Biodiversität, es geht um Landwirte und Industrielle, um dezidiert internationale Probleme ebenso wie regionale und lokale Themen. Nicht Vollständigkeit ist das Ziel, sondern Repräsentativität, ein möglichst aufschlussreicher Querschnitt durch die Art und Weise, wie die natürliche Umwelt in Deutschland gedacht, geplant und gestaltet wird. Der Rundumschlag, der für alle Umweltthemen eine eigene Kompetenz suggeriert, bleibt mit den besten Empfehlungen den Kollegen Maxeiner und Miersch überlassen.

Dabei geht es nicht nur darum, die jeweilige Problemlage möglichst konzis und präzise zu umreißen. Im Zentrum steht vielmehr die Frage, wie sich der Blick auf den gegenwärtigen Stand der Debatte verändert, wenn man diese Debatten als Produkte der Geschichte betrachtet. Dabei zeigt sich, dass viele vertraute Entwicklungen plötzlich in ganz anderem Licht erscheinen. Der seltsame Verlauf der Feinstaubdebatte ist zum Beispiel nur dann zu verstehen, wenn man sie als missglückte Wiederholung der Diskussion über den Automobilkatalysator in den achtziger Jahren betrachtet. Auch die Auseinandersetzungen um die Gentechnik werden besser verständlich, wenn man sie als Ausfluss einer breiten Debatte über »Risikotechnologien« einordnet. Die rot-grüne Agrarwende ist durch die Geschichtsvergessenheit der Protagonisten weit hinter ihren Möglichkeiten geblieben. Beim Naturschutz zeigt erst der historische Ausgriff, dass sich hinter dem Ringen um die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie nichts Geringeres als die Krise des Schutzgebietskonzepts verbirgt.

Der Hinweis auf historische Traditionen eröffnet verschiedene Handlungsoptionen. Man kann ihn als Bestätigung und Selbstvergewisserung über die historischen Wurzeln der eingeschlagenen Entwicklungspfade verstehen. Historische Aufklärung kann jedoch auch Chancen für Veränderungen eröffnen, indem sie unausgesprochene Grundlagen der gegenwärtigen Debatte einer kritischen Betrachtung zugänglich macht. In letzterer Beziehung ergeben sich im zweiten Abschnitt vielfältige Möglichkeiten: Immer wieder wird in den Fallstudien nämlich deutlich, dass der gegenwärtigen Debatte Annahmen und Sichtweisen zugrunde liegen, die einer anderen Zeit entstammen. Unausgesprochen ist der aktuelle Umweltdiskurs von Ideen und Einstellungen geprägt, die längst anachronistisch sind, aber nicht als solche erkannt werden. So führt der Umweg durch die Historie am Ende zu |32|einem realistischeren Bild des eigenen Standorts: Der Schatten der Geschichte ist lang.

Wohin treibt die Umweltbewegung?

Damit ist jene Frage angeschnitten, auf die jeder Versuch einer historischpolitischen Gegenwartsdiagnose unvermeidlich hinausläuft: die Frage nach den Konsequenzen. Wenn die Umweltdebatte daran krankt, dass sie sich ihrer eigenen historischen Vorprägung nicht bewusst ist – wie könnte die Debatte dann weitergehen, wenn die diskursive Selbstblockade überwunden würde? Für die Suche nach Antworten ist es lohnend, jenen Faden aufzugreifen, der im Titel dieses Abschnitts verborgen liegt: Er spielt an auf Karl Jaspers Buch Wohin treibt die Bundesrepublik, das zu den einflussreichsten Zeitdiagnosen der sechziger Jahre zählt. Wie in einem Brennglas zeigt diese Schrift nämlich Chancen und Risiken eines solchen Projekts. Engagiert kritisierte Jaspers die Aushöhlung der bundesdeutschen Demokratie durch eine Parteienoligarchie und verortete die politischen Themen des Erscheinungsjahrs 1966 im zeithistorischen Kontext. Zugleich zeigte er jedoch, dass eine solche Kritik stets ein Gegenbild voraussetzt, und das fiel im Falle Jaspers arg idealistisch aus. Die Antwort auf den Parteienstaat war für ihn Freiheit und demokratische Öffentlichkeit. Mit anderen Worten: Das Mittel gegen die Auswüchse von Massenverbänden und Lobbyismus im 20. Jahrhundert war die Honoratiorenpolitik des 19. Jahrhunderts.8

Die Sehnsucht nach einer verklärten Vergangenheit, in der es noch echte Gewissheiten zu geben schien, ist eine typische Erscheinung in Zeiten der Krise. Auch in der Umweltszene scheint mancher von einer Rückkehr zu den Wurzeln oder wenigstens zu den Boomzeiten der achtziger Jahre zu träumen. Das Votum der Geschichte ist in dieser Hinsicht freilich sehr eindeutig: Bislang ist es noch keiner sozialen Bewegung gelungen, auf diesem Weg tatsächlich ans Ziel zu gelangen. Es wäre leicht, eine Zukunft auszumalen, in der eine agile, neue Basis ein verkrustetes Establishment mit cleveren Aktionen aufmischt, aber es ist nicht zu erkennen, dass dadurch viel gewonnen wäre: Der Trend zu großen, hierarchischen Umweltverbänden hat sich bisher in keinem Land als umkehrbar erwiesen. Die etwa von Shellenberger und Nordhaus propagierte Vorstellung, ein neues Umweltzeitalter könnte erst anbrechen, wenn die bisherigen Strukturen überwunden würden, ist bestenfalls |33|naiv. Der Traum von einem revolutionären Bruch mit unabsehbaren Konsequenzen erscheint umso leichter entbehrlich, als sich gar nicht so wenige Wege präsentieren, die Zukunft der Umweltbewegung aus den in der Gegenwart angelegten Möglichkeiten heraus zu entwickeln.

Dabei bedarf es keiner langen Erklärung, dass der dritte Abschnitt, in dem einige dieser Wege skizziert werden sollen, der schwierigste und wohl auch konfliktträchtigste dieses Buches ist. Es ist ja stets ein schmaler Grat zwischen möglicher Veränderung und illusorischer Hoffnung, auf dem alle Überlegungen zu möglichen Zukünften der Umweltdebatte balancieren, und ich will in dieser Beziehung auch keine professionsbedingte Überlegenheit reklamieren: Bekanntlich laufen Historiker ja eher dann zu großer Form auf, wenn sie retrospektiv erklären, warum man das alles hätte voraussehen können. Es geht also im dritten Abschnitt um nicht mehr als einige Ideen, wo im Moment die entscheidenden Herausforderungen und Chancen für die bundesdeutsche Umweltbewegung liegen. Es ist letztlich ein Plädoyer für einen neuen Denkstil, das dort zur Diskussion gestellt werden soll: Der Schlüssel zur Zukunft liegt, so die hiesige These, im Übergang von einem Denken in Zielen zu einem Denken in Entwicklungspfaden.

Im bisherigen Modus der Debatte waren nämlich zumeist bestimmte Ziele der Angelpunkt. Es ging um den Schutz der Heimat, die Schaffung von Nationalparks oder die Rettung des Waldes, und im Zentrum der Debatten stand die Frage, wie man möglichst rasch zu diesen Zielen gelangen könnte. Das funktionierte solange ganz gut, wie es tatsächlich greifbare Lösungsansätze gab, die kurzfristig zu realisieren waren, und so fügten sich im Idealfall Ziele und Antworten passgenau zueinander: Wer die Rettung des Waldes wollte, war für die Entschwefelung der Großkraftwerke. Dieser Modus scheint jedoch im 21. Jahrhundert die Grenzen seiner Möglichkeiten erreicht zu haben: Für Probleme wie die Zersiedelung, den Rückgang der Biodiversität oder die globale Erwärmung sind keine Rezepte erkennbar, die in absehbarer Zeit so etwas wie eine Lösung offerieren würden. Wir werden für die nächsten Jahrzehnte mit diesen Problemen leben müssen. Die Frage ist, wie gravierend sie werden.

Ein Denkstil, der von bestimmten Zielvorstellungen ausgeht, scheint da geradewegs in die Sackgasse zu führen. Ein Musterbeispiel ist das Zwei-Grad-Ziel in der Klimadebatte: Die Idee, die Klimapolitik durch eine Begrenzung der maximal zulässigen Erwärmung voranzutreiben, erweist sich immer mehr als illusorisch. Sie ist wissenschaftlich heikel – denn solche Vorgaben lassen sich allein mit den Instrumenten der Naturwissenschaft nicht formulieren. |34|Sie ist aus Gründen der globalen Klimagerechtigkeit problematisch – denn die zwei Grad Celsius sind ein Durchschnittswert, von dem dramatische Abweichungen mit unabsehbaren Folgen möglich sind. Vor allem ist sie aber politisch kontraproduktiv: Sie lenkt den Blick in eine ferne Zukunft, die niemand zu überblicken vermag. Wen motiviert die Aussicht auf ein Erfolgserlebnis im Jahre 2050?

Die Situation ändert sich jedoch, wenn man Entwicklungspfade ins Zentrum stellt. Dann stellen sich nämlich ganz andere Fragen: Welche konkreten Möglichkeiten gibt es in der Gegenwart, welche Potentiale bergen sie für den Klimaschutz innerhalb der nächsten Jahre, und was kann man tun, um diese Entwicklungen zu forcieren und zu steuern? Aus diesen Fragen ergeben sich ganz konkrete Schritte; Erfolgserlebnisse verschwinden nicht mehr in einer utopischen Zukunft, sondern sind in absehbarer Zeit zu erreichen. An die Stelle langfristiger Masterplanung tritt die Wiederentdeckung politischer Gestaltbarkeit im Hier und Jetzt. So wächst der Klimaschutz gewissermaßen von unten, aus vielen parallelen Initiativen, die jeweils im überschaubaren Rahmen bleiben und für Bündnisse mit anderen Zielen offen sind. Natürlich gibt es dabei keine Garantie, dass das Zwei-Grad-Ziel am Ende aller Anstrengungen tatsächlich erreicht wird. Aber ist es nicht ohnehin utopisch, so etwas tatsächlich vorauszuplanen?

Ein solcher Entwicklungspfad ist nichts Monumentales, das sich mit einem einzelnen großen Gesetz kodifizieren ließe. Er ist das Resultat vieler kleiner Schritte, die nur dann in die richtige Richtung führen, wenn sie beständig geprüft werden. Zu Entwicklungspfaden gehören deshalb neben den konkreten Maßnahmen auch Kriterien für Erfolg oder Scheitern, die sich nach einiger Zeit kontrollieren lassen. Stimmt die Richtung, oder muss man den Kurs korrigieren? Haben sich die Interessen und Sichtweisen der Beteiligten verändert, oder sind neue Interessen im politischen Feld aufgetaucht? Woher stammt das Wissen, und ist es noch aktuell? All das setzt eine kritische Beschäftigung mit jenen Verhaltensstilen voraus, die die Umweltbewegung seit den achtziger Jahren prägen. Wissen wird die zentrale Währung des kommenden ökologischen Zeitalters werden und Transparenz seine Kardinaltugend.

Auf diesem Wege würde zum Beispiel die viel beschworene Brücke ins Zeitalter der erneuerbaren Energien etwas anders aussehen. Die heiß diskutierte Frage, ob der letzte deutsche Reaktor 2022 oder doch schon 2020 abgestellt wird, ist aus diesem Blickwinkel von eher zweitrangiger Bedeutung. Unter dem Gesichtspunkt der Entwicklungspfade erscheint es viel wichtiger, |35|die Voraussetzungen und Probleme der aktuellen Entwicklung nachhaltiger Technologien zu klären. Warum schreitet die Windkraftnutzung auf dem Meer in anderen europäischen Ländern schneller voran als in Deutschland, und was können wir da von unseren Nachbarn lernen? Wie geht man damit um, dass der Boom der Energiepflanzen für Landschaften und biologische Vielfalt durchaus problematische Nebenwirkungen hat? Wieso war überhaupt Anfang 2011, als die Benzinmarke E10 in den Schlagzeilen war, so viel von der Verträglichkeit für Motoren die Rede und so wenig von der erbärmlichen Klimabilanz des vermeintlichen Biokraftstoffs? Auch alternative Technologien entwickeln im Laufe der Zeit Expertensysteme, die kein Interesse an bestimmten Debatten haben. Das spricht nicht gegen die neuen Technologien und ihre Vertreter, aber sehr wohl für ihre sorgfältige Beobachtung, bevor aus den Entwicklungspfaden fatale Pfadabhängigkeiten werden. Schon jetzt ist erkennbar, dass die Energiewende ihren Preis haben wird – ökonomisch, sozial und gerade auch ökologisch. Und darüber lohnt es sich zu reden.

So läuft die Frage nach Entwicklungspfaden also nicht auf obskure Verhandlungen in Hinterzimmern hinaus, sondern vielmehr auf öffentliche und ergebnisoffene Gespräche. Letztlich geht es um die Überwindung jener Kluft zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik, die Max Weber vor bald einhundert Jahren in den politischen Sprachgebrauch eingeführt hat.9 In der Umweltbewegung zeigt sich der Wert dieser Unterscheidung mit geradezu modellhafter Klarheit, und bislang ist es nicht etwa ein dialektischer Gegensatz, der sich in einer Synthese auflöst, sondern vielmehr eine Arbeitsteilung, mit der es sich beide Gruppen bequem gemacht haben. Etwas pauschal formuliert: Da stehen auf der einen Seite die agilen Polit-Unternehmer, die Verbindungen spielen lassen, Kompromisse schmieden und diese dann je nach Opportunität bejubeln oder verdammen. Und auf der anderen Seite stehen die Leidenschaftlichen, die bei jeder passenden Gelegenheit, von der Klima-Demo bis zum Atomprotest, die »Flamme der reinen Gesinnung« auflodern lassen.10 So haben es sich beide Fraktionen mit ihren jeweiligen Gewissheiten bequem gemacht und verharren in einem Zustand gespannter Sprachlosigkeit zur Gegenseite. Dabei würde es doch eigentlich gerade dann spannend, wenn man einmal miteinander ins Gespräch käme.

Bislang krankt die Umweltdebatte eben auch daran, dass es anscheinend nicht viel zu diskutieren gibt: Es ist, so scheint es, längst alles gesagt, und inzwischen wohl auch von jedem. Manchmal spürt man geradezu eine Scheu vor dem offenen Gespräch, ein verkrampftes Festhalten an vertrauten Weisheiten, |36|auch wenn sie längst von der Wirklichkeit überholt sind. Das sah in den achtziger Jahren noch anders aus: Umweltthemen waren seinerzeit auch deshalb attraktiv, weil es tatsächlich etwas zu diskutieren gab – weil das Thema nicht nur eine politische Herausforderung war, sondern auch eine intellektuelle. Wer nicht über Ziele, sondern über Entwicklungspfade diskutiert, lernt schnell den Wert und den Reiz des Streits kennen. Die Frage nach unterschiedlichen Wegen, ihren Voraussetzungen und Kosten könnte der Umweltdebatte wieder eine intellektuelle Spannung vermitteln, die bisher allzu oft unter emotionalen Forderungen nach »mehr Bewusstsein« erstickt.

Viele Menschen sagen, wenn sie nach Umweltproblemen gefragt werden: Ich habe Angst. Wenige sagen, dass sie die Debatten interessant finden. Zeit, das zu ändern.

|37|I. Von Grünen, Gerechten und Graugänsen: Eine kurze Geschichte der deutschen Umweltbewegungen

»Umweltbewegungen«: Annäherungen an ein diffuses Thema

Es ist einfach zu zeigen, dass die Umweltbewegung eine lange Geschichte hat. Schwerer ist zu sagen, wo sie eigentlich anfängt. Hinter jedem der vermeintlichen Ursprünge lassen sich ohne großen Aufwand längere Traditionen aufspüren, und so findet sich der Historiker rasch in der Rolle eines frustrierten Archäologen wieder, der mühsam eine Zeitschicht freilegt, nur um darunter eine weitere Ebene mit älteren Spuren zu entdecken. Die Zeit um 1970 war zum Beispiel mit den »Grenzen des Wachstums« und der Genscher’schen Umweltpolitik ohne Zweifel ein wichtiger Meilenstein. Aber zur damaligen Szenerie gehörte auch Bernhard Grzimek als Naturschutzbeauftragter der sozialliberalen Bundesregierung, der sich mit seinem Kinofilm »Serengeti darf nicht sterben« und der Fernsehsendung »Ein Platz für Tiere« seit den fünfziger Jahren einen Namen gemacht hatte. Grzimek wiederum stand vom Habitus her in der Tradition eines politisch abstinenten Schutzes vermeintlich unberührter Natur, ein Ansatz, der sich international in der Zeit um 1900 konstituiert hatte. Schon davor gab es jedoch Bestrebungen, aus denen eine Sorge um die freie Natur sprach, so etwa im Schwarzwaldverein von 1864 oder dem 1875 in Halle gegründeten Verein für Vogelkunde, der sich drei Jahre später in Deutscher Verein zum Schutze der Vogelwelt umbenannte. Oder war es nicht letztlich die romantische Bewegung, aus der der Urimpuls zum Schutz der Natur entsprang? Hatte man am Mittelrhein, einer der Sehnsuchtslandschaften der Romantik, nicht schon 1836 den Drachenfels unter Schutz gestellt, der seither als erstes deutsches Naturschutzgebiet verehrt wird?