Am Rande der Schatten - Brent Weeks - E-Book
SONDERANGEBOT

Am Rande der Schatten E-Book

Brent Weeks

4,8
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der heißersehnte zweite Roman der atemberaubend spannenden Trilogie.

Die Ausbildung zum Assassinen hat sich für den ehemaligen Gassenjungen Azoth als überaus schmerzhaft erwiesen, denn sein einstiger Lehrer Durzo Blint und sein bester Freund Logan sind den Machenschaften des Gottkönigs von Khalidor zum Opfer gefallen. So ist es kein Wunder, dass Azoth seiner Profession den Rücken gekehrt hat. Doch dann hört er das Gerücht, dass Logan noch am Leben sein soll und sich versteckt. Und so muss Azoth sich der Frage stellen, ob die Schatten einen jemals wieder loslassen, wenn man sich erst einmal in sie hineinbegeben hat …

Alle Bände der Schatten-Trilogie

Band 1 - Der Weg in die Schatten

Band 2 - Am Rande der Schatten

Band 3 - Jenseits der Schatten

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 883

Bewertungen
4,8 (46 Bewertungen)
37
9
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Titel
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Copyright
Für Kristi, weil sie niemals zweifelte - nicht einmal, als ich es tat.
Für Kevin, weil es die Aufgabe eines großen Bruders ist, den kleinen Bruder abzuhärten. Was du mich gelehrt hast, habe ich gebraucht. (Aber seit der Sache mit dem Erdklumpen war ich nie wieder ganz der Alte.)
1
»Wir haben einen Auftrag für dich«, sagte Momma K. Wie immer saß sie da wie eine Königin, den Rücken durchgedrückt, das prächtige Kleid von perfektem Sitz, das Haar tadellos frisiert, wenn auch grau an den Wurzeln. An diesem Morgen hatte sie dunkle Ringe unter den Augen. Kylar vermutete, dass keiner der überlebenden Anführer der Sa’kagé seit der khalidorischen Invasion viel geschlafen hatte.
»Euch auch einen guten Morgen«, erwiderte Kylar, während er sich in dem Ohrensessel im Arbeitszimmer niederließ.
Momma K wandte sich ihm nicht zu, sondern blickte aus dem Fenster. Der Regen der vergangenen Nacht hatte den größten Teil der Brände in der Stadt gelöscht, aber viele schwelten noch immer und tauchten die Stadt mit ihrer Glut in eine blutrote Morgendämmerung. Das Wasser des Plith, der den reichen, östlichen Teil der Stadt Cenaria vom Labyrinth trennte, war rot wie Blut. Kylar war sich nicht sicher, ob das nur an der von Rauch verhüllten Sonne lag. In der Woche seit dem Staatsstreich und der Invasion hatten die Khalidori Tausende von Menschen massakriert.
Momma K sagte: »Die Sache hat einen Haken. Das Opfer weiß Bescheid.«
»Woher?« Die Sa’kagé waren im Allgemeinen nicht so schlampig.
»Wir haben es ihm gesagt.«
Kylar rieb sich die Schläfen. Die Sa’kagé würden ein Opfer nur deshalb einweihen, damit sie nicht kompromittiert wurden, sollte der Anschlag scheitern. Das bedeutete, dass es sich bei dem Opfer nur um einen Mann handeln konnte: Cenarias Eroberer, Khalidors Gottkönig, Garoth Ursuul.
»Ich bin nur gekommen, um mein Geld zu holen«, erklärte Kylar. »Alle sicheren Häuser Durzos - all meine sicheren Häuser sind niedergebrannt. Ich brauche nur genug, um die Torwachen zu bestechen.« Er hatte ihr seit seiner Kindheit einen Teil seiner Löhne gegeben, damit sie das Geld investierte. Sie sollte reichlich haben für einige Bestechungen.
Momma K blätterte schweigend die Blätter Reispapier auf ihrem Schreibtisch durch und reichte Kylar eins davon. Zuerst machten ihn die Zahlen sprachlos. Er war an dem illegalen Import von Gras und einem halben Dutzend anderer süchtig machender Pflanzen beteiligt, hielt Anteile an einer Brauerei und mehreren Geschäften, besaß ein Rennpferd und Importwaren wie Seide und Edelsteine, die gesetzlich erlaubt waren, wenn man von der Tatsache absah, dass die Sa’kagé zwanzig Prozent für Bestechungen bezahlten, statt fünfzig Prozent Zollgebühren. Die schiere Menge an Informationen auf der Seite war sinnverwirrend. Bei der Hälfte der Einträge wusste er nicht, was sie bedeuteten.
»Ich besitze ein Haus?«, fragte Kylar.
»Du hast eins besessen«, antwortete Momma K. »In dieser Spalte ist vermerkt, wenn etwas bei den Bränden oder Plünderungen verloren gegangen ist.« Das Zeichen stand bei allen Eintragungen, nur nicht bei jenen Expeditionen, die unterwegs waren, um Seide beziehungsweise Gras ins Land zu bringen. Beinahe alles, was er besessen hatte, war verloren gegangen. »Es wird Monate dauern, bis eine der beiden Expeditionen zurückkehrt, falls sie überhaupt zurückkehren. Wenn der Gottkönig weiter zivile Schiffe beschlagnahmt, werden sie gewiss nicht zurückkommen. Natürlich, wenn er tot wäre …«
Er konnte erkennen, worauf das hinauslief. »Hier steht, dass mein Anteil immer noch zehn- bis fünfzehntausend wert ist. Ich werde ihn Euch für tausend verkaufen. Das ist alles, was ich brauche.«
Sie beachtete ihn nicht. »Sie brauchen einen dritten Blutjungen, um sicherzustellen, dass es funktioniert. Fünfzigtausend Gunder für einen Mord, Kylar. Mit so viel Geld könntest du Elene und Uly überallhin bringen. Du hättest der Welt einen Dienst erwiesen, und du würdest nie wieder arbeiten müssen. Es ist nur ein letzter Auftrag.«
Er schwankte bloß einen Moment lang. »Es gibt immer einen letzten Auftrag. Ich bin fertig.«
»Es liegt an Elene, nicht wahr?«, fragte Momma K.
»Momma K, denkt Ihr, ein Mensch kann sich ändern?«
Sie sah ihn mit einer tiefen Traurigkeit an. »Nein. Und am Ende wird er jeden hassen, der das von ihm verlangt.«
Kylar stand auf und trat durch die Tür. Im Flur begegnete er Jarl. Jarl grinste, wie er es getan hatte, als sie auf den Straßen aufgewachsen waren und er nichts Gutes im Schilde geführt hatte. Jarl trug ein Gewand, das wohl der neuesten Mode entsprach, eine lange Jacke mit übertrieben breiten Schultern, gepaart mit einer schmal geschnittenen Hose, die in hohen Stiefeln steckte. Das Ganze wirkte vage khalidorisch. Das Haar hatte er sich zu winzigen, kunstvollen Zöpfen geflochten, die mit goldenen Perlen bedeckt waren; die Perlen brachten seine schwarze Haut besonders gut zur Geltung.
»Ich habe den perfekten Auftrag für dich«, sagte Jarl mit gesenkter Stimme, aber ohne zu bereuen, dass er gelauscht hatte.
»Kein Mord?«, hakte Kylar nach.
»Nicht direkt.«
»Euer Heiligkeit, die Feiglinge stehen bereit, um ihre Schuld zu begleichen«, erklärte Vürdmeister Neph Dada, dessen Stimme sich über die Menge erhob. Er war ein alter Mann mit deutlich hervortretenden Adern und zahlreichen Leberflecken, gebeugt und nach Tod stinkend, den er mit Magie in Schach hielt. Sein Atem rasselte von der Anstrengung, nachdem er das Podest im großen Innenhof von Burg Cenaria erklommen hatte. Zwölf mit Knoten versehene Schnüre hingen über den Schultern seiner schwarzen Robe, Sinnbild für die zwölf Shu’ras, die er gemeistert hatte. Neph kniete mit einiger Mühe nieder und hielt dem Gottkönig eine Handvoll Stroh hin.
Gottkönig Garoth Ursuul stand auf dem Podest und musterte seine Truppen. Vorn und in der Mitte standen fast zweihundert Hochländer aus Graavar, hochgewachsene, blauäugige Wilde mit mächtigem Oberkörper, die ihr schwarzes Haar kurz und ihre Schnurrbärte lang trugen. Zu beiden Seiten standen die anderen Eliteeinheiten der Hochlandstämme, die die Burg erobert hatten. Hinter ihnen wartete der Rest der regulären Armee, die seit der Befreiung in Cenaria einmarschiert war.
Zu beiden Seiten der Burg erhob sich Nebel über dem Plith, glitt unter die rostigen Zähne des eisernen Fallgitters und ließ die Menge frieren. Die Graavar waren in fünfzehn Gruppen von jeweils dreizehn Männern aufgeteilt worden, und sie allein hatten weder Waffen noch Rüstung noch Roben. Sie standen in ihren Hosen da, die bleichen Gesichter starr, aber statt an dem kühlen Herbstmorgen zu zittern, schwitzten sie.
Es gab niemals Unruhe, wenn der Gottkönig seine Truppen begutachtete, aber heute schmerzte das Schweigen, obwohl Tausende gekommen waren, um zuzuschauen. Garoth hatte so viele Soldaten wie möglich versammelt und den cenarischen Dienstboten, den Adligen und den kleinen Leuten ebenfalls gestattet zuzusehen. Meister in ihren schwarz-roten Halbumhängen standen Schulter an Schulter mit in Roben gewandeten Vürdmeistern, Soldaten, Kleinbauern, Fassbindern, Adligen, Feldarbeitern, Mägden, Seeleuten und cenarischen Spionen.
Der Gottkönig trug einen weiten, weißen Umhang mit Hermelinbesatz, um seine breiten Schultern gewaltig wirken zu lassen. Darunter befand sich eine ärmellose, weiße Robe über weiten, weißen Hosen. All das Weiß ließ seine bleiche khalidorische Haut geisterhaft erscheinen und lenkte die Aufmerksamkeit auf die Vir, die auf seiner Haut spielten. Schwarze Ranken der Macht stiegen an die Oberfläche seiner Arme. Große Knoten hoben und senkten sich, Knoten, umrahmt von Dornen, die sich nicht nur hin und her bewegten, sondern auch in Wellen von oben und unten aufstiegen und sich aus seiner Haut drückten. Die Vir beschränkten sich nicht auf seine Arme. Sie erhoben sich, um sein Gesicht einzurahmen. Sie erhoben sich zu seinem kahlen Schädel und durchdrangen die Haut, sodass sie eine dornige, bebende, schwarze Krone bildeten. Blut rann an den Seiten seines Gesichts hinab.
Für viele Cenarier war es das erste Mal, dass sie den Gottkönig sahen. Ihre Münder standen vor Staunen weit offen. Sie schauderten, als sein Blick über sie hinwegglitt. Es war genauso, wie er es beabsichtigt hatte.
Schließlich wählte Garoth einen der Strohhalme von Neph Dada und brach ihn entzwei. Eine Hälfte warf er weg und griff dann nach zwölf unversehrten Halmen. »So soll Khali sprechen«, sagte er, seine Stimme kraftvoll vor Macht.
Er bedeutete den Graavar, auf das Podest zu steigen. Während der Befreiung hatten sie den Befehl gehabt, diesen Innenhof zu sichern, damit die cenarischen Edelleute nicht entkommen und später ermordet werden konnten. Stattdessen waren die Hochländer in die Flucht geschlagen worden, und Terah Graesin und ihre Edelleute waren geflohen. Dies war inakzeptabel, unerklärlich und untypisch für die grimmigen Graavar. Garoth verstand nicht, was Männer dazu brachte, an einem Tag zu kämpfen und am nächsten zu fliehen.
Was er jedoch verstand, war Scham. Während der vergangenen Woche hatten die Graavar Ställe ausgemistet, Nachttöpfe geleert und Böden geschrubbt. Es war ihnen nicht gestattet worden zu schlafen, stattdessen hatten sie die Nächte damit verbracht, die Rüstungen und Waffen Höhergestellter zu polieren. Heute würden sie ihre Schuld sühnen, und während des nächsten Jahres würden sie erpicht darauf sein, ihre Heldenhaftigkeit zu beweisen. Als er sich zusammen mit Neph der ersten Gruppe näherte, zog er die Vir aus seinen Händen zurück. Wenn die Männer ihre Strohhalme zogen, durften sie es nicht für das Wirken von Magie halten oder für das Wohlwollen des Gottkönigs, das den einen verschonte und den anderen verdammte. Stattdessen war es schlichtes Schicksal, die unausweichliche Konsequenz ihrer eigenen Feigheit.
Garoth hob die Hände, und alle Khalidori beteten einstimmig: »Khali vas, Khalivos ras en me, Khali mevirtu rapt, recu virtum defite.«
Während die Worte verklangen, trat der erste Soldat vor. Er war noch keine sechzehn und auf seiner Lippe nur der Hauch eines Schnurrbarts. Er schien am Rand eines Zusammenbruchs zu stehen, während sein Blick von dem eisigen Gesicht des Gottkönigs zu den Strohhalmen flackerte. Auf seiner nackten Brust leuchtete Schweiß im heller werdenden Licht des Morgens, und seine Muskeln zuckten. Er zog einen Strohhalm. Er war lang.
Die Hälfte der Anspannung wich aus seinem Körper, aber nur die Hälfte. Der junge Mann neben ihm, der ihm so ähnlich sah, dass es sich um seinen älteren Bruder handeln musste, befeuchtete sich die Lippen und griff nach einem Strohhalm. Er war kurz.
Die fast Übelkeit erregende Erleichterung des Rests der Gruppe war mit Händen greifbar, und die vielen tausend Zuschauer, die den kurzen Strohhalm unmöglich sehen konnten, wussten aufgrund dieser Reaktion, dass er gezogen worden war. Der Mann, der den kurzen Strohhalm in der Hand hielt, sah seinen kleinen Bruder an. Der jüngere Mann schaute ihm nicht ins Gesicht. Der Verurteilte richtete einen ungläubigen Blick auf den Gottkönig und reichte ihm den kurzen Strohhalm.
Garoth trat zurück. »Khali hat gesprochen«, erklärte er. Die Menge sog beinahe gleichzeitig die Luft ein, und er nickte der Gruppe zu.
Sie schlossen sich um den jungen Mann, jeder Einzelne von ihnen - selbst sein Bruder -, und begannen auf ihn einzuschlagen.
Es wäre schneller gegangen, hätte Garoth der Gruppe gestattet, Panzerhandschuhe zu tragen oder das stumpfe Ende von Speeren oder die Flachseite von Klingen zu benutzen, aber er hielt es für besser so. Wenn das Blut zu fließen begann und aus dem Fleisch spritzte, während auf den Verurteilten eingedroschen wurde, sollte es nicht von der Kleidung der übrigen Männer abgefangen werden. Sie sollten es auf der Haut spüren. Sie sollten die Wärme des Blutes dieses Jungen spüren, während er starb. Sie sollten den Preis für Feigheit erfahren. Khalidori flohen nicht.
Die Gruppe griff mit beträchtlichem Elan an. Der Kreis schloss sich, und Schreie wurden laut. Es hatte etwas Intimes, wie nacktes Fleisch auf nacktes Fleisch drosch. Der junge Mann verschwand, und alles, was noch zu sehen war, waren Ellbogen, die sich erhoben und mit jedem Hieb verschwanden, und Füße, die zu neuen Tritten zurückgezogen wurden. Und Augenblicke später Blut. Mit dem kurzen Strohhalm war der junge Mann zu ihrer Schwäche geworden. Es war Khalis Erlass. Er war nicht länger Bruder oder Freund, er war alles, was sie falsch gemacht hatten.
Binnen zwei Minuten war der junge Mann tot.
Die Gruppe formierte sich neu, blutbespritzt und schwer atmend vor Anstrengung und Erregung. Sie betrachteten den Leichnam zu ihren Füßen nicht. Garoth musterte sie der Reihe nach, schaute jedem Einzelnen von ihnen in die Augen und ließ seinen Blick auf dem Bruder verweilen. Dann trat er vor den Leichnam und streckte eine Hand aus. Die Vir lugten aus seinem Handgelenk hervor und dehnten sich aus, krallenartig und zerklüftet, und umfassten den Kopf des Leichnams. Dann zuckten die Krallen, und der Kopf knackte, ein Geräusch, das Dutzenden von Cenariern Brechreiz verursachte.
»Euer Opfer ist akzeptiert worden. Dadurch seid ihr gereinigt«, verkündete er und salutierte ihnen.
Sie erwiderten seinen Salut voller Stolz und nahmen ihre Plätze im hinteren Teil der Formation auf dem Innenhof ein, während der Leichnam weggeschleift wurde.
Er deutete auf die nächste Gruppe. Die nächsten vierzehn Wiederholungen würden nichts Neues bringen. Obwohl jede einzelne Gruppe noch immer voller Anspannung war - selbst diejenigen, die fertig waren, würden Freunde und Verwandte in anderen Gruppen verlieren -, erlosch Garoths Interesse. »Neph, erzählt mir, was Ihr über diesen Mann erfahren habt, diesen Nachtengel,der meinen Sohn getötet hat.«
Burg Cenaria gehörte nicht unbedingt zu den Orten, zu denen es Kylar besonders hinzog. Er war als Gerber getarnt, mit einem schmutzigen, wollenen Handwerkerkittel, die Hände und Arme bis zu den Ellbogen mit Farbe befleckt, und hatte sich mit einigen Tropfen des speziellen Parfüms benetzt, das Durzo Blint, sein toter Meister, entwickelt hatte. Er stank nur eine Spur weniger, als ein echter Gerber gestunken hätte. Durzo hatte stets Tarnungen als Gerber, Schweinebauer oder Bettler und dergleichen bevorzugt - Typen eben, die zu übersehen respektable Leute ihr Bestes gaben, weil sie nicht umhinkonnten, sie zu riechen. Das Parfüm wurde nur auf die äußeren Kleidungsstücke aufgetragen, die man, sollte es notwendig werden, abstreifen konnte. Ein Teil des Gestanks würde ihm trotzdem anhaften, aber jede Tarnung hatte ihre Nachteile. Die Kunst bestand darin, die Nachteile dem Auftrag anzupassen.
Die Ostbrücke oder, wie sie eigentlich hieß, Östliche Königsbrücke, war während des Kampfes um Burg Cenaria abgebrannt, und obwohl die Meister sie größtenteils wieder instand gesetzt hatten, war sie immer noch gesperrt. Daher musste Kylar vom Westufer des Flusses aus über die Westbrücke oder Westliche Königsbrücke gehen, um zu der auf einer Insel im Plith gelegenen Burg zu gelangen. Die khalidorischen Wachen würdigten ihn kaum eines Blickes, als er vorbeiging. Es schien, als sei die Aufmerksamkeit aller - selbst der Meister - auf ein Podest in der Mitte des Burghofs und auf eine Gruppe von Hochländern gerichtet, die barbrüstig in der Kälte standen. Kylar ignorierte die Gruppe auf dem Podest, während er nach möglichen Bedrohungen Ausschau hielt. Er war sich immer noch nicht sicher, ob Meister seine magische Begabung wahrnehmen konnten, obwohl er vermutete, dass sie es nicht konnten, solange er seine Magie nicht benutzte. Ihre Fähigkeiten schienen mehr als die der Magi an den Geruch gebunden zu sein - was der Hauptgrund dafür war, dass er als Gerber gekommen war. Wenn ein Meister ihm nahe kam, konnte Kylar nur hoffen, dass weltliche Gerüche die magischen überlagerten.
Vier Wachen standen an jeder Seite des Tores, sechs auf jedem Teilstück der diamantförmigen Burgmauer und vielleicht tausend in Formation auf dem Hof, zusätzlich zu den etwa zweihundert Graavar-Hochländern. In der mehrere tausend Menschen umfassenden Menge hatten in regelmäßigen Abständen fünfzig Meister Aufstellung genommen. In der Mitte des Ganzen befanden sich auf dem Podest eine Anzahl ceranischer Adliger, mehrere verstümmelte Leichen und Gottkönig Garoth Ursuul selbst, der mit einem Vürdmeister sprach. Es war lächerlich, aber selbst angesichts der Anzahl von Soldaten und Meistern hier war dies wahrscheinlich die beste Chance, die ein Blutjunge haben konnte, um den Mann zu töten.
Aber Kylar war nicht hier, um zu töten. Er war hier, um wegen des seltsamsten Auftrags, den er je angenommen hatte, einen Mann in Augenschein zu nehmen. Er suchte in der Menge nach dem Mann, von dem Jarl ihm erzählt hatte, und fand ihn sehr bald. Baron Kirof war ein Vasall der Gyres gewesen. Da sein Lord tot war und seine Ländereien nahe der Stadt lagen, war er einer der ersten cenarischen Edelleute gewesen, die das Knie vor Garoth Ursuul gebeugt hatten. Er war ein fetter Mann mit rotem Bart, den er im Stil der Khalidori aus dem Tiefland kantig geschnitten hatte, großer, gebogener Nase, schwachem Kinn und dicken, buschigen Augenbrauen.
Kylar ging näher heran. Baron Kirof schwitzte und wischte sich die Hände an seiner Robe ab, während er sich nervös mit den khalidorischen Edelleuten unterhielt, mit denen er zusammen dastand. Kylar schob sich gerade um einen hochgewachsenen, stinkenden Schmied herum, als der Mann ihm plötzlich einen Ellbogen in die Magengrube rammte.
Der Schlag trieb alle Luft aus Kylars Lunge, und noch während er sich vorbeugte, erschien in seiner Hand der Ka’kari und formte einen Dolch.
»Wenn du einen besseren Blick haben willst, komm gefälligst frühzeitig, wie wir anderen es getan haben«, sagte der Schmied. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schob seine Ärmel hoch, um gewaltige Muskeln zu zeigen.
Mit einiger Mühe zwang Kylar den Ka’kari zurück in seine Haut und entschuldigte sich mit niedergeschlagenen Augen. Der Schmied lachte höhnisch und wandte sich um, um weiter den Spaß zu beobachten.
Kylar begnügte sich mit dem, was er von seinem Platz aus sehen konnte. Baron Kirof. Der Gottkönig hatte etwa die Hälfte der Hochländereinheiten abgearbeitet, und Buchmacher der Sa’kagé nahmen bereits Wetten darauf an, welcher Mann aus jeder der noch verbliebenen dreizehnköpfigen Gruppen sterben würde. Die khalidorischen Soldaten bemerkten es. Kylar fragte sich, wie viele Cenarier wegen der Herzlosigkeit der Buchmacher sterben würden, wenn die khalidorischen Soldaten heute Nacht durch die Stadt streiften, in Trauer um ihre Toten und voller Zorn darüber, dass die Sa’kagé alles besudelten, was sie berührten.
Ich muss raus aus dieser verdammten Stadt.
Die nächste Gruppe musste bis zum zehnten Mann warten, ohne dass der kurze Strohhalm gezogen wurde. Es lohnte sich beinahe, dem Geschehen Beachtung zu schenken, da die sichtbare Verzweiflung der Männer wuchs, während jeder ihrer Nachbarn verschont blieb und ihre eigenen Chancen schlechter wurden. Der elfte Mann, um die vierzig und sehnig, zog den kurzen Strohhalm. Er kaute an den Enden seines Schnurrbarts, während er dem Gottkönig den Strohhalm zurückgab, zeigte ansonsten jedoch keine Regung.
Neph schaute zu Herzogin Jadwin und ihrem Gemahl hinüber, die auf dem Podest saßen. »Ich habe den Thronsaal untersucht, und ich bin auf etwas gestoßen, das mir noch nie zuvor untergekommen ist. Die ganze Burg riecht nach der Magie, die so viele unserer Meister getötet hat. Aber einige Stellen im Thronsaal … tun das einfach nicht. Es ist, als sei ein Feuer im Haus, aber wenn man einen bestimmten Raum betritt, riecht es dort nicht nach Rauch.«
Blutspritzer flogen jetzt durch die Luft, und Garoth war einigermaßen sicher, dass der Mann tot sein musste, aber die Gruppe schlug immer weiter und weiter und weiter zu.
»Das passt nicht zu dem, was wir über den silbernen Ka’kari wissen«, sagte Garoth.
»Nein, Euer Heiligkeit. Ich denke, es gibt einen siebten Ka’kari, einen geheimen Ka’kari. Ich denke, er kehrt Magie um, und ich denke, dass dieser Nachtengel ihn hat.«
Garoth dachte darüber nach, während die Ränge sich neu formierten und eine Leiche zwischen ihnen lag. Das Gesicht des Mannes war vollkommen zerstört. Es war eine beeindruckende Arbeit. Die Gruppe hatte sich entweder besonders ins Zeug gelegt, um ihre Hingabe zu beweisen, oder die Männer hatten den armen Bastard nicht gemocht. Garoth nickte erfreut. Er streckte die Virkrallen wieder aus und zerquetschte den Kopf des Toten. »Euer Opfer ist akzeptiert worden. Dadurch seid Ihr gereinigt.«
Zwei seiner Leibwachen schafften den Leichnam an den Rand des Podests. Die Leichen lagen dort in ihrem Blut aufgestapelt, sodass die Cenarier, wenn sie schon nicht das Sterben eines jeden einzelnen Mannes beobachten konnten, doch zumindest das Ergebnis der Bestrafung zu Gesicht bekamen.
Als die nächste Gruppe begann, fragte Garoth: »Ein Ka’kari, der siebenhundert Jahre lang versteckt war? Welche Meisterschaft verleiht er? Das Verborgensein? Was bedeutet das für mich?«
»Euer Heiligkeit, mit einem solchen Ka’kari könntet Ihr oder Euer Beauftragter ins Herz der Chantry spazieren und Euch jeden Schatz nehmen, den sie dort haben. Ungesehen. Es wäre möglich, dass Euer Beauftragter selbst Ezras Wald betreten und Artefakte für Euch holen könnte, die dort seit siebenhundert Jahren liegen. Dann gäbe es keinen Grund mehr für Armeen oder vorsichtiges Vorgehen. Auf einen Streich könntet Ihr ganz Midcyru an der Kehle packen.«
Mein Beauftragter. Zweifellos würde Neph sich mutig erbieten, die gefährliche Aufgabe selbst zu übernehmen. Trotzdem, der bloße Gedanke an einen solchen Ka’kari beschäftigte Garoth während des Sterbens eines weiteren Halbwüchsigen, zweier Männer im besten Alter und eines erfahrenen Veteranen, der einen der höchsten Verdienstorden trug, die der Gottkönig verlieh. Einzig dieser Mann hatte so etwas wie Verrat in den Augen.
»Geht der Sache nach«, sagte Garoth. Er fragte sich, ob Khali von diesem siebten Ka’kari wusste. Er fragte sich, ob Dorian davon wusste. Dorian, sein erster anerkannter Sohn, Dorian, der sein Erbe gewesen wäre, Dorian der Prophet, Dorian der Verräter. Dorian war hier gewesen, dessen war sich Garoth gewiss. Einzig Dorian konnte Curoch mitgebracht haben, Jorsin Alkestes’ mächtiges Schwert. Irgendein Magus war für einen einzigen Augenblick mit Curoch erschienen und hatte fünfzig Meister und drei Vürdmeister ausgelöscht, bevor er verschwunden war. Neph wartete offensichtlich darauf, dass Garoth ihn deswegen befragen würde, aber Garoth hatte die Suche nach Curoch aufgegeben. Dorian war kein Narr. Er hätte Curoch nicht hergebracht, wenn er gedacht hätte, dass er ihn vielleicht verlieren würde. Wie überlistete man einen Menschen, der in die Zukunft schauen konnte?
Der Gottkönig blinzelte, während er einen weiteren Kopf zerquetschte. Wann immer er das tat, bekam er Blut auf seine schneeweiße Kleidung. Es geschah mit Absicht - war aber dennoch ärgerlich, und es war nichts Würdevolles daran, wenn einem Blut in die Augen spritzte. »Euer Opfer ist akzeptiert worden«, erklärte er den Männern. »Dadurch seid Ihr gereinigt.« Er trat an den vorderen Rand des Podests, während die Gruppe ihren Platz hinten auf dem Paradefeld einnahm. Während der ganzen Angelegenheit hatte er sich nicht zu den Cenariern umgedreht, die hinter ihm auf dem Podest saßen. Jetzt tat er es.
Die Vir erwachten zum Leben, als er sich umwandte. Schwarze Ranken krochen sein Gesicht hinauf, glitten über seine Arme, durch seine Beine und kamen sogar aus seinen Pupillen heraus. Er ließ ihnen einen Augenblick Zeit, das Licht in sich aufzusaugen, sodass der Gottkönig ein unnatürlicher Flecken Dunkelheit im aufkommenden Morgenlicht zu sein schien. Dann machte er dem ein Ende. Er wollte, dass die Edelleute ihn sahen.
Da war nicht ein Auge, das nicht riesig gewesen wäre. Es waren nicht ausschließlich die Vir oder Garoths angeborene Würde, die sie sprachlos machten. Es waren die Leichen, die links und rechts von ihm und hinter ihm aufgestapelt waren wie Holzscheite und ihn umrahmten wie ein Gemälde. Es war die mit Blut und Hirnmasse bespritzte weiße Kleidung, die er trug. Er war ehrfurchtgebietend in seiner Macht und schrecklich in seiner Erhabenheit. Falls sie überlebte, würde er Herzogin Trudana Jadwin die Szene vielleicht malen lassen.
Der Gottkönig betrachtete die Edelleute, und die Edelleute auf dem Podest betrachteten den Gottkönig. Er fragte sich, ob einige von ihnen schon ihre eigene Zahl ermittelt hatten: dreizehn.
Er streckte seine Hand voller Strohhalme den Edelleuten entgegen. »Kommt«, forderte er sie auf. »Khali wird Euch reinigen.« Diesmal hatte er nicht die Absicht, vom Schicksal entscheiden zu lassen, wer sterben würde.
Kommandant Gher sah den Gottkönig an. »Euer Heiligkeit, da muss ein …« Er brach ab. Gottkönige machten keine Fehler. Alle Farbe wich aus Ghers Gesicht. Er zog einen langen Strohhalm. Es verstrichen einige Augenblicke, bevor ihm in den Sinn kam, dass er nicht allzu erleichtert wirken sollte.
Die meisten der Übrigen waren Edelleute von geringerem Stand - die Männer und Frauen, die dafür gesorgt hatten, dass die Regierung des verstorbenen Königs Aleine Gunder IX. funktioniert hatte. Es war so leicht gewesen, sie zu stürzen. Erpressung konnte so einfach sein. Aber es brachte Garoth nichts ein, diese Tagelöhner zu töten, selbst wenn sie ihn enttäuscht hatten.
Dies führte ihn zu einer schwitzenden Trudana Jadwin. Sie war die Zwölfte in der Reihe, und ihr Gemahl war der Letzte.
Garoth hielt inne. Er ließ die beiden einander ansehen. Sie wussten, allen Zuschauern war klar, dass einer von ihnen sterben würde, und es hing alles von dem Strohhalm ab, den Trudana zog. Der Herzog schluckte krampfhaft. Garoth sagte: »Von allen Edelleuten hier seid Ihr, Herzog Jadwin, derjenige, der nie in meinen Diensten stand. Also habt Ihr mich offenkundig nicht enttäuscht. Eure Gemahlin dagegen hat es getan.«
»Was?«, fragte der Herzog und sah Trudana an.
»Wusstet Ihr nicht, dass sie Euch mit dem Prinzen betrogen hat? Sie hat ihn auf meinen Befehl hin ermordet«, erklärte Garoth.
Es hatte etwas sehr Schönes, inmitten von etwas zu stehen, das eigentlich ein zutiefst privater Augenblick hätte sein sollen. Das vor Furcht bleiche Gesicht des Herzogs wurde grau. Er war offensichtlich noch weniger scharfsinnig gewesen als die meisten gehörnten Gatten. Garoth konnte sehen, wie die Erkenntnis den armen Mann ansprang. Jeder dumpfe Verdacht, den er jemals beiseitegewischt hatte, jede schlechte Ausrede, die er je gehört hatte, stürzten auf ihn ein.
Faszinierenderweise wirkte Trudana Jadwin erschüttert. Ihre Miene war nicht so selbstgerecht, wie Garoth erwartet hatte. Er hatte gedacht, dass sie den Finger ausstrecken und ihrem Gemahl sagen würde, warum dies sein Fehler gewesen war. Stattdessen sprachen ihre Augen von reiner Schuld. Garoth konnte nur vermuten, dass der Herzog ein anständiger Gemahl gewesen war, und sie es wusste. Sie hatte ihn betrogen, weil sie es hatte tun wollen, und jetzt stürzten zwei Jahrzehnte der Lügen in sich zusammen.
»Trudana«, sagte der Gottkönig, bevor einer der beiden etwas erwidern konnte, »Ihr habt mir gute Dienste geleistet, aber Ihr hättet mir noch bessere leisten können. Also ist hier Euer Lohn und Eure Strafe.« Er hielt ihr die Strohhalme hin. »Der kurze Strohhalm ist der linke.«
Sie blickte in Garoths von Vir verdunkelte Augen, dann auf die Strohhalme und schließlich in die Augen ihres Gemahls. Es war ein unsterblicher Moment. Garoth wusste, dass der klagende Ausdruck in den Augen des Herzogs Trudana verfolgen würde, solange sie lebte. Der Gottkönig hatte keinen Zweifel daran, wie sie sich entscheiden würde, aber offensichtlich hielt Trudana sich der Selbstaufopferung für fähig.
Sie wappnete sich, streckte die Hand nach dem kurzen Strohhalm aus und hielt dann inne. Sie sah ihren Mann an, sah weg und zog schließlich den langen Strohhalm für sich selbst.
Der Herzog heulte auf. Es war zauberhaft. Das Geräusch durchstach jedes cenarische Herz im Hof. Es schien genau die richtige Tonhöhe zu haben, um die Botschaft des Gottkönigs zu verbreiten: Dies könntest du sein.
Während die Edelleute, darunter auch Trudana, den Herzog mit Tod im Herzen umringten - jeder Einzelne von ihnen fühlte sich verdammt für seine Teilnahme, nahm jedoch dennoch teil -, wandte der Herzog sich an seine Gemahlin. »Ich liebe dich, Trudana«, sagte er. »Ich habe dich immer geliebt.« Dann zog er sich den Umhang übers Gesicht und verschwand im Hämmern von Fleisch auf Fleisch.
Der Gottkönig konnte nur lächeln.
Während Trudana mit ihrer Entscheidung zögerte, dachte Kylar, dass dies, hätte er Momma Ks Auftrag angenommen, der perfekte Augenblick gewesen wäre, um zuzuschlagen. Aller Augen ruhten auf dem Podest.
Kylar hatte sich Baron Kirof zugewandt und studierte, wie Schock und Entsetzen sich auf dessen Gesicht abzeichneten. Dann bemerkte er, dass nur noch fünf Wachen auf der Mauer hinter dem Baron standen. Er zählte schnell noch einmal durch: sechs, aber eine von ihnen hielt einen Bogen und eine Handvoll Pfeile in der Bogenhand.
Ein lautes Krachen erklang in der Mitte des Hofs, und Kylar konnte sehen, wie der hintere Teil des provisorischen Podests absplitterte und fiel. Etwas, das sprühende Farben aufblitzen ließ, flog in die Luft. Während alle anderen sich dem Geschehen zuwandten, wandte Kylar sich davon ab. Die Glitzerbombe explodierte mit einer kleinen Erschütterung und einem enormen, weißen Blitz. Während Hunderte von Zivilisten und Soldaten gleichermaßen geblendet aufschrien, sah Kylar den sechsten Soldaten auf der Mauer einen Pfeil anlegen. Es war Jonus Severing, ein Blutjunge, der sich fünfzig von ihm ausgeführter Morde rühmen konnte. Ein Pfeil mit goldener Spitze schoss auf den Gottkönig zu.
Der Gottkönig hatte sich die Hände auf die Augen gepresst, aber Schilde wie Blasen blühten bereits um ihn herum auf. Der Pfeil traf den äußersten Schild, blieb stecken und ging in Flammen auf, als der Schild zerplatzte. Ein weiterer Pfeil war bereits unterwegs, und er durchdrang den zersplitternden äußeren Schild und traf einen, der dem Gottkönig näher war. Der nächste Schild zersprang und der nächste, während Jonus Severing mit erstaunlicher Geschwindigkeit schoss. Er benutzte seine Magie, um seine Ersatzpfeile in der Luft zu halten, sodass der nächste Pfeil bereits in seine Fingerspitzen glitt, sobald er einen Schuss abgegeben hatte. Die Schilde brachen schneller, als der Gottkönig sie neu bilden konnte.
Die Menschen schrien blind durcheinander. Die fünfzig Meister auf dem Hof rissen Schilde um sich selbst hoch und stießen alle in ihrer Nähe von den Füßen.
Der Blutjunge, der sich unter dem Podest versteckt hatte, sprang auf der blinden Seite des Gottkönigs auf das Gerüst. Er zögerte, während einige Zoll von der Haut des Gottkönigs entfernt ein letzter, schwankender Schild erblühte, und Kylar sah, dass er überhaupt kein Blutjunge war. Es war ein Kind von vielleicht vierzehn Jahren, Jonus Severings Lehrling. Der Junge war so auf den Gottkönig konzentriert, dass er sich nicht geduckt hielt, nicht in Bewegung blieb. Kylar hörte das Sirren einer Bogensehne in der Nähe und sah den Jungen stürzen, noch während der letzte Schild des Gottkönigs zerplatzte.
Die Menschen stürmten auf die Tore zu und trampelten ihre Nachbarn nieder. Mehrere der Meister, noch immer blind und von Panik erfüllt, schleuderten wahllos grüne Wurfgeschosse in die Menge und auf die Soldaten um sie herum. Einer der Leibwächter des Gottkönigs versuchte, den Gottkönig niederzuwerfen, um ihn zu schützen. Benommen deutete der Gottkönig den Schritt des Mannes fehl, und eine Explosion von Vir schleuderte den riesigen Hochländer durch die Edelleute auf dem Podest.
Kylar drehte sich um, um festzustellen, wer den Lehrling des Blutjungen getötet hatte. Keine zehn Schritt entfernt stand Hu Gibbet, der Schlächter, der Logans gesamte Familie niedergemetzelt hatte, der beste Blutjunge in der Stadt, jetzt, da Durzo Blint tot war.
Jonus Severing floh bereits und erübrigte nicht einmal einen Moment des Schmerzes für seinen toten Lehrling. Hu ließ seinen zweiten Pfeil fliegen, und Kylar sah, wie er sich Jonus Severing in den Rücken bohrte. Der Blutjunge stürzte kopfüber von der Mauer und geriet außer Sicht, aber Kylar zweifelte nicht daran, dass er tot war.
Hu Gibbet hatte die Sa’kagé verraten, und jetzt hatte er den Gottkönig gerettet. Der Ka’kari war in Kylars Hand, bevor er sich dessen auch nur bewusst war. Was, ich wollte den Architekten von Cenarias Zerstörung nicht töten, aber jetzt werde ich einen Leibwächter töten?Natürlich, wenn man Hu Gibbet als Leibwächter bezeichnete, konnte man geradeso gut einen Bären als pelziges Tierchen bezeichnen, aber das Argument blieb stichhaltig. Kylar zog den Ka’kari zurück in seine Haut.
Dann duckte er sich, damit Hu sein Gesicht nicht sah, und schloss sich dem Strom panischer Cenarier an, der sich durch das Burgtor ergoss.
2
Das Anwesen der Familie Jadwin war nicht wie die meisten anderen Häuser der großen Familien von ihren Eigentümern in Brand gesetzt worden und hatte das große Feuer in der Stadt schadlos überstanden. Kylar erreichte das schwer bewachte vordere Tor, und die Wachen öffneten ihm wortlos. Er hatte nur innegehalten, um seine Gerbertarnung abzustreifen und sich mit Alkohol zu schrubben, um den Geruch loszuwerden, und war sich sicher, dass er vor der Herzogin eingetroffen war. Aber die Kunde vom Tod des Herzogs war ihm vorausgeeilt. Die Wachen hatten sich schwarze Stoffstreifen um die Arme gebunden. »Ist es wahr?«, fragte einer von ihnen.
Kylar nickte und ging zu der Hütte hinter dem Herrenhaus, wo die Cromwylls lebten. Elene war das letzte Waisenkind gewesen, das die Cromwylls aufgenommen hatten, und all ihre Geschwister hatten sich anderen Gewerben zugewandt oder taten Dienst in anderen Häusern. Einzig ihre Ziehmutter diente noch bei den Jadwins. Seit dem Staatsstreich lebten Kylar, Elene und Uly hier. Da Kylars sichere Häuser niedergebrannt oder unzugänglich waren, war das die einzige Möglichkeit. Kylar wurde für tot gehalten, daher wollte er in keinem der sicheren Häuser der Sa’kagé wohnen, wo man ihn möglicherweise erkannte. Außerdem platzte jedes sichere Haus aus allen Nähten. Wegen der umherstreifenden Banden von Khalidori fühlte sich auf den Straßen niemand mehr sicher.
Es war niemand in der Hütte, daher ging Kylar in die Küche des Herrenhauses. Die elfjährige Uly stand auf einem Hocker, beugte sich über einen Zuber mit Seifenwasser und schrubbte Töpfe. Kylar stürmte hinein, klemmte sie sich unter den Arm und wirbelte sie herum, bis sie juchzte, dann stellte er sie wieder auf den Hocker. Er warf ihr einen wilden Blick zu. »Du hast Elene vor Schwierigkeiten bewahrt, wie ich es dir aufgetragen habe?«, fragte er das kleine Mädchen.
Uly seufzte. »Ich habe es versucht, aber ich denke, sie ist ein hoffnungsloser Fall.«
Kylar lachte, und sie lachte ebenfalls. Uly war von Dienstboten auf Burg Cenaria großgezogen worden, und man hatte sie zu ihrem eigenen Schutz glauben lassen, sie sei eine Waise. In Wahrheit war sie die Tochter von Momma K und Durzo Blint. Durzo hatte erst in den letzten Tagen seines Lebens von ihr erfahren, und Kylar hatte ihm versprochen, sich um das Mädchen zu kümmern. Nach der anfänglichen Peinlichkeit, ihr erklären zu müssen, dass er nicht ihr Vater sei, hatten die Dinge sich besser entwickelt, als Kylar hatte erwarten können.
»Hoffnungslos? Ich werde dir hoffnungslos zeigen«, erklang eine Stimme. Elene trug einen riesigen Kessel, an dessen Seiten die Reste des gestrigen Eintopfs festgebacken waren, und stellte ihn neben Ulys Geschirrstapel.
Uly stöhnte, und Elene kicherte boshaft. Kylar staunte darüber, wie sehr sie sich in nur einer Woche verändert hatte. Oder vielleicht sah er sie auch lediglich auf andere Weise. Elene hatte noch immer die wulstigen Narben, die Ratte ihr als Kind zugefügt hatte: ein X über ihren vollen Lippen, ein weiteres auf ihrer Wange und eine Mondsichel, die sich von ihrer Augenbraue bis zum Mundwinkel erstreckte. Aber Kylar bemerkte sie kaum. Jetzt sah er strahlende Haut, Augen, in denen Intelligenz und Glück leuchteten, und ihr schiefes Grinsen, das nicht wegen einer Narbe schief war, sondern wegen irgendeines Unfugs, den sie plante. Und wie eine Frau in bescheidenen Wollgewändern und einer Dienstbotenschürze so gut aussehen konnte, war eins der größten Rätsel des Universum.
Elene nahm eine Schürze vom Haken und musterte Kylar mit einem räuberischen Glanz in den Augen. »Oh nein. Nicht ich«, sagte Kylar.
Sie streifte ihm die Schürze über den Kopf und zog ihn langsam und verführerisch an sich. Sie schaute auf seine Lippen, und er konnte nicht anders, er starrte ihre an, während sie sie mit der Zunge befeuchtete. »Ich denke«, erwiderte sie mit leiser Stimme, während sie die Hände über seine Hüften gleiten ließ, »das …«
Uly hüstelte laut, aber keiner der beiden nahm Notiz von ihr.
Elene zog ihn enger an sich, wobei sie ihm die Hände ins Kreuz legte und ihm den Mund entgegenreckte. Ihr süßer Duft drang an seine Nase. »… das ist viel besser.« Sie verknotete die Schürze hinter seinem Rücken, ließ ihn abrupt los und trat außer Reichweite. »Jetzt kannst du mir helfen. Willst du die Kartoffeln schneiden oder die Zwiebeln?« Sie und Uly lachten über die Entrüstung, die sich deutlich auf seinem Gesicht abzeichnete.
Kylar machte einen Satz nach vorn, und Elene versuchte, ihm auszuweichen, aber er benutzte seine Magie, um sie zu packen. Er hatte während der letzten Woche geübt, und obwohl er seine Reichweite nur um etwa einen Schritt ausdehnen konnte, war das diesmal genug. Er zog Elene an sich und küsste sie. Sie tat kaum so, als wehre sie sich, bevor sie seinen Kuss mit der gleichen Inbrunst erwiderte. Einen Moment lang zog sich die Welt auf die Weichheit von Elenes Lippen zusammen und auf das Gefühl ihres Körpers dicht an seinem.
Irgendwo begann Uly lautstark zu würgen. Kylar streckte die Hand aus und spritzte Spülwasser in Richtung der Quelle seines Ärgers. Das Würgen verwandelte sich abrupt in ein Aufheulen. Elene löste sich von ihm und hielt sich den Mund zu, um nicht zu lachen.
Kylar war es gelungen, Ulys Gesicht vollkommen zu durchnässen. Sie hob die Hand und spritzte ihrerseits Wasser in seine Richtung, und er ließ sich davon treffen. Er zerzauste ihr das nasse Haar auf eine Weise, von der er wusste, dass sie ihr nicht gefiel, und sagte: »Also schön, Knirps, das hatte ich verdient. Jetzt schließen wir Waffenstillstand. Wo sind diese Kartoffeln?«
Sie fügten sich nahtlos in die unbefangene Routine der Küchenarbeit. Elene fragte ihn, was er gesehen und erfahren habe, und obwohl er ständig auf der Hut vor Lauschern war, erzählte er ihr, dass er den Baron beobachtet und hilflos den Mordversuch mitverfolgt habe. Ein solcher Austausch war vielleicht das Langweiligste, was ein Paar tun konnte, aber Kylar war sein Leben lang der langweilige Luxus einer alltäglichen Liebe verwehrt gewesen. Kleine Dinge miteinander zu teilen, einfach einer Person, die Anteil nahm, die Wahrheit zu erzählen, war etwas unvorstellbar Kostbares. Ein Blutjunge, so hatte Durzo Kylar gelehrt, musste imstande sein, sich von einem Augenblick auf den anderen von allem zu lösen. Ein Blutjunge ist immer allein.
Also war dieser Moment, diese Gemeinschaft der Grund, warum Kylar mit dem Weg der Schatten fertig war. Er hatte mehr als die Hälfte seines Lebens darauf verwandt, unermüdlich zu trainieren, um der perfekte Mörder zu werden. Er wollte niemanden mehr ermorden.
»Sie brauchten einen dritten Mann für den Auftrag«, sagte Kylar. »Als Späher und Verstärkung. Wir hätten es schaffen können. Sie hatten den Zeitpunkt wirklich gut gewählt. Eine Sekunde mehr oder weniger, und sie hätten es mit nur zwei Personen geschafft. Wenn ich mitgemacht hätte, wären Hu Gibbet und der Gottkönig beide tot gewesen. Und wir besäßen jetzt fünfzigtausend Gunder.« Er verweilte bei einem schwarzen Gedanken. »›Gunder‹. Ich schätze, jetzt, da alle Gunders tot sind, werden sie sie nicht mehr so nennen.« Er seufzte.
»Du willst wissen, ob du das Richtige getan hast«, bemerkte Elene.
»Ja.«
»Kylar, es wird immer Menschen geben, die so schlecht sind, dass sie unserer Meinung nach den Tod verdient haben. In der Burg, als Roth dir wehtat, war ich so nahe daran, zu versuchen, ihn selbst zu töten. Wenn es nur ein Weilchen länger gedauert hätte … Ich weiß nicht. Eines jedoch weiß ich mit Bestimmtheit: was du mir darüber erzählt hast, was das Morden mit deiner Seele gemacht hat. Ganz gleich, wie gut es für die Welt zu sein scheint, dich zerstört es. Dabei kann ich nicht zusehen, Kylar. Ich werde nicht dabei zusehen. Dafür bedeutest du mir zu viel.«
Es war eine der Bedingungen gewesen, die Elene gestellt hatte, bevor sie mit Kylar die Stadt verlassen würde: dass er das Morden und die Gewalttätigkeit aufgab. Er war immer noch so verwirrt. Er wusste nicht, ob Elenes Weg der richtige war, aber er hatte genug gesehen, um zu wissen, dass Durzos und Momma Ks Weg es nicht war. »Glaubst du wirklich, dass Gewalt Gewalt erzeugt? Dass am Ende weniger unschuldige Menschen sterben werden, wenn ich das Morden aufgebe?«
»Ja, das glaube ich wirklich«, antwortete Elene.
»In Ordnung«, sagte Kylar. »Dann muss ich heute Nacht noch einen Auftrag erledigen. Wir sollten morgen früh aufbrechen können.«
3
»Das Arschloch der Hölle« war kein Ort für einen König. Passenderweise war das Loch das unterste Ende des Gefängnisses, das die Cenarier den Schlund nannten. Der Eingang zum Schlund war eine aus gezacktem, schwarzem Feuerglas gemeißelte Fratze. Gefangene wurden direkt in sein offenes Maul geführt, eine Rampe hinunter, die häufig glitschig war, weil die Unglücklichen in besinnungsloser Furcht die Kontrolle über ihre Blase verloren. Im Loch selbst hatte man auf die Kunst des Steinmetzes verzichten können; die Enge, die Dunkelheit, die Höhe und das unheimliche Heulen des aus den Tiefen emporsteigenden Windes reichten, um eine tief sitzende Angst hervorzurufen, und ein Übriges tat das Wissen, dass jeder Gefangene, der hier den Neuankömmling erwartete, eines sauberen Todes für unwürdig befunden worden war. Das Loch war gnadenlos heiß und stank nach Schwefel und menschlichem Dreck in seiner dreifachen Form: Scheiße, Tod und ungewaschenes Fleisch. Es gab nur eine einzige Fackel weit oben auf der anderen Seite des Gitters, das die menschlichen Tiere im »Arschloch« von den übrigen Gefangenen im Schlund trennte.
Elf Männer und eine Frau teilten das Loch mit Logan Gyre. Sie hassten ihn wegen seines Messers, seines kräftigen Körpers und seines kultivierten Akzents. Irgendwie war er selbst in dieser albtraumhaften Menagerie von Ungeheuern und Verrückten anders und isoliert.
Logan saß an die Wand gelehnt da. Es gab nur eine einzige Wand, weil das Loch rund war. In der Mitte befand sich ein fünf Schritt breites Loch, das in einen Schacht führte. Dessen absolut lotrechte Wand bestand aus absolut reinem Feuerglas. Wie tief der Schacht war, konnte man nicht erahnen. Wenn die Gefangenen ihre Exkremente in das Loch traten, verschwanden diese geräuschlos - kein Laut kündete von einer Landung irgendwo in der Tiefe. Das Einzige, was dem Loch entkam, waren der Gestank einer schwefligen Hölle und das unablässige Heulen des Windes, der Geister oder der gequälten Seelen der Toten, oder was immer es mochte, was dieses Geräusch verursachte, das einem den Verstand raubte.
Zuerst hatte Logan sich gefragt, warum seine Gefährten hier ihre Notdurft an der Wand verrichteten und die Fäkalien erst später - wenn überhaupt je - in das Loch hinuntertraten. Als er das erste Mal hatte hingehen müssen, hatte er es begriffen: Man musste wahnsinnig sein, um in der Nähe des Lochs in die Hocke zu gehen. Man konnte hier unten nichts tun, um sich noch verletzbarer zu machen. Wenn ein Insasse an einem anderen vorbeigehen musste, schlurfte er schnell und argwöhnisch vorüber, und er knurrte, zischte und fluchte in einer solchen Abfolge, dass die Worte ihre Bedeutung verloren. Einen anderen Insassen in das Loch zu stoßen, war die einfachste Art zu töten.
Schlimmer wurde das Ganze noch dadurch, dass der Felskragen, der um das Loch herumlief, nur drei Schritt breit war und zum Loch hin abfiel. Dieser Felskragen war für die Insassen des Lochs die ganze Welt. Er war die dünne, glitschige Schräge hinab in den Tod. Logan hatte in den sieben Tagen seit dem Überfall auf die Burg nicht geschlafen. Er blinzelte. Sieben Tage. Langsam wurde er schwach. Selbst Fin, der den größten Teil des letzten Fleisches bekommen hatte, hatte seit vier Tagen nichts mehr gegessen.
»Du bringst Pech, Dreizehn«, sagte Fin und funkelte ihn über den Abgrund hinweg an. »Seit du hergekommen bist, haben sie uns nichts mehr zu essen gegeben.« Fin war der Einzige, der ihn Dreizehn nannte. Die Übrigen hatten den Namen akzeptiert, den er sich selbst in einem Augenblick des Wahnsinns gegeben hatte: König.
»Du meinst, seit du den letzten Wachposten gegessen hast?«, fragte Logan. »Du denkst, das könnte etwas damit zu tun haben?«
Dies entlockte allen ein Kichern, nur nicht dem einfältigen Knirscher, der lediglich mit zu scharfen, spitzen, abgefeilten Zähnen ausdruckslos lächelte. Fin sagte nichts, sondern kaute nur weiter an dem Seil in seinen Händen. Der Mann trug eine ganze Spule Seil am Leib, die so dick war, dass sie seinen Körper, der beinahe so sehnig war wie die Seile selbst, fast völlig verdeckte. Fin war der gefürchtetste unter den Insassen. Logan wollte ihn nicht den Anführer nennen, weil das bedeutet hätte, dass es unter den Insassen eine gesellschaftliche Ordnung gab. Die Männer waren wie Tiere: zottig, ihre Haut so schmutzig, dass er nicht erraten konnte, welche Farbe sie vor ihrer Einkerkerung gehabt hatte, die Augen wild, die Ohren gespitzt, um noch das leiseste Geräusch aufzufangen. Alle hatten einen leichten Schlaf. Sie hatten seit dem Tag, an dem er hergekommen war, zwei Männer gegessen.
Hergekommen? Ich bin selbst hineingesprungen. Ich hätte einen schönen, sauberen Tod haben können. Jetzt sitze ich hier für immer fest oder zumindest bis zu dem Tag, an dem sie mich verspeisen. Götter, sie werden mich essen!
Eine Bewegung auf der anderen Seite des Lochs lenkte ihn von seinem wachsenden Entsetzen und seiner Verzweiflung ab. Es war Lilly. Sie allein klammerte sich nicht an die Wand. Sie hatte keine Angst vor dem Loch. Ein Mann streckte eine Hand aus und packte ihr Kleid. »Nicht jetzt, Jake«, sagte sie zu dem Einäugigen.
Jake hielt sie noch einen Moment länger fest, aber als sie eine Augenbraue hochzog, ließ er die Hand sinken und fluchte. Lilly setzte sich neben Logan. Sie war eine reizlose Frau von unbestimmbarem Alter. Sie hätte fünfzig sein können, aber Logan vermutete, dass sie den zwanzig näher war: Sie hatte noch immer die meisten ihrer Zähne.
Lange Zeit schwieg sie. Dann, als sich das Interesse an der Frage gelegt hatte, warum sie sich bewegt hatte, kratzte sie sich geistesabwesend im Schritt und fragte: »Was wirst du tun?« Ihre Stimme war jung.
»Ich werde von hier fortkommen, und ich werde mir mein Land zurückholen«, antwortete er.
»Du hältst wirklich an diesem Königsscheiß fest«, sagte sie. »Die anderen halten dich deshalb für verrückt. Ich sehe, dass du dich wie ein verlorener kleiner Junge umschaust. Du lebst mit Tieren. Wenn du am Leben bleiben willst, musst du ein Ungeheuer sein. Wenn du etwas festhalten willst, musst du es tief vergraben. Dann tu, was du tun musst.« Sie tätschelte sein Knie und ging zu Jake hinüber.
Sekunden später begann sich Jake über ihr mit heftigen Stößen zu bewegen. Die Tiere kümmerten sich nicht darum. Sie schauten nicht einmal zu.
Der Wahnsinn holte ihn ein. Einzig der Instinkt hielt Dorian im Sattel. Die äußere Welt wirkte fern, unwichtig, begraben unter Nebel, während die Visionen nahe waren, kraftvoll, lebendig. Das Spiel hatte begonnen, und die Steine bewegten sich, und Dorians Vision dehnte sich aus, wie sie es noch nie zuvor getan hatte. Der Nachtengel würde nach Caernarvon fliehen, und seine Kräfte wuchsen, aber er benutzte sie nicht.
Was tust du, Junge?Dorian hielt sich an diesem Leben fest und folgte ihm rückwärts. Er hatte einmal mit Kylar gesprochen und seinen Tod prophezeit. Jetzt wusste er, warum er nicht auch vorhergesehen hatte, dass dieser Nachtengel sterben und doch nicht sterben würde. Durzo hatte ihn verwirrt. Dorian hatte gesehen, wie Durzos Leben sich mit anderen Leben überkreuzte. Er hatte es gesehen, aber er hatte es nicht verstanden.
Er fühlte sich versucht, sich zu bemühen, Durzos Leben zurück zu seinem ersten Leben zu folgen, als Durzo den Ka’kari empfangen hatte, den jetzt Kylar trug. Er fühlte sich versucht festzustellen, ob er das Leben Ezras des Wahnsinnigen finden konnte - gewiss würde ein solches Leben so hell brennen, dass er es nicht verfehlen konnte. Vielleicht konnte er dort Ezra folgen, konnte erfahren, was Ezra wusste, erfahren, wie er es erfahren hatte. Ezra hatte den Ka’kari vor sieben Jahrhunderten geschaffen, und der Ka’kari hatte Kylar unsterblich gemacht. Es waren nur drei Schritte zu einem der angesehensten und meistgeschmähten Magi der Geschichte. Drei Schritte! Um jemand so Berühmten zu finden, der vor so langer Zeit gestorben war. Es war eine Versuchung, aber es würde Zeit kosten. Vielleicht Monate. Aber oh, die Dinge, die er lernen könnte!
Die Dinge, die ich über die Vergangenheit lernen könnte, während in der Gegenwart alles zerbricht. Konzentrier dich, Dorian. Konzentrier dich.
Dorian kehrte zu Kylars Leben zurück und folgte ihm Schritt für Schritt, von seiner Jugend im Labyrinth, seiner Freundschaft mit Elene und Jarl, Jarls Vergewaltigung, Elenes Verstümmelung, Kylars erstem Mord mit elf Jahren, der Lehrzeit bei Durzo, Momma Ks Unterweisung, Graf Drakes milderndem Einfluss, Kylars Freundschaft mit Logan, dem Wiedersehen mit Elene, dem Diebstahl des Ka’kari, den Kämpfen in der Burg, der Tötung seines Herrn … bis zum Auffinden von Roth Ursuul. Roth Ursuul, meinem kleinen Bruder, dachte Dorian, und ein ebensolches Ungeheuer, wie ich es einst war.
Konzentrier dich, Dorian.Er glaubte, etwas zu hören, einen Aufschrei, irgendeine Bewegung in der irdischen Welt, aber er wollte sich nicht davon ablenken lassen. Seine Vision wurde gerade interessant. Da! Er sah zu, wie Kylar der Gerechtigkeit halber Momma K vergiftete und ihr aus Barmherzigkeit das Gegenmittel verabreichte.
Er konnte erfahren, welche Entscheidung ein Mann traf, aber ohne dessen Beweggründe zu kennen, würde Dorian nicht erahnen können, welchen Weg Kylar in der Zukunft einschlagen würde. Kylar hatte bereits gezeigt, dass er auch weniger wahrscheinliche Wege beschritt, unmögliche Wege. Vor die Wahl gestellt, sich zwischen dem Leben seiner Geliebten und dem seines Mentors zu entscheiden, hatte er sich dafür entschieden, sein eigenes zu opfern. Der Bulle hatte ihm jedes seiner Hörner dargeboten, und Kylar hatte sich über den Kopf des Bullen geschwungen. Das war der Kylar, der zählte. In diesem Augenblick sah Dorian Kylars nackte Seele. Jetzt habe ich dich, Kylar. Jetzt kenne ich dich.
Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte Dorians Arm, aber jetzt, da er Kylar zu fassen bekommen hatte, würde er ihn nicht mehr loslassen. Kylar sehnte sich danach, die grausamen Realitäten der Straße mit den frommen Impulsen zu verschmelzen, mit denen Graf Drake ihn irgendwie vergiftet hatte. Vergiftet? Das Wort kam von Kylar. Also sah auch er wie Durzo Barmherzigkeit manchmal als Schwäche an.
Du wirst abscheulich schwierig sein, nicht wahr?Dorian lachte, während er beobachtete, wie Kylar sich mit Caernarvons unfähiger Sa’kagé herumschlug, wie Kylar Kräuter sammelte, wie er Steuern zahlte, wie er mit Elene streiten würde, wie er versuchte, ein normales menschliches Wesen zu sein. Aber er hält sich nicht gut, der Druck baut sich auf. Kylar holt die grauen Roben eines Blutjungen hervor, steigt auf die Dächer - komisch, er tut das ungeachtet der Entscheidungen, die er bis zu diesem Punkt trifft -, und dann klopft es eines Nachts an der Tür, und Jarl taucht auf, um Kylar zu einer weiteren Entscheidung zu zwingen, zwischen der Frau, die er liebt, und dem Leben, das er hasst, und dem Freund, den er liebt, und dem Leben, das er hassen sollte, und zwischen einer Pflicht und einer anderen, zwischen Ehre und Verrat. Kylar ist Schatten im Zwielicht, ein wachsender Koloss, der mit einem Fuß im Tag steht und mit dem anderen in der Nacht, aber ein Schatten ist ein vergängliches Tier, und Zwielicht muss entweder der Nacht entgegendämmern oder sich zum Tag hin erhellen. Kylar öffnet Jarl die Tür, die Zukunft verschiedener Personen bricht zusammen …
»Verdammt, Dorian!« Feir gab ihm eine Ohrfeige. Dorian wurde plötzlich bewusst, dass Feir dies bereits mehrere Male getan hatte, denn sein Kiefer pulsierte auf beiden Seiten. Außerdem musste irgendetwas mit seinem linken Arm nicht in Ordnung sein. Er schaute hin, verwirrt, und versuchte, sich dem Lauf der Zeit in der Gegenwart anzupassen.
Ein Pfeil ragte aus seinem Arm. Ein schwarz gebeizter khalidorischer Hochländerpfeil. Vergiftet.
Feir schlug ihn abermals.
»Hör auf! Hör auf!«, sagte Dorian und wedelte mit den Händen. Der Schmerz in seinem linken Arm blühte auf. Er stöhnte und presste die Augen fest zu. Aber er war wieder da. Geistig klar. »Was ist passiert?«, fragte er.
»Plünderer«, antwortete Feir.
»Ein Haufen Idioten hat versucht, etwas mit nach Hause zu nehmen, um prahlen zu können«, bemerkte Solon. Bei diesem Etwas hätte es sich natürlich um Solons, Feirs und Dorians Ohren gehandelt. Eine der vier Leichen trug bereits zwei Ohren an einer Halskette. Sie sahen frisch aus.
»Sie sind alle tot?«, fragte Dorian. Es wurde Zeit, etwas wegen dieses Pfeils zu unternehmen.
Solon nickte unglücklich, und Dorian las die Geschichte der kurzen Schlacht im Umkreis ihres Lagers. Der Angriff war erfolgt, während Feir und Solon das Lager errichtet hatten. Die Sonne stand tief in einer Bresche in den Faltierbergen, und der Plündertrupp war vom Berg gekommen, in der Annahme, dass die Sonne ihre Opfer blenden würde. Zwei Bogenschützen versuchten, ihren angreifenden Freunden Deckung zu geben, aber sie mussten steil bergab schießen, und ihre ersten Pfeile waren fehlgegangen.
Danach war der Ausgang beschlossene Sache gewesen. Solon verstand sich nicht schlecht auf den Umgang mit einem Schwert, und Feir - der massige, ungeheuer starke und schnelle Feir - war ein Schwertmeister Zweiten Grades. Solon hatte die Schwertkämpfer Feir überlassen und beide Bogenschützen mit Magie getötet. Aber da war Dorian bereits von einem Pfeil getroffen worden. Das Ganze hatte wahrscheinlich weniger als zwei Minuten gedauert.
»Der Jammer ist, dass sie dem Churaq-Clan angehören«, sagte Solon, während er einen der schwarz tätowierten jungen Männer mit dem Fuß anstieß. »Sie hätten mit Freuden die Bastarde vom Hraagl-Clan getötet, die den khalidorischen Gepäckzug bewachen, dem wir folgen.«
»Ich dachte, Schreiende Winde sei uneinnehmbar«, bemerkte Feir. »Wie sind die Plünderer auf diese Seite der Grenze gelangt?«
Solon schüttelte den Kopf. Dies lenkte Dorians Aufmerksamkeit auf das Haar seines Freundes, das pechschwarz war - außer an den Wurzeln. Da Solon mit Hilfe von Curoch fünfzig Meister getötet hatte - und durch die schiere Menge an Magie, die ihn durchströmt hatte, beinahe umgebracht worden wäre -, wuchs sein Haar weiß nach. Es war nicht graumeliert wie das Haar alter Männer, sondern von einem Schneeweiß, das einen scharfen Kontrast zu einem Gesicht bildete, das einen Mann in der Blüte seiner Jahre zeigte, gutaussehend, mit der olivfarbenen Haut eines Sethi und Gesichtszügen, in denen ein militärisches Leben seine Spuren hinterlassen hatte. Zuerst hatte Solon sich außerdem darüber beklagt, dass er alles entweder in wilden Farben oder in Schwarzweiß sah, nachdem er Curoch benutzt hatte, aber dies schien sich gelegt zu haben. »Uneinnehmbar, ja«, sagte Solon. »Unpassierbar für eine Armee, ja. Aber so spät im Sommer können diese jungen Männer die Berge besteigen. Viele von ihnen sterben beim Aufstieg, oder Stürme kommen aus dem Nichts und spülen sie vom Fels, aber wenn sie Glück haben und stark sind, kann nichts sie auf halten. Bist du schon so weit mit diesem Pfeil, Dorian?«
Obwohl alle drei Männer Magi waren, kam es nicht in Frage, dass sie ihm halfen, nicht dabei. Dorian war ein Hoth’salar, ein Bruder der Heilkunst; seine Hoffnung, seinen eigenen
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Night Angel Trilogy II. Shadow’s Edge« bei Orbit, Hachette Book Group USA, Inc., New York.
1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung August 2010 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe RandomHouse Gmbh, München.
Copyright © der Originalausgabe 2008 by Brent Weeks
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Kartenillustration: Jürgen Speh Redaktion: Alexander Groß Lektorat: Urban Hofstetter Herstellung: Sabine Müller
eISBN : 978-3-641-03833-5
www.blanvalet.de
Leseprobe

www.randomhouse.de