Sphären der Macht - Brent Weeks - E-Book

Sphären der Macht E-Book

Brent Weeks

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Beschreibung

Zum Schutz der Welt wahrt er ein düsteres Geheimnis

Als die Götter erwachen und die Satrapien zerfallen, bricht überall das Chaos aus. Die Chromeria versucht, den einzigen Mann aufzuspüren, der die Katastrophe noch aufhalten kann. Doch Gavin Guile hat seine Kräfte als Prisma verloren und kann keine Magie mehr wirken. Zwischen den Adelshäusern, religiösen Fraktionen, Rebellen und einem aufsteigenden Orden von Assassinen namens Das Gebrochene Auge tobt ein geheimer Krieg. Und Gavins Sohn Kip Guile muss sich ohne den Schutz seines Vaters allein auf die Schärfe seines Verstandes und seinen Einfallsreichtum verlassen, wenn er überleben will.

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Seitenzahl: 794

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Brent Weeks

Sphären der Macht

Roman

Deutsch von Michaela Link

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel»The Broken Eye (03 The Lightbringer) Part One«bei Orbit, Hachette Book Group USA, Inc., New York.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2015

bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Brent Weeks

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umschlaggestaltung: Isabelle Hirt, Inkcraft, unter Verwendung

einer Illustration von Larry Rostant

Kartenillustration: Chad Roberts Design

Redaktion: Alexander Groß

HK – Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-15961-0www.blanvalet.de

Für Kristi, die immer besser wird – und mich dazu bringt, es ihr gleichtun zu wollen. Und für meine Mom, die einem Siebenjährigen, der das Lesen hasste, eine lebenslängliche Liebe zu Büchern eingepflanzt hat.»Wer einer Gemeinschaft nicht bedarf, ist entweder ein Tier oder aber ein Gott.«Aristoteles

1

Die beiden Schwarzgardisten traten an die Tür der Weißen, und der jüngere der Gebrüder Gräuling klopfte an. Nachdem sie die üblichen fünf Sekunden abgewartet hatten, öffnete er die Tür, und die Brüder traten ein.

Die Weiße war nicht in ihrem Bett. Sie hatte sich ungeachtet ihres hohen Alters zusammen mit ihrer ebenfalls betagten Kammersklavin vor der offenen, nach Osten gehenden Balkontür der Länge nach zu Boden geworfen und betete zur aufgehenden Sonne hin. Kalter Wind umwehte die beiden alten Frauen.

»Hohe Herrin«, begann Gill. »Ich bitte um Verzeihung. Wir müssen Euch etwas zeigen.«

Sie blickte zu den beiden auf und erkannte sie sofort. Manche der Edelleute und der Luxlords nahmen die jüngsten der fertig ausgebildeten Schwarzgardisten nicht recht ernst. Ein Urteil, das traf, schon weil es zum Teil verdient war. Gavin wusste, dass er noch vor einem Jahr nicht schon mit siebzehn zu einem vollwertigen Schwarzgardisten befördert worden wäre. Aber die Weiße behandelte ihn niemals so, als stünde er unter den anderen. Er wäre mit Freuden für sie in den Tod gegangen, selbst wenn man ihm gesagt hätte, dass sie am nächsten Tag an Altersschwäche sterben würde.

Sie brach ihr Gebet ab, und die beiden jungen Männer halfen ihr in den Rollstuhl, aber als nun die alte Kammersklavin mit ihren Hüftproblemen durch den Raum watschelte, um die Balkontür zu schließen, wurde sie von Gill daran gehindert.

»Sie muss vom Balkon aus zusehen, Caleen«, sagte Gavin.

Gavin wickelte die Weiße sanft, aber geschickt in ihre Decken. Sie hatten gelernt, wie viel feinfühlige Rücksichtnahme ihr Stolz und wie viel Schmerz ihr Körper ertragen konnte. Gavin rollte sie auf den Balkon hinaus. Sie beschwerte sich nicht, dass sie das doch auch selbst hätte tun können. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie sich beschwert.

»In der Bucht«, sagte Gill.

Die Bucht von Kleinjasper lag in ihrer ganzen Pracht unter ihnen. Heute war das Fest von Licht und Dunkelheit, die Tagundnachtgleiche, und der Morgen schickte sich an, zu einem Herbsttag zu werden, wie man ihn sich besser nicht erhoffen konnte: die Luft frisch, aber der Himmel strahlend blau, das Wasser ruhig statt des üblichen Wellengangs. Die Bucht selbst war verdächtig leer. Die Flotte war immer noch auf See, um in Ru gegen den Farbprinzen zu kämpfen und seinen Vormarsch aufzuhalten. Mit Sicherheit hatte die Schlacht inzwischen bereits stattgefunden, und es blieb nur noch die Kunde abzuwarten, ob sie über ihren Sieg jubeln durften oder sich für einen Krieg rüsten mussten, der die Sieben Satrapien zerreißen würde. Daher die Gebete der Weißen, vermutete Gavin. Kann man für den Ausgang eines Ereignisses beten, nachdem es bereits stattgefunden hat? Können Gebete dann noch irgendetwas bewirken?

Bewirken sie überhaupt etwas?

Die Weiße wartete stumm, den Blick auf die Bucht gerichtet. Gavin fürchtete, dass sie ins Leere starrte. Hatten sie sie zu spät gestört? Aber die Weiße vertraute ihnen; sie stellte keine Fragen, sondern wartete einfach, während sich die Minuten in die Länge zogen.

Und dann bog schließlich eine schemenhafte Kontur um die Westseite von Großjasper. Zuerst war es kaum möglich, einen Eindruck von der Größe des Ungetüms zu gewinnen. Es tauchte in hundert Schritt Abstand vor den hohen Mauern auf, die ganz Großjasper umgaben und auf denen sich nun Menschen drängten und sich gegenseitig anrempelten, um etwas zu sehen. Vom Meeresdämon war zuerst nur die Bugwelle zu erkennen, die er links und rechts auf seinem Weg durch die See hinter sich herzog.

Der Meeresdämon beschleunigte sein Tempo. Sein kreuzförmiges, halb geöffnetes Maul sog die Fluten in den ringförmigen Schlund und stieß sie durch seine jetzt voll geöffneten Kiemen über die ganze Länge seines Körpers wieder aus, so dass etwa alle fünfzig Schritt große, fächerartige Wasserfontänen zu den Seiten und nach hinten spritzten. Dann zischte das Meer vor wirbelnder Luft und strudelndem Wasser.

Der Meeresdämon näherte sich der Mole, die die Westbucht schützte. Gerade fuhr eine Galeere in schneller Fahrt auf einen Durchlass in der Mole zu, um hinauszugelangen. Der Kapitän wusste nicht, was ihn erwartete.

»Der arme Idiot«, murmelte Gill.

»Kommt darauf an, ob das Auftauchen des Meeresdämons Zufall oder ein Angriff ist«, bemerkte die Weiße mit unheimlicher Ruhe. »Wenn der Meeresdämon diesseits der Mole erscheint, ist dieses Schiff vielleicht das Einzige, was entkommt.«

Die Galeerensklaven hoben ihre Ruder aus dem Wasser wie ein einziger Mann, im Bemühen, das Meer so wenig wie möglich aufzuwühlen. Meeresdämonen verteidigten verbissen ihr Revier, aber sie waren keine Räuber auf Beutejagd.

Der Meeresdämon schwamm unbeirrt an der Galeere vorbei. Gavin Gräuling stieß erleichtert den Atem aus und hörte die anderen ebenso ausatmen. Aber dann tauchte der Meeresdämon ab und verschwand in einer plötzlichen Nebelwolke.

Als er wieder erschien, war er in blinder Wut entbrannt. Das Wasser um ihn herum kochte. Er hielt aufs offene Meer hinaus.

Es gab nichts, was sie tun konnten. Der Meeresdämon legte eine gute Strecke zurück, bevor er kehrtmachte und beschleunigte. Er zielte direkt auf den Bug der Galeere, als wolle er den Kopf-an-Kopf-Zusammenstoß mit seinem Widersacher.

Irgendjemand fluchte leise.

Der Meeresdämon rammte die Galeere mit ungeheurer Wucht. Mehrere Seeleute flogen von Deck: einige ins Meer, einer durch die Luft, bis er gegen den knotigen, stacheligen Kopf des Dämons prallte.

Einen Moment lang sah es so aus, als würde das Schiff den Aufprall überstehen. Dann zerbarst der Bug. Holz und Splitter flogen nach allen Seiten. Die Masten brachen.

Die gesamte Galeere – das heißt, die übrig gebliebene Hälfte – wurde zurückgedrückt, zehn Schritt, zwanzig, dreißig, und gewaltige Gischtfontänen spritzten in die Luft. Das Vorwärtsdrängen des Meeresdämons wurde nur kurz gebremst. Dann erhob sich sein gewaltiger Hammerkopf noch höher aus dem Wasser und drückte immer weiter, so dass die Galeere in die Wellen hinabgepresst wurde. Plötzlich zersprang der aus feuergehärtetem Holz gefertigte Rumpf des Schiffes wie ein Tontopf, den man an eine Wand geschleudert hatte.

Der Meeresdämon tauchte ab, und das durch hundert Taue an seinen großen, stacheligen Kopf geheftete Wrack wurde mit ihm in die Tiefe gezogen.

Hundert Schritt weiter stieg eine riesige Luftblase an die Oberfläche, als unter Wasser die letzten Schiffsdecks zerbrachen. Aber das Schiff selbst kam nicht wieder nach oben. Von ihm blieb nur Treibgut, jedoch nicht annähernd so viel, wie eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Das Schiff war einfach fort. Vielleicht eine Handvoll Männer aus einer Besatzung von Hunderten ruderte in den Wellen wild mit den Armen. Die meisten von ihnen konnten nicht schwimmen. Gavin Gräuling hatte als Teil seiner Schwarzgardisten-Ausbildung schwimmen gelernt, und dass die meisten Seeleute es nicht konnten, war ihm schon immer völlig hirnrissig erschienen.

»Dort.« Gill deutete aufs Meer. »Man kann die Spur der Luftblasen sehen.«

Der Meeresdämon war nicht durch die Öffnung der Mole in die Bucht eingedrungen, Orholam sei Dank. Aber was er nun im Schilde zu führen schien, war schlimmer.

»Hohe Herrin«, meldete sich hinter ihnen unvermittelt eine Stimme zu Wort. Es war Luxlord Carver Schwarz, der Mann, der für all die profanen Details der Verwaltung der Chromeria verantwortlich war, welche nicht unter die Zuständigkeit der Weißen fielen. Er war ein hochgewachsener, langsam kahl werdender Mann mit olivfarbener Haut, der eine ilytanische Kniehose und ein Wams trug. Was von seinem langen dunklen Haar noch übrig war, war mit vielen weißen Strähnen durchzogen. Gavin hatte ihn nicht kommen hören. Er war Schwarzgardist und hatte sein Kommen nicht bemerkt. »Ich bitte um Entschuldigung, ich habe angeklopft, aber niemand hat reagiert. Das Ungeheuer hat die Jasperinseln jetzt fünfmal umkreist. Ich habe Befehl gegeben, dass die Geschütze auf der Kanoneninsel erst feuern sollen, falls der Meeresdämon angreift. Man will dort wissen, ob sie das eben Geschehene als Angriff einstufen sollen.« Die Verteidigung von Kleinjasper war eigentlich sein eigener Zuständigkeitsbereich, aber Luxlord Schwarz war vorsichtig in seinen Entscheidungen, und wo immer möglich vermied er es, Verantwortung zu übernehmen.

Was konnte eine Kanonenkugel gegen ein solches Ungeheuer schon ausrichten?

»Sagt ihnen, dass sie warten sollen«, antwortete die Weiße.

»Ihr habt gehört, was sie gesagt hat!«, brüllte der Schwarze und legte seine mit vielen Ringen geschmückte Hand an den Mund. Auf dem Dach, ein Stockwerk über dem Balkon der Weißen, befand sich einer seiner Sekretäre, der einen über einen halben Meter breiten, polierten Spiegel hielt und sich lauschend über die Dachkante beugte.

»Ja, Hoher Herr!« Der Mann beeilte sich, das Signal aufblitzen zu lassen, während eine jüngere Frau ihn an der Dachkante ersetzte und mitzuhören versuchte, ohne den Anschein zu erwecken, etwas erhaschen zu wollen, was sie nicht hören sollte.

Der Meeresdämon hielt sich jetzt dicht an der Küste und durchschwamm Wasser, das so seicht war, dass man seinen Rücken sehen konnte. Das Ungeheuer durchbrach den Pier des Hafenmeisters und schien es kaum zu bemerken. Dann erreichte es die Nordspitze von Großjasper.

»Verdammte Scheiße.« Alle hatten das Gleiche gedacht, aber laut ausgesprochen hatte es die Weiße. Die Weiße? Fluchte? Gavin Gräuling hätte gedacht, dass sie solche Schimpfwörter nicht einmal kannte.

Die Menschen auf dem Lilienstiel hatten das Ungetüm aus den Augen verloren, als es nahe an Großjasper herangekommen war, und der Meeresdämon raste nun auf diese Verbindungsbrücke zu, bevor dort irgendwer reagieren konnte.

Der Lilienstiel schwamm exakt auf der Höhe der Wellen. Ohne Stützpfeiler formte das gelbe und blaue Luxin ein Gitterwerk, das grün erschien. Die Brücke hatte über Hunderte von Jahren hinweg der anbrandenden See widerstanden, und die chromaturgischen Fertigkeiten, die zur Schöpfung eines solchen Kunstwerks vonnöten waren, überstiegen vielleicht selbst die Möglichkeiten eines Gavin Guile höchstpersönlich. Mehr als einmal hatte die Brücke als Wellenbrecher für Schiffe gedient, die während heftiger Stürme außerhalb der Molen gefangen gewesen waren, und sie hatte Hunderte von Leben gerettet. Der erste, zufällige Kontakt des Meeresdämons mit der Brücke brachte nun das ganze Gebilde ins Wanken und riss Hunderte Menschen von den Füßen.

Sein gewaltiger Körper glitt zehn, zwanzig Schritt das glatte Luxin entlang, dann verlangsamte er seine Geschwindigkeit, schien durch die Berührung verwirrt. Die Verwirrung währte jedoch nur einen Moment, und um das Ungeheuer herum stiegen neue Dampfschwaden auf. Der Kopf des Meeresdämons tauchte in die Wellen, und er raste aufs Meer hinaus; sein riesiger Schwanz peitschte das Wasser neben dem Lilienstiel, ließ über fast die ganze Länge der Brücke Sturzbäche regnen.

Dann, draußen auf See, machte er kehrt.

»Befehlt der Kanoneninsel zu feuern!«, rief die Weiße.

Die Kanoneninsel lag in der Bucht auf der gegenüberliegenden Seite des Lilienstiels. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kanoniere von dort aus trafen, war gering.

Aber eine winzige Chance auf Ablenkung war besser als gar keine.

Die erste Feldschlange feuerte sofort; die Männer mussten den Befehl schon erwartet haben. Der Schuss ging mindestens tausend Schritt weit und verfehlte sein Ziel um mindestens hundert. Die anderen fünf Kanonen der Insel, die in die richtige Richtung zeigten, erhoben nun der Reihe nach ihre Stimme, ein leuchtendes Aufblitzen, etwas später folgte das Geräusch ihres Feuers, und das Donnern erreichte die Menschen auf dem Turm ungefähr zur selben Zeit, als sie das Wasser aufspritzen sahen. Jeder Schuss verfehlte sein Ziel. Der am nächsten kommende Spritzer im Wasser war über fünfzig Schritt von dem Ungeheuer entfernt. Kein einziger vermochte den Meeresdämon abzulenken.

Die Männer begannen mit einer Geschwindigkeit und Effizienz nachzuladen, wie sie nur das Produkt unermüdlicher Übungen sein konnten. Dennoch würden sie es nicht schaffen, rechtzeitig eine weitere Salve abzufeuern. Der Meeresdämon war einfach zu schnell.

Auf dem Lilienstiel herrschte jetzt Chaos. Ein Pferdegespann war umgestürzt, die Pferde waren in Panik geraten und hatten ihren Wagen mitten auf der Brücke zur Seite gedreht und den Weg blockiert, so dass nur wenige Männer und Frauen von der Brücke herunter nach Großjasper gelangen konnten. Einige kletterten über und unter den um sich tretenden, beißenden Pferden hindurch.

In wilder Flucht stürmte alles auf der anderen Seite von der Brücke. Menschen stürzten, wurden niedergetrampelt. Einige wenige brachten sich noch rechtzeitig in Sicherheit.

»Carver«, sagte die Weiße. Ihre Stimme klang abgehackt. »Geht jetzt und sorgt dafür, dass man sich um die Toten und Verwundeten kümmert. Ihr seid schneller als ich, und ich muss sehen, wie die Sache endet.«

Luxlord Schwarz war zur Tür hinaus, bevor sie zu Ende gesprochen hatte.

Vierhundert Schritt weit draußen. Dreihundert.

Die Weiße streckte eine Hand aus, als könne sie den Meeresdämon allein mit ihrer Willenskraft abwehren. Halblaut flüsterte sie unaufhörlich drängende Gebete.

Zweihundert Schritt. Einhundert.

Eine zweite dunkle Form schoss plötzlich von der anderen Seite unter der Brücke hindurch, und der gewaltige Zusammenstoß mit dem Meeresdämon ließ das Wasser dreißig Meter in die Höhe schießen. Der Meeresdämon wurde in die Luft geschleudert, flog gekrümmt zur Seite. Eine schwarze Gestalt, selbst riesig, aber doch winzig im Vergleich zum Meeresdämon, hatte ihn von unten getroffen. Beide stürzten krachend zurück ins Wasser, keine zwanzig Schritt vom Lilienstiel entfernt.

Die gewaltigere Körpermasse des Meeresdämons trieb seinen Leib bis hin zur Brücke und ließ eine Wand aus Wasser an die Brückenröhre knallen und darüber hinwegfluten. Das gesamte Bauwerk wurde von der Wucht der Welle erschüttert – aber nicht zerschmettert.

Im Sprühnebel aus Wasser und Blas tauchten eine Schwanzflosse und ein schwarzer Hinterleib auf. Dieser krachte auf den Meeresdämon herab, und dann schoss der Wal aus der Bucht von Kleinjasper hinaus. Seewärts, weg von der Brücke.

»Ein Wal«, hauchte die Weiße. »War das …«

»Ein Pottwal, Hohe Herrin«, erklärte Gill. Er hatte die Geschichten über diese Raufbolde des Meeres stets geliebt. »Ein schwarzer Riese. Mindestens dreißig Schritt lang, mit einem Kopf wie ein Rammbock. Ich habe nie von einem so großen gehört.«

»Es gibt in der Azurblauen See keine Pottwale mehr. Schon seit …«

»Vierhundert Jahren. Seit die Ewigdunklen Pforten geschlossen wurden. Obwohl ein paar noch weitere hundert Jahre überlebt haben oder vielleicht auch … Bitte entschuldigt, dass ich Euch ins Wort gefallen bin«, sagte Gill.

Sie schenkte ihm keine Beachtung. Sie waren alle zu sehr auf das Geschehen konzentriert. Der Meeresdämon war offensichtlich benommen. Sein rot glühender Körper hatte sich blau verfärbt und war unter die Wasseroberfläche gesunken, aber schon während das Meer noch immer von den Erschütterungen des Zusammenstoßes aufgewühlt war, konnten sie das rote Leuchten von neuem aufglühen sehen. Das Wasser zischte.

Eine von dem großen Körper unter den Wellen ausgelöste Wasserbewegung schloss sich an, und das Ungetüm machte kehrt und nahm Fahrt auf – um dem Wal nachzujagen.

Die Weiße sagte: »Diese Walart ist angeblich ziemlich aggress…«

Vierhundert Schritt vom Ufer entfernt erfolgte eine weitere Wassereruption, als die beiden Riesen erneut zusammenstießen.

Pottwale waren in der Azurblauen See die einzigen natürlichen Feinde der Meeresdämonen gewesen. Aber die Meeresdämonen hatten sie vor langer Zeit restlos ausgerottet. Angeblich.

Sie sahen zu, wie die Giganten abermals aneinandergerieten, diesmal weiter draußen, weiter südlich. Schweigend beobachteten sie das Geschehen, während sich unter ihnen die Rettungskommandos daranmachten, den Lilienstiel zu räumen.

»Ich habe gedacht, diese Wale seien für gewöhnlich … blau?«, wollte die Weiße von Gill wissen, ohne sich vom Meer abzuwenden.

»Dunkelblau oder grau. Es werden noch weiße erwähnt, aber das ist möglicherweise ein Mythos.«

»Dieser schien schwarz, nicht wahr? Oder liegt es daran, dass meine Augen immer schlechter werden?«

Die Brüder sahen einander an.

»Schwarz«, sagte Gill.

»Definitiv schwarz«, beteuerte Gavin.

»Bilhah«, wandte sich die Weiße an ihre Kammersklavin. Es war, soweit sich Gavin erinnerte, das erste Mal, dass sie sie beim Namen nannte. »Welcher Tag ist heute?«

»Das Fest von Licht und Dunkelheit, Herrin. Der Tag, an dem Licht und Dunkel darüber streiten, wem der Himmel gehört.«

Die Weiße drehte sich immer noch nicht um. Leise sagte sie: »Und zur Tagundnachtgleiche, wenn wir wissen, dass das Licht sterben muss, wenn ein Sieg nicht möglich ist, werden wir gerettet – nicht von einem weißen Wal, sondern von einem schwarzen.«

Die anderen nickten weise, und Gavin hatte das Gefühl, gerade einen bedeutsamen Moment zu verpassen. Er ließ seinen Blick in die Runde schweifen. »Und?«, fragte er. »Was bedeutet das?«

Gill schlug ihm auf den Hinterkopf. »Nun ja, genau das ist die Frage, nicht?«

2

Aus Gavin Guiles Handflächen blutete es in einem warmen, dicken Grau auf den glitschigen Ruderschaft. Er hatte geglaubt, für einen Mann, der vorwiegend mit Worten arbeitete, recht ansehnliche Schwielen zu haben, aber nichts kann einen wirklich auf zehn Stunden pro Tag am Ruder vorbereiten.

»Riemen!«, wandte sich Nummer sieben mit erhobener Stimme an die Aufseherin. »Mehr Verbände für Seine Heiligkeit.«

Seine Worte ließen auf so manchem bleichen Gesicht ein Grinsen aufscheinen, doch verlangsamten die Galeerensklaven ihr Tempo nicht. Die großen Kalbsledertrommeln dröhnten im Takt wie der Pulsschlag eines Wals. Diese Geschwindigkeit hielten die geübten Männer den ganzen Tag über bei, wenn auch nur mit Mühe. Auf jeder Bank saßen drei Männer, und bei Bedarf konnten zwei von ihnen das Ruder lange genug allein bedienen, um ihren dritten Mann trinken, essen oder den Eimer benutzen zu lassen.

Die »Riemen« genannte Frau kam mit einer Leinenrolle. Sie bedeutete Gavin, die Hände auszustrecken. Riemen war die stämmigste Frau, der er je begegnet war, und er hatte seit zwanzig Jahren jede Schwarzgardistin kennengelernt. Er nahm seine blutigen Klauen von den Rudern. Er konnte die Finger weder öffnen noch schließen, und es war noch nicht einmal Mittag. Sie würden bis Einbruch der Dunkelheit rudern. Zu dieser Jahreszeit bedeutete das sechs weitere Stunden. Strap rollte das Leinentuch auseinander. Es schien verkrustet.

Gavin ging davon aus, dass es für ihn schlimmere Dinge zu befürchten gab als eine Infektion. Doch als sie nun seine Hände mit geschickten, wenn auch unsanften Bewegungen umwickelte, roch er etwas Kraftvolles, Harz, überlagert von etwas wie Gewürznelken, und er hörte das leise, bebende Splittern von zerbrechendem, ultraviolettem Luxin.

Für einen Moment war der alte Gavin zurück, und in Gedanken suchte er nach Möglichkeiten, wie er sich die Dummheit dieser Leute zunutze machen könnte. Es war schwierig, direkt von zerbrechendem Luxin zu wandeln, aber für Gavin Guile war nichts schwierig. Er war das Prisma; es gab nichts, was er nicht tun …

Es gab nichts, was er tun konnte. Nicht mehr. Er war farbenblind geworden. Er konnte überhaupt nichts mehr wandeln. Im schwachen Licht der langsam schwingenden Laternen verschwamm die Welt in Grauschattierungen.

Riemen zog den letzten Knoten auf seinem Handrücken zu und knurrte. Gavin verstand das als sein Signal und hob die erschöpften Arme zurück ans Ruder.

»V-v-verhindert Infektion«, sagte einer seiner Rudergefährten, Nummer acht, aber manche der Männer nannten ihn Fuckelot. Gavin hatte keine Ahnung, warum. Die Ruderer bildeten eine raue Gemeinschaft mit ihrem eigenen Jargon und ihren ganz eigenen Witzen, und er gehörte nicht dazu. »Hier unten im Schiffsbauch kann dich eine Infektionen so schnell töten wie ein Tritt.«

Ultraviolettes Luxin verhinderte Infektionen? Das lehrte die Chromeria nicht, aber deshalb musste es nicht falsch sein. Vielleicht war es auch einfach eine der Neuentdeckungen seit Kriegsbeginn, und niemand hatte ihm davon berichtet. Aber seine Gedanken wanderten stattdessen zu seinem Bruder, der sich in seiner Gefangenschaft die eigene Brust aufgeschlitzt hatte. Wie war es möglich, dass der Gefangene in der Hölle, die er selbst für ihn geschaffen hatte, keiner Infektion erlegen war?

War der Wahnsinn des Gefangenen, der Gavin zu dem Schluss geführt hatte, er müsse seinen Bruder töten, gar kein Wahnsinn gewesen, sondern nur Fieber?

Doch jetzt war es ohnehin zu spät. Er erinnerte sich wieder daran, wie seinem Bruder Blut und Hirnmasse aus dem Schädel gequollen waren und die Wand seiner Zelle rot gefärbt hatten.

Gavin legte seine verbundenen Hände wieder auf das stark abgenutzte Ruder, dessen Schaft mit dem Schweiß, dem Blut und dem Öl vieler Hände getränkt war.

»Rücken gerade, Sechs«, sagte Nummer acht. »Du kriegst einen Hexenschuss, der dich umbringt, wenn du alles mit dem Rücken machst.« So viele Wörter ohne einen Fluch, das grenzte an ein Wunder.

Acht hatte sich irgendwie Gavins angenommen. Gavin wusste, dass es nicht reine Wohltätigkeit war, die den drahtigen Angari veranlasste, ihm zu helfen. Gavin war der dritte Mann an ihrem Ruder. Je weniger Gavin schuftete, umso mehr mussten sich Sieben und Acht ins Zeug legen, um Schritt zu halten, und Kapitän Kanonier legte Wert auf Geschwindigkeit. Er war nicht scharf darauf, sich noch länger nahe am Ort des Falls von Ru aufzuhalten.

Noch eine Woche, dann würde die Chromeria Piratenjäger aussenden: Freibeuter, die per schriftlicher Verfügung ermächtigt waren, die Sklavenfänger zu jagen, die über die Wracks der Invasionsflotte hergefallen waren und Schiffbrüchige gerettet hatten, um sie zu versklaven. Meist versuchten die Sklavenfänger, für jene, die wohlhabende Verwandte hatten, ein Lösegeld zu erpressen, aber viele dieser Schiffe würden sicherlich direkt die großen Sklavenmärkte von Ilyta ansteuern, wo sie ihre menschliche Fracht straflos abladen konnten. Andere würden näher gelegene Sklavenmärkte anlaufen, wo Beamte ohne Skrupel für die entsprechenden gefälschten Dokumente sorgen würden, die bestätigten, dass diese Sklaven in fernen Häfen legal an Bord genommen worden waren. So mancher Sklave dürfte dabei seine Zunge verlieren, damit er seine Geschichte nicht weitererzählen konnte.

Dahin habe ich meine Leute geführt, Karris. In Sklaverei und Tod.

Gavin hatte einen Gott getötet und die Schlacht trotzdem verloren. Als der Gottesbann aus den Tiefen aufgestiegen war, hatte er die Flotte der Chromeria zerschmettert, ihre Hoffnungen zusammen mit all dem vielen Treibgut über Bord geworfen.

Wenn ich zum Promachos erklärt worden wäre, wäre es nicht passiert.

Die Wahrheit aber war, dass Gavin nicht nur seinen Bruder hätte töten sollen; er hätte auch seinen Vater töten sollen. Selbst wenn er noch ganz am Ende Kip geholfen hätte, Andross Guile zu erdolchen, statt die beiden trennen zu wollen, wäre Andross nun tot, und Gavin läge wohlbehalten in den Armen seiner Frau.

»Hast du je das Gefühl gehabt, dass du nicht hart genug durchgegriffen hast?«, wandte sich Gavin an Sieben.

Der Mann ruderte drei kräftige Züge, bevor er schließlich antwortete. »Weißt du, wie man mich hier nennt?«

»Ich glaube, jemand hat dich Orholam genannt, oder? Vielleicht weil du Sitz Nummer sieben hast?« So wie die Sechs die Zahl des Menschen war, so war die Sieben Orholams Zahl.

»Das ist nicht der Grund.«

Eigentlich ein freundlicher Typ. »Warum dann?«

»Du bekommst keine Antworten auf deine Fragen, weil du sie nicht abwartest«, entgegnete Orholam.

»Ich habe in meinem Leben wahrlich schon genug gewartet, alter Junge«, sagte Gavin.

Noch zwei weitere lange Ruderzüge, dann meinte Orholam: »Nein. In allen drei Punkten: nein. Ein dreimaliges Nein. Aller guten Dinge sind drei – manche Leute achten darauf.«

Ich nicht. Geh zum Teufel, Orholam. Und der, nach dem du benannt bist, gleich mit.

Mit schmerzverzogenem Gesicht stellte sich Gavin der vertrauten Qual des Ruderns und fügte sich wieder in das Rudertempo ein: ausholen und strecken, sich gegen die Fußbank stemmen und durchziehen. Auf dem Bitteren Kolben arbeiteten über hundertfünfzig Ruderer, achtzig Mann auf diesem Deck und siebzig auf dem Deck darüber. Öffnungen zwischen den Decks stellten sicher, dass Trommeltöne und Befehle oben wie unten gehört wurden.

Aber nicht nur Geräusche fanden ihren Weg zwischen dem oberen und dem unteren Deck. Gavin hatte gedacht, dass sein Geruchssinn nach einigen Tagen völlig abgestumpft war, aber es schien immer neue Düfte zu geben, die seine Nase attackierten. Die Angari sahen sich gern als ein sauberes Volk, und vielleicht waren sie das auch – Gavin hatte keinerlei Anzeichen von Ruhr oder Schweißfieber bei den Galeerensklaven entdeckt, und jeden Abend machten unter den Sklaven Eimer die Runde; der erste war voller Seifenwasser, mit dem sie sich benetzen konnten, und der zweite gefüllt mit sauberem Meerwasser zum Abspülen. Doch was verschüttet wurde und nach unten rann, tropfte natürlich auf die Sklaven im unteren Deck und sickerte, noch schmutziger geworden, hinab in die Bilge. Die Decks waren immer glitschig, der Schiffsraum heiß und feucht, jeder schwitzte beständig, die Belüftung durch die Luken war unzureichend, es sei denn, der Wind wehte stark, und von der Flüssigkeit, die vom Deck darüber auf Gavins Kopf und Rücken tropfte, ging ein verdächtiger Gestank aus.

Schritte trappelten die Stiegen herab, der leichte Tritt eines erfahrenen Seemanns. Finger schnippten an Gavins Ohr, aber er wandte nicht einmal den Kopf. Er war jetzt ein Sklave; er musste seine Rolle spielen, oder er würde für seine Unverschämtheit verprügelt werden.

Riemen nahm Gavins Hände vom Ruder, schloss die Ketten auf und pfiff Nummer zwei heran. Die Nummern eins und zwei standen an der Spitze der ständigen Veränderungen unterworfenen Sklavenhierarchie: Sie durften vorn sitzen und sich ausruhen sowie ohne Ketten Botengänge erledigen, und sie mussten meist nur rudern, wenn ein anderer Sklave krank oder vor Erschöpfung ohnmächtig wurde.

Nachdem Riemen ihm die Hände hinter dem Rücken gefesselt hatte, sah sich Gavin Kapitän Kanonier gegenüber, der am oberen Ende des Treppenaufgangs stand. Kanonier war Ilytaner, mit nachtschwarzem Haar und einem wilden, gelockten Bart. Über seinem nackten Oberkörper trug er ein offenes, kostbares Brokatwams und dazu eine weite Matrosenhose. Sein Auftreten hatte die einnehmende Intensität eines Wahnsinnigen oder Propheten. Er führte Selbstgespräche. Er redete mit dem Meer. Er glaubte, nicht seinesgleichen zu haben, weder auf Erden noch im Himmel – und was das Abfeuern von Waffen jeder Größe betraf, hatte er nicht ganz unrecht. Vor nicht allzu langer Zeit war Kanonier von einem Schiff gesprungen, das Gavin kurz zuvor in Brand gesteckt und mit Schüssen durchlöchert hatte. Gavin hatte Kanonier aus einer Laune heraus das Leben geschenkt.

Was du anderen an Gutem tust, bringt dich um.

»Komm nach oben, kleiner Guile«, sagte Kapitän Kanonier. »Mir gehen die Gründe aus, dich am Leben zu lassen.«

3

Aus Kips Handflächen blutete es in einem leuchtenden Rot auf das glitschige Ruder in seinen Fingern. Auf den Innenflächen hatten sich Blasen gebildet. Die Blasen hatten sich mit farbloser Flüssigkeit gefüllt, und die empfindliche Haut darunter war aufgerissen. Blut hatte sich wie rotes Luxin mit der Blasenflüssigkeit vermischt. Die unablässig am Ruder aufgescheuerten Blasen platzten und bluteten. Er verlagerte seinen Griff. Neue Blasen bildeten sich, farblos. Füllten sich mit Rot. Platzten.

Doch er sah die Farbe nicht. Konnte gar nichts sehen. Er konnte sich die Farben nur vorstellen, die auf ihn warteten, sobald er die Augenbinde loswurde, die Zymun ihm umgelegt hatte, um ihn am Wandeln zu hindern. Zymun, der Polychromat, der sich dem Farbprinzen angeschlossen hatte. Zymun, der in Rekton versucht hatte, Kip zu töten, und der in Garriston einen Mordanschlag auf Gavin verübt hatte. Zymun, der auch jetzt eine Pistole auf Kips Kopf gerichtet hielt. Zymun, sein Halbbruder.

Zymun, den er töten würde.

»Worüber lächelst du?«, fragte Zymun.

Das Ruderboot hüpfte und schlingerte auf den Wellen, wie schon während der beiden letzten Tage. Ohne die Hilfe seiner Augen konnte sich Kip nicht durch das Chaos der Wellen hindurchschlängeln, nicht im richtigen Moment rudern und dann pausieren, wenn es angebracht war. Von Zeit zu Zeit zog er an einem Ruder und spürte, wie es aus dem Wasser glitt. Er zögerte hilflos, bis Zymun eine Richtungsangabe blaffte. Zwei Tage ging das nun schon so. Zwei qualvolle Tage lang.

Am ersten Tag hatte es der Augenbinde eigentlich nicht bedurft: Kips Augen waren zugeschwollen gewesen. Während der Schlacht hatte er sich versehentlich selbst getroffen, und dann hatte ihm Zymun einen Hieb ins Gesicht versetzt. Er hatte ein Dutzend kleiner Schnittwunden auf der linken Seite seines Gesichts und an seinem linken Arm, die er sich zugezogen hatte, als eine Zinne des grünen Gottesbanns, von einer Kanonenkugel getroffen, zu Granatsplittern zerborsten war. Andross Guile hatte ihm einen Dolch in die Schulter gerammt und ihm eine Schnittwunde über den Rippen zugefügt.

Wäre da nicht seine Schwarzgardisten-Ausbildung während der letzten Monate gewesen sowie die Tatsache, dass eine Waffe auf seinen Kopf zielte, hätte sich Kip nicht einmal rühren können. Unter den gegebenen Umständen verwandelte die unvertraute Anstrengung seine Muskeln zu einer unbeholfenen, zittrigen Masse. Sein Rücken war die reine Qual. Seine Beine, die er ständig anspannen musste, während er versuchte, in dem hüpfenden Boot nicht das Gleichgewicht zu verlieren, waren die Hölle. Seine Arme und Schultern waren irgendwie sogar noch schlimmer dran. Und seine Hände erst! Gütiger Orholam, es war, als hätte er sie in pures Elend getaucht. Seine verbrannte linke Hand, deren Heilung zuvor allmählich eingesetzt hatte, war jetzt eine Klaue. Es tat weh, sie zu krümmen, es tat weh, sie zu lockern, es tat weh, gar nichts zu machen.

Kip war fett, verängstigt und völlig fertig.

»Mehr nach Backbord«, befahl Zymun gelangweilt. Er hielt nicht genug von Kip, um weiterzuverfolgen, warum er gelächelt hatte. Er war zu schlau, um sich Kip wegen jeder kleinen Provokation vorzunehmen, und der Wellengang war heute zu stark, als dass er das Risiko eingegangen wäre, um einer flüchtigen Freude willen das Gleichgewicht zu verlieren.

Kein einziges Mal hatte er angeboten, Kip an den Rudern abzulösen.

Nur die Angst hielt Kip aufrecht. Es war anstrengend, sich zwei Tage lang pausenlos zu fürchten, und allmählich begann es, Kip ein klein wenig zornig zu machen.

Aber was konnte er tun? Er war blind und so schwach, dass er nicht einmal einen Kampf gegen ein Kätzchen gewonnen hätte; seine Muskeln würden bestimmt bei jeder Bewegung verkrampfen oder ihren Dienst versagen. Zymun beherrschte das Spielfeld. Er hatte die Karten in der Hand: sechs Farben und eine Waffe.

Aber sobald Kip das Ganze so betrachtete, als sei es ein Neun-Könige-Spiel, schwand seine Panik dahin. Er stellte sich vor, das Spiel mit der Geduld eines Blauen zu analysieren. Konnte Zymun ein auch nur annähernd so furchteinflößender Gegner sein wie Andross Guile? Nein. Aber wenn man ein fürchterliches Blatt auf der Hand hatte, konnte man auch gegen einen schlechten Gegner verlieren.

Zymun konnte Kip jeden Augenblick töten. Mühelos und ohne Strafverfolgung oder sonstige Vergeltung fürchten zu müssen, denn niemand würde es je erfahren.

Also, so weit, so schlecht – aber was bedeutete das?

Kips bester Trumpf war Zymuns Faulheit. Zymun wusste, dass sie rudern mussten, ansonsten könnten sie Piraten in die Hände fallen und versklavt werden. Zymun wollte nicht selbst rudern, daher würde Kip nichts passieren, solange er Zymun nicht so sehr verärgerte, dass er seine Faulheit überwand, und nicht irgendeine Situation eintrat, in der Zymun ihn nicht mehr brauchte.

Zymun hatte hervorragende Karten, aber eine hervorragende Karte, die man nie spielt, ist eine wertlose Karte.

Zymun hatte eine lächerlich übersteigerte Meinung von sich selbst – er hatte bereits ausführlich über all die Dinge gesprochen, die er unternehmen würde, sobald er die Chromeria erreicht hatte. Kip kam in diesen Geschichten nicht vor, was Kip bereits alles sagte, was er über seine eigene Zukunft zu wissen brauchte. Aber Zymuns übersteigerte Selbsteinschätzung bedeutete auch, dass er andere in gleichem Maße unterschätzte. Kip tat so, als ob er sich geschlagen gebe, und Zymun ließ sich davon täuschen. Natürlich war er der Überlegene, so glaubte er. Und dass diese Tatsache Kip natürlich am Boden zerstört habe, dass er begriff, wie hilflos er war.

»Ich hatte wirklich erwartet, dass dich in Garriston die Haie erwischen würden«, sagte Kip und legte widerstrebende Bewunderung in seine Stimme.

Bei all seiner Arroganz war Zymun kein Idiot. Sobald die Sonne unterging, verlor er den Vorteil, den ihm das Luxin gab. Dann hatte er nur noch drei Trumpfkarten: die Pistole, Kips Verletzungen sowie die Tatsache, dass seine eigenen Muskeln nicht von einem Dutzend Stunden mörderischer Anstrengung ruiniert waren. Jedes Mal, wenn sich Kip in der vergangenen Nacht auf seinem Platz vorn unter der Bank in ihrem kleinen Boot im Schlaf umgedreht hatte, war Zymun sofort aufgewacht, die bereits gespannte Steinschlosspistole auf Kip gerichtet.

Die Wahrscheinlichkeit, versehentlich erschossen zu werden, wenn Zymun im Schlaf zusammenzuckte, war deprimierend hoch.

»War kein angenehmes Bad«, sagte Zymun. Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Ich hatte erwartet, dass der Wasserfall in Rekton dich erwischen würde.«

Verärgert hätte der schnippische Kip beinahe ihr nächstes Treffen zur Sprache gebracht – in dem Rebellenlager, als Zymun Kip nicht erkannt hatte. Aber es war nicht gerade ein Beweis von gesundem Menschenverstand, jemanden zu verhöhnen, der über eine Vielzahl sicherer Möglichkeiten verfügte, einen umzubringen.

»Da haben wir wohl noch etwas anderes gemeinsam«, erwiderte Kip. »Wir sind schwer zu töten.« Er hätte sich nicht die Mühe zu machen brauchen, irgendwelche illusorischen Bande zwischen ihnen herstellen zu wollen. Zymun war so gefühllos wie ein Reptil. Die meiste Zeit über musste der Kerl das bestimmt zu verbergen suchen, überlegte Kip. Ihm gegenüber tat er das nicht. Ein weiteres Indiz dafür, dass Kip nicht mehr viel Zeit blieb.

»Das Blut der Guiles fließt in unseren Adern«, sagte Zymun. »Aber du wirst auf ewig ein Bastard bleiben. Ich werde Großvater beweisen, wer ich bin, und zum Erben werden. Dem Erben.«

Kip ruderte. »Bist du dir sicher?«, fragte er. »Dass Karris deine Mutter ist? Ich habe niemals auch nur das leiseste Gerücht darüber gehört.« Er fand es unerträglich, eine Augenbinde zu tragen und genau auf den Klang von Zymuns Stimme hören zu müssen, statt nach den flüchtigen Zuckungen und Grimassen Ausschau zu halten, die vielleicht die Wahrheit verrieten.

»Sie war mit dem Prisma verlobt, als sie mich gezeugt haben. Das macht mich in den Augen der meisten Menschen zum legitimen Nachkommen. Als er ihr Verlöbnis aufgelöst hat, ist sie zu Verwandten gegangen.«

»Nach Tyrea?«, fragte Kip. Dort hatte er Zymun zum ersten Mal gesehen – als der sich den Anweisungen seines Meisters widersetzt und Feuerbälle auf Kip geschleudert hatte. So hatte er Kip dazu gezwungen, in den Wasserfall zu springen.

»In den Blutwald. Eine kleine Stadt namens Apfelhain. Ich bin erst später nach Tyrea gegangen. Es war der einzige Ort außerhalb der Chromeria, wo ich wandeln lernen konnte.«

»War das Großvaters Idee?«, hakte Kip nach. Es klang ganz nach Andross Guile. Verschaffe dem Jungen Erziehung und Ausbildung und halte ihn von der Bildfläche fern. Die ideale versteckte Karte. Während er so zur perfekten Waffe geschliffen wurde, war Zymun zugleich jede Möglichkeit genommen, in der Chromeria seinen eigenen Kreis von Verbündeten aufzubauen. Er wäre ideal, um ihn gegen Gavin oder das Spektrum einzusetzen, aber für Andross selbst würde er keine Gefahr darstellen. Der Junge begriff nicht einmal, wie zynisch sich Andross seiner bediente.

Vermutlich bin ich selbst ein wenig zynisch geworden, weil ich das alles so deutlich sehe. Oder vielleicht bin ich auch nur dort zynisch, wo Andross Guile mit im Spiel ist.

Wie auch immer – Zymun antwortete nicht. Vielleicht antwortete er auch mit einem Nicken.

Über zwei Tage hinweg hatte Zymun kein einziges Mal nach Karris gefragt. Er schien der Ansicht zu sein, dass ihre Stellung in der Schwarzen Garde sie zwar als Mutter akzeptabel machte, ihr selbst aber nicht genug Macht verlieh, um wirklich interessant zu sein. Er sparte sich seine Fragen auf, um sich für sein Treffen mit Andross Guile zu rüsten. Kip wünschte sich, dessen Zeuge sein zu können.

Als Kips Ruder das nächste Mal aus einer Welle glitt, hustete er heftig. Er schnaubte in seine Hand und schob die Augenbinde ein ganz klein wenig seine Nase empor. Husten, selbst ein nur vorgetäuschtes Husten, tat höllisch weh. Er hatte eine Menge Meerwasser geschluckt, als er in die Azurblaue See gesprungen war, um Gavin Guile zu retten.

Er hatte sich einst selbst als den Schildkrötenbären betrachtet, mit einer speziellen Begabung dafür, Betrafungen wegzustecken. Er musste sich wirklich mal eine andere spezielle Begabung zulegen. Die hier war fürchterlich.

Kip ruderte weiter. Zymun hatte ihn gezwungen, sein Hemd auszuziehen – damit er es sehen konnte, wenn Kip versuchte, Luxin zu horten, und um sich selbst damit zu wärmen. Die Wolkendecke und der Herbstwind sorgten am Morgen und abends für empfindliche Kühle. Durch sein Rudern und Schwitzen fiel Kip die mangelnde Wärme aber nicht sonderlich auf.

Am Ende jedes Ruderschlages, wenn er den Kopf ganz automatisch in den Nacken legte, wandelte Kip ein winziges bisschen Blau unter der Augenbinde. In dem schwachen, grauen, durch Wolken gefilterten Licht war die See eine Nebelsuppe, und seine Wimpern und die Augenbinde ließen kaum noch Farbe hindurchdringen, doch er brauchte nicht viel. Er konnte nicht viel auf einmal aufnehmen, sonst würde Zymun es womöglich bemerken. Da er jedes Mal nur ganz wenig nahm, war Kips Haut dunkel genug, um das Luxin zu tarnen, während es von seinen Augen über sein durch die Augenbinde verdecktes Gesicht den Rücken hinunterwanderte und, außer Sicht, unter der Haut seiner Beine und seines Hinterns verschwand. Zymun hatte einige Male seinen Schädel und die von der Augenbinde verdeckte Haut kontrolliert, daher konnte Kip gar nicht vorsichtig genug sein.

Jetzt, da er sich sicher war, dass Kip nicht wandeln konnte, ging Zymun davon aus, dass Kip bei Nacht angreifen würde, wenn Zymuns eigene Fähigkeiten am schwächsten waren. Aber als ein Vollspektrum-Polychromat wusste Kip, dass Schwäche keine Sache der Farben war. Wenn die Zeit nur knapp genug war, machte es keinen Unterschied, ob Zymun über ein Dutzend sichere Methoden verfügte, ihn zu töten, oder bloß über eine. Und wenn Zymun, eben weil er ein Dutzend Tötungsmöglichkeiten hatte, leichter zu überraschen war, als wenn er nur eine einzige hätte, dann machten ihn diese zusätzlichen Möglichkeiten letztendlich sogar schwächer.

Manche denken, dass man Neun Könige gegen den Menschen spielt, nicht gegen die Karten. Es klingt klug, ist aber selten wahr.

Am späten Nachmittag hatte Kip genug Luxin. Es kostete ihn seine ganze Konzentration, zu rudern und den Schmerz zu verdrängen und dabei langsam das Luxin seinen Rücken und seinen Nacken hinauf bis in seine Kopfhaut zu ziehen. Um Luxin zu wandeln, musste es sich mit Blut verbinden. Die meisten Wandler wählten die Methode, die Haut an ihren Handgelenken oder unter den Fingernägeln aufzureißen. Nach einer Weile bildete sich Narbengewebe, der Körper passte sich an. Aber man musste das Luxin nicht durch eine Stelle am Körper drücken, die man zuvor schon verwendet hatte, und Kip hatte das auch nicht vor. Mit jedem verschenkten Sekundenbruchteil wurde sein Tod wahrscheinlicher.

Das kleine bisschen Blau, das er in sich aufgesogen hatte, ließ alles so logisch erscheinen. Kips Sinne waren geschärft und filterten das Rauschen des Windes und seinen eigenen keuchenden Atem heraus. Er erahnte, dass Zymun ihm direkt gegenübersaß. Kip wusste, wo die Bank war, und an der Art, wie das Ruderboot gleichmäßig im Wasser lag, konnte er erkennen, dass Zymun in der Mitte der Bank saß. Kip konnte von Zeit zu Zeit hören, wie sich Zymun auf seinem Platz bewegte, wenn er hinter sie oder zum Ufer blickte.

Das Blau konnte Geräusche jedoch nicht dämpfen, sondern sie nur filtern. Der böige Wind machte einen großen Teil der Informationen, die Kip hätten hilfreich sein können, unbrauchbar. Noch konnte das Blau all die Qual seines Körpers betäuben. Kip hatte mit seinen schwindenden Kraftreserven so gut wie möglich gehaushaltet und sich eine Spur erschöpfter gestellt, als er tatsächlich war, so dass er sich nach jedem Ruderschlag einen Moment der Erholung gönnen konnte – so wog er Zymuns Faulheit gegen sein eigenes Überleben ab.

Es musste heute sein. Und es musste bald sein. Er hatte nicht mehr viel Kraft übrig.

Kip krümmte sich zusammen, ächzte vor Schmerz und ließ die Ruder los. Er täuschte einen Wadenkrampf vor. Die Bewegung war so schnell, dass sie ihm vermutlich beinahe eine Pistolenkugel zwischen die Augen eingetragen hätte. Mit beiden Händen massierte er sein Bein, schätzte ab, bewegte probeweise, streckte nicht nur die Beine, sondern auch die Hände und Arme.

Ein plötzliches Schnauben und ein kurzer Aufschrei wurden laut.

Er stemmte die Beine weiter auseinander als zuvor, wodurch sie weniger fürs Rudern tauglich, aber hoffentlich besser für einen plötzlichen Sprung in Stellung waren, lehnte sich wieder auf seinen Platz zurück und tastete blind nach den Rudern. Er tat so, als habe er nichts bemerkt, aber er war halb gestorben.

Zymun musste kurz eingenickt gewesen sein. Kip hatte seinen Feind geweckt. Wenn er mit seinen vom Blau geschärften Sinnen doch nur noch ein paar Sekunden gewartet hätte …

Hatte er aber nicht. Das half ihm jetzt nicht weiter. Und Hauptmann Eisenfaust hatte ihnen eingeschärft: Zurückblicken nutzt nichts. Grüble über deine Fehler nach, wenn du in Sicherheit bist. Aber bring dich zuerst in Sicherheit.

»Wenn du glaubst, ich würde dir helfen, bist du verrückt«, sagte Zymun.

Der Schmerz der Armbewegung ließ Kip aufstöhnen. Er wusste nicht, ob er noch die Kraft haben würde, um einen Satz durch das Boot zu machen. Er tastete blind um sich, verfehlte die Ruder, die er losgelassen hatte. Dann sagte er: »Je länger ich nach den Rudern suche, desto länger kann ich mich ausruhen.«

»Die rechte Hand. Nach oben und nach vorn. Noch ein Stück weiter hoch. Nimm die Kette, Dummkopf.«

Das in seiner Dolle befestigte Ruder hüpfte auf und ab und schwankte mit der Bewegung der Wellen hin und her. Es klatschte gegen Kips Fingernägel. Kip ächzte. Er krümmte das Handgelenk, um an seine Fessel zu kommen, und folgte der Kette zum Ruder. Er hatte die Kette nicht vergessen. Aber lieber dumm wirken.

Und besser nicht den Eindruck erwecken, als würde er die genaue Länge dieser Kette abschätzen. Kip schnappte sich das Ruder. Dann wiederholte er die Prozedur mit der linken Hand und begann erneut zu rudern.

»Mehr nach Backbord«, sagte Zymun gelangweilt. »Genau so, ja.«

Es gab nur eine Möglichkeit, die Sache erfolgreich durchzuziehen. Kip musste Zymun ins Wasser werfen, ohne selbst hineinzufallen. Sobald Zymun einmal im Wasser war, würde seine Pistole nutzlos sein. Er hätte nur Zeit zu einer einzigen Luxin-Attacke, welcher Art auch immer. Da alles Luxin Gewicht hatte, würde diese Aktion – völlig ungeachtet der Farbe des Luxins, das er nach Kip schleuderte – Zymun im Gegenzug tief unter Wasser drücken.

Wenn Zymun ihn mit diesem ersten Angriff verfehlte, hatte Kip eine Chance. Er würde rudern müssen wie ein Verrückter. Sobald er sehen konnte, wie weit sie vom Ufer weg waren, konnte er entscheiden, ob er das Risiko eingehen wollte, umzukehren und Zymun zu töten, oder ob er ihn besser einfach im Meer seinem Schicksal überließ. Nach Zymuns unmöglicher Flucht durch die von Haien wimmelnden Gewässer beim letzten Mal plante Kip, auf Nummer sicher zu gehen und ihn diesmal zu töten …

Doch wenn Kip zu langsam war, würde er getroffen werden. Ohne eine Vorstellung davon, in welche Richtung er rudern sollte – und das in seinem geschwächten Zustand –, würde er sterben. Auch wenn er sie beide ins Wasser stürzen ließ, würde er sterben. Selbst wenn Kip gesund wäre – Zymun war der bessere Schwimmer.

Er hatte nur eine winzige Chance. Kip war bereit, sie zu ergreifen. Seine Augen, unter der Binde vorm Licht geschützt, waren nun natürlich geweitet, die Pupillen vergrößert. Er versuchte sie bewusst schmal zu machen, ein Kniff, den jeder erfahrene Wandler von einem Moment auf den anderen einsetzen konnte. Wenn ihn das Licht blendete, würde er nicht treffen. Wenn …

Zymuns Gewicht verlagerte sich. »Orholam«, sagte er.

Der Moment war so plötzlich gekommen, dass Kip ihn beinahe verpasst hätte.

»Eine Galeere«, fügte Zymun hinzu. Das blaue Luxin, das Kip aufgenommen hatte, verriet ihm, dass Zymuns Stimme gedämpft war, weil er zur Seite schaute, zu der Galeere hinüber. »Ich glaube, es sind Piraten.«

Jetzt! Blaues Luxin schoss Kip durch die Haut an den Schläfen. Mit Fingern aus blauem Luxin zog er sich die Augenbinde vom Kopf – und sprang.

4

»Ich rieche jeden harzigen Furz, und ich streiche mein Deck ganz grob, kleiner Guile. Rot, grau und knochenweiß, verstehst du? Ich kenne luxinige Gerüche«, sagte Kanonier, als er Gavin auf das Deck des Bitteren Kolbens führte. »Oder, das trifft’s noch besser, ich streiche alles braun und matschig, klar? Klar?«

Gavin trat mit bleiernem Herzen ans Licht. »Klar«, antwortete er. Weil er statt Hirn Scheiße im Kopf hatte. Lustig, nicht?

»Luxinig? Luxisch? Luxizinisch?«, fragte Kanonier. Der Kerl liebte die Sprache, so wie ein Frauenprügler seine Frau liebt.

»Luxinisch, aber mir gefällt deine Version besser.«

»Pah.«

Es war kurz vor Mittag, und die kabbelige See warf die leichte Galeere stärker hin und her, als Gavin erwartet hätte. Diese angarischen Schiffe waren anders. Aber was zuvor das Wichtigste seines ganzen Lebens gewesen war – das Licht –, erschien ihm nun bedeutungslos. Es war ein trüber, wolkiger Tag, aber dennoch voller Licht – für ein Prisma. Doch dieses Licht küsste seine Haut wie eine Geliebte, die noch einen letzten Moment wartet, bevor sie geht. Wo ihm zuvor die funkelnden Farbspektren eine unvorstellbare Macht verliehen hatten, erfüllten ihn die Grau-, Weiß- und Schwarzschattierungen nun mit Verzweiflung. Er hatte geglaubt, sich an den Verlust seiner Farben gewöhnt zu haben, aber sich diesem Verlust in der Dunkelheit eines Gefängnisses zu stellen war das eine, doch etwas ganz anderes war es, sehen zu müssen, dass sein Gefängnis die ganze Welt war. Und Kanonier wusste es. Er hatte in der Nacht seiner Gefangennahme einen einzigen Blick in Gavins Augen geworfen und sofort Bescheid gewusst.

Warum also ist Kanonier jetzt paranoid?

Weil er Kanonier ist.

»Runter auf die Knorpel«, sagte Kanonier.

Gavin sank auf die Knie, die er breit auf dem Deck spreizte, so dass ihn das Rollen des Schiffes nicht umwarf. Er hätte nicht sagen können, ob das Dehnen der Beine ein angenehmer oder ein unangenehmer Schmerz war, aber solange ihm nicht der Kopf oder irgendeine andere wichtige Gliedmaße abgehackt wurde, war jede Pause vom Rudern eine gute Sache.

Kanonier sah ihn an. »Was ist aus dem Gavin Guile geworden, der über den Dreh- und Angelpunkt seiner Wünsche die ganze Welt aushebelte?«

Auf einer gewissen Ebene war es das Klarste, was Kanonier bisher zu ihm gesagt hatte, aber Gavin hatte Kanonier erzählt, dass er nicht Gavin sei. Es war wahrscheinlich eine der dümmsten Sachen, die er im letzten Jahr gemacht hatte, allerdings gab es auch eine Menge Mitbewerber um diese Auszeichnung. »Er ist gestorben.« Das sollte funktionieren, egal welchen Gavin Kanonier meinte.

»Tragisch. Wie?«

Die Kunst im Umgang mit einem Wahnsinnigen bestand darin, niemals Überraschung zu zeigen. Und sie auch nicht zu erwarten. Nun, auch Gavin konnte den Dolch der undurchsichtigen Worte schwingen. »Mir sind die Barmherzigkeiten ausgegangen, bis ich nur noch die Gnade der Musketenkugel übrig hatte. Klickediklack, klickediklack. Bumbum. Fleischsackbarmherzigkeit. Gelbe Zelle rot. Der Leber Tod.«

Kanonier verschränkte die Arme vor der Brust. Er sah Gavin an, als würde er kein bisschen schlau aus ihm. »Wirre Rede.«

»Ich strebe.«

»Böser Knabe.«

»Dein Sklave.«

»Den ich gerettet habe.«

»Vom Seemannsgrabe?«

»Und deine Gabe.«

Er deutete auf seine große weiße Muskete, die einige Schritt entfernt an einem Türrahmen lehnte.

Gavin verstummte, um Kanonier den Sieg zu lassen. Er hätte schon gern einen genaueren Blick auf dieses merkwürdige Ding geworfen, aber Kanonier schien zugleich damit angeben zu wollen und eine paranoide Angst zu haben, dass ihm jemand seinen Besitz stehlen könnte. Gavin durfte dem, was Kanonier kostbar war, nicht allzu viel Aufmerksamkeit schenken. Aber auch nicht zu wenig.

Kanonier lachte, besiegelte seinen Sieg und nahm Gavins Zögern als ein Eingeständnis der Niederlage. Sie hatten dieses Spiel schon früher gespielt. Das lag jetzt viele, viele Jahre zurück. Wenn er sich nicht völlig in der Macht dieses Mannes befände und Kanonier nicht vollkommen wahnsinnig wäre, so dachte Gavin, hätte er ihn vielleicht gemocht. Kanonier fuhr fort: »Ich nehme die Leute, die an Ceres’ Busen gewesen sind, nicht allzu ernst. Die wässrigen Küsse ihres Meeres machen die Menschen wahnsinnig, und die Guiles sind sowieso allesamt von Anfang an nicht sonderlich bei Sinnen gewesen. Erzähl geradeaus, ohne Umschweife, so wie eine Musketenkugel fliegt. Bist du Dazen Guile, von den Toten zurückgekehrt? Sag mir das jetzt und nicht nur die halbe Geschichte.«

Was nicht ganz das bedeutete, was es wörtlich bedeutete. Kanoniers Geduld war kürzer als seine Lunten. Also gab Gavin ihm die Kurzfassung: »Er ist nie gestorben. Ich habe meinen Bruder in der Schlacht von den Getrennten Felsen gefangen genommen. Seine Freunde und Freundinnen sahen besser aus als meine, daher habe ich die Kleider meines Bruders angezogen und seinen Platz eingenommen. Aber vor nicht einmal einem Monat habe ich beschlossen, dass mein eingekerkerter Bruder komplett wahnsinnig geworden war, und ich habe ihn getötet.«

Es war so einfach, die Worte auszusprechen. Gavin hatte geglaubt, dass es unmöglich sein würde, die Wahrheit zu sagen, die zu verbergen er sich so lange so viel Mühe gegeben hatte. Aber er fühlte nichts. Er sollte jetzt doch irgendetwas fühlen, oder?

»Die See, sie schickt mir Mysterien zur Erfrischung«, sagte Kanonier.

Gavin war sich diesmal sicher, dass Kanonier absichtlich das falsche Wort benutzt und eigentlich Erforschung gemeint hatte. »Du bist wirklich erfrischend und weckst neue Lebensgeister. Kein Wunder, dass du Ceres’ Liebling bist.«

Kanonier spuckte ins Wasser, aber Gavin konnte erkennen, dass er sich freute. »Du bist Dazen? Volltreffer? Direkt ins Schwarze?«

»Ich habe so lange blind ins Dunkle geschossen, dass ich mir jetzt nicht mehr sicher bin, wer oder was ich bin. Doch ich war Dazen. Ohne Umschweife, geradeaus geschossen.« Gavin wusste nicht recht, warum er das tat und bei Gesprächen die Sprechmuster der anderen aufnahm. Doch das hatte er schon immer getan, hatte Akzente und eigenartige Ausdrucksweisen nachgeahmt, wenn er zu lange Zeit am gleichen Ort verbracht hatte.

»Das sagst du nur, weil du weißt, dass Kanonier für Dazen gearbeitet hat«, erwiderte Kanonier. »Du lügst. Versuchst dir einen Vorteil zu verschaffen.«

»Na klar. Und bevor ich meinen Bruder getötet habe, hat er mir erzählt, dass dein Geburtsname Uluch Assan war. Du warst ihm so wichtig, dass das seine letzten Worte gewesen sind.«

Kanoniers Augen glitzerten gefährlich. »Nicht unmöglich für ein Prisma, einen alten Namen in Erfahrung zu bringen.«

»Bevor du eingewilligt hast, für mich zu arbeiten – für mich, Dazen –, vor all den Jahren, hast du mir Lügengeschichten darüber erzählt, wie du einen Meeresdämon getötet hast; damals, als wir in den Sklavenquartieren saßen und diesen abscheulichen Pfirsichlikör tranken. Und als du beteuert hast, dass es so etwas wie ultraviolettes Luxin unmöglich geben könne, da haben wir ein kleines Spiel mit einer Gänsefeder gespielt, um deine Zweifel zu ersticken.«

Ein beunruhigter Blick glitt über die Züge des Piratenkapitäns. »Kanonier hat drei Versuche gebraucht, um diese verdammte tanzende Feder zu treffen. Aber die Feder war von einem Adler, keiner Gans.«

Es hatte keinen Sinn, ihn zu korrigieren. Gavin fuhr fort: »Ich hatte befürchtet, dich so wütend gemacht zu haben, dass du nicht für mich arbeiten würdest. Also habe ich dich sie treffen lassen … beim sechsten Versuch, du verdammter Lügner.«

Kanonier erstarrte. Mist. Der Kerl erzählte so oft Lügen, um sich größer zu machen, als er war, dass er vielleicht seine Version für die Wahrheit hielt. Wohl nicht das richtige Schlachtfeld für dich, Gavin. Kanonier schritt plötzlich davon, in Richtung Mittschiff.

Gavin, auf seinen schmerzenden Knien, blieb, wo er war. Das Dehnen war jetzt unangenehm und tat ihm nicht gut, dessen war er gewiss. Die beiden Matrosen, die ihn begleitet hatten, wirkten verwirrt, schienen nicht zu wissen, was von ihnen erwartet wurde.

»Öffnet ihm die Festhalterchen!«, rief Kanonier. Er stöberte in einem Fass herum.

Die Seemänner schlossen Gavin die Ketten auf, hielten ihn aber weiter auf den Knien.

Kanonier schnappte sich etwas aus dem Fass und warf es in Richtung Gavin. Er versuchte vergebens, es mit seinen bandagierten, steifen Händen zu fangen, und es plumpste aufs Deck. Ein Seemann hob das Ding auf und gab es ihm zurück. Ein großer, runzliger Apfel.

»Bringt ihn aufs Vordeck«, befahl Kanonier. »Passt gut auf ihn auf, wie auf einen aborneanischen Silbergroschen. Ein in die Enge getriebener Guile ist wie ein Meeresdämon in eurem Badezuber.«

He, hätte nicht gedacht, dass du je badest. Doch Gavin sprach es nicht laut aus. Es gab wenig zu gewinnen, indem er den Mann verspottete, der ihn gefangen hatte, seinen Meister, und es gab vieles zu verlieren. Zähne zum Beispiel.

Die Matrosen stellten Gavin auf die Füße und zerrten ihn zum Bug. Sie drehten ihn um, zwangen ihn wieder auf die Knie. Kanonier war vierzig Schritt weit von ihm weg, am entferntesten Punkt achtern. Er hielt eine leuchtend weiße Muskete in der Hand. Oder ein Musketenschwert? Die Waffe hatte eine einzige Klinge, über die sich eine doppelte Linie von schwarzen Kringeln, die sich immer wieder kreuzten, bis an die Spitze hinaufzog und dabei eine Reihe von glänzenden Edelsteinen umrahmte. In den Schwertrücken war eine kleine Muskete eingelassen, von der letzten Handbreit abgesehen, die ausschließlich Klinge war.

Gavin hatte eine vage Erinnerung an das Ding, die ihm aber sogleich wieder entglitt. Sie hatte irgendetwas mit jener Nacht zu tun; es hatte einen Zusammenstoß mit seinem Vater gegeben, und Grinwoody und Kip waren auch irgendwie beteiligt gewesen. Er war schon zuvor schlimmer Gewalt ausgesetzt gewesen und hatte viele Stunden Zeit dadurch verloren, und natürlich hatte er im Krieg Menschen kennengelernt, die sich an ihre Verletzungen nicht mehr erinnern konnten. Aber da war auch irgendetwas mit Kanonier; wie er ihn aus den Wellen gefischt hatte. Hatte er ihn dann mit der flachen Seite der Klinge geschlagen? So musste es wohl gewesen sein. Gavins Prellungen waren noch immer nicht ganz abgeheilt, aber er hatte keine Stichwunden, sonst wäre er inzwischen wahrscheinlich tot.

Trotzdem, was für ein schrecklicher Einfall. Einen Musketenlauf so dick zu machen, dass er der Gewalt explodierenden Pulvers standhielt, bedeutete, eine Waffe zu schaffen, die viel zu klobig und zu schwer war, um als taugliches Schwert zu dienen. War das Ganze nur eine Art sonderbarer Scherz?

»Wenn du Dazen bist, wirst du dich an unsere kleine Vorführung erinnern«, rief Kanonier.

Das bezog sich nun natürlich auf jenes Ereignis im Zusammenhang von Dazens und Gavins Aufeinandertreffen, von dem Gavin Guile – der echte Gavin Guile – gehört haben musste. Eine »Erinnerung« an die Vorführung konnte nichts beweisen. Aber offenbar begriff Kanonier das nicht.

»Das Meer war an jenem Tag ruhig, und du warst nur zwanzig Schritt entfernt«, sagte Gavin.

An jenem Tag hatte sich Kanoniers Schiffsjunge in die Hose gemacht, als er in seiner zitternden ausgestreckten Hand einen Apfel über seinen Kopf hielt. Später hatte Gavin die Geschichte gehört, dass der Junge den Apfel auf dem Kopf gehabt habe. Niemand vermochte ihm zu erklären, wie wohl ein Junge auf einem schaukelnden Schiff einen Apfel auf dem Kopf hätte balancieren können. Aber es ergab zweifellos eine bessere Geschichte.

Zwanzig Schritt ergaben eine gute Geschichte. Vierzig waren Selbstmord. Kanonier mochte der beste Schütze der Welt sein. Es spielte keine Rolle. Selbst mit einer genau identischen Pulverladung und einem mit dem genau gleichen Druck gestopften Schusspflaster und einer makellos gerundeten Musketenkugel ohne Gussfehler, selbst ohne Wind und ohne schlingerndes Deck war eine Muskete aus vierzig Schritt Entfernung nur innerhalb einer Fläche treffgenau, die vielleicht so groß war wie Gavins Kopf. Auch wenn so mancher gerne etwas anderes glauben wollte – aus dieser Entfernung ein kleineres Ziel zu treffen war in Wahrheit reines Glück. Gavin wusste, was für ein guter Schütze Kanonier war. Er glaubte ihm nicht, dass er einen Meeresdämon getötet hatte, aber wenn irgendjemand auf der Welt so etwas allein durch Treffgenauigkeit bewerkstelligen könnte, dann Kanonier.

ENDE DER LESEPROBE