Am Wortgrund: Zur Poetik im Werk Göran Tunströms - Lukas Dettwiler - E-Book

Am Wortgrund: Zur Poetik im Werk Göran Tunströms E-Book

Lukas Dettwiler

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Beschreibung

Göran Tunström (1937-2000), der 1983 für seinen in viele Sprachen übersetzten Roman Juloratoriet (dt. Solveigs Vermächtnis) den Literaturpreis des Nordischen Rats erhielt, ist vor allem als begnadeter Erzähler und als ,fantastischer Realist' in die Literaturgeschichte Schwedens eingegangen. In den Feuilletons wurde er unter anderem "Garcia Márquez des Nordens" genannt. Die vorliegende Studie belegt, dass er nicht nur Geschichten entwirft, sondern dass er in all seinen Texten, ob in der Lyrik, Essayistik, Prosa oder Dramatik, vom Debut an Passagen der Sprachreflexion eingeflochten hat. Durch eine genaue Lektüre dieser Passagen versucht die Arbeit, die buchstäbliche Ästhetik des Worts im Gesamtwerk Tunströms zu rekonstruieren, die von einer Auseinandersetzung mit dem (göttlichen oder biblischen) Wort, über die Frage nach dessen Herkunft und (richtigem) Gebrauch, dem kindlichen Spracherwerb bis hin zum Nachweis bei literarischen Vorbildern reicht. Anhand dieser Rekonstruktion werden Autorgenese und Genealogie des Schreibens bei Tunström erfahrbar.

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[1]Am Wortgrund.Zur Poetik im Werk Göran Tunströms

[2]Beiträge zur Nordischen Philologie

Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien

Redaktion:Jürg Glauser (Basel/Zürich), Klaus Müller-Wille (Zürich), Anna Katharina Richter (Zürich), Lena Rohrbach (Basel/Zürich), Lukas Rösli (Berlin), Thomas Seiler (Bø)

Begutachtung:Die Bände der Reihe werden einem (Double blind-)Peer-Review-Verfahren unterzogen.

Ausführliche Angaben zu den Mitgliedern der Redaktion sowie zu deren Aufgaben und Funktionen und zur Manuskriptbegutachtung finden sich auf der Homepage der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien (http://www.sagw.ch/sgss).

Band 71 · 2022

Lukas Dettwiler

[3]Am Wortgrund. Zur Poetik im Werk Göran Tunströms

[4]Umschlag und alle Abbildungen: © Lena Cronqvist. Mit freundlicher Genehmigung von Linus Tunström, Stockholm.

Abdruck der Texte von Göran Tunström: Mit freundlicher Genehmigung von Albert Bonniers förlag und Eva Bonnier, Stockholm.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Lukas DettwilerUniversität ZürichDeutsches SeminarAbteilung für SkandinavistikSchönberggasse 98001 Zürich 0000-0001-8497-1899

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2018 auf Antrag der Promotionskommission (Prof. Dr. Klaus Müller-Wille, hauptverantwortliche Betreuungsperson) und Prof. Dr. Thomas Seiler (Koreferent) als Dissertation angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet.

DOI: https://www.doi.org/10.24053/9783772057700

© 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

Satz: typoscript GmbH, WalddorfhäslachCPI books GmbH, Leck

ISSN 166-2086ISBN 978-3-7720-8770-7 (Print)ISBN 978-3-7720-5770-0 (ePDF)ISBN 978-3-7720-0182-6 (ePub)

[5]

[7]Inhalt

1

Geleitwort

1.1

Vorbemerkung

1.2

Forschungslage

1.3

Methodenfrage und Fragestellung

1.4

Aufbau der Arbeit

1.5

Dank

2

PROLOG

2.1

Wörter bedeuten die Welt

2.1.1

Lógos – ein Schlüsselwort

2.1.2

Der Schatten sonnt sich – ein Dialog

2.1.3

(Vorläufiger) Epilog auf einen Prolog

2.2

Prästungen

(Der Sohn des Pfarrers; 1976)

2.2.1

Die

ord

/Wort-Stellen

2.2.2

Kommentierte Sequenzen der

ord

/Wort-Stellen

2.3

Schreibszenen und Schreib-Szenen in

Prästungen

2.3.1

Beispiele von Schreibszenen

2.3.2

Leseszenen in

Prästungen

2.3.3

Beispiele von Leseszenen

2.3.4

Bücherszenen in

Prästungen

2.3.5

Beispiele von Bücherszenen

2.3.6

Stoffe – Das Zusammenspiel aller Szenen

3

POETALOG

3.1

Krönikor

(Kolumnen; 2003)

3.2

En prosaist i New York

(Ein Prosaist in New York; 1996)

3.2.1

Schematische Gliederung von

En prosaist i New York

3.2.2

Zugang 1: Das satirische Drama

3.2.3

Zugang 2: Der Tanz mit einem Satz

3.2.4

Zugang 3: Vor-bilder?

3.2.5

Zugang 4: Wortkunst und Bildkunst

3.2.6

Zugang 5:

Vita ark

. Ein Doppelporträt

3.3

Försök med ett århundrade

(Versuch mit einem Jahrhundert; 2003)

3.3.1

Försök med ett århundrade

– Versuch eines Überblicks

3.3.2

(1) Ein Ich – viele Ichs

3.3.3

(2) Der Leser – Die Bücher

3.3.4

(3) Abgesang auf lineares Erzählen

4

EPILOG

4.1

De heliga geograferna

(Die heiligen Geografen; 1973)

4.1.1

ord

/Wort-Stellen in

De heliga geograferna

4.1.2

Intertextuelle Relation

4.1.3

Sprachphilosophische Dimension

4.1.4

Theologisch-religiös-mystische Allusion

4.2

Guddöttrarna

(Die Patentöchter; 1975)

4.2.1

ord

/Wort-Stellen in

Guddöttrarna

4.2.2

Wort gegen WORT

4.2.2.1

Die Bibliothek „Alexandria“

4.2.2.2

Jacob und die weißen Räume – ein Schlussbild

5

Abstract & Keywords

6

KATALOG

6.1

Abbildungsverzeichnis

6.2

Mottoverzeichnis

6.3

Primärtexte / Publikationen von Göran Tunström

6.3.1

Werke Göran Tunströms in schwedischer Sprache

6.3.2

Werke Göran Tunströms in deutscher Sprache

6.3.3

Hörspiele, dramatische Texte von Göran Tunström

6.3.4

Übrige und unpublizierte Texte von Göran Tunström

6.4

Literaturverzeichnis

6.4.1

Sekundärliteratur zu Göran Tunström

6.4.2

Sekundärliteratur allgemein

6.4.3

Werkausgaben, Wörterbücher, Nachschlagewerke etc. (mit Siglen)

Anhang.

Ein Prosaist in New York

. Übersetzung

Personenregister

[23]Leben – das sind Geschichten!

Dazu wirst du

geboren zum Dichter!

Habe gegeben.

Habe genommen.

(Der Stift fliegt für die Nachkommen!)

Marina Zwetajewa

[M]inne är ju att återuppfinna sig själv i en gången värld, på en gången världs scen. Att minnas är att föreställa sig.1

Göran Tunström

2PROLOG

2.1Wörter bedeuten die Welt

Die Thematisierung oder spezifische Insistenz des Wortes ‚Wort‘2 ist ein durchgehendes Merkmal in Tunströms gesamten Œuvre. ‚Wort‘ als Medium, Zeichen und Ausdruck ist der Reflexionshorizont im Werk Göran Tunströms. Woher dieses Lebens- und Schreibthema rührt, wie es sich in der sprachlichen Gestaltung seiner Texte und literarischen Stoffe auswirkt, wie es sich verbalisiert, wohin es tendenziell führt, lässt sich als Exposition in die Thematik anhand des autofiktionalen Textes von Prästungen wortwörtlich ausmachen. Am Beispiel von Prästungen soll deshalb zunächst anhand konkreter ord/Wort-Stellen in die Poetologie des Autors eingeführt werden, mit besonderem Augenmerk darauf, wie der Text-Baustein ‚Wort‘ eingesetzt und reflektiert wird oder Anstoss zu weiteren Reflexionen über das Schreiben und Lesen gibt.

Um diese Entwicklung sichtbar zu machen, werden nachstehend alle ord/Wort-Stellen von Prästungen angeführt und einzeln besprochen. Desgleichen werden die Schreibszenen, die Bücherszenen und Leseszenen miteinbezogen. Mit Hilfe dieser Vorgehensweise soll das (poetologische) Fundament im Werden im Wort des Autors, wie es in Prästungen enthalten ist, freigelegt werden.

Tunströms Wahrnehmung und literarische Behandlung des Wortes hat, wie noch zu zeigen sein wird, dessen Problematisierung zur Voraussetzung – und damit das Problem der Sprache selbst.

[24]Die „autobiografische“3 Erzählung Prästungen beginnt nach dem Eröffnungsmotto – einem Strindberg-Zitat, dessen intertextuelle Referenz nachträglich noch der Erörterung bedarf – mit der Einleitung „Skuggan solar sig“ [Der Schatten sonnt sich]. Diese, dem Werden im Wort4 sich widmende, der Erzählung5 vorangestellte Momentaufnahme eines Kindes am Übergang von der wortlosen zur worthaften Welt, grundiert die in drei Lebens-Abschnitte6 gegliederte Erzählung. „Der Schatten sonnt sich“ fungiert dabei als ihr Prolog7 in mindestens dreifacher Weise: 1. in formaler, 2. in inhaltlicher und 3. in poetologischer Hinsicht.

1.) Formal gesehen ist sie die Vorrede zum Haupttext von Prästungen und bildet so dessen paratextuelle Eröffnung.8 Mit der Polysemantik von ‚pro-logos‘ kann diese als Schrift vor der Hauptschrift gelesen werden sowie als dezente Vorschrift zur darauffolgenden, in drei Teile gegliederte Erzählung Prästungen und ebnet so den Weg der Lektüre.

[25]2.) Inhaltlich bietet sich eine Lesart der semantischen Prä- oder Proto-Logik9 an. Unter der paradox lautenden Überschrift „Der Schatten sonnt sich“10 präsentiert sich ein vierjähriges Kind vor und auf der Schwelle zum lógos in der Bedeutung von Denk- und Sprachvermögen.11 Das „tausendfünfhundert Tage“ alte Kind ist dabei, sich dieses Vermögen anzueignen, erste Schritte im (richtigen) Gebrauch der Wörter zu machen, indem es sich auf Sprach-Handlungen und in Sprechakte mit seinen Eltern einlässt, mit Fragen an sie und an ‚die Welt‘. Lernsituationen wie diese bilden die Bausteine im Heranbilden von Sprachkompetenz. Der Titel „Der Schatten sonnt sich“ markiert, dass diese Kompetenz noch nicht vorhanden ist, denn er widerspricht semantisch fundamental unserer (Erwachsenen-)Logik, formuliert er doch ein Paradox, welches das Prinzip von Ursache und Wirkung aushebelt (die Sonne wirft Schatten, der Schatten kann sich nicht sonnen.) Die Fähigkeit logischer Schlussfolgerung, sprachlich adäquat zum Ausdruck gebracht, liegt noch im Dunkeln, im Unbewussten. Die gängige Sprachlogik, Abbild auch einer Weltlogik, steht vor ihrer Entdeckung. Systematisch haben (deutschsprachige) Sprachphilosophen im 20. Jahrhundert wie Gottlob Frege, Rudolf Carnap, Ludwig Wittgenstein – wie bereits andere vor und nach ihnen – die Relation Wort-Welt rational zu ergründen versucht. Die vorliegende Studie wird sich indes nicht bis in die Aporie jener Fragen vorwagen, sie beabsichtigt, die Wortästhetik und Wortpoetik im Werk Göran Tunströms deskriptiv, an der Wortoberfläche, aufzuzeigen und nachzuzeichnen.

3.) Aus poetologischer Sicht exponiert „Der Schatten sonnt sich“12 das kardinale Moment der Geburt eines Dichters: Die Spracherwerbszene geht einher mit der Genese von Sprach- und Ichbewusstsein, resultiert in einem ersten (frühkindlichen) Weltbild und Sprachspiel13 und enthält, gerade in ihrer kühnen alogischen Aussage, im Keim eine ganze Poetik.

Tunström reflektiert den Umgang mit Wörtern in allen drei Gattungen (Lyrik, Epik Dramatik), sein ganzes Œuvre ist durchsetzt mit der „Diskussion“ einzelner Wörter und geprägt vom Nachdenken über Sprache.14

[26]Die nachfolgenden vier Textbeispiele aus diesen Genres verdeutlichen diesen Grundzug.

1. In der Lyrik

Das Gedicht „Januari trio“ [Januar-Trio] in Tunströms Debut Inringning beschwört ‚das Wort‘ und seine Unvollkommenheit in Teil II durch vierfach repetierte, deiktisch aufgeladene „Wörter“ am Anfang jeden Verses, wenn es dort heißt (INR: 82):

Dessa ord och vad de varit: / Min kargt blommande kust mot dig / en stig nära havets vita bränning / andrum för lungorna, en doft för vinden / till stunder långt fjärran – //

Dessa ord och hur de gällde: / blekt brinnande sekunder / av min dag – //

Dessa ord och vad de är / i natt och nu: väktare och ögon / för löften någon, kanske bara du / har tvingat mig att ge – //

(Och jag följer klockans gång till min dörr / där den vänder, ty den förgätit de oändliga orden / i min oskrivna sång) //

Dessa ord och vad de aldrig hinner vara!“15

Diese Wörter und was sie waren: meine karg blühende Küste zu dir / ein Steg nahe der weißen Brandung des Meers / Atemraum für die Lungen, ein Duft für den Wind / an weit entlegene Stunden –

Diese Wörter und wie sie gellten: bleich wegbrennende Sekunden / meines Tages – //

Diese Wörter und was sie sind / heute Nacht und jetzt: Wächter und Augen / für Versprechen, die jemand, vielleicht du nur / mir abgerungen hast – //

(Und ich folge dem Gang der Zeit an meine Tür / wo sie wendet, denn sie hat die unendlichen Wörter vergessen / in meinem ungeschriebenen Lied) //

Diese Wörter und was sie nie sein werden!

„Diese Wörter und was sie nie sein werden!“

Teleologie, Poetheologie, Theopoesie gehen in der Schlusszeile von Teil II des Gedichts untrennbar ineinander über: In „aldrig hinner vara“ ist durch das (Hilfs-)Verb ‚hinna‘ (genügend Zeit haben) die Richtung in einem teleologischen Sinn enthalten, in einem poetheologischen Sinn wird zugleich die mögliche ‚Fleischwerdung‘ des Wortes angetippt und klar negiert („nie sein werden“).

2. In der Epik (Prosa)

In Skimmer (Der Mondtrinker) wird im Brief von Mordecai Katzenstein an Halldór die Frage aufgeworfen (vgl. SKI: 233; MOND: 254):

Finns det överhuvudtaget ord för vad vi känner och tänker, är kanske språket en gigantisk fälla som vi gång på gång fastnar i, och enbart med offrandet av en lem, ett lamm, lyckas slita oss ut ur?

[27]Gibt es überhaupt Worte für das, was wir empfinden und denken, ist die Sprache vielleicht eine gigantische Falle, in die wir immer wieder hineintappen, aus der wir uns nur mit der Opferung eines Glieds, eines Lamms, losreißen können?16

3. In der Epik (Essay)

Die Kolumne „Ett skidspår, en mening“ [Eine Skispur, ein Satz, KRÖ: 51–54] schildert den Besuch des Jugendlichen Göran Tunström in der Schreibhütte des Dichters, Schriftstellers, Kafka und Büchner-Übersetzers Tage Aurell17 (1895–1976), von dem Tunström sagt:

Han guidar en blivande kollega runt i världen, och jag sitter väl med gapande mun och stora ögon och ser livet. Men lika tydligt som jag hör orden ser jag nu hans långa fingrar, som, när orden kommer till ords ände, med en oändlighetsgest visar på det varaktigt gåtfulla och plågsamma i människans väsen. (KRÖ: 53)

Er führt einen werdenden Kollegen rund um die Welt, und ich sitze wohl mit aufgesperrtem Mund da und sehe das Leben. Doch ebenso deutlich wie ich seine Worte höre, sehe ich jetzt seine langen Finger, die, wenn die Worte zum Schlusswort kommen, mit einer Unendlichkeitsgeste auf das allzeit Rätselhafte und Schmerzvolle im Wesen des Menschen verweisen.

4. Im dramatischen Text

Im Theaterstück Chang-Eng (über die siamesichen Zwillinge Chang und Eng Bunkder) lässt der Autor die Figur Adelaide über das Wort ‚dyrbar‘ (kostbar) folgendermaßen sinnieren (CHE: 94):

för nu vet jag vad ordet ‚dyrbar‘ betyder / och jag vet att det kan ligga i berget / år efter år utan att hitta betydelsen / av sig självt / tills det en dag börjar gro och växa / och plötsligt slå ut i ting, i varelser / som omgett oss utan liv.

denn jetzt weiß ich, was das Wort ‚kostbar‘ bedeutet / und ich weiß, dass es unter Verschluss liegen kann / über Jahre, ohne auf die Bedeutung / seiner selbst zu stoßen / bis es eines Tages keimen und wachsen / und plötzlich in Dingen ausschlagen kann, in Wesen / die uns ohne Leben umgeben haben.

Die Wort-Urszene „Der Schatten sonnt sich“ – im Rückblick vom knapp 40-jährigen Autor geschrieben18 – firmiert somit auch als eine Art ex post ins (Gesamt-)Werk eingesetzte Signatur für die Authentizität seiner Verfasserschaft.

Die einleitende Analyse dieser Szene soll zum Verständnis der Erzählung Prästungen beitragen wie auch eine Basis zu einem Versuch der Interpretation des Gesamtwerkes [28]schaffen. Die These lautet: Die frühkindliche Spracherwerbsszene „Der Schatten sonnt sich“ präsentiert in nuce bereits die Poetologie Tunströms: Das Problem der Sprache, die intrikate Beziehung Welt-Wort – Wort-Welt und wie ein Schriftsteller dieser Beziehung gerecht werden kann. Hier sei zunächst konstatiert, dass Tunström die Verwendung von Wörtern reflektiert, nicht nur in Prästungen, sondern in seinem ganzen Werk, vom Gedichtband (1958) bis zu dem 2003 postum edierten, Fragment gebliebenen Försök med ett århundrade.19 Aus dem Prolog „Der Schatten sonnt sich“ setzen sich Sprachkräfte frei, die ein ganzes Schreibleben befördern.

Göran Tunström erläuterte dies im großen ord&bild-Interview „Våra kroppar är märkliga katedraler. En intervju med Göran Tunström“ [Unsere Körper sind merkwürdige Kathedralen. Ein Interview mit Göran Tunström] gegenüber Margareta Garpe so:

Under Lenas första psykos bad hon mej säga den första meningen på det första språket. Och då sa jag: Bö reshit barah eloim et hashama ’im et ha’ ares. (I begynnelsen skapade Gud himmel och jord.) „Det är bra“, sa Lena, „Nu [sic] kommer alla språk att växa ur denna mening.“ / Hon planterade den hos sig, lade sig tyst och väntade på att alla språk skulle komma upp som skott.

Während Lenas erster Psychose bat sie mich, den ersten Satz in der ersten Sprache aufzusagen. Und da sagte ich: Bö reshit bara eloim et hashama ’im et ha’ ares. (Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde). „Es ist gut“, sagte Lena, „Jetzt werden alle Sprachen aus diesem Satz entstehen.“ / Sie hat ihn bei sich (ein)gepflanzt, legte sich schweigend schlafen und wartete darauf, dass alle Sprachen wie Schösslinge aufkeimten.20

Der Prolog fungiert als ihr Generator, allegorisch ist darin die Geburtsstunde eines literarischen Kosmos skizziert.

[29]2.1.1Lógos – ein Schlüsselwort

Das griechische Wort lógos21 steht u.a. für ‚die (geschriebene) Rede‘, kann aber auch ‚Rechnung‘ meinen. Unter logiké verstanden die alten Griechen die Wissenschaft vom Denken. En archè en ho lógos,22 im Anfang war das Wort, der Beginn des Johannesevangeliums in der griechischen Koiné verfasst, ist selbst ein Prolog.

Auch in Prästungen steht im Anfang, im Prolog zu der Erzählung, das Wort. Für Prästungen ergibt das mutatis mutandis eine Parallele weitreichender Konsequenz, wenn es erlaubt sei, einen „Gott Vater“ einem leiblichen Vater (Hugo Tunström) ‚gleichzusetzen‘. Das Wort bildet die Hauptsache, liefert den Hauptstoff im Gespräch des Vaters mit seinem Sohn. Doch findet sich diese Erörterung von Wörtern nicht nur im Prolog; ihre Reflexion ist für Prästungen generell konstitutiv, und wie die Lektüre des Gesamtwerkes zeigt,23 rekurriert der Autor in all seinen Texten auf die Wortschöpfung, das Wunder des Worts, das Benennen-Erkennen der Welt mit Wörtern, kehrt zu diesem „Anfang“, diesem Pro-log, zurück, schreibt ihn um, entwickelt ihn weiter, variiert ihn in transtextueller Umschreibung.

Die Studie will diese, Tunströms Stil und Schrift immanenten, sein Schreiben wie eine ‚zweite Stimme‘ begleitenden Wort-Evokationen untersuchen und die Evolution dieser als Movens des Schreibprozesses agierenden metatextuellen24 Wort-Diskussionen in seinen Texten aufzeigen, vom Prolog „Der Schatten sonnt sich“ aus Prästungen bis zum Spätwerk, den Krönikor, En Prosaist i New York und Försök med ett århundrade mit seinem Epilogcharakter.

Als Erstes soll deshalb nun dieser primordiale Prolog zu Beginn von Tunströms Auto(r)-Biografie Wort für Wort aus dem Schatten ans Licht geholt werden.

2.1.2Der Schatten sonnt sich – ein Dialog

Bereits auf der zweiten Seite, im Prolog der autodiegetischen25 Erzählung Prästungen lässt Göran Tunström, 1976 knapp 40-jährig, sich als gut vierjähriger Göran seine ersten Wörter erinnern: „Jag har hört ord som Hitler, Norge, sett människor le mot varandra, känt händer [30]över mitt hår, har hört räckor av samtal, som jag både förstått och inte förstått.“ (PRÄ: 10) [Ich hörte Wörter wie Hitler, Norwegen, sah Menschen einander zulächeln, spürte Hände über mein Haar streichen, habe Gesprächsfetzen mitbekommen, die ich sowohl verstanden26 wie nicht verstanden habe.27]

Eine Schlüsselszene, ein Gemenge aus Hören – Verstehen – und dem Versuch, zu verstehen. Übers Ohr prägen sich dem Kind Wörter ein, nisten sich ein, bleiben ‚hängen‘ – wirken magisch, bewirken diffus eine Vorstellung von ‚Dingen‘, von ‚Welt‘, von Bedeutung. Gesten, Bewegungen und Handlungen (Sprechakte) sind nicht minder an diesem, einer sukzessiven Initiation gleichkommendem Spracherwerbs-Prozess beteiligt, also Körper und Stimme28. Mit jedem (neuen) Wort deutet sich eine (noch größere) Welt ‚außerhalb‘ der bereits bekannten an – als hätte sich diese ‚unbekannte‘ bis zu ihrer Benennung stumm hinter einem Schleier gehalten. Wörter bringen sie ‚näher‘, wollen einen Bezug zu ihr schaffen, erzeugen eine Vorstellung von ihr, im besten Fall eine präzise Vorstellung und Identifizierung einer damit verhandelten oder gemeinten Sache.

Göran führt in „Skuggan solar sig“ zwei ‚Gespräche‘. Der Minidialog mit der Mutter29