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Seit der Antike dienen Ameisen und ihre Formen des Zusammenlebens als Modell und Vergleich für den Menschen und seine soziale Organisation. Dabei ist das Bild der Ameisengesellschaft, in denen wir unsere Ordnungen spiegeln, äußerst flexibel und kann als Vorlage sowohl für republikanische wie monarchistische, libertäre oder totalitäre Vorstellungen einer Gemeinschaft verwendet werden. In seiner wissenshistorischen Studie verfolgt Niels Werber die wechselhafte Faszinationsgeschichte dieses Vergleichs und untersucht die Evidenzen und blinden Flecken, die er produziert. Was an Ameisen beobachtet wird, so der Befund, gibt Antworten auf soziologische oder anthropologische Probleme – und stellt jenseits aller Disziplinen die Frage, was der Mensch ist und was die Gesellschaft, in der er lebt.
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Seitenzahl: 635
Veröffentlichungsjahr: 2013
Niels Werber
Ameisengesellschaften
Eine Faszinationsgeschichte
Fischer e-books
Bill Gates und Michael Eisner nehmen diesmal nicht den Hubschrauber, sondern die Jet-Packs, als sie mit ihrem weltweit operierenden System privater Überwachungssatelliten den flüchtigen Brian Griffin lokalisiert haben. Jet-Packs machen einfach mehr Spaß. Gates freut sich wie ein Knabe, der von Q persönlich mit James-Bond-Equipment versorgt wird, und bedienen kann er sein Spielzeug sogar selbst. In einiger Höhe düsen die beiden Milliardäre Seite an Seite, weit unter ihnen zieht eine Stadtlandschaft aus Häusern und Straßen, Brücken und Fabriken voller winziger Menschen vorbei. Eine Perspektive der Vögel, Götter oder Überwachungskameras. Sie schauen herab. »Die Leute sehen wie Ameisen aus von hier oben«, bemerkt Eisner eher beiläufig. Aber Gates lässt ihm das nicht einfach durchgehen. Der erwidert umgehend mit ungewohnt hart klingender Stimme und passendem Gesichtsausdruck: »Nein Michael, es sind Ameisen.« Selbst wer wenig Cartoons schaut und Peter Griffins Hund nicht kennt, wird diese Szene aus der 41. Episode der Zeichentrickserie Family Guy unschwer verstehen.[1] So kinderleicht dieses Verständnis fallen mag: Um die wissens- und kulturgeschichtlichen Implikationen dieser Szene auch nur anzudeuten, wird einiger Raum nötig sein. Man könnte ein Buch darüber schreiben …
Die Topographie ist im Grunde simpel: Die beiden Herrscher über die Weltkonzerne Microsoft® und Disney® schauen auf den Rest der Welt von oben herab. Zwei Dinge, nämlich »der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir«, weckten Immanuel Kants »Bewunderung und Ehrfurcht«. Mit Eisner und Gates lässt sich diese Formel umkehren: Der »Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet« nun eben nicht ihre eigene »Wichtigkeit« als bloß vergängliche Wesen, sondern rückt sie vielmehr selbst in eine Position der »Erhabenheit«, von der aus sie auf das Gewimmel der im Grunde »tierische[n] Geschöpfe[]« herabblicken.[2] In Verkehrung der Ethik und Ästhetik des Erhabenen geht der Blick der beiden Wirtschaftsführer von erhobener Position nach unten. Nicht unsterbliche Werte, sondern die Gewissheit ökonomischer und technischer Omnipotenz gewährt ihnen das Gefühl der Überlegenheit gegenüber einer Welt, die ihnen zu Füßen liegt. Dies ist nicht gerade eine Situation, die zu Bescheidenheit nötigt, wohl aber zur Reflexion der eigenen Lage: ›den blauen Himmel um uns und die wimmelnden Ameisen unter uns‹. Das Bild dient der Selbstvergewisserung einer elitären Clique von Superreichen. Die Lagebeschreibung stiftet Identität durch Inklusion und Exklusion: wir hier oben/die da unten. Das geht ganz schnell, in Sekunden, die die beiden für ihren kurzen Dialog haben. Für diese Verortung von Gates und Eisner in der Gesellschaft ist nicht mehr nötig als ein prägnantes Bild: die anderen sind oder sind wie Ameisen. Das Bild impliziert eine Reihe von Annahmen über die Verfassung unserer Gesellschaft: dass wir es beispielsweise mit einer Industrie- und Massengesellschaft zu tun haben, deren Bevölkerung sich in Großstädten ballt. Wer von »Verameisung« spricht,[3] vergleicht nicht nur, wie Eisner es tut, sondern macht zugleich einen Vorschlag zur Beschreibung der herrschenden sozialen Ordnung.
Wenn dieses Bild, das der kulturellen Selbstverortung der Akteure in einer Gesellschaft dient, zu einer Formel geronnen ist, die wie ein Gemeinplatz abgerufen werden kann, verlaufen Selbstvergewisserung und Abgrenzung in einem so hohen Tempo, dass für second thoughts kaum Zeit bleibt. Das Bild des Ameisenhaufens als belebte Stadt ist schon seit der Antike ein Topos, und ein solcher Gemeinplatz überzeugt nicht deswegen unmittelbar, weil er zu raffinierten Überlegungen und kritischem Nachdenken anregt, sondern wirkt aufgrund seiner geradezu naturhaften Selbstverständlichkeit, die ohne weitere Reflexionen und Hinterfragungen unproblematisch Anschlussfähigkeit stiftet. Topoi wie die des Ameisenhaufens sind populär, das teilen sie mit dem Medium der Zeichentrickserie.[4]
Die Episode Screwed the Pooch[5] benötigt nur wenige Sekunden, um Gates und Eisner zu diskreditieren, wobei es keine allzu große Rolle spielt, dass sie Milliardäre sind. Den Ausschlag gibt vielmehr ihr dank des Ameisenbildes unübersehbarer Habitus, alle unter sich, also eigentlich fast jeden, zu verachten. Eisner erinnert das Gewimmel am Boden an Ameisen. In dieser Situation der eigenen Erhebung und der Erniedrigung aller anderen drückt der Vergleich der Großstadtbevölkerung mit Ameisen in einem einzigen Bild anschaulich aus, was Eisner daher gar nicht erst eigens erläutern muss: Die Leute da unten, sie, das sind viele. Nach den Marktgesetzen der klassischen Volkswirtschaftslehre führt diese überflüssige Menge zur Minderung des Wertes ihrer Bestandteile. Die vielen Menschen erscheinen nicht nur winzig, sondern sie sind auch belanglos. Der moderne Massenmensch, so die gängige Forschungsmeinung gegen Ende des 19. Jahrhunderts, werde auf den Plätzen und Straßen der Großstadt zu einem »Automaten« ohne jede Individualität oder eigentümliche »Persönlichkeit«.[6] Der sprichwörtliche Mann auf der Straße wird bereits in der Massenpsychologie und frühen Soziologie von Herbert Spencer über Gustave Le Bon bis Gabriel de Tarde nicht als Individuum aufgefasst, sondern als Herdentier.[7] Es wär ein Irrtum, von der Individualität eines jeden auszugehen, denn es handelt sich bei der Anhäufung im Grunde, wie bei Ameisen auch, um eine Masse, gesichtslos und anonym. In dem Gewimmel wäre ein Einzelner ohnehin kaum auszumachen. Warum sollte man diesen Wesen irgendeine Qualität konzedieren? Nur die Masse selbst ist erheblich …
Wer einen der zahllosen Dokumentar- oder Naturfilme aus den letzten zwei Jahrzehnten über die heimliche Weltmacht, das geheime Leben oder die verborgenen Welten der Ameisen gesehen hat, weiß: Sie sind immer in Bewegung, einzelne Exemplare sind nur schwer über längere Zeit zu verfolgen. Dass Eisner die Szenerie, die ihn viele, winzig erscheinende Menschen jeweils nur kurz im Überflug sehen lässt, gerade mit Ameisen vergleicht, liegt aber nicht nur an seiner Perspektive. Hinzu kommt, dass die Analogisierung von Ameisen und Menschen seit langem etabliert ist: Bereits in der Antike werden Menschen und Ameisen verglichen, und zwar selbstverständlich nicht deshalb, weil es irgendwelche morphologischen Ähnlichkeiten gäbe, wie sie bei Menschenaffen zum Tragen kommen. Die Ameise mit ihren sechs Beinen, ihrer Chitinpanzerung, ihren Antennen und Zangen, ihrem modularen, zweifach geteilten Torso sieht denkbar anders aus als ein Mensch. Vergleichbar macht sie nicht ihr Äußeres, obschon hier Fabeln, Comics oder Animationsfilme mit mehr oder minder menschenähnlichen Illustrationen nachhelfen. Vergleichbar macht sie vielmehr ihre Sozialität.
Der auf Ameisengröße geschrumpfte Lukas im Gespräch mit seinem Mentor Zoc über die Vergleichbarkeit von Ameisen und Menschen. Im Hintergrund nimmt die Skyline Manhattans die Form eines Ameisenhügels an. Bei New York und dem Ameisennest im Vorgarten handelt es sich um eine Polis. Zocs Gesichtszüge sind, wie üblich in Animationsfilmen zum Thema sozialer Insekten, deutlich anthropomorphisiert. The Ant Bully, Warner Bros. 2006.
Die Anthropomorphisierung von Insekten ist weithin bekannt aus den vielen Ameisenfabeln, deren Varianten sich bis zu antiken Ausprägungen der Gattung bei Äsop, Phaedrus, Babrios oder Avianus zurückverfolgen lassen. Doch schöpft die Analogisierung von Mensch und Ameise aus einer weiteren, viel wichtigeren Quelle, die zu den abendländischen Gründungsakten einer Reflexion des Gemeinwesens zählt: Wenn nämlich Aristoteles in der Politik feststellt, dass es zu den substantiellen Eigenschaften des Menschen gehört, »von Natur aus« ein »staatenbildendes Lebewesen« zu sein: ein zoon politikon, dann eröffnet er damit eine ganz andere Ebene des Vergleichs jenseits der Morphologie.[8] Denn auch die Ameise ist für ihn ein politisches Tier. Sie ist es für Aristoteles deshalb, weil sie wie der Mensch außerhalb einer πόλις nicht zu existieren vermag. Die Ameise lebt in Städten bzw. Staaten. Sie ist kooperativ oder gar nicht.[9] Im Unterschied zu unzähligen anderen Tieren und Insekten, die nur vorübergehend die Gemeinschaft suchen, etwa zur Zeugung des Nachwuchses, leben Menschen und Ameisen – als Gattung – dauerhaft in einer Gesellschaft. Deshalb errichten sie auch gemeinsam Gebäude. Politische Tiere haben nicht etwa in irgendeiner historischen Urzeit »alleine« existiert und dann nach und nach zu größeren Aggregationen zusammengefunden; vielmehr habe der Mensch, und eben auch die Ameise, »immer schon sozial gelebt«.[10] Diese unterstellte Gemeinsamkeit macht es seit der Antike plausibel und selbstverständlich, unter den Ameisen erstens nach vertrauten Sozialstrukturen Ausschau zu halten, um dann zweitens das, was man finden wollte, in der literarischen oder bildnerischen Repräsentation menschenähnlich zu gestalten und einzukleiden. Wie man es aus Walt Disneys The Ant and the Grasshopper aus dem Jahre 1934 (auf der Basis von Äsops antiker Fabel Die Grille und die Ameise), aus der Biene Maja-Zeichentrickserie oder aus neueren Animationsfilmen wie Antz – Was krabbelt da? (Dreamworks1998) kennt, trägt die Ameisenkönigin eine Krone, und ihre Soldaten sind mit Helm und Speer gewappnet. Die ubiquitäre Anthropomorphisierung wäre mithin eine Konsequenz der aristotelischen Überlegungen zum politischen Tier und ihrer Resonanz in der politischen Theorie, und ob die Ameisen Speere tragen oder Mao-Anzüge, hinge vom jeweiligen Gesellschaftsentwurf ab, der dem zoon politikon im Laufe der Geschichte angepasst wird.
Das, was allen politischen Tieren gemeinsam eignet, eröffnet eine politische Zoologie, die entweder nach den biologischen Bedingungen der Gesellschaftsbildung fragen kann oder nach der Möglichkeit, eine soziale Ordnung auch für eine solche Spezies zu errichten, die »nicht fürs Soziale gemacht« ist und gerade deshalb zum geselligen Leben und seinen Spielregeln gezwungen werden muss.[11] Dass Menschen, Ameisen und natürlich Bienen, denn auch dieses Staatstier nennt Aristoteles, anders als Schafe, Pferde, Rinder oder Fische außerhalb der Gesellschaft gar nicht zu existieren vermögen, legt es ja keineswegs als einzig denkbaren Schluss nahe, Menschen, Ameisen und Bienen seien eben von Natur aus sozial. Denn wenn sie so friedlich nebeneinander weiden, grasen, schlafen oder schwimmen würden wie so viele Herdentiere, dann hätten sie ja womöglich eine Gesellschaft gar nicht nötig, die ihnen jene von Thomas Hobbes so bildreich beschriebene Angst nehmen müsste, dass bereits der nächstbeste Angehörige der gleichen Spezies uns alles nehmen könnte, was uns gehört: unsere Angehörigen, unseren Besitz, unser Leben. Aber gerade der Mensch sei ja dem Menschen ein Wolf, meint Hobbes. Der Mensch, heißt es im Leviathan, der ohne die »einschränkende Macht« des Staates auskommen müsse, friste seine Existenz im »tausendfache[n] Elend; Furcht, gemordet zu werden, stündliche Gefahr, ein einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben«.[12] Ohne »Macht« und »Gesetz« sei »ein jeder eines jeden Feind«, denn die »Natur des Menschen« habe ihn durchaus »ungesellig gemacht«.[13] Von Natur aus, so ließe sich Hobbes gegen Aristoteles in Stellung bringen, ist der Mensch kein politisches Tier. Die Frage, wie ein so beschaffenes Menschengeschlecht dennoch zu einem geordneten und befriedeten Zusammenleben finde, hat die politische Philosophie von Hobbes bis Rousseau oder Kant mit Vertragsmodellen zu beantworten versucht;[14] der naturrechtliche Kontraktualismus kann aber schon im 19. Jahrhundert nicht mehr überzeugen und macht rechtspositivistischen Lehren Platz, deren vorgebliche Substanzlosigkeit und Beliebigkeit wiederum von politischen Theologen wie Carl Schmitt scharf kritisiert worden ist. Dieser rechtsgeschichtliche Wandel von natur- und vertragsrechtlichen Modellen der Gesellschaft zu existentialistisch-dezisionistischen Entwürfen der Gemeinschaft wird in allen Ameisenfilmen der letzten Jahre zum Thema: in Das große Krabbeln,[15] in Antz, in Lucas, der Ameisenschreck[16] … Diese Werke haben keine Altersfreigabe und können von Drei- oder Vierjährigen gesehen werden, doch nehmen wir sie einmal gerade deshalb ernst: In diesen Filmen werden natur-, gewohnheits- und vertragsrechtliche Grundlagen der Gesellschaft suspendiert zugunsten einer Gemeinschaft, die aus einer erfolgreichen existentiellen Auseinandersetzung mit dem Feind hervorgeht. Ob dieser Feind nun als Gang von Grashüpfern auftritt oder als heruntergekommener Schädlingsbekämpfer – er wird bekämpft und besiegt. Zerfällt mit der Feinderklärung die alte Gesellschaft, so entsteht nach dem Sieg die neue Gemeinschaft. Ob sich in Antz die Arbeiter durch Kooperation aus einer tödlichen Falle befreien, die Kolonie in Lucas, der Ameisenschreck der Vernichtung durch chemische Massenvernichtungsmittel durch einen präventiven wie chirurgischen Schlag entgeht oder das von den Grashüpfern terrorisierte Ameisenvolk in Das große Krabbeln sich der potentiellen Macht ihrer schieren Menge bewusst wird und der Motorradbande widersteht: Das Überleben legitimiert genau die Organisation oder Ordnung, die das Überleben ermöglicht hat. Weder das Einhalten von Verträgen und Regeln noch das Bewahren von Traditionen und Gewohnheiten sichert die soziale Ordnung, sondern die pure Faktizität, den ›Kampf ums Dasein‹ aufgenommen, geführt und entschieden zu haben.
Die von diesen Filmen verbreitete Rechtsauffassung ist nicht nur aufgrund der ewigen Ameise-Mensch-Analogisierungen biologistisch, sondern in den Begriff des Politischen selbst eingewoben. Carl Schmitt stützt seine existentialistische politische Theorie bzw. Theologie auch auf biologische Untersuchungen.[17] Das Leben selbst, nicht nur eine historische Gesellschaft oder ihre politische Theorie, macht seine geopolitischen Grundannahmen evident. Die Lehre lautete: Ein Organismus muss den Raum nehmen und gestalten, um zu (über)leben; so will es die Natur.[18] Diese Rechtswissenschaft kann von der Biologie lernen, zumindest dann, wenn sie auch im Staat einen lebendigen Organismus zu sehen vermag.[19] Das Leben schließt keine Verträge, es lebt. Und weil es lebt, hat es den darwinistischen struggle for existence (oft übersetzt mit Kampf ums Dasein) einstweilen für sich entschieden.
Vom survival of the fittest (etwa: Überleben der am besten Angepassten) spricht gerade mit Blick auf Gemeinschaften heute explizit niemand mehr. Die moderne Soziobiologie würde die Frage nach dem Grund der Gemeinschaft in Analogie zur Genese sozialer Insekten mit einer These zur emergenten Entwicklung beantworten, die der Gattung evolutionäre Vorteile verschafft. Darauf komme ich zurück. Auch für das selfish gene (das ›egoistische Gen‹), das uns samt seinen Promotor Dawkins ebenfalls noch genauer beschäftigen wird, lohnt sich die Kooperation seiner Träger, seien es Ameisen, seien es Menschen, denn sie erhöht die inclusive fitness (genetische Gesamtfitness) der Spezies. In den erhöhten Reproduktions- und Überlebenschancen der kin selection oder auch group selection (Verwandten- bzw. Gruppenselektion) habe man aus biologischer und zumal aus entomologischer Sicht die Grundlagen der sozialen Ordnung zu suchen. Das Leben erfinde die Gesellschaft als evolutionären Vorteil, und die Wissenschaft, die für die Erklärung der Genese sozialer Ordnung zuständig zeichne, wäre also die Biologie – und nicht etwa Philosophie, Politologie, Soziologie oder sonst eine ›Geisteswissenschaft‹ – und vor allem aber die Entomologie, die Insektenkunde. Gerade soziale Insekten sind seit 100 Jahren ihr bevorzugtes Thema. Speziell Ameisen gelten als »ungeheuer erfolgreiche« Spezies. Und der Grund für die im Vergleich zu anderen Arten »überwältigende Macht« der Ameisen liege in ihrer »Kooperation«.[20] Aus ihrer sozialen Ordnung resultiere die Überlegenheit im evolutionären struggle for existence. Welche Ordnung das sei, lautet das Preisrätsel der Soziobiologie, das im Verlauf des letzten Jahrhunderts auf verschiedenste Weise ›gelöst‹ worden ist.
Die Antwort, die Aristoteles in seiner Naturgeschichte der Tiere gibt, lautet Stadtstaat. Dort heißt es: »Eine Gemeinde [Polis] bilden diejenigen Thiere, welche alle ein gemeinschaftliches Werk verrichten, was nicht bei allen Thieren der Fall ist; dahin gehören der Mensch, die Biene, die Wespe, die Ameise, der Kranich.«[21] Der Mensch teilt eine Errungenschaft mit den Insekten, die man eher für ein Alleinstellungsmerkmal menschlicher Kultur halten würde, nämlich die gemeinschaftliche Errichtung einer gemeinschaftlichen Einrichtung. Was sowohl Menschen als auch Ameisen in ihrer Gemeinschaft aufbauenten, ist für Aristoteles offensichtlich: die Polis. Davon zeugen die Stadtstaaten der Griechen und jeder Ameisenhügel – und natürlich jede Bienenwabe oder jedes Wespennest. Es ist daher auch eine Stadt, die Gates und Eisner überfliegen, als sie auf Ameisen zu sprechen kommen.
›Staatenbildend‹ bedeutet in der griechischen Antike ganz selbstverständlich stets auch ›städtebauend‹. Die Polis ist Staat und Stadt zugleich, sie ist sowohl Institution als auch ein Ort. In der Gliederung der Stadt aus Plätzen und Häusern, Straßen und Palästen, Gärten und Festungen wird die Verfasstheit des Staates sichtbar. Im Begriff der Polis kommen Sozialordnung und Raumordnung zur Deckung. Jede Mauer, jedes Tor, jeder Platz, jedes Haus, jede Burg, jeder Wall, jeder Graben stehen für eine ihnen inhärente Rechtsordnung, die Schmitt Nomos genannt hat.[22] Diese durchaus nicht selbstverständliche Zusammenführung, die beispielsweise die Möglichkeit einer nomadischen Gesellschaft ausschließt, ist der Grund dafür, dass 1.) Ameisennester so beschrieben werden, als seien sie Städte. Bei Aelian etwa, einem um 177 n.Chr. geborenen Naturkundler, liest man in De natura animalium von den Straßen und Lagerhallen der Ameisenstädte, von ihren Friedhöfen und ihren Bauwerken, ihren unterschiedlichen Quartieren für Wohnen, Gebären, Speichern.[23] Ameisen gelten Aelian als »hervorragende, sparsame Haushälter«.[24] Und natürlich sind sie unermüdlich und froh bei der Arbeit: »Durch die Beschäftigung mit Ameisen konnte ich viel lernen. Sie sind unermüdlich, allzeit bereit zu arbeiten, und das ohne Ausreden und Freiheitsgesuch; nicht mal an Festtagen legen sie ihre Arbeit nieder.«[25] Aelian kann sich einen Seitenhieb auf seine bequemeren Zeitgenossen nicht verkneifen: »Look at you men – devising endless pretext and excuses for idling!« Insbesondere die zahlreichen Feiern zu Ehren der Götter lieferten bloß faule Ausreden.[26] Die Städte der fleißigen Ameisen sind kunstvoll errichtet, voller »ägyptischer Galerien« und »Kretischer Labyrinthe«, doch Müßiggang herrscht in ihren Straßen und Tunneln nicht.[27] In seiner berühmten Naturgeschichte fügt Plinius Aelians Liste Forum und Markt hinzu.[28] Diese Ausschmückung des Bildes einer Ameisengesellschaft übersteht, mutatis mutandis, alle Zeitenwenden und Medienumbrüche. Auch wenn das Ameisennest heute nicht mehr als eine »Haushaltung« mit »Dienstboten und Gästen«, »Sommer- und Winterwohnung« beschrieben wird, wie Wasmann dies 1891 tut,[29] so spricht doch auch unsere zeitgenössische Entomologie von Ameisenstraßen, Brücken, Tunneln und Städten, und jeder einschlägige Film der letzten Jahre stellt es dem großen Publikum unübersehbar und selbstverständlich vor Augen.[30] Ein Bild, das Ameisen, staatliche Ordnung und soziale Infrastrukturen miteinander verbindet, ist in unserer Kultur mit hoher Evidenz ausgestattet.
Die Verschmelzung von sozialer Ordnung mit der Topographie der Stadt im Bild der Polis führt 2.) dazu, dass auch umgekehrt die Einwohner bevölkerter Städte mit Ameisen verglichen werden, ganz so wie Michael Eisner in der beschriebenen Family Guy-Episode es tut. Dass Ameisen zu den politischen Tieren zählen und daher in Städten wohnen, ist so sehr zu einem Topos geworden, dass im Falle einer Analogisierung von Ameisen und Menschen ein tertium comparationis gar nicht mehr erwähnt werden muss. Ameisen fungieren als »absolute Metapher«;[31] die Bildspende gelingt, ohne dass eine Ebene des Vergleichs ausgewiesen werden müsste. Auch die von Eisner lange Zeit geführte Walt Disney Company hat die Tradition des Bildes seit der filmischen Umsetzung von Äsops Fabel von der Ameise und der Grille fortgeschrieben: Der Animationsfilm A Bug’s Life (Walt Disney 1998), der die Fabel neu ausdeutet, nutzt alle nur erdenklichen Analogien und Anthropomorphismen, damit wir Lehren aus dem Verhalten der Ameisen ziehen: Sie sind wie wir, im Guten wie im Schlechten. Und um ein verarmtes und verunsichertes Volk zu Wohlstand und neuer Größe zu führen, braucht es, wie bei uns, eine disziplinierte Jugend, eine zupackende Führung und eine innovative technische Elite. Dieses Inklusionsangebot wird durch Exklusion verstärkt. Die outgroup arbeitet nicht, sondern gibt sich – siehe Äsops cicada – der Musik hin (la cucaracha) und trinkt im Schatten eines Sombreros eine kühle cerveza. Die ethnische Inszenierung legt eine rassistische Rezeption nahe: Wie die anderen, in diesem Fall Grillen, deren fabelhafte Faulheit von ihrem mexikanischen Auftritt noch unterstrichen wird, wollen wir nicht sein. Wo immer eine Ameisengesellschaft als Bild kultureller Orientierung angeboten wird, wird über Ein- und Ausschlüsse Identität erzeugt.
Oben: Grillen beim Müßiggang bzw. der Siesta. Unten: Ameisen bei der Arbeit. Disneys Das große Krabbeln teilt die Spreu vom Weizen bzw. die Latinos von der heimischen Bevölkerung.
Allerdings stehen die Ameisen in diesem Falle nicht – wie in der Family Guy-Episode – für ein unübersichtliches Gewusel subordinierter Massen. Ameisen veranschaulichen in A Bug’s Life ein klar strukturiertes, gut geordnetes, arbeitsteiliges Gemeinwesen, in dem eine Elite die Führung und die Verantwortung übernimmt und dem Tüchtigen ein Aufstieg in die Führungsschicht durchaus offensteht. Karrieren beruhen auf Mut und Innovation, Identität auf Abgrenzung gegen den Anderen, der hier ein mexikanisches Gewand trägt. Nicht jeder kann wie Flic ein Erfinder sein und die Prinzessin heiraten, aber jeder kann sich in die lange Schlange der hart arbeitenden Ameisen einreihen und an einer Gemeinschaft teilhaben, die der faulen wie gewaltbereiten Straßen-Gang unter dem Sombrero in jeder relevanten Hinsicht überlegen ist.
»Wie die Ameisen« – der Topos ist einerseits sehr beständig und andererseits höchst variantenreich. Ameisen – im Plural – konnotieren immer eine soziale Ordnung, doch können diese Gesellschaftsentwürfe die unterschiedlichsten Formen annehmen. Sobald man sich auf Details einlässt, wird deutlich, dass der Gemeinplatz historischen und medialen Umbrüchen und kulturellen Codierungen unterworfen ist. So kann zum einen etwa der Wohlstand einer Kolonie auf den sprichwörtlichen Fleiß jeder einzelnen Ameise zurückgeführt werden oder aber auf evolutionäre Errungenschaften der Selbstorganisation. Fleiß ist eine persönliche Tugend, von der die Fabel von der Ameise und der Grille erzählt; Selbstorganisation dagegen gilt als emergenter Prozess, der vom Wissen und Wollen einer individuellen Ameise gar nicht berührt wird.[32] Zum anderen verändert sich das Bild, das mit dem Topos verknüpft wird: Das Spektrum reicht vom chaotischen Gewimmel eines Ameisenhaufens, dem die Ameisen im Französischen ihren Namen verdanken (fourmis/fourmillement), bis zur soldatischen, fest geschlossenen, hierarchischen Formation des Ameisenstaates, die uns in der Welt der Biene Maja oder im Arbeiter Ernst Jüngers entgegenmarschiert. Die populäre Kultur verbinde mit der Ameise »stalinistische Stereotype«, meint Steven Johnson,[33] aber so zutreffend dies in einigen Fällen auch ist, so sehr greift es zu kurz. Michael Hardt und Antonio Negri halten eine Ameisenkolonie im Gegenteil für das lebende Beispiel einer »kollektiven Intelligenz […] ohne zentrale Kontrolle«, deren »Schwarmintelligenz« als Blaupause der »Multitude« fungiert.[34] Dies wäre alles andere als Stalinismus. Was das Bild der Ameise alles zu konnotieren vermag: Stalinismus und Multitude, Faschismus und Anarchie ist äußerst heterogen und hat nur wenig miteinander zu tun. In jedem Fall wird aber eine Form sozialer Ordnung auf prägnante, anschauliche und faszinierende Weise ins Bild gesetzt. Welche das dann in einem konkreten Fall ist, bringt erst eine minutiöse Analyse der Implikationen des Bildes zum Vorschein. Die verschiedenen Formen, das enorme Spektrum und die Geschichte dieser Faszination machen das Thema meines Buches aus.
»Die Bienen bestätigen die Monarchie!«, ruft ein katholisch-monarchistisch gesinnter Diskutant einer Runde von Honoratioren in Gustave Flauberts Bouvard und Pécuchet aus, als sei dies ein unwiderlegbares Argument für die von ihm favorisierte Staatsform. Indes folgt die liberal-republikanische Antwort reflexartig und so blitzschnell, wie es der Gebrauch von Gemeinplätzen gestattet: »Aber die Ameisen die Republik!«[35] Die »Ameise« wird denn auch explizit als Topos vorgeführt, wenn sie in Bouvards und Pécuchets Wörterbuch der Gemeinplätze Einzug hält. Sie sei ein »schönes Beispiel, das man einem Verschwender vorhalten kann«.[36] Für ihr gutes, vorausschauendes Wirtschaften ist sie seit Äsops Fabel bekannt. Sie ist eben emsig, wie der dritte Stand, aber auch die Bienen sind fleißig. In der zitierten gesellschaftspolitischen Debatte dienen Ameise und Biene jedoch nicht dem Preisen von Sekundärtugenden, sondern der Legitimation von Staatsformen. Ameisen und Bienen sind gleichermaßen politische Tiere, und als Repräsentanten sozialer Ordnung machen sich die beiden Hymenopteren (Hautflügler) schwesterlich Konkurrenz. Ihre Natur kann dabei in jedem Fall ins Feld geführt werden, gleichgültig, für welche Gesellschaft die sozialen Insekten jeweils einstehen.
Die Republik sei deshalb die den Menschen angemessene Verfassung des Gemeinwesens, weil die Natur selbst in der Ameisengesellschaft ein Exempel statuiere. Nun hat Gott allerdings auch die Bienen geschaffen, die nicht nur fleißig, sondern auch noch monarchistisch gesinnt sind. »Und was sollen die Unterthanen von den Bienen lernen?«, fragt ein Ratgeber für Predigten aus dem Jahre 1618 und gibt die erwartbare Antwort, man könne an ihrem Beispiel lernen, was jeder der »Obrigkeit schuldig« sei, nämlich Dienst und Gehorsam. Das Verhalten der Bienen gegenüber ihrem »König« sei gottgefällig und nachahmenswert, so soll es in allen Kirchen von der Kanzel gelehrt werden.[37] In barocken Stellensammlungen der antiken Autoren und Kirchenväter finden sich Dutzende ähnlicher Stellen.[38] Es genügt, einige zu kennen, um sich über den in Bouvard und Pécuchet mitgeteilten kurzen Schlagabtausch nicht sonderlich zu wundern. Auch in Flauberts Roman ›bestätigt‹ der Bienenstaat selbstredend deshalb die Monarchie, weil er selbst von einer von einem weisen Monarchen konstituierten Natur ebenfalls monarchisch eingerichtet worden sein soll. Genau wie im Fall der Ameisen ist diese vermeintliche Binsenwahrheit wiederum selbst von historisch, kulturell und situativ bedingten und höchst wechselhaften Zuschreibungen abhängig. Wie die Ameisen »bestätigen« auch die Bienen im Verlauf ihrer Karriere als Bildgeber für Selbstbeschreibungsformeln der Gesellschaft beinahe alles Mögliche. Sehr häufig die Monarchie, gewiss, aber auch das Gegenteil. Für Kevin Kelly etwa repräsentieren die Bienen nicht weniger als die »wahre Natur der Demokratie und der Gewaltenteilung«.[39] Entomologen mit einer Neigung zur komparativen Soziologie haben ihm recht gegeben. Der Apidologe (Bienenforscher) Thomas D. Seeley hat kürzlich eigens eine Monographie mit dem Titel Honeybee Democracy veröffentlicht. In ihr sind Forschungen dokumentiert, die sich mit dem Problem der nest site selection (Standortwahl des Nestes) experimentell (und nicht etwa nur mathematisch, etwa spieltheoretisch) beschäftigen. Ein Schwarm, der einen Wohnort suche, würde »den Standort seines neuen Heimes auf demokratischem Wege auswählen«.[40]Amazing ist aber natürlich vor allem, wie Seeley es schafft, vom schlichten Zählen seiner Bienen zu dieser Behauptung zu kommen, sie wählten in einer »demokratischen Debatte« ihre neue Heimat. Sein Buch wendet sich dennoch mit dem nicht untypischen Selbstbewusstsein des Soziobiologen, der die Geheimnisse der Gesellschaft kennt, ausdrücklich auch an »social scientists«.[41] Der Biologe kommt zu fünf Lektionen, die für Bienen und Menschen gleichermaßen gelten sollen:
«Lektion 1: Das Kollektiv, welches Entscheidungen trifft, solle gemeinsame Interessen und gegenseitigen Respekt entwickeln.
Lektion 2: Die Führung solle so wenig wie möglich das Denken des Kollektivs beeinflussen.
Lektion 3: Man solle nach verschiedenen Lösungsmöglichkeiten eines Problems suchen.
Lektion 4: Das Wissen des Kollektivs durch Kontroversen erweitern.
Lektion 5: Bei Abstimmungen ein quorum nutzen, um Zusammenhalt, Sorgfalt und Schnelligkeit zu gewährleisten.«[42]
Die Bienen lieferten unserer Gesellschaft deshalb ein nachahmenswertes Vorbild, weil sich ihre demokratischen Verfahren im Verlauf »evolutionärer Zeit« bewährt hätten. Seeley weist an mehreren Stellen darauf hin, dass die von ihm beschriebenen Verfahren der Entscheidungsfindung »durch das Prinzip der Selektion geprüft und optimiert« worden seien.[43] Sie sind daher optimal, denn alle anderen Alternativen sind bereits samt ihren genetischen Trägern ausgemerzt worden. Was in Jahrmillionen dagegen immer wieder positiv selektiert wird, müsse daher »powerful and robust«, wenn nicht gar optimal sein.[44] Während menschliche Gruppen nicht gerade für ihre »smart decisions« bekannt seien, schlagen uns die Bienen eine »brillante Lösung« für alle Probleme kollektiven Handelns vor, die seit langer Zeit von der ›Meisterhand der Selektion‹ geprüft und für gut befunden worden sei.[45] Bienen, so Seeley, gelangten zu guten Entscheidungen »without working under the guidance of a leader«.[46] Dies gelinge ihnen seit »millions of years«.[47] Endlich hat uns die entomologische Forschung so weit gebracht, dass wir wissen können, »wie dieser geniale Selektionsprozess funktioniere«. Und endlich hätten wir die Möglichkeit, »dieses Wissen für die Verbesserung unseres eigenen Lebens zu nutzen«.[48] Demokratie als Schwarm. Diese Einschätzungen taugen heute offensichtlich für Parteiprogramme bzw. Wahlkampfslogans.
Die Bienenkönigin hat ihre Krone abgelegt, ihr Volk gilt nun als Muster des »Schwarmdenkens«, das ohne Hierarchisierungen und Zentralisierungen zu komplexem, koordiniertem Handeln und nachhaltigen Entscheidungen befähige. Wenn Bienen gemeinsam agieren, etwa zu einer bestimmten Blumenwiese ausfliegen oder einen neuen Wohnort wählen, dann sieht die zeitgenössische Forschung samt ihrer massenmedial verbreiteten Popularisierung nicht mehr das Walten eines fürsorglichen, vom Konzil seiner Granden gut informierten und beratenen Souveräns am Werke, der nach bestem Wissen die Geschicke seines Volkes lenkt, sondern einen sich selbst organisierenden Schwarm ohne Hierarchien und ohne zentrale Führung. Die »Königin« regiert nicht mehr, sie »folgt« dem Kollektiv.[49] Bei allen Unterschieden zu Flauberts Abbé und unendlich vielen anderen politischen Zoologen, die in den Bienen eine Affirmation der Monarchie durch die Natur selbst zu sehen gewohnt sind, erfüllt der Bienenstaat auch in Kevin Kellys Ausführungen zu einer Ökonomie out of control und in Thomas Seeley Deutungen der nest site selection die Aufgabe, eine bestimmte Einrichtung der Gesellschaft zu rechtfertigen. Legitimation durch Vergleich. Statt Monarchie ist es hier Demokratie; statt einer Ordnung mit einer Machtvertikale repräsentieren die Bienen nun ein Kollektiv mit horizontal verteilter Gewalt.
Dieser völlige Wechsel der politischen Koordinaten des Bildes scheint epistemologische Gründe zu haben: Die Entomologie hat im Verlauf des 20. Jahrhunderts einen epochalen Paradigmenwechsel vollzogen von Vorstellungen der Organisation durch Hierarchiebildungen, Zentralisierung, Planung und Top-down-Steuerung zu Konzepten der Selbstorganisation und verteilter Intelligenz. Es wäre leichtsinnig, in diesem Wechsel nur mehr einen Reflex auf gesellschaftlichen Wandel zu sehen, denn nach dem soziostrukturellen Pendant eines verteilten, dezentralen, sich selbst steuernden Schwarms wird man sich in der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts wohl vergeblich umschauen.[50] Dem vermuteten Zusammenhang zwischen der Entomologie sozialer Insekten, ihrer Epistemologie und ihrer Funktion als Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft jedoch werde ich in den nächsten Kapiteln dieser Studie genauer nachgehen. In diesem einleitenden Überblick geht es mir zunächst darum, das Spektrum des Bildbereiches vorzustellen und aus seiner Bandbreite und Widersprüchlichkeit offene Fragen zu entwickeln, die mich zu dieser wissensgeschichtlichen, kulturwissenschaftlichen und philologischen »Ameisenarbeit« motiviert haben.[51] Auf Ameisengesellschaften – der Plural ist wichtig – konzentriere ich mich, weil die Transfers zwischen Entomologie und Soziologie besonders folgenreich, die Vielgestaltigkeit und soziale Resonanz des Bildes besonders groß und die ästhetischen Figurationen besonders eindrucksvoll sind. Aber da nicht nur Flauberts Diskutanten von den Ameisen sofort zu den Bienen kommen, lohnt sich ein gelegentlicher Seitenblick auf diese zweite große Spezies der sozialen Insekten, die, anders als die ebenfalls in Gesellschaft lebenden Termiten, seit Jahrtausenden in der politischen Zoologie und ihren Bildern und Topoi einen festen Platz haben.
Bienen arbeiten fleißig am gemeinsamen Werk, vom Morgen bis zum Abend, berichtet Vergil in der Georgica (IV, 174–184). Alle arbeiten zusammen und ruhen gemeinsam nach verrichtetem Werk: »Omnibus una quies operum, labor omnibus unum.« (184) Aber nicht alle Bienen sind emsig. Die Drohnen lümmeln faul im Bienenstock herum und leben völlig skrupellos von der Arbeit anderer, »untätig an fremdem Mahl sich mästend« (244).[52] Verwehren nicht die Torwachen der Bienen ohnehin den trägen Drohnen den Zugang zum Stock (165ff), dann werden sie verjagt, wie Columella im neunten seiner Zwölf Bücher von der Landwirtschaft beobachtet (XV, 1), oder getötet, wie Plinius im elften Buch seiner Naturgeschichte (XI, 1) berichtet. Müßiggang ist nicht etwa aller Laster Anfang, sondern ein tödliches Risiko. Auch Bernard de Mandevilles berühmte Fable of the Bees von 1714 zitiert den Topos der fleißigen Bienen und faulen Drohnen. Er tut es jedoch nicht, wie bislang jeder gelehrte Kommentator der loci classici, um die Müßiggänger mit einem Hinweis auf die allfällige Drohnenschlacht zur Räson zu bringen. Vielmehr rechtfertigt er die Faulenzer mit der selbst zum Lehrspruch reüssierten Paradoxie: Private Vices, Publick Benefits.[53] Mandevilles Traktat, dessen Dialoge das spöttische Gedicht The Grumbling Hive (Der unzufriedene Bienenstock) aus dem Jahre 1705 kommentieren und fortschreiben, bestätigt mithin, siehe Bouvard und Pécuchet, keineswegs die Monarchie, sondern rechtfertigt einen ganzen Katalog von Lastern, ohne die eine große und mächtige, zivilisierte und prosperierende Gesellschaft nicht denkbar sei.[54] Drohnen im übertragenen Sinn zählen zu den Möglichkeitsbedingungen der Zivilisation, so wie es ohne Bienenmännchen auch keinen Bienenstaat geben kann. Legitimation durch Vergleich. Die Anthropologie und politische Theorie seiner Zeit stellt Mandeville mit der Behauptung in Frage, eine »gute Natur« des Menschen sei für eine gut eingerichtete Ordnung der Gesellschaft keineswegs nötig.[55] Ohne die reichen, bequemen, müßiggehenden Drohnen und ihren luxuriösen Aufwand gäbe es überhaupt keine Industrie, auf deren Erzeugnissen letztlich der Wohlstand aller beruhe. Daher reimt Mandeville: »Trotz all dem sündlichen Gewimmel / War’s doch im ganzen wie im Himmel.«[56] Um conspicuous consumption zu betreiben, den Thorstein Veblen in seiner Theorie der leisure class untersucht hat, brauche es keine Massen, feine Leute reichten vollkommen aus.[57] Nicht einmal ein Monarch werde unbedingt benötigt. Der zur Sentenz gewordene Untertitel der Abhandlung Mandevilles: Private Vices, Publick Benefits weist dem egoistischen Streben nach Vorteilen in der liberalen Ökonomie positive Effekte auf die Produktivität, den Erfindungsreichtum und den Wohlstand der gesamten Gesellschaft nach. Wie in einer Theodizee werden die Sünden des Einzelnen durch die allerdings durch und durch diesseitigen wohltätigen gesamtgesellschaftlichen Wirkungen gerechtfertigt. Anders als bei Adam Smith und dessen Theorem der unsichtbaren Hand geht Mandeville aber nicht von der Natürlichkeit oder Göttlichkeit dieser Einrichtung der Gesellschaft aus, sondern weist immer wieder darauf hin, dass sie von Menschen gemacht und daher nicht notwendig und unabänderlich, sondern kontingent sei. Mandevilles Bienenfabel richtet eine Passage zwischen Menschen und Insekten ein, die einmal nicht eine bestehende Ordnung durch Analogien mit einer natürlichen Ordnung legitimiert;[58] sie stellt vielmehr, umgekehrt, die vorgeblich alternativlose, notwendige Ordnung der Natur bzw. der Schöpfung in Frage.[59] »Das Leben dieser Bienen glich / Genau dem unsern, denn was sich / Bei Menschen findet, das war auch / En miniature bei ihnen Brauch«,[60] heißt es in Der unzufriedene Bienenstock oder Die ehrlich gewordenen Schurken. Doch folgert Mandeville daraus, dass dann doch wohl auch der Bienenstaat von unnützen Spielern und Schmarotzern, Betrügern und Verschwendern, Heuchlern und Müßiggängern nur so strotzen müsse.[61] Das Verhalten dieser »Knaves« (Schurken, Gauner)[62] hält Mandeville nun aber keineswegs für angeboren, sondern einen habit, eine »Gewohnheit«. Da dieser Habitus von Mandeville als eine Folge von Sozialisation und Erziehung betrachtet wird, erscheint er in einer Kontingenz, für die die Gesellschaft jedoch normalerweise blind ist, weil die Naturalisierung der Semantik die soziale Konstruktion der Verhaltensweisen verdeckt. Daher ist ihre Kraft so groß.[63] Es sei wiederum die Macht der Gewohnheit, die habitualisiertes Verhalten anthropologisiert und das Geläufige der Natur des Menschen zuschlägt.
Was Menschen und Bienen laut Mandeville tatsächlich gemeinsam haben und worauf sie ihre Gesellschaften errichten, ist das Verlangen nach Tauschwerten; honey reimt sich eben auf money. Wenn es ums Geld geht, wird der große Relativist schließlich doch noch substantiell. Jede Ordnung, diesseits aller historischen, kulturellen und sogar biologischen Rahmenbedingungen, baue auf dem Begehren ihrer Elemente auf,[64] den immer wieder angeführten »appetites«.[65] Mandeville folgert daraus, dass in einer »wohlgeordneten Stadt« auch Bordelle ihren guten Sinn haben,[66] aber man muss ihm hier nicht unbedingt folgen, denn auch diese Einrichtung ließe sich ja mit seinem eigenen Argument auf Kultur und Sozialisation zurückführen und so relativieren. Auch andere Einrichtungen würden ja diesem Begehren gerecht. Auch wenn man von Private Vices ausgeht, bleibt noch die Frage offen, wie die Gesellschaft so eingerichtet wird, dass Publick Benefits denkbar sind. Ob die Transsubstantiation der privaten Laster in allgemeinen Nutzen gelingt, hängt nämlich vom »management of a skilful politician«[67] ab, kann also auch missglücken, sonst wären spezifische skills ja überflüssig. Wenn es in einer Gesellschaft schlecht oder auch gut läuft, läge das folglich nicht an einer wie immer gearteten Natur des Menschen, die üblicherweise als politische Anthropologie den Staatsverfassungen zugrunde gelegt wird.[68] Vielmehr wäre es vom Gouvernement der Gesellschaft zu erwarten, die Elemente zu einem Ganzen zu verbinden. Hier freilich ließe sich auf die Wohlfahrt des Bienenstaates verweisen, um so ein Vorbild für ein für alle vorteilhaftes Management egoistischer Interessen zu finden, womit sich der Kreis schließt, insofern die politische Theorie wieder in der Natur eine »Bestätigung« für ihre Modelle findet.
Der in der Geschichte der sozialen Insekten als Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft epistemologisch wie politisch entscheidende Schritt von der Führung zur Selbstorganisation wird von Mandeville noch nicht getan, aber immerhin vorbereitet. Es ist kein Zufall, dass ein abtrünniger Sozialist und desto überzeugterer Marktwirtschaftler und Gegner staatlicher Steuerungsversuche wie Friedrich von Hayek Bernard de Mandeville gewürdigt hat als einen Ökonomen, der es als einer der Ersten verstanden habe, die Fehlbarkeit und Irrationalität des Menschen zu erkennen und die Leistung sozialer Ordnung gerade darin zu sehen, diese Eigentümlichkeiten produktiv zu wenden.[69] Während der gute Freund und große Antipode seiner Londoner Zeit, John Maynard Keynes, sich das »totalitäre« Gegenbild zu seinem Wunschbild einer Gesellschaft unabhängiger Individuen als Ameisenstaat vor Augen stellt,[70] ist von Hayek davon überzeugt, in den »Gesellschaften von Insekten, wie Bienen, Ameisen und Termiten« ein »lehrreiches« Beispiel zu finden für jene »abstrakten und komplexen Ordnungen, die auf die Arbeitsteilung zurückgehen«. Lehrreich deswegen, weil gerade an den Insektengesellschaften zu beobachten sei, dass die Tätigkeiten oder Tätigkeitsänderungen der einzelnen Ameisen oder Bienen nicht »einem zentralen Befehl zuzuschreiben« seien, noch »einer ›Einsicht‹ von Seiten des einzelnen Mitgliedes in das zu einem bestimmten Zeitpunkt von der Gesamtheit her gesehen Notwendige«. Weder ist ein reibungsloser Befehlsfluss von oben nach unten notwendig, der zu jeder Zeit genau vorschriebe, was zu tun und zu lassen sei, noch ein vollständiges Wissen des Individuums darüber, was, wie und warum es da eigentlich etwas so und nicht anders tut. Denn es sind die »Regeln des individuellen Verhaltens«, die zu einer »Gesamtordnung« führen, nicht aber umgekehrt die Gesamtordnung, aus der sich die Regeln für das Verhalten des Einzelnen ableiten lassen.[71] Mandevilles kritisch-skeptischer Blick auf die Kontingenz menschlicher Institutionen entgeht zwar von Hayeks Aufmerksamkeit; doch kann er sich, anders als Mandeville, Ordnungen vorstellen, die auch ohne »skilfull management« funktionieren, wenn man die Teile des Ganzen nur sich selbst überlässt. Die sozialen Insekten werden hier nämlich, im Gegensatz zu der Assoziation von Keynes, aber auch zur älteren Naturkunde, zu einem Exempel der Selbstorganisation, das gleich zwei Überzeugungen der liberalen Schule zu bestätigen vermag:
Erstens findet die Ökonomie der Ameisen und Bienen trotz aller Komplexität und Arbeitsteilung zu einem geradezu idealen Gleichgewicht, ohne dass dies auf die Eingriffe eines planenden Zentrums zurückzuführen sei. Zweitens benötigen die einzelnen Akteure für ein Handeln, das dem Gemeinwohl dient, keinen Überblick über die gesamte Gesellschaft und ihre Nöte und Bedürfnisse, Ressourcen und Techniken, sondern allein ein lokales, situatives, Mandeville würde sagen: ›privates‹ Interesse an ihren jetzt und hier verrichteten Tätigkeiten. Vom Bild des Bienenkönigs, der, wenn auch nicht allmächtig und allwissend, aber doch persönlich und wirkungsmächtig als Regent die Wohlfahrt seines Volkes einrichtet,[72] ist diese Konzeption der Insektengesellschaft als selbstorganisierte, homöostatische, paretooptimale Ökonomie denkbar weit entfernt.
Aber obwohl es in der modernen Gesellschaft und ihrer Wirtschaft um, wie von Hayek betont, abstrakte und komplexe, arbeitsteilige Ordnungen geht, liefern Ameisen und Bienen ein Vorbild, an dem sich genau dieser Ordnungstyp beobachten lassen soll. Daran ist überhaupt nur deshalb zu denken, weil die seit dem 19. Jahrhundert als Wissenschaft (statt als Zeitvertreib von Amateuren) betriebene Entomologie das Wissen über soziale Insekten erheblich erweitert und verändert hat, so dass die Beschreibungen von Insektengesellschaften selbst eine vergleichbare Komplexität erreicht haben; an diesem wissensgeschichtlichen Umbruch von der Insektenkunde zur Erforschung sozialer Insekten hat wiederum die entomologische Rezeption von ökonomischen Theorien und Metaphern eine bedeutende Rolle gespielt. Im Verlauf dieses Buches wird sich noch zeigen, dass soziale Insekten deshalb als Beispiel für eine komplexe, arbeitsteilige Gesellschaft fungieren können, weil sie von einer Entomologie modelliert werden, die aus den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften die entsprechenden Konzepte von Komplexität und Arbeitsteilung übernommen und auf ihrem Forschungsfeld angewendet hat. Der Erfolg dieses Einsatzes sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Methoden und Theorien ist derart groß, dass es zu zahlreichen Rückkopplungen zwischen den Diskursen kommt, die sich auf soziale Insekten einlassen. Die entomologische Erforschung der sozialen Ordnungen des Ameisenhaufens oder Bienenschwarms kann dann zum Modellfall der Gesellschaftstheorie werden, und die Soziologie geht, wie Thomas Seeley es sich wünscht, bei der Entomologie in die Lehre. Kein Wunder, dass auch heute noch entsprechende Selbstbeschreibungsformeln der Gesellschaft kursieren, werden doch zahllose Parallelen zwischen Insekten- und Humangesellschaften von der zeitgenössischen Soziobiologie herausgestellt. Wenn schließlich die moderne, evolutionsbiologisch und kybernetisch informierte Forschung eine bestimmte Abstraktionsebene erreicht hat, werden Analogien zu Identitäten, da die augenfälligen Unterschiede in der entomologisch-soziologischen Perspektive gar keinen Informationswert erzeugen. Ob Mensch, Computer oder Ameise, spielt dann keine Rolle. Der Überflieger Bill Gates ist also auch epistemologisch auf der Höhe, wenn er Michael Eisner belehrt, die Menschenmassen seien Ameisen.
Bei aller Komplexität und Abstraktion, die nach von Hayeks eigener Auskunft im Bild der Ameisen und Bienen komprimiert werden, weist das Exempel doch zugleich zwei dem völlig entgegengesetzte, aber zentrale Eigenschaften auf, die ihm seit der Antike durch alle Epochenschwellen und Paradigmenwechsel hindurch unverändert zukommen: Anschaulichkeit und Natürlichkeit. Anders als eine nationale Ökonomie lassen sich das Gewimmel eines Ameisennestes oder eines Bienenschwarmes, ein Nest, ein Staat, ein Hive, ein Schwarm in einem Bild repräsentieren. Das Exempel reduziert Komplexität, und es tritt nicht abstrakt auf, sondern macht sich im Bild anschaulich. Und anders als die Ordnungen der Wirtschaft gelten Insektenstaaten nicht als gemachte und daher auch nicht als anders vorstellbare, kontingente Einrichtungen, sondern als Produkte der Schöpfung oder Evolution, jedenfalls aber der Natur.[73] Ihre im Bild augenfällige Ordnung, man denke nur an die Arbeitsteilung der Soldatinnen und Arbeiterinnen, Brutpflegerinnen und Scouts, sei von Natur aus so. Für die Geltung des Exempels in einem ökonomischen, soziologischen oder politologischen Argument ist dies von entscheidender Bedeutung, denn ihre Naturgegebenheit entzieht sie jeder Kritik. Der gute oder kritische Rat an Ameisen oder Bienen, es einmal anders zu versuchen, entbehrt jeder vernünftigen Grundlage. Anders als in den jüngsten Animationsfilmen, in denen sich Ameisenvölker für eine neue Ordnung entscheiden, ist die Organisation eines Nestes für seine Mitglieder tatsächlich alternativlos; und sie lässt sich in prägnanten Formeln oder suggestiven Bildern medial repräsentieren. Obschon abstrakt und komplex, fungieren die Ameisen- und Bienengesellschaften als Illustration; und obschon das, was von Hayek mit einem lehrreichen Exempel zu veranschaulichen sucht, nur als kontingente Einrichtung verstanden werden kann, vermitteln die Insektengesellschaften der zu illustrierenden liberalen Ordnung der modernen Ökonomie neoklassischer Färbung den Anschein nicht anders vorstellbarer Notwendigkeit. Darin liegt eine der zentralen rhetorischen und diskurspolitischen Funktionen des Bildes.
Die Verknüpfung, die Ameisenhaufen und Bienenstöcke mit einem Gesellschaftstyp, einer Herrschafts- oder Regierungsform eingehen, ist nun, wie schon zu sehen war, selbst kontingent. Dies lässt sich dem Bild aber nicht ansehen. Es ist immer evident. Die Kontingenz der Verknüpfung lässt sich aber dann nur schwer übersehen, wenn wie im Falle Flauberts zwei Gemeinplätze angeführt werden, die ihre Selbstverständlichkeit schon dadurch gegenseitig in Zweifel ziehen, dass jeder Topos ganz auf die Gewissheit seiner Wahrheit setzt und so zugleich die Wahrheit der alternativen Formel bestreitet: »Die Bienen bestätigen die Monarchie!« Nun gut: »Aber die Ameisen die Republik!«[74] Dass hier zwei so unterschiedliche Staats- oder Regierungsformen gleichermaßen durch soziale Insekten beglaubigt werden sollen, verlängert entweder die Auseinandersetzung auf das Feld der Ameisen und Bienen. Dann würde man den politischen Gegner dadurch zu treffen suchen, dass man auf entomologischer Ebene den Nachweis führt, dass beispielsweise Ameisen keine Republikaner, sondern in Wahrheit Sklavenhalter sind oder Bienen keine gottgeschaffenen Monarchisten, sondern Anhänger eines Matriarchats oder einer Basisdemokratie. Oder die Konkurrenz der Bilder erzeugt Kontingenz und damit Skepsis gegenüber den rhetorischen Verfahren dieser Beglaubigung oder Affirmation. Entweder werden nun auch die Bienen oder Ameisen kritisiert oder verteidigt, wie es in der Zeit Flauberts beispielsweise Jules Michelet tatsächlich tut,[75] oder man stellt die Tauglichkeit der sozialen Insekten als Bestätigung für soziale Ordnungen schlechthin in Frage. Ameisen und Bienen, so könnte man kritisch folgern, besagen für unsere Gesellschaft gar nichts.
Erstaunlicherweise scheint es für diese Reserve gegen eine Gleichsetzung von Insekten und Menschen auf der, wie von Hayek schreibt, ›abstrakten‹ Ebene komplexer ›Ordnungen‹ kaum Beispiele zu geben. Im Vorgriff auf die folgenden Analysen und Lektüren, die auf der Sichtung von Hunderten von einschlägigen Verwendungsweisen des Bildes der Ameisengesellschaften aufbauen, lässt sich vielmehr sagen, dass es bis heute üblich ist, am Topos festzuhalten. Seine Evidenz ist eben overwhelming. Ein Insektenforscher, der sich zur Hygiene in urbanen Großräumen, zur nachhaltigen Wirtschaft, zum Umweltschutz, zur Organisation von Zeitarbeit, zur Überwachung von Menschenmassen oder zu Verkehrsleitsystemen äußert, hat beste Chancen, Gehör und massenmediale Resonanz zu finden. »Von den Ameisen lernen«, heißt die Devise,[76] was immer damit dann konkret gemeint ist. Dass sie einleuchtet, setzt die Wirksamkeit des Topos voraus, und tatsächlich hat er an Evidenz seit Aristoteles und Äsop, Plinius und Salomon nichts eingebüßt. Er zählt seit Jahrtausenden zu den bedeutenden Figurationen des Politischen. Allerdings verändern sich die Konnotationen des Bildes im Zuge wissenshistorischer Umbrüche. Heute würde man Flauberts Abbé entgegnen können, dass Bienen keineswegs die Monarchie, sondern gerade die Republik bestätigten. Die Bienenforschung selbst habe es gezeigt.[77] Und seinen Antagonisten könnte man selbstverständlich darauf hinweisen, dass Ameisen keineswegs ein Vorbild für die Republik darstellten,[78] sondern für eine auf »Mord und Totschlag« beruhende Alleinherrschaft einer Königin, die ungehorsame Arbeiterinnen »verprügelt« und diszipliniert. Auch dies habe, so Die Zeit, ein »Ameisenforscher« jüngst erwiesen.[79] Wie die Myrmekologie (Ameisenforschung) zeigt, bestätigt oder beweist auch die Apidologie alles Mögliche, ja, sogar das Unmögliche oder Phantastische. Die Entomologie bespielt das Dystopische so gut wie das Utopische. Seit der Entdeckung des weiblichen Geschlechts der bislang als König geltenden größten Biene im Stock durch Luis Mendes de Torres im Jahre 1586 und der breitenwirksamen wissenschaftlichen Durchsetzung dieses Wissens durch Johann Swammerdam »mit unwidersprechlichen Beweisen« beinahe 100 Jahre später[80] affirmieren die Bienen einander widersprechende Deutungsmuster des Sozialen von der idealen Monarchie über die Republik bis zum staatlich organisierten Superorganismus und weiter zu Multitude und Schwarm. Dass dies nicht an den Bienen liegt, sondern an semantischen Zuschreibungen, liegt auf der Hand. »Unglaublich, wofür Bienen alles gut sind«, staunt in einer Kulturgeschichte der Bienen Ralph Dutli,[81] dem doch manches entgangen ist. Ein Blick auf Ernst Jüngers Gläserne Bienen etwa hätte erwiesen, dass der »Bienenstock für den Menschen« eben nicht »immerzu etwas Positives, Ideales, Utopisches« hatte,[82] sondern durchaus etwas Unheimliches, Schreckliches, Dystopisches.[83] Das Staunen über diese schier »unglaubliche« Variationsbreite steht einem aufgeschlossenen Beobachter der Bienen sicher gut zu Gesicht, eine Kulturgeschichte sollte es aber dabei nicht belassen. Denn der Variantenreichtum des Bienenstaates als »politisch-moralisches Exempel«, um Eva Johachs wegweisenden Beitrag zu zitieren,[84] lässt sich auf seine politischen, biologischen und poetologischen Konstituenten zurückführen. Es sind die Konjunkturen und Zäsuren in der Geschichte der politischen Vernunft, der Epistemologie, der Insektenkunde und der Ästhetik, die das Bild des Bienenstaates immer wieder umschreiben. Der Gedanke, es werde sich mit der Laufbahn der Ameise als politischem Tier ähnlich verhalten, liegt nahe.
Bei allen Parallelen zur Kulturgeschichte der Bienen kommt dem kulturellen Bild der Ameise jedoch eine eigene Zeitlichkeit zu, was nicht zuletzt von der Eigendynamik der jeweiligen entomologischen Forschung abhängt. Beispielsweise wird die Tanzsprache der Bienen 50 Jahre vor der Pheromonsprache der Ameisen entdeckt. Die bahnbrechende Entdeckung des wahren Geschlechts des »Weisels«, der sich als Bienenkönigin entpuppt, findet in der Myrmekologie kein Pendant. Dies liegt offenkundig daran, dass das Ameisennest stets als Republik, Isokratie oder Demokratie betrachtet wurde, nicht aber als Monarchie. Niemand hat nach einem König in einem Staat gesucht, in dem eine »vollkommene Gemeinschaft der Güter« herrscht.[85] Das sprichwörtliche und immer wieder in Bildern wie Texten repräsentierte Gewimmel der Ameisen steht einer Zuschreibung zentraler Führung offenbar entgegen. Und so hat es auch nie sonderliches Aufsehen erregt, dass das wichtigste, da unersetzliche Exemplar im Nest ein Weibchen ist. Für Ameisenkönig gibt es keinen Eintrag im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, nur im Märchen hat er gelegentlich einen Auftritt.[86] Eine ähnliche Irritation, die die Entdeckung des Geschlechts des Bienenkönigs ausgelöst hat, hat es in der Kulturgeschichte der Ameisen nicht gegeben, so dass auch ein Ameisenweisel mit männlichem grammatischen Geschlecht und femininen Sexus nicht eigens erfunden werden musste. Umgekehrt fehlt den Bienen, ein weiterer Unterschied, die morphologische Variationsbreite einiger Ameisenspezies, die die Forschung mit hoher massenmedialer Resonanz von Soldaten, Arbeitern, Scouts, Zofen, Türstehern oder Kellermeistern und einer entsprechenden Arbeitsteilung sprechen ließ. Die Ameisen kennen keine »Drohnenschlacht«, und die Bienen führen keinen Krieg[87] und halten keine Sklaven, jedenfalls nach dem aktuellen Stand der Forschung und den bislang kursierenden Bildern nicht.
Daraus folgt: Die skizzierten Unterschiede machen eine spezifische Wissens- und Kulturgeschichte der Ameisen unerlässlich. Sie muss wissenshistorisch informiert sein, da die Konjunkturen und Paradigmenwechsel der entomologischen und speziell der myrmekologischen Forschung an der Konstitution des Bildes der Ameisengesellschaft in bedeutender Weise mitwirken. Dass Leinwand, Farbpalette und Pinsel, die die Entomologie für ihre Gemälde der Gesellschaft benutzt, selbst variieren, liegt aber nicht etwa an den Fort- oder Rückschritten auf diesem Forschungsfeld allein, sondern auch an der Attraktivität oder Evidenz einer hegemonialen Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft – sei es die Republik, sei es der totale Staat, sei es der libertäre Schwarm –, welche die Forschungen motiviert und an einem bestimmten Bild ausrichtet. Eine motiv- oder rhetorikgeschichtliche Untersuchung der sozialen Insekten, die nicht um die Entomologie und ihre wechselnden Epistemologien und Interessen wüsste, wäre genauso naiv wie eine Wissensgeschichte, die die poetologische und ästhetische Dimension ihres Gegenstandes missachtete. Denn die Faszination, mit der Ameisen unsere Gesellschaft über alle akademischen Grenzen hinweg in den Bann schlagen, stammt aus zwei Quellen: der attraktiven Gestalt des Bildbereiches und der Bedeutung der Forschung. Wie ein Blick in die Presse von der Zeit bis zum New Yorker, von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder Süddeutschen Zeitung bis zum New York Times Literary Supplement, vom Spiegel bis zur Neuen Zürcher Zeitung der letzten Jahre erweist, haben Erkenntnisse über soziale Insekten offenbar eine weit über die Entomologie hinausgehende Relevanz. Über neueste Forschungen wird in Zeitungen und Zeitschriften dem breiten Publikum berichtet. Selbst hochspezifische Fachdiskussionen, wie sie etwa in jüngerer Zeit um die sogenannte Hamilton-Regel geführt werden,[88] die altruistisches Verhalten genetisch zu erklären sucht, werden personalisiert und popularisiert.[89] Ich gehe auf die aufschlussreiche Kontroverse um diese Regel und ihre Bedeutung für die Selbstbeschreibung unserer Gesellschaft noch ausführlich ein. An dieser Stelle mag es genügen zu konstatieren, dass in den Wissenschaften, in der Literatur, in den Massenmedien notorisch der Eindruck erweckt wird, die Erforschung sozialer Insekten betreffe stets auch den Menschen und seine Gesellschaft. Diese Suggestion einer Übertragbarkeit macht einerseits Ansichten des Bildes der Ameisengesellschaft einem breiten Publikum interessant, andererseits zählt diese Bereitstellung von evidenten Analogien bereits zu den rhetorischen Effekten des Bildes. Beide Seiten stützen, ergänzen und verstärken sich gegenseitig. Die Kultur- und Wissensgeschichte sozialer Insekten muss daher stereoskopisch beobachten: mit zweifachem Blick auf die Poetik und auf die Epistemologie der Entomologie, auf die Bilder und Topoi und auf die Theorien und Modelle.
Auch dies gilt für Ameisen und Bienen. Naturkundlich unterfüttert und rhetorisch geschmückt, versinnbildlichen sie je unterschiedliche Möglichkeiten sozialer Ordnung. Alexander Pope unterscheidet 1734 »Der Ameis freyen Staat« von der »Monarchie der Bienen«[90] und betont ausdrücklich, dass die »Anarchie« der Ameisen von »Verwirrung frey« sei, ein jeder nehme die Gesetze der Republik wahr und erhalte sie zugleich. Voltaire setzt 1764 ebenfalls das Vorbild der demokratischen Ameise der von einer Königin regierten Bienenmonarchie entgegen: »Die Ameisengesellschaft gilt als eine hervorragende Demokratie. Sie ist allen anderen Staatsformen überlegen, da in ihr alle gleich sind und für das Wohl aller arbeiten.«[91] Die sozialkritische Spitze dieser Verbindung von Gleichheit und Arbeit ist hier schwer zu übersehen. Wenig später greift auch Gotthold Ephraim Lessing diese Unterscheidung auf und lässt seine Freimaurer Ernst und Falk von der »wunderbaren« Sozialordnung der Ameisen schwärmen. Auch in diesem Dialog werden die verschiedenen existierenden oder denkbaren Verfassungen der »Staaten« im Medium der sozialen Insekten abgebildet und erörtert. Es geht Lessings Diskutanten um die Frage, ob und wie sich die »Glückseligkeit des Staates« auch auf dessen »Glieder« erstreckt oder »einzelne Glieder« nicht vielmehr unumgänglich »leiden« müssten zum Wohle des Ganzen.[92] Die politische Philosophie von Aristoteles bis Hobbes hat in dieser Frage immer unbesehen für das Ganze und gegen die Teile optiert,[93] ganz als ob zu dieser Alternative keine Alternative bestünde und man sich allein zu entscheiden hätte zwischen der guten Einrichtung des Ganzen (auf Kosten der Teile) und dem Wohlergehen des Einzelnen (auf Kosten des Ganzen).
Als vorbildliche Architekten und gute Ökonomen führen die Freimaurer die Biene und ihren Stock im Wappen. Es liegt also nahe, dass »Gespräche für Freimäurer«[94] das Thema einmal streifen. Aber was haben Freimaurer mit Ameisen zu tun? Vor Lessing nichts, erst nach Bekanntwerden von Lessings Gespräch ist sie als Wappentier einzelner Logen nachzuweisen.[95] Der Auftritt des Topos in diesem Kontext wird denn auch – anders als etwa bei Flaubert – eigens motiviert. Ermüdet von einem »Rätsel«, das der Freimaurer Falk ihm aufgibt, zieht sich Ernst für einen Moment von dem Gespräch zurück: »Lieber lege ich mich indes unter einen Baum, und sehe den Ameisen zu.«[96] Ernst verspricht denn nun seinerseits Falk, ihn in einen »Zustande des stummen Staunens« zu versetzen. Er möge ihm nur Gesellschaft leisten und die Augen aufmachen: »Laß dich nur bei mir nieder, und sieh!« Was denn zu sehen sei, fragt Falk und erhält zur Antwort:
ERNST. Das Leben und Weben auf und in und um diesen Ameisenhaufen. Welche Geschäftigkeit, und doch welche Ordnung! Alles trägt und schleppt und schiebt; und keines ist dem andern hinderlich. Sieh nur! Sie helfen einander sogar.
FALK. Die Ameisen leben in Gesellschaft, wie die Bienen.
ERNST. Und in einer noch wunderbarern Gesellschaft als die Bienen. Denn sie haben niemand unter sich, der sie zusammen hält und regieret.
Die Bedeutung dieser Beobachtung erkennt Falk sofort und zieht, dank der längst etablierten Analogisierbarkeit von Ameisen und Menschen, eine äußerst politische Schlussfolgerung:
FALK. Ordnung muß also doch auch ohne Regierung bestehen können.
ERNST. Wenn jedes einzelne sich selbst zu regieren weiß: warum nicht?
FALK. Ob es wohl auch einmal mit den Menschen dahin kommen wird?
ERNST. Wohl schwerlich! FALK. Schade! ERNST. Ja wohl.[97]
Die Schau der Ameisen rückt Ernst in eine kritische Position gegenüber der gegebenen Gesellschaft. »Sieh nur!«, ruft er Falk zu. Zu sehen ist das Offensichtliche: eine geordnete Welt der Kooperation und Solidarität, die offensichtlich ohne Führung auskommt. Sie benötigen keinen Souverän, der sie »zusammen hält und regieret«, und doch sind die Ameisen zu bedeutenden Gemeinschaftsleistungen fähig. »Sie helfen einander sogar.« Das »Sieh!« reklamiert die Evidenz, die das zu beobachtende Phänomen wie von selbst produziert. Wer nur recht hinschaut, wird prompt feststellen, dass die Ameisengesellschaft ein Exempel für eine Ordnung darstellt, die weder monarchisch noch auch nur hierarchisch ist. Dass eigens betont wird, dass auch Bienen in Gesellschaften leben, verdeutlicht die Funktion des Beispiels: Es profiliert eine Alternative zur Verfassung der Bienen und setzt damit die monarchische Staatsverfassung kontingent. Sie ist folglich weder gottgegeben noch alternativlos, weder notwendig noch unvermeidlich. Die Beobachtung der Ameisen wird hier zu einem Generator oder Katalysator von Aufklärung und Kritik. Sie leistet einen erheblichen und unterschätzten Beitrag zur Befreiung des Menschen aus der von Kant diagnostizierten selbstverschuldeten Unmündigkeit. Die Beobachtung sozialer Insekten kann umstürzlerische Folgen zeitigen wie sonst nur die Lektüre von Rousseau oder Voltaire. Denn sie macht deutlich, dass alle »Staatsverfassungen Mittel«, und zwar »Mittel menschlicher Erfindungen« sind. Ernst, der Beobachter der Ameisen, konstatiert: »Der Staatsverfassungen sind viele.«[98] Die Staatsgemälde der Ameisen und Bienen halten diese Diversität präsent. Gerade durch ihre jeweilige Evidenz erzeugen sie Kontingenz. Aus der unmittelbaren Anschaulichkeit (»Sieh doch!«) gelangen Ernst und Falk zur Einsicht in die Konstruiertheit menschlicher Ordnung. Dies unterscheidet Lessings Beitrag zum Topos der Ameisen- und Bienengesellschaften von Pope und Voltaire und stellt ihn in eine Linie mit Mandeville. Keine Verfassung ist »unfehlbar«.[99] Der Bau der sozialen Welt kann also saniert, renoviert, aber auch umgestaltet oder gänzlich erneuert werden.
Auch wer noch viel genauer hinschaut als Ernst und Falk, unterstützt durch neue Instrumente und Modelle, Theorien und Methoden, sieht nicht unfehlbar die Wahrheit. Unhaltbar ist es daher, die Vorstellungen Lessings aus der Perspektive der neueren entomologischen Forschung zu »entmythologisieren« und doch zugleich anzunehmen, dass nun aber diese neuesten Forschungen sozusagen mythenfrei die wahre Wahrheit der sozialen Insekten enthüllten.[100] Vielmehr führen die Paradigmenwechsel der Myrmekologie nicht nur zu neuen Erkenntnissen und womöglich nachhaltigerem Wissen, sondern stets auch zu neuen Bildern und Narrativen. Pierre Huber ist es, der 1810 das von seinen Vorgängern von Plinius bis Karl von Linné generierte Wissen in seiner Einleitung nur erwähnt, um es zu übergehen und stattdessen eine Geschichte der Ameisen von der Wiege bis zur Bahre und von der Koloniegründung durch die befruchtete Königin bis zur imperialen Blüte und schließlich zum Untergang ihres Reiches zu schreiben.[101] Ameisen werden bei Huber überhaupt erst zum Subjekt einer Geschichte, die erzählt werden kann. Beim großen Taxonomen Linné wird man solche Zeilen vergeblich suchen:
»Um zehn Uhr morgens am 15. Juli erreichte eine kleine Division von blutroten Raubameisen, die von der Garnison entsandt wurden, nach schnellem Marsch ein nahegelegenes Nest von grauschwarzen Sklavenameisen, ungefähr 20 Schritte entfernt, in dessen Umgebung sie sich formierten. Die Bewohner bemerkten die Fremden und attackierten sie, worauf mehrere Gefangene genommen wurden. So machten die Raubameisen keinen Fortschritt, es schien als warteten sie auf Verstärkung. Von Zeit zu Zeit brachte die Garnison Unterstützung […] Überall rund ums Lager fanden in regelmäßigen Abständen Kämpfe statt […]. Als die Raubameisen ausreichend versorgt waren, stoßen sie in das Zentrum der Sklavenameisen vor, attackieren sie von allen Seiten und kommen zu den Toren ihrer Stadt.«[102]
Mit dem Beginn des Kampfes kommt der Text im Präsens an. Der Leser ist nun ganz nah dabei, wenn die Blutroten die Schlacht für sich entscheiden, die Stadt besetzen, ihren Reichtum beschlagnahmen und für den Abtransport der Beute in ihre eigene Hauptstadt sorgen. Eine kleine Besatzungstruppe verbleibt in der leeren und geplünderten Stadt.[103] Mit ähnlichen Worten hat Titus Livius die militärischen Großtaten Roms ab urbe condita beschrieben. Es fehlt nur, dass Huber dem Befehlshaber der Ameisendivision einen Namen gäbe. Dieses Versäumnis werden zahlreiche literarische Werke nachholen.[104] Ein weiteres Jahrhundert später wird man solche erzählerischen Passagen in der disziplinären Entomologie vergeblich suchen. Der state of the art ist nunmehr Wheelers These, die Ameisenkolonie als Einheit bilde einen Organismus, dessen Zellen die einzelnen Ameisen darstellten.[105] Nicht die Haupt- und Staatsgeschichte, sondern Darwins Evolutionstheorie liefert hier das Narrativ. Und am Ende des 20. Jahrhunderts liest man bei Kevin Kelly: »Die Ameisen sind eine parallelverarbeitende Maschine.«[106] Bildspender der Beschreibungssprache ist nicht länger der lebendige Organismus in seiner Umwelt, sondern eine digitale, elektronische Daten verarbeitende Maschine.
Bei aller Evidenz bleibt das, wofür das Bild steht, kontingent. Es variiert selbst unter Entomologen von Fach: Die Ameise firmiert, je nach Autor, Fachkultur und Epoche, als »Kriegerin«, die zu »Sklavenjagden« auf Raub auszieht und sich ihren Helotenvölkern gegenüber als »Herrin an Körpergröße, Kraft und Muth« auszeichnet;[107] oder sie gilt als altruistische, kooperative Spezies, deren soziale Ordnung Marx’ Idealbild vom »Sozialismus« nahekomme.[108] Die Ordnungsvorstellungen umfassen die gesamte Bandbreite dessen, was überhaupt in einer bestimmten Epoche über die Gesellschaft gedacht und auch gesagt werden kann. Um genauer in den Blick zu bekommen, was das aufgerufene Bild eines Ameisennestes in einem literarischen Text, einem Film, einer kommunikativen Situation oder einem kulturellen Kontext präzise bedeutet und welche Funktionen es erfüllt, muss es wissensgeschichtlich referenzialisiert und soziologisch analysiert werden. Die Analyse der Analogie Ameise/Mensch führt uns damit
1.) auf das Feld der Wissensgeschichte bzw. der science and technology studies. Hier wird es darum gehen zu rekonstruieren, was in einer bestimmten Epoche, einer bestimmten Kultur und einer bestimmten Disziplin als wissenschaftliches Wissen über Ameisen gilt. Es ist dafür unumgänglich, sich zumindest so weit auf die entomologischen Methoden und Theorien, Hypothesen und Beobachtungen einzulassen, um ausmachen zu können, welchen Unterschied sie jeweils machen. Denn was das Bild der Ameisengesellschaft in einem konkreten Fall konnotiert oder impliziert, ist auch ein Effekt des in dieses Bild eingeflossenen und von diesem Bild mobilisierten entomologischen Wissens.
An einem Gemeinplatz wie diesem, Menschen seien Ameisen, sind aber noch weitere Aspekte aufschlussreich: Nämlich
2.) die Entstehung und die Geschichte des Topos. Dies führt die Untersuchung auf das Feld einer poetologisch und medienwissenschaftlich informierten Kulturgeschichte. Das Bild der Ameisengesellschaft wird eben nicht allein durch das entomologische Wissen einer Epoche formatiert, sondern auch durch die Medien und Formen, in denen es erscheint. Darauf ergibt sich, dass die Faszinationsgeschichte der Ameisengesellschaften nicht allein von epistemischen Revolutionen strukturiert wird, sondern auch von Medienumbrüchen. Die Erfindung der drahtlosen Telegraphie oder des Internets hat für die Ordnungsvorstellungen, die im Bild der Ameisen kondensieren, ebenso gravierende Konsequenzen wie die Einführung von Emergenztheorien oder kybernetischer Modelle zweiter Ordnung in die Entomologie.
3.) So hell das Bild der Ameisen als Abbild, Vorbild, Zerrbild oder Vexierbild der Gesellschaft auch seit Jahrtausenden leuchtet, es wirft einen entsprechend dunklen oder langen Schatten. In diesem Schatten verschwindet das, was nicht mehr beobachtet werden kann, weil die strahlende Evidenz des Bildes alles andere ausblendet. Im Schatten der Ameisenstadt verschwinden beispielsweise alle nomadischen Lebensformen, als könne alles gemeinschaftliche Leben jenseits der Polis nur asozial sein. Im Schatten des Bildes der Ameise als simple agent verschwinden Individualität und Intelligenz. In der Inszenierung einer hocheffizienten, funktionalen Ordnung der Arbeit haben Lebensweisen, die aus dem Rahmen dieser instrumentellen Rationalität ausscheren, keinen Platz. Was im Schatten liegt, wird dann sichtbar, wenn die entomologischen Konzepte hinzugezogen werden, die das Bild konstituieren. Die Analyse der rhetorischen, poetologischen oder ästhetischen Dimension eines Bildes muss daher mit der Rekonstruktion des je implizierten myrmekologischen Wissens einhergehen.
4.) Diese systemtheoretische Hypothese zur Evidenz als Ausschluss alternativer Möglichkeiten legt die Vermutung nahe, dass in dieser Kombination von Licht und Schatten auch eine Funktion des Bildes besteht. Es geht hier darum, welche Selbstbeschreibungsformel einer Gesellschaft hier promoviert oder desavouiert wird. In dem Ringen um die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben und welche Kultur die richtige sei,[109] wird eine Antwort so hell ins Bild gesetzt, dass Alternativen außer Sicht bleiben müssen. Man sieht nicht, was sonst zu sehen wäre. Im Bild der Ameisengesellschaft werden bestimmte Formen sozialer Ordnung plausibilisiert und andere Möglichkeiten ausgeblendet.
Um das Beispiel einer deterritorialisierten, nomadischen Lebensform[110]