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Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Tausende von Amokdrohungen gab es seit 2005 gegen Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz – meist inspiriert von School-Shootings in den USA und dem restlichen Europa. Für Schulen und Lehrkräfte ist es oft schwierig, die Bedeutung solcher Drohungen einzuschätzen, vage Gerüchte von echten Alarmsignalen zu unterscheiden und dann in angemessener Weise aktiv zu werden, ohne entweder zu verharmlosen oder aber in Hysterie zu verfallen. Die Psychologin Sarah Neuhäuser und der Bildungsjournalist Armin Himmelrath haben erstmals flächendeckend die School-Shooting-Drohungen der letzten Jahre im deutschsprachigen Raum analysiert. Welche Regelmässigkeiten gibt es bei denen, die drohen? Was treibt sie an? Wie und was planen sie, wen weihen sie ein? Die Autoren zeigen, dass es im Vorfeld häufig wiederkehrende Muster gibt, und vermitteln in ihrem Buch das Wissen, das Lehrerinnen und Lehrer brauchen, um sich in Präventionsteams auf konkrete Bedrohungsszenarien an der eigenen Schule vorbereiten zu können. Ein Buch, das als Leitfaden gelesen werden kann und dessen Botschaft klar ist: Gerade weil es sich bei School-Shootings in aller Regel nicht um spontane Amokläufe, sondern um vorbereitete Aktionen handelt, kann rechtzeitig präventiv interveniert werden.
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Seitenzahl: 171
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Armin Himmelrath, Sarah Neuhäuser
Amokdrohungen und School-Shootings
Vom Phänomen zur praktischen Prävention
ISBN Print: 978-3-0355-0036-3
ISBN E-Book: 978-3-0355-0101-8
1. Auflage 2014
Alle Rechte vorbehalten
© 2014 hep verlag ag, Bern
www.hep-verlag.com
Zusatzmaterialien und -angebote zu diesem Buch:
http://mehr.hep-verlag.com/amokdrohungen
Schulanschläge und ihre Androhung sind schreckliche Taten. Doch so hilflos Schulen, Lehrer, Eltern und Mitschüler auf den ersten Blick scheinen, sind sie nicht.
In der ausgiebigen Beschäftigung mit Menschen, die ihrer direkten Umwelt mit massiver Gewalt und Tod drohen, wurde uns immer wieder deutlich vor Augen geführt, welche terrorisierende Wirkung ein Amoklauf, ein School-Shooting, ein Anschlag in einer Schule hat und wie beängstigend allein schon die Drohung mit einem solchen Schulanschlag ist. Keine Frage, mit einer Amokdrohung oder -tat möchte man als Lehrerin oder Lehrer, als Schüler oder Elternteil, als Schulpsychologe oder Polizist niemals konfrontiert werden. Warum dann dieses Buch?
Wir haben uns in unseren Berufsfeldern aus ganz unterschiedlicher Sicht schon lange mit dem Thema schwerer zielgerichteter Gewalt in Schulen und Bildungseinrichtungen beschäftigt: Sarah Neuhäuser als Psychologin, Armin Himmelrath als Bildungs- und Wissenschaftsjournalist.
Bei Sarah Neuhäuser war es der Satz: „Es ist nicht die Waffe, die tötet, sondern der Wille dahinter“, der aus ihrer Sicht trotz seiner Kürze ein umfangreiches und hochbrisantes Thema besser nicht hätte auf den Punkt bringen können. Dieser Satz motivierte sie zu einer Forschungsarbeit, die es so bisher im deutschsprachigen Raum nicht gab: die Untersuchung aller Schulanschlagsdrohungen in Deutschland zwischen 2005 und 2010. Es war eine wissenschaftliche Herausforderung, unterschiedliche Theorien und Methoden zu kombinieren – ganz zu schweigen von der Datenerhebung in den Bundesländern, die nach unterschiedlichsten Kriterien erfolgt und aus Sicht der Forscherin zunächst kaum miteinander verglichen werden konnten. So entstand eine inter- und intraindividuelle Betrachtung der Prozesse, die schweren zielgerichteten Gewalttaten immer vorausgehen und die nunmehr einen genaueren und fundierten Blick auf diejenigen erlaubt, die mit einer Amoktat drohen. Ziel war die Verbesserung der Früherkennungsstandards: Potenzielle Gewalttäter an Schulen können nunmehr beschrieben und Regelmäßigkeiten in ihrem Vorgehen festgestellt werden. Die dabei entstandene Pilotstudie, die die wissenschaftliche Basis des Buches bildet, befasst sich auch mit der Konkretisierung von Realkennzeichen der Amokandrohungen, vergleichbar mit der Methode bei suizidalen Äußerungen von potenziellen Selbstmördern. Dies ermöglicht nahezu sicher, die realen von den Pseudo-Suizidenten zu unterscheiden. Welche Drohungen sind ernst zu nehmen, welche fallen in eine homogene Kategorie, welche sind inkonsistent und aufmerksamkeitserhaschend? Das waren die Leitfragen. Auch wenn klar ist, dass sich nicht jede Tat verhindern lässt, wird deutlich: Schulanschläge ereignen sich nicht anlasslos und urplötzlich, sondern haben eine manchmal jahrelange Vorgeschichte mit entsprechenden Anzeichen. Auf diesem Gebiet ist noch weitere Forschung nötig, den Grundstein möchte die Pilotstudie bereits jetzt zum Thema Amokdrohungen legen.
Armin Himmelrath hat als Berichterstatter und Journalist für verschiedene Medien wiederholt zu Schulanschlägen und Amokläufen berichtet. Besonders eindringlich war dabei der Anschlag in Winnenden – wobei am Tag der Tat das journalistische Handwerkszeug und die effektive Aufarbeitung und Bereitstellung der Informationen im Mittelpunkt standen, insbesondere im Rahmen der Sendung „Hintergrund“ im Deutschlandfunk. In der Folgezeit jedoch kam es mit Kollegen und Freunden immer wieder zu Diskussionen darüber, inwieweit sich die Medien dabei auch instrumentalisieren lassen: Wenn ausgiebig über schwere zielgerichtete Gewalttaten berichtet wird, erfüllen Journalisten damit in aller Regel nicht nur ihre Informationsaufgabe, sondern gleichzeitig auch die Erwartungen des Täters. Diese Zweischneidigkeit zeigt sich schon bei der Berichterstattung über reine Tatdrohungen – auch hier gehört das Öffentlichmachen, die möglichst effektive Verbreitung der Drohung zum Konzept des Täters. Dem Täter nicht auf den Leim zu gehen, ist deshalb für Berichterstatter eine enorme Herausforderung.
Aus bildungsjournalistischer Sicht kommt noch ein weiterer thematischer Aspekt hinzu – die Frage, inwieweit Lehrerinnen und Lehrer auf die Ausnahmesituation einer solchen Drohung vorbereitet werden und welche Handlungsmöglichkeiten sie insbesondere im Rahmen der Prävention im Vorfeld haben. Ohne die Ausführungen des vorliegenden Buches vorwegzunehmen: Es gibt diese Handlungsmöglichkeiten, und sie sind nicht ursächlich von besseren Rahmenbedingungen der Bildungspolitik abhängig, denn sie fußen vor allem auf den pädagogischen Kenntnissen, die die Lehrkräfte ohnehin mitbringen und die sie im Rahmen ihres professionellen Handelns problemlos einsetzen können.
Wir möchten Ihnen mit unserem Buch den Anstoß geben, präventiv gegen Schulanschläge und deren Androhungen vorzugehen. Es soll Ihnen helfen, frühzeitige Anzeichen eines geplanten School-Shootings zu erkennen und vorbeugende Maßnahmen rechtzeitig ergreifen zu können. Den Blick zu schärfen für problembehaftete Situationen und kritische Entwicklungen innerhalb der Schulgemeinde, ist der erste Schritt zur Gewaltvorbeugung an Ihrer Schule – dafür soll das vorliegende Buch Ihnen Leitfaden und Hilfsmittel sein.
Köln, im Februar 2014
Armin Himmelrath – Sarah Neuhäuser
1.1Der schwierige Umgang mit Drohungen
1.2Amok, School-Shooting, Attentat – Viele Begriffe für eine Tat
1.3Schulanschläge und Drohungen als kommunikativer Akt
1.4Werther- und Copycat-Effekt
1.5Verschweigen chancenlos
1.6Was können Lehrerinnen und Lehrer tun?
2.1Der Begriff der schweren zielgerichteten Gewalt – School-Shooting
2.2Darstellung des Phänomens: Leaking
2.2.1Ungewollte Vorankündigungen
2.2.2Bewusste Vorankündigungen
2.3Einbettung in Kriminalitätstheorien
2.4Darstellungen der bisher angedrohten School-Shootings im Hellfeld
2.5Interpretation der Erhebung
2.5.1Interpretation quantitativer Anteil
2.5.2Interpretation qualitativer Anteil
2.5.3Interpretation der ermittelten Daten
3.1Aktueller Forschungsstand
3.2Erste Evaluierungen
3.2.1Persönlichkeit der Täter
3.2.2Klinisches Bild der Täter
3.2.3Schulisches Umfeld der Täter
3.3Cyberbullying – Mobbing im Netz
3.3.1Aktuelle Mobbing-Zahlen der Cyberlife-Untersuchung
3.3.2Gefahr durch Cybermobbing? – Streit in der Wissenschaft
3.4Die Relevanz der Fantasie
3.5Auswirkungen von Amokläufen
3.6Medieneinfluss
3.7Schulklima – Der unterschätzte Faktor
4.1Was Schulattentäter gemeinsam haben
4.1.1Gesammelte Regelmäßigkeiten der Pilotstudie
4.1.2Konkretisierung von Realkennzeichen des Leakings
4.2Präventionsprogramme
4.3Notfallpläne an Schulen zur Verbesserung der Sicherheit
4.4Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit auf polizeilicher Ebene
4.5Handlungssicherheit in Gefahrensituationen
4.6Unterweisung und Aufklärung
5.1Die Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte
5.2Die Ausstattung der Schulen mit konfliktgeschultem Personal
5.3Die Erfassung und Dokumentation von Drohungen
5.4Das Waffenrecht
6.1Präventionsplan
6.2Maßnahmenplan bei einem Schulanschlag
6.3Durchführung einer kollegiumsinternen Fortbildung
6.4Zusatzinformationen zum Alarmsystem bei Amokgefahr
6.5Schlussbemerkungen
Schulanschläge machen Angst. Entsprechend leicht lässt sich mit einer Amokdrohung eine ganze Schule terrorisieren. Wer versteht, was in den Köpfen der Amokdrohenden und der Täter vorgeht, kann auf Alarmsignale frühzeitig reagieren.
Erfurt, Emsdetten, Winnenden – diese Städtenamen (und viele andere) sind im kollektiven Gedächtnis mit sogenannten Amokläufen an Schulen verbunden. Die Vorstellung, dass ein schwer bewaffneter Schüler oder Ex-Schüler Rache an seinen Klassenkameraden, Lehrern und Mitschülern nimmt und gezielt mordet, ist schon als abstrakt formulierter Gedanke kaum greifbar. Umso größer sind das Entsetzen und der Schock, wenn ein Schulanschlag tatsächlich Realität wird.
In anschließenden Debatten werden Sicherheitsmaßnahmen an Schulen diskutiert, Notfallpläne entworfen oder überarbeitet und scheinbar präventive Maßnahmen vorangetrieben. Oft sind solche Aktivitäten jedoch nur hilflose Reaktionen auf eine als unkontrollierbar und stark bedrohlich empfundene Vorstellung einer Situation. Tatsächlich ist die statistische Gefahr, als eine von weit über 50.000 Schulen im deutschsprachigen Raum zum Ziel eines Anschlags zu werden, sehr gering. Im Durchschnitt gab es in den vergangenen Jahren pro Jahr in Deutschland nur einen tatsächlich durchgeführten Schulanschlag oder den Versuch dazu. Entsprechende Meldungen aus der Schweiz und aus Österreich liegen nicht vor.
Deutlich größer ist die Gefahr, als Schule mit einer Amokdrohung konfrontiert zu werden und entscheiden zu müssen, ob diese Drohung ernst zu nehmen und wie darauf zu reagieren ist. Seit 2005 gab es tausende bekannt gewordene Amokdrohungen gegen Schulen vor allem in Deutschland, aber auch in Österreich und in der Schweiz. Meist sind sie inspiriert von School-Shootings in den USA und Europa. Diese Zahlen sind möglicherweise aber nur die Spitze des Eisbergs: Zahlreiche Fälle werden nicht öffentlich oder aktenkundig, vielleicht durch besonnenes Handeln der Betroffenen, durch gezieltes Schweigen gegenüber der Öffentlichkeit oder auch durch Ignoranz. Wie wichtig der Trittbrettfahrereffekt beim Thema Schulanschlag ist und wie stark Medienberichte und die Kommunikation in sozialen Netzwerken sind, wird noch thematisiert.
Für Schulen und Lehrer ist es oft schwierig, die Bedeutung solcher Drohungen einzuschätzen, Gerüchte von tatsächlichen Alarmsignalen zu unterscheiden und in angemessener Weise aktiv zu werden. Um die Situation richtig einschätzen zu können, müssen Lehrkräfte für folgende Fragen sensibilisiert werden: Welche Regelmäßigkeiten gibt es bei den Schülern, die mit einem Schulanschlag drohen? Was treibt sie an? Wie und was planen sie? Wen weihen sie ein?
Im Vorfeld einer Drohung oder eines Anschlags gibt es häufig wiederkehrende Muster, die es zu veranschaulichen gilt. Dieses Buch möchte den Lehrerinnen und Lehrern das Wissen vermitteln, das sie brauchen, um sich in Krisenpräventionsteams (KP-Teams) auf konkrete Bedrohungsszenarien an der eigenen Schule vorbereiten zu können. Im Mittelpunkt steht nicht die Analyse der Ereignisse, sondern der Blick auf das Zusammenleben an Schulen und auf die Unregelmäßigkeiten, die im Vorfeld einer konkreten Tat wahrnehmbar sind. Fast alle einschlägigen Studien zeigen, dass Schulattentäter vor ihrer Tat – bewusst oder unbewusst – Hinweise auf ihre Pläne geben. Leaking nennen das die Experten und sehen hier den wohl besten Ansatzpunkt für die Prävention.
Das vorliegende Buch soll daher als Leitfaden dienen, der dabei hilft, einen möglichen Schulanschlag frühzeitig zu erkennen und geeignete Maßnahmen einzuleiten. Da es sich bei School-Shootings in aller Regel nicht um spontane Amokläufe, sondern um vorbereitete Aktionen handelt, kann rechtzeitig präventiv interveniert werden. Voraussetzung ist allerdings, dass das Thema Amoklauf entmystifiziert wird: Denn die einfachen Erklärungsmuster vom Ego-Shooter spielenden, schwarz gekleideten Einzelgänger und Außenseiter stimmen nur bedingt. Werden Schulattentäter ausschließlich auf die Mitgliedschaft in einer Subkultur reduziert und nach einfachen Kriterien schubladenartig beurteilt, können komplexere Zusammenhänge übersehen werden. Es existiert keine Checkliste mit einhundertprozentiger Amokläufer-Identifikations-Garantie. Die Kriterien, die es gibt, können immer nur Bausteine in der Bewertung einer komplexen und emotionalen Situation sein. Gefragt ist nicht das Durcharbeiten von Fragebögen, sondern der pädagogische Blick auf die Gesamtsituation. Lehrerinnen und Lehrer sollen darin bestärkt werden, niedrigschwellige Krisenintervention zu leisten und Expertinnen und Experten anderer Fachdisziplinen heranzuziehen, wenn die notwendigen Maßnahmen über den pädagogisch-erzieherischen Alltag der Schule hinausreichen. Wird der Verdacht einer schweren zielgerichteten Straftat, wie es bei einem Schulanschlag der Fall ist, in Erwägung gezogen, muss die Schule handeln können. Ziel ist es deshalb nicht, die psychologische oder kriminologische Erklärung von Einzelfällen oder eine umfassende Chronik und Analyse der Schulanschläge im deutschsprachigen Raum vorzulegen, sondern der Versuch, sich wiederholende Strukturen zu verdeutlichen und damit frühzeitig konkrete Handlungsoptionen zu eröffnen.
Die meisten School-Shootings gab es bislang in den USA, direkt gefolgt von Deutschland. Seit 1999 wurden insgesamt neun School-Shootings in Deutschland ausgeführt, auf die nachfolgend kurz eingegangen werden soll. Die Auflistung wurde aufgrund von Internetrecherchen erstellt und erfolgt chronologisch absteigend.
•22. Mai 2012 – Memmingen (Bayern): Ein 14-jähriger Schüler bedroht an der Lindenschule andere Mitschüler mit Schusswaffen und flieht dann. Er wird festgenommen.
•18. Februar 2010 – Ludwigshafen (Rheinland-Pfalz): Ein 23-Jähriger, bewaffnet mit Messer und Schusswaffe, tötet in der Technischen Berufsschule seinen ehemaligen Lehrer. Die Polizei kann ihn stellen.
•17. September 2009 – Ansbach (Bayern): Ein 18-Jähriger greift im Gymnasium Carolinum seine Mitschüler mit Messern, einer Axt und Brandsätzen an. Die Polizei stellt den Täter und verletzt ihn schwer. Zwei Schüler tragen gravierende Verletzungen davon, neun Schüler werden ebenfalls verletzt. Ein Mädchen erleidet schwere Brandverletzungen, eine andere Schülerin hat tiefe Stichwunden am Kopf.
Die Polizei findet im Zimmer des Täters das Kalenderblatt, auf dem „Apocalypse today“ vermerkt ist. Sein Vorbild seien frühere Schulmassaker in den USA gewesen, so die Polizei. Der Täter plante seine Tötung durch die Polizei mit ein. Auf seinem Laptop können mehrere Dokumente rekonstruiert werden. Sie zeigen, dass der Schüler bereits Mitte April ein School-Shooting im Sinn hatte und Mitte Mai erste konkrete Pläne ausarbeitete – bis hin zu Tatzeit, Bewaffnung und Etagenaufteilung des Schulgebäudes. Sein Plan soll es gewesen sein, mit Feuer alle Schüler aus ihren Klassenzimmern zu treiben, um diese dann auf der Flucht mit der Axt zu attackieren. Somit ging der Täter nicht ziel- und personengerichtet vor. Es ging ihm in erster Linie darum, so viele Schüler wie möglich hinzurichten.
•11. März 2009 – Winnenden (Baden-Württemberg): Ein 17-jähriger ehemaliger Schüler der Albertville-Realschule schießt in drei Klassenzimmern auf neun Schüler (im Alter von 14 und 15 Jahren) und drei Lehrerinnen, mit tödlichem Ausgang. Er trägt einen schwarzen Kampfanzug. Der Täter schießt nicht wild um sich, sondern richtet mit seiner 9-Millimeter-Pistole acht Schüler mit einem Kopfschuss hin. Anschließend verlässt er das Schulgebäude und tötet einen Mitarbeiter einer nahegelegenen Klinik. Er zwingt einen Autofahrer, ihn zu fahren, lässt die Geisel aber später wieder frei. 40 Kilometer weiter, in Wendlingen, kommt es bei einem Autohaus und einem Supermarkt zum Schusswechsel zwischen Amokläufer und Polizei. Dabei werden zwei Passanten getötet und zwei Polizisten verletzt.
Im Anschluss richtet der Täter sich selbst. Die Waffe, eine Beretta, stammt wahrscheinlich aus dem Arsenal des Vaters. Dieser besitzt als Mitglied im Schützenverein mehrere Schusswaffen legal.
•20. November 2006 – Emsdetten (Nordrhein-Westfalen): Ein 18-Jähriger, maskiert, stürmt gegen 9:30 Uhr seine ehemalige Realschule und verletzt mehrere Menschen durch Schüsse, bevor er sich selbst tötet. Insgesamt erleiden 37 Menschen Verletzungen, fünf davon durch Schüsse.
•16. Januar 2005 – Ahrensburg (Schleswig-Holstein): Wahrscheinlich aufgrund schlechter Zensuren erstechen ein 18-Jähriger und sein zwei Jahre älterer Bruder eine Lehrerin in ihrer Wohnung. Der ältere Bruder wird im Oktober 2005 wegen Mordes zu acht Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Gegen den Jüngeren läuft ein zweiter Prozess.
•2. Juli 2003 – Coburg (Bayern): Ein 16-jähriger Realschüler, dessen Versetzung gefährdet ist, schießt auf eine Schulpsychologin und auf seine Klassenlehrerin. Danach tötet sich der Junge selbst. Die 41 Jahre alte Lehrerin bleibt unverletzt. Die 52-jährige Psychologin wird am Bein getroffen.
•26. April 2002 – Erfurt (Thüringen): Ein 19 Jahre alter Schüler richtet am Erfurter Gutenberg-Gymnasium ein Blutbad an. Vorab war er der Schule verwiesen worden. Er tötet zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Sekretärin und einen Polizisten. Dann erschießt er sich selbst.
•19. Februar 2002 – Freising (Bayern): In einer Berufsschule tötet ein 22-Jähriger den Direktor der Schule und verletzt einen Lehrer. Anschließend begeht der ehemalige Schüler Selbstmord. Er war vorbestraft und als Motiv galten Rache und Hass. Davor hatte er in einer Firma zwei Ex-Kollegen erschossen.
•16. März 2000 – Brannenburg (Bayern): Ein 16-jähriger Schüler schießt einem 57-jährigen Internatsleiter in den Kopf. Der Täter war kurz zuvor der Anstalt verwiesen worden. Anschließend verletzt sich der Jugendliche selbst schwer. Sein Opfer stirbt sechs Tage nach der Tat.
•9. November 1999 – Meißen (Sachsen): Ein 15-jähriger Gymnasiast, vermummt und in Schwarz gekleidet, stürmt in die Klasse 9 der Schule, um, mit zwei Messern bewaffnet, auf seine 44-jährige Geschichtslehrerin einzustechen (22 Stichverletzungen). Der Täter kann im Zuge der Sofortfahndungsmaßnahmen der Polizei festgenommen werden. Laut Gutachten leidet er an einer Störung der Persönlichkeitsentwicklung. Ein Motiv für die Tat soll eine Wette unter Schülern gewesen sein.
•5. Mai 1997 – Zöbern (Niederösterreich): Ein 15-Jähriger, der versucht, eine Schülerin zu vergewaltigen, erschießt eine 48-jährige Lehrerin, die dem Mädchen zu Hilfe kommt, und verletzt eine weitere Pädagogin durch einen Schuss ins Bein. Der Täter wird festgenommen und später zu acht Jahren Haft verurteilt.
Hier handelt es sich um keinen Schulanschlag im eigentlichen Sinn: Mit den Schüssen wollte der Täter in erster Linie die versuchte Vergewaltigung verdecken und, nach den Ergebnissen des Prozesses, nicht Rache am Schulsystem oder an bestimmten Personen nehmen.
•3. Juni 1983 – Eppstein: Ein 34-jähriger Wachmann dringt in die Freiherr-vom-Stein-Schule ein, tötet drei Schüler, einen Lehrer, einen Polizisten und verletzt weitere 14 Menschen. Der Täter bringt sich anschließend um.
•11. Juni 1964 – Köln-Volkhoven: Ein 42-jähriger Frührentner dringt, bewaffnet mit einem Flammenwerfer und einer selbst gebauten Lanze, in seine ehemalige Grundschule ein und ermordet acht Kinder und zwei Lehrerinnen. Weitere 20 Kinder werden zum Teil schwer verletzt. Der Täter wird angeschossen, stirbt aber letztlich an einem hochgiftigen Pflanzenschutzmittel, das er in Selbstmordabsicht eingenommen hat.
•20. Juni 1913 – Bremen: Ein mit mehreren Pistolen bewaffneter 30-jähriger arbeitsloser Lehrer stürmt die Mädchenschule. Fünf Schülerinnen im Alter von 7 und 8 Jahren werden getötet, 18 weitere Kinder und fünf Erwachsene werden verletzt. Der Täter wird später festgenommen.
•25. Mai 1871 – Saarbrücken: Ein Gymnasiast schießt mit seinem Taschenrevolver auf zwei Mitschüler, beide werden schwer verletzt. Der Täter wird anschließend festgenommen. Der Anschlag wird von einigen Experten als „Prototyp des School-Shootings“ bezeichnet.
Nachfolgend werden die Begriffe Amok, Amoklauf, Attentat und Schulanschlag näher erklärt, da es sich hierbei um nicht ausreichend eindeutige Begriffe handelt, die uneingeschränkt synonymisch verwendet werden können.
Delinquenz nennt man das Verhalten, das einer schweren Gewalthandlung zugrunde liegt. Gemeint ist damit sozial abweichendes, nicht der Norm entsprechendes Verhalten und insbesondere der Teilausschnitt, der strafrechtlich relevant ist. „Der Begriff ist wertneutraler als der der Kriminalität. Kriminalität ist die Gesamtheit aller Straftaten.”1 Jeder gezielte Angriff auf mehrere Opfer, bei dem ein schulisches Umfeld oder eine ähnliche Einrichtung wie ein Ausbildungszentrum, eine Hochschule oder ein Sportverein bewusst als Tatort ausgewählt wird, ist solch eine schwere zielgerichtete Gewalt, der ein hohes Maß an Delinquenz zugrunde liegt. Insbesondere bei Anschlägen im schulischen Bereich und mit hohen Opferzahlen wird auf Begriffe wie Amoklauf, Durchdrehen und wahllos um sich schießende Täter zurückgegriffen. Damit entsteht häufig das Bild eines planlos handelnden, nicht berechenbaren Täters – ein Trugschluss. Im Gegenteil haben schwere Gewalttaten an Schulen, die in der Öffentlichkeit in der Regel als Amokläufe bezeichnet werden, häufig ein berechenbares Grundmuster.
Deshalb wird auch die Bezeichnung Amoklauf zahlreichen Taten mit schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen nicht gerecht, da sie sich oftmals dadurch auszeichnen, Resultat klarer Planung und bestimmten Entwicklungsvorgängen zu sein. Die Öffentlichkeit und die Medien werden von den Tätern dabei in erster Linie als Publikum gesehen, um Rache und Aufmerksamkeitstaten entsprechend zu inszenieren. Da es sich vorwiegend um jugendliche Täter handelt, wird die Schule oft zum Ort des Geschehens.
In den vergangenen Jahren wurde in der Wissenschaft eine neue Begrifflichkeit eingeführt, wodurch Amoklaufan Schulen ersetzt wurde: School-Shooting. Dieser Begriff beinhaltet den Ankündigungscharakter, der typisch für diese Art des Amoks ist. Er schließt den Aspekt, spontan zu handeln und blind vor Wut zu sein, aus. Treffender ist es, von einer kalten Wut zu sprechen, die aus einer inneren Rationalität heraus mit gnadenloser Konsequenz exekutiert wird. Das bedeutet allerdings nicht, dass es während der Tat nicht zu Raserei oder zu einem Blutrausch kommen kann. Möglicherweise ist deswegen die Bezeichnung Amoklauf auch bei School-Shootings in westlichen Industrienationen im allgemeinen Sprachgebrauch immer noch präsent – vor allem deshalb, weil es sich dabei um Personen handelt, die schwere Gewalttaten scheinbar wahllos gegen andere Personen richten. Wegen dieser nicht ausreichend eindeutigen Begrifflichkeit werden im Folgenden die Bezeichnungen Amok, Amoklauf und School-Shooting weitgehend synonym verwendet. Weiterhin wird, da es bisher keine klare deutschsprachige Bezeichnung für solche Taten gibt, der Begriff Schulanschlag eingeführt.
Schulanschlag beschreibt Taten, bei denen ein Täter gegenüber aktuellen oder früheren Angehörigen einer Bildungs- oder Ausbildungseinrichtung gezielt und am Ort seiner empfundenen Demütigung schwere Gewalttaten plant und umsetzt.
Dabei darf ein Aspekt nicht außer Acht gelassen werden: Der Terror und die Angst, die hinter Schulanschlägen stecken, sind nicht nur Strategie des direkten Täters, sondern auch der zahlreichen Trittbrettfahrer, die mit dem Grauen eines zuvor stattgefundenen School-Shootings spielen und damit ihre eigene Welt und ihr Umfeld, die Schule und die dort agierenden Personen, unter Druck setzen. Wer es als wütender Schüler oder frustrierte Schülerin den anderen mal so richtig zeigen will, wer eigene Machtgefühle durch Angsteinjagen ausleben möchte, der muss nur ein paar anonyme Drohungen machen. Bei geschätzt 45.000 Schulen in Deutschland, über 6.000 in Österreich und rund 6.500 in der Schweiz ist nicht nur die Zahl möglicher Drohziele enorm, sondern eine maximale öffentliche Aufmerksamkeit ist garantiert. Schulen gelten als Schon- und Rückzugsraum für Kinder und Jugendliche. Wer massiv in diese Welt einbricht, beispielsweise mit einer Todesdrohung, begeht damit eine maximale Grenzüberschreitung.
Schulanschläge und Drohungen mit einem Amoklauf müssen als kommunikativer Akt begriffen werden, wie es bereits der Soziologe Lorenz Graitl in seinem Buch Sterben als Spektakel 2 beschreibt. Er geht zwar nur am Rande und aus Gründen der Abgrenzung spezifisch auf Amokläufer ein, dennoch lassen sich viele seiner kommunikationsbezogenen Erkenntnisse auf die Motivation von Schulattentätern übertragen. Tatsächlich sind die Medien das erste Hilfsmittel zur Verbreitung der Tat, wenn es in einem solchen Fall um kommunikative Aufmerksamkeit geht. Schulanschläge und ihre Androhung erfüllen alle journalistischen Kriterien, die solche Ereignisse zu einem Topthema machen: Eine hohe Dramatik und Aktualität, die persönliche Betroffenheit vieler Leser, Hörer und Zuschauer, eine große emotionale Tiefe des Themas und außergewöhnliche kriminelle Energie kommen hier zusammen. Die Medien sind zur Berichterstattung gezwungen und müssen permanent darauf achten, dass die Weitergabe der Informationen trotz des aktuellen Drucks angemessen bleibt. Die Berichterstattung in Winnenden konnte dem nicht immer standhalten, wie die folgende Abbildung zeigt.
Abb. 1: Medienschlagzeilen zum Schulanschlag von Winnenden (2009)
Eine reißerische Aufmachung der Berichterstattung kann vom Täter auch als Gratifikation aufgefasst werden. Auf der einen Seite besteht ein großes öffentliches Interesse an derart weitreichenden Ereignissen, gleichzeitig erfüllt ein Journalist, der über einen angedrohten oder durchgeführten Schulanschlag berichtet, aber auch die Handlungserwartungen des Täters und trägt damit zur Faszination des Terrors bei.
Diese Problematik gab und gibt es auch bei anderen Themen, die im Fokus der medialen Aufmerksamkeit stehen. So löste Johann Wolfgang von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers mit seinem Erscheinen 1774 eine regelrechte Nachahmungswelle von Selbsttötungen aus. Fachleute sprechen deshalb bis heute vom Werther-Effekt, wenn mediale Berichterstattung über ein (Tötungs-)Ereignis zu entsprechenden Nachahmungstaten führen. In der englischsprachigen Medienwirkungsforschung ist in diesem Zusammenhang auch vom Copycat-Effekt die Rede: Was medial ausführlich dargestellt wird, regt Nachahmer an. Dass es sich keineswegs um einen antiquierten Effekt handelt, wurde 1981 auf tragische Weise belegt: Das ZDF strahlte die sechsteilige Fernsehserie Tod eines Schülers aus. Der Selbstmord des 19-jährigen Schülers Claus Wagner, der sich vor einen Zug wirft, steht im Mittelpunkt der Serie. In der Folgezeit stieg die Suizidrate unter 15- bis 19-jährigen männlichen Schülern um 175%. Bestätigt wurde dieser Effekt, als die Staffel 1983 trotz der Warnungen von Psychologen noch einmal gesendet wurde. Die Zahl der Nachahmer-Selbstmorde stieg erneut auf über das Doppelte an. Obwohl das ZDF anschließend Studien vorlegte, nach denen die Serie und die gestiegene Zahl der Selbstmorde auf Bahngleisen nicht ursächlich miteinander zu tun hatten, ließen die Fernsehverantwortlichen die sechs Folgen dennoch bis vor wenigen Jahren für die Videoauswertung sperren.
Wichtige Aspekte für die Nachahmung solcher Taten ist die Anzahl der konkreten Identifikationspunkte. Je mehr sich ein Leser oder Zuschauer mit der dargestellten Figur identifizieren kann und je mehr Einzelheiten über das Umfeld, aber auch über die Tat selbst geschildert werden, umso leichter wird es potenziellen Nachahmern gemacht.
Der Arzt und Psychiater Volker Faust3 warnt vor diesen möglichen Identifikationspunkten und bittet die Medien bei der Suizidberichterstattung ausdrücklich um die Einhaltung folgender Punkte:
•Angaben zur biologischen und sozialen Identität vermeiden.
•Angaben zur Suizidmethode und zum Ort des Selbstmords vermeiden.
•Keine Spekulationen über Hintergründe und Motive anstellen.
Damit könne, so Faust, wirksame Prävention im Hinblick auf Nachahmungstäter betrieben werden, um den Werther-Effekt nicht erst entstehen zu lassen.
Ausgiebige Hintergrundinformationen zum Werther-Effekt vermittelt der Arzt und Neurologie-/Psychiatrieprofessor Volker Faust auf der Webseite http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/werther.html.
Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, Suizidberichterstattung zu unterlassen, wäre aus psychiatrischer Sicht sinnvoll, aus journalistischer Perspektive aber kaum umzusetzen. Ein generelles Themenverbot käme einer Zensur nahe. Der Verzicht auf ethisch reflektierte Grenzen der Berichterstattung wäre allerdings auch keine Lösung. „Eine suizidpräventive Berichterstattung steht im krassen Gegensatz zu journalistischen Grundregeln“4, beschreiben auch die Psychiater Walther Ziegler und Ulrich Hegerl in ihrem Artikel DerWerther-Effekt das journalistische Dilemma in dieser Situation. Wie aber können und wie sollten Medien über Ereignisse wie Suizide, Schulanschläge oder deren Androhung berichten, von denen ein hohes Nachahmungspotenzial ausgeht?
Die Debatte darüber ist nicht neu. „Beschreibe den Suizidenten, die Methode, den Ort, die Lebensverhältnisse und die Gründe so abstrakt, dass sie kein Anschauungsmaterial mehr enthalten, das einer möglichen Identifikation und Enthemmung Vorschub leisten könnte“5