Ana Tochter der Priesterin - Usch Henze - E-Book

Ana Tochter der Priesterin E-Book

Usch Henze

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Beschreibung

Cornwall im Südwesten Großbritanniens um 500 v. Chr. Das Mädchen Ana, Tochter einer Mondpriesterin, steht nach dem Tod ihrer Mutter vor einer ungewissen Zukunft. Ana legt ihr Schicksal in die Hände eines geheimnisvollen Mannes: Der Sidhe ist ein weitgereister Seefahrer und wohlhabender Zinnhändler, aber auch Eingeweihter und Weiser des Alten Volkes, zu dem auch Ana gehört. Er führt sie ein in die Spiritualität der Vorfahren, in eine Welt von Ahnenwissen und Mystik, von Weisheit, Magie und Symbolik. Dabei vermittelt er ihr eine ungewöhnliche Initiation an den Kultstätten der Vorzeit und geht durch berührend menschliche Tiefen und Höhen mit ihr. Auf schicksalhaften Wegen, von dramatischen Ereignissen begleitet, finden beide ihre Bestimmung in einer aufregenden Zeit des geistigen und gesellschaftlichen Wandels, der mit Unruhen ansässiger Stämme und einwandernden Kelten einhergeht.

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Die Autorin Usch Henze. Neben ihrer Praxis für transpersonale Psychologie und als spirituelle Lehrerin in der bewusstseinsfördernden Erwachsenenbildung leitete sie Seminare an bedeutenden Kultstätten des Altertums im In- und Ausland. Daraus ergab sich die Herausforderung, ganz rational nach vergessenem historischem Kulturgut zu forschen und Bücher darüber zu schreiben. Mehr unter www.uschhenze.info

Das Buch

Cornwall im Südwesten Englands um 500 v.Chr.

Ana, Tochter einer Priesterin, ein eigenwilliges, bezaubernd schönes Mädchen, steht nach dem unverhofft frühen Tod ihrer Mutter vor einer ungewissen Zukunft. Sie gehört keiner Sippe an. Ihre Mutter Ayrin, Mondpriesterin, Seherin und Heilerin, von der Bevölkerung geliebt und verehrt, genoss einen außergewöhnlichen Status. Fern von ihrer einstigen Priestergemeinschaft zog sie ihre Tochter als Kind der Großen Göttin groß. Auf Ayrins Nimbus liegt ein temyyan, das heilige Schweigen; ihre Vergangenheit liegt im Dunkel.

Ana legt ihr Schicksal in die Hände eines Mannes, der in Verbindung zu ihrer Mutter stand. Cordan y Morach, genannt Sidhe, ist ein weitgereister Seefahrer und wohlhabender Zinnhändler, aber auch ein Eingeweihter und Weiser des Alten Volkes. Er steht im Ruf des Reiters auf dem Drachenstrom, dessen besondere Erdkräfte und darauf liegende Kultstätten er wie kein anderer kennt. Er ist eine schillernde Persönlichkeit, fremdartig und eigenartig, ein verschwiegener Einzelgänger.

Sie gehören zum Alten Volk Britanniens, einer elitären Stammesgruppe die ihre Herkunft auf eine vergangene Hochkultur zurückführt. Spirituelle Weisheit und auf Frieden ausgerichtete Wertvorstellungen werden von Stammesführern und Priesterschaften im Namen der Großen Göttin bewahrt. Der Sidhe begleitet Ana an Kultorten der Vorzeit durch eine ungewöhnliche Initiation. Ana erfährt die energetischen Kräfte zwischen Himmel, Erde und Naturgeschehen. Durch berührend menschliche Tiefen und Höhen gehend und von schicksalhaften Ereignissen begleitet, finden beide ihre Bestimmung in einer aufregenden Zeit des geistigen und gesellschaftlichen Wandels, der mit Unruhen ansässiger Stämme und einwandernden Kelten einhergeht. Dramatische Begebenheiten binden sie in das Leben des künftigen Herrschers ein. Die einstige Größe des Alten Volkes tritt hervor, aber auch tragische Geheimnisse aus längst vergangener Zeit werden enthüllt.

Der vielschichtige Roman ist an sorgfältig recherchierte Fakten angelehnt und gibt einen wirklichkeitsnahen Einblick in die späte Bronzezeit Großbritanniens. Dementsprechend wurden Sprachgebrauch, Schilderung von Lebensart und Atmosphäre stilistisch angepasst. Länder- und Ortsnamen sowie altertümliche Begriffe stützen sich auf die alt-keltische Sprache.

Geänderte Land- und Ortsnamen(in kornisch-keltischer Sprache)

Bretainn Veur

- Großbritannien

Kernow

- Cornwall

Der Große Cairn

- Cairn Kenidjack

Iktis

- St. Michael's Mt. /Marazion

Venton-dinas

– St. Ives

Din-tagel

- Tintagel

Ynyswytryn – Avalon

- Glastonbury

Mai-dun

- Maiden Castle/Südengland

Durnov

- Dorchester/Grafschaft Dorset

Große Ebene

- Gegend von Stonehenge

Erhabener Steinkreis

- Stonehenge

Cymru

- Wales

Ennor

- Scilly Inseln

Èirinn

- Irland

Alban

- Schottland

Breten-Vian

- Frankreich/Bretagne

Norika

- Österreich

Großer See

- Bodensee/Deutschland

Brigantum Britannien

– Nordosten/Yorkshire

Greecien

- Griechenland

Skythien

- Osteuropa

Inhaltsverzeichnis

Teil I: Die Mondfeder

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Teil II: Seherin und Heilerin

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Teil I

Die Mondfeder

Von magischen Orten und Wanderern zwischen den Welten.

1

Frühjahrsmond

Den vorausgegangenen Stürmen waren ruhige Frühlingstage und laue, helle Mondnächte gefolgt. An diesem Abend hatte der volle Mond eine seltene Größe erreicht.

Ana verließ am späten Abend heimlich und lautlos ihr Dorf und folgte einem Pfad, der sich über sanfte Bodenwellen durch Büsche von Heidepflanzen zog. Seit dem Tod ihrer Mutter vor wenigen Tagen war sie mehrmals diesen Weg gegangen, aber an keinem Abend zuvor hatte der Mond eine solche Stimmung hervorgerufen. Am nachtblauen Himmel erhob er sich über dem Horizont wie ein riesiger, tiefgelber Lichtball, als ob er ganz nah bei der Erde schwebte. Hin und wieder blieb sie stehen und betrachtete die Mondfelder, die sich auf seiner Oberfläche abhoben.

Als sie ihr Ziel erreicht hatte, lehnte sie sich an einen hohen, aufrechtstehenden Stein. Obwohl einer der kleineren Menhire der Gegend, überragte er sie um mehr als eine Armlänge. Während ihr Atem zur Ruhe kam, fühlte sie ihn als Halt und Sicherheit in ihrem Rücken, und außerdem wie einen Freund, dem man sich anvertrauen kann. Sein Schatten hüllte sie in sanfte Dunkelheit und umgab sie wie ein schützender Mantel.

Nein, sie fürchtete sich nicht, in diesen Nächten alleine hier draußen zu sein, obwohl es keiner gebilligt hätte; die Sehnsucht nach der Mutter rechtfertigte ihren Mut, nirgendwo war sie ihr näher als hier. In der Stille, die nur unterbrochen wurde von gelegentlichen Windstößen, die vom Meer herüber kamen, ließ sie ihre Tränen fließen.

Nicht weit entfernt von ihr, erhoben sich drei weitere mächtige Steine, so hoch, dass sie unter der gewaltigen Steinplatte, die sie trugen, hätte hindurch laufen können.

Wie ein von Riesen aufgerichteter Steintisch war ihr das Monument als Kind vorgekommen, ihre Mutter hatte sie damals gelehrt, nicht unbedacht nahe zu treten, dies war ein heiliger Ort, an dem man der Großen Göttin Ehre erwies. Ferne Ahnen vom Alten Volk hatten die Steine, wie auch den Stein in ihrem Rücken, vor unendlich langer Zeit aufgerichtet. Aber niemand mehr wusste, wann das gewesen war, und niemand konnte sagen, seit wann man den Steintisch Lan-yon-quoit nannte.

Noch immer hatte sie die Bilder vor sich, als man vor ihr endlos lang erscheinenden vier Tagen und Nächten den anmutigen, in Weiß gekleideten Körper ihrer Mutter auf diese Steinplatte hob und mit den Riten ihrer Bestattung begann. Der Wind hatte mit ihrem Gewand und mit ihren langen dunklen Haaren gespielt, was ihr fast einen Hauch von Lebendigkeit verlieh. Mit Tränen verschwommenem Blick hatte sie sich eingebildet, dass die Mutter sich in jedem Moment erheben könne. Aber die Riten wurden fortgesetzt, es waren Riten des Alten Volkes im Namen der Großen Göttin, die sonst nicht mehr vollzogen wurden. Solange sie sich erinnern konnte, war allein ihrer Mutter Ayrin, der einstigen Mondpriesterin von Ennor, eine solche Bestattungszeremonie vergönnt.

Viele Menschen aus der Gegend waren zu diesem Ereignis gekommen und verfolgten die Zeremonie mit Spannung. Auch das Oberhaupt des Stammes ihrer Gegend, Jarka von An-dinas, gekleidet in sein Festgewand, ausgestattet mit Prunkschwert und einem kostbaren Fell über den Schultern, war mit seiner Sippe gekommen.

Während alle anderen in angemessener Entfernung blieben, war es nur ihr und Jarka erlaubt, näher zu treten und die Priesterinnen zu begleiten, die ihrer Mutter die letzte Ehre erwiesen; und nur sie waren gebeten worden, bei der Umschreitung der Toten auf dem Lan-yon-quoit an ihrer Seite zu gehen.

Begleitet von den rhythmischen Tönen einer Trommel, hörte Ana die Worte ihrer Sprechgesänge, als ob sie aus weiter Ferne zu ihr drangen. Viel davon hätte sie ohnehin nicht verstehen können, denn die Priesterinnen vollzogen sie in der Sprache des Alten Volkes und in Gebetsformeln die ihr unbekannt waren.

Aber Ana wusste, dass sie den Leib und die Seele ihrer Mutter dem großen Kreislauf von Tod und Wiedergeburt übergaben und sie der Großen Göttin anvertrauten. Unter den Schlägen der Trommeln schien die Erde unter ihren Füßen zu beben, was sie nicht nur körperlich erfuhr. Sie fühlte ihre Seele zutiefst in diesen Akt einbezogen. Mehr, als es zu verstehen empfand sie, dass sich ihr etwas von den dunklen Mysterien des Todes mitteilte.

In ihrem Inneren sträubte sie sich dagegen, standen doch Tod und Vergänglichkeit im Widerspruch zu einem strahlend hellen Tag wie diesem, der in der Mittagsstunde seine Schönheit über die Natur ausgebreitet hatte. Die Luft war von seltener Klarheit, das Sonnenlicht überzog mit Glanz und Wärme das üppige Grün der Hügellandschaft, jeder Grashalm schien wie neu erschaffen, jede Blüte von besonderer Schönheit.

Die Trommeln und die Gesänge verstummten, als die Priesterinnen zur Anbetung der Sonne die Arme erhoben. Atemlose Stille war eingekehrt, auch die Natur schien den Atem anzuhalten, als eine Zimbel angeschlagen wurde und einzigartige helle Töne erklingen ließ. Als Ana ihre Blicke zum Himmel erhob und blinzelnd zur Sonne aufsah, senkte sich ein leuchtender Strahl herunter auf den Lanyon-quoit und berührte den Körper ihrer Mutter.

In einem flüchtigen Moment glaubte sie, Ayrin in einer ätherischen Gestalt zu erkennen, die sich schwebend entfernte und in die Sonne einging. Aber das war gewiss nur eine Sinnestäuschung gewesen, vielleicht ein Tagtraum, dem sie keinen Glauben schenkte.

Als sie später in feierlichem Zug auf die Begräbnisstätte zugingen, hatte ein zarter gelber Schmetterling, ein Sonnenfalter, ihren Arm berührt. Er flatterte lange über ihr und vor ihr her, so als ob dies seine Absicht sei. Während sie die flinken Bewegungen seiner zarten Flügel verfolgte, hatte sie sich gefragt, wie viel Wahrheit im Glauben des Alten Volkes enthalten war, dass dies ein Seelenfalter sei, der einen Gruß Verstorbener auszudrücken vermag.

Was an diesem Tag sonst noch geschehen war, zog wie bedeutungslose Schwaden der Erinnerung an ihr vorbei, während sie jetzt in die Gegenwart zurückfand. Sie trocknete ihr tränennasses Gesicht. In ihrem Inneren fühlte sie nur Kälte und Einsamkeit und bedauerte, dass ihr die Lehren der Großen Göttin, mit denen sie aufgewachsen war, heute so weit entfernt schienen.

Außer der beruhigenden Gewissheit, dass ihre Mutter in einer anderen Welt weiterleben würde, fand sie darin keinen Trost und keine Wärme, die sie wie bisher einzuhüllen vermochten. Nicht einmal von der Weite des Himmelszeltes oder von der unendlichen Zahl der Sterne, wenn sie auch in dieser hellen Mondnacht nur schwach leuchteten, war sie beeindruckt wie sonst. War der lebendige Zauber des Lebens mit ihrer Mutter dahingegangen?

Sie blickte lange auf den Lan-yon-quoit, der sich stumm und rätselhaft vor ihr erhob. In dieser Nacht schien er von besonderer Kraft erfüllt zu sein und eine Magie auszustrahlen, die ihre verwundete Seele erreichte. Als ob die Gegenwart erlischt und eine Sphäre der Unendlichkeit sie erfasst, eine Unendlichkeit, in der ihr ganzes Sein sich ausdehnen konnte. Wie ein Hauch berührte sie eine Ahnung davon, dass es einen Teil ihrer Seele gibt, der über allem Begreifbaren steht …, und doch so nah ist und in ihr ruht.

War es auch das, was die Menschen des Alten Volkes an ihren heiligen Stätten herbeiführen wollten? Wenn sie Glück und Sorglosigkeit verlassen hatten, und ihr Leben jetzt bestimmt war von Trauer und vom Gefühl der Verlorenheit in dieser Welt, verließ sie den Ort mit der Hoffnung, dass der Schmerz ein Ende nehmen würde.

2

Auch in der nächsten Nacht war Ana an ihren Platz vor dem großen Steintisch gelaufen, sie hatte keine Ruhe und keinen Schlaf gefunden. Der Vollmond zeigte sich nicht in der Größe des vergangenen Abends, er leuchtete von weit oben am wolkenlosen, von Sternen übersäten Himmel. Ihr Blick schweifte umher; vom silbrig-weißen Mondlicht erhellt, lag in der klaren Nacht die weite Ebene bis zur Küste vor ihr. In südlicher Richtung ragte aus dem Meer der heilige Hügel Iktis auf, geheimnisvoll hob er sich in der Ferne von der weiten See ab.

Ana lehnte sich wieder an den Menhir und wandte sich dem Lan-yon-quoit zu. Hoch aufragend beherrschte er majestätisch den Horizont, als ob er aus der Erde dem Himmel entgegen wachsen würde, nichts anderes, kein Baum, kein Strauch, störte seinen erhabenen Anblick.

Über ihm zog der Mond seine Bahn, was in dieser Nacht ein seltenes Ereignis erwarten ließ. 'Wenn die Mondscheibe in einer bestimmten Höhe genau in der Mitte über der Deckplatte schwebt', hatte ihre Mutter gesagt, 'ist ein Gleichmaß zwischen Himmel und Erde zu erleben, das im Einklang mit einem heiligen Maß der Schöpfung steht.'

Ana schien in dieser Konstellation ein Geheimnis zu liegen, von dem nur eine Mondpriesterin wie ihre Mutter wissen konnte. Sie musste sich bemühen, ihre weiteren Erklärungen zusammenzubringen: 'Vom Mond herunter bildet sich entlang der Seiten des Lan-yon-quoit ein unsichtbares magisches Dreieck. In einer Spiegelung des Dreieckes zu einer Raute, steht hier auf der Erde in der Position des Mondes der Menhir. Der Menhir sammelt die Kräfte dieses Gleichmaßes und vermittelt dem Menschen, der mit ihm in Berührung ist und sich intuitiv darauf einlässt, tiefgehende Erkenntnisse. Die Seele befreit sich und kann ihre geistige Vielfalt entdecken.'

Den Menhir in ihrem Rücken spürend wartete Ana geduldig, gebannt verfolgte sie die Bahn des Mondes und setzte ihre ganze bildliche Vorstellungskraft ein. Als der Moment gekommen war, berührte der Anblick etwas in ihrer Seele, wofür sie keine Erklärung fand.

Als ob die Gegenwart erlischt und eine Sphäre der Unendlichkeit sie erfasst, eine Unendlichkeit, in der ihr ganzes Sein sich ausdehnen konnte. Wie ein Hauch berührte sie eine Ahnung davon, dass es einen Teil ihrer Seele gibt, der über allem Begreifbaren steht …, und doch so nah ist und in ihr ruht.

War es das, was die Menschen des Alten Volkes an ihren heiligen Stätten herbeiführen wollten? Offenbar gab es bestimmte Zeitmomente, in denen dieser Effekt ausgelöst wurde, und auch bestimmte Beobachtungspunkte. Als man ihre Mutter auf den Lan-yon-quoit hob, hatte man den Zeitpunkt abgewartet, bis die Sonne am Mittag ihren höchsten Stand erreicht hatte. Auch da hatte sie einen magischen Augenblick erlebt, als Lichtstrahlen der Sonne aufblitzten und den Körper ihrer Mutter berührten.

Viele andere Bilder aus der Vergangenheit zogen an ihr vorbei, wenn sie bei bedeutsamen Himmelsschauspielen die Zeremonien ihrer Mutter miterlebt hatte. Aber auf derartige Einzelheiten hatte Ana nicht geachtet, und ihre Mutter war dem zeremoniellen Geschehen verpflichtet und konnte sie dabei nur selten unterweisen.

Von Wehmut erfasst, erschien ihr das an diesem Abend nicht mehr von Bedeutung, vielmehr war sie der Trauer um ihre Mutter ausgeliefert. Mit wem würde sie noch eine so innige Verbindung zum Mond erleben? Niemanden gab es mehr, der in besonderen Nächten alleine mit ihr draußen stehen würde, um sein Licht mit dem Atem aufzunehmen, seine Kräfte durch den Körper fließen zu lassen, um Geist und Seele zur Großen Göttin zu erheben.

'Im Licht des Mondes sind beide Lichtkräfte der Großen Göttin vereint', hatte sie ihre Mutter gelehrt. 'Der Mond leuchtet nicht aus sich heraus, er spiegelt das Licht der Sonne die ihn bestrahlt, während sie nachts verborgen ist. Mit dem Licht der Sonne schenkt uns die Göttin das Leben und die Kraft des Geistes. Mit dem Mond belebt sie die Seele, und mit ihm hat sie die Gezeiten eingerichtet, die in ihrem Rhythmus für die Mutter Erde so bedeutsam sind und auch für jeden Menschen'.

Ana löste sich von dem Stein in ihrem Rücken, schloss die Augen und breitete die Arme aus. Das Sonnen-Mondlicht war wie Balsam, es durchfloss sie und gab ihr Kraft, verlieh ihr Zuversicht und Mut. Sie nahm es wie ein Geschenk entgegen und dankte aus tiefstem Herzen dafür. Sie fühlte, wie die lähmende Kälte aus ihrem Inneren wich und wieder Raum gab für das, was sie bisher mit der Großen Göttin vereint hatte.

Dieser Mondnacht wollte sie sich jetzt noch nicht entziehen, sie setzte sich in der Nähe auf einen der kleinen Steine um nachzudenken. Der Tod ihrer Mutter hatte ihr gezeigt, dass sie sich sehr lebensnahen Dingen zuwenden musste.

Ihre Hand strich sanft über die Blätter des kniehohen Busches neben ihr, während sie hinauf zu den Sternen sah. Lag dort oben ihr Schicksal verborgen? Was würde ihre ungewisse Zukunft bringen? Darauf wusste sie keine Antworten, alles lag im Ungewissen.

Wie sollte sie ihr Leben gestalten? Einige Frauen der Nachbarschaft hatten ihr die Aufnahme in ihre Sippe in Aussicht gestellt. Aber lieber blieb sie in ihrem etwas abgelegenen Haus am Rande der Ansiedlung, nur mit Yarna an ihrer Seite, der Vertrauten ihrer Mutter, die ihr über all die Jahre in Freundschaft gedient hatte.

Mit keiner der Sippen hatte ihre Mutter in einem verwandtschaftlichen Verhältnis gestanden. Sie stammte nicht aus dieser Gegend, sondern war vor langer Zeit von den Inseln von Ennor nach Kernow gezogen. Als Ana nach einer Sippe gefragt hatte, antwortete sie, ihre Eltern seien schon früh gestorben, und sie Ana, sei ein Kind der Großen Göttin. Darauf und auf allem Weiteren lag ein temyyan, das geheiligte Schweigen, respektiert und von niemandem durchbrochen, auch nicht von denen, die wie die meisten in dieser Zeit, nicht mehr nach den Lehren der Großen Göttin lebten. Auch Ana hatte das Geheimnis nicht durchdrungen, das über Ayrins Vergangenheit lag.

Mit den Priesterschaften in Kernow pflegte sie nur losen Kontakt, sie war eigene Wege gegangen, aber sie hatte einen Nimbus, durch den ihr besondere Wertschätzung entgegenkam. Sie hatte als Priesterin und Heilerin, die den Menschen jederzeit warmherzig und fürsorglich zur Seite stand, großes Ansehen genossen. Und so lange Ana denken konnte, wurde sie Ayrins Tochter genannt und hatte einen besonderen Status. Darüber, ob das weiterhin so bleiben würde, war sie in den letzten Tagen in Zweifel geraten. Umso mehr, als mehrere Begebenheiten ihr vor Augen führten, wie unsicher ihr Leben geworden war.

Sie hatte das wohlgemeinte Ansinnen von Jarka, ihr in seiner Sippe Halt und Schutz zu geben und sie zu adoptieren, abgelehnt. Das hatte sich schnell herumgesprochen. Seither begegnete man ihr mit Zurückhaltung und Unverständnis. Ihre Ablehnung galt als dumm und anmaßend, vielleicht hatte sie Jarkas Vorschlag zu schroff abgewiesen.

Sonst von sanftem Wesen aber eigenwillig, ließ sie sich von niemandem etwas sagen, was ihr widersinnig erschien oder gegen ihre Freiheit gerichtet war. Sie war sich sehr bewusst, dass das nicht jedem gefiel.

Jarka hatte sie am Tag nach der Bestattung ihrer Mutter in ihrem Haus aufgesucht und war ihr mitfühlend und respektvoll entgegengetreten. Er war ein stattlicher, gut aussehender Mann, der trotz seiner jungen Jahre Autorität und Würde ausstrahlte, ein Mann, den auch Ana ernst zu nehmen hatte.

»Ich halte es für leichtsinnig, dass ein junges Mädchen in dieser Zeit ohne den Schutz einer Sippe leben will. Die Aufstände nach dem Ende der früheren Königsherrschaft von Bretainn Veur sind auch an unserem friedvollen Kernow nicht spurlos vorbeigegangen. Unsere Gesellschaftsordnung ist im Umbruch. Immer mehr Menschen aus den von Stammeskriegen geschüttelten Gegenden kommen zu uns. Fremde Stämme wandern vom Festland ein, die meisten sind friedvoll, andere untergraben unsere Stammesgesetze. Unterschiede in Brauchtum, Sitte und Glauben werden zu Rivalitäten und zu Auseinandersetzungen führen, die an der Bevölkerung nicht vorbeigehen«, sagte Jarka.

Während er seine Hand an den Schwertknauf legte, fuhr er fort. »Du kennst meine Wertschätzung für deine Mutter, sie führte ein verantwortungsvolles, vorbildliches Leben. Als Priesterin der alten Glaubenslehre erfreute sich Ayrin vor allem bei den Sippen, die noch in den alten Traditionen unseres Landes verwurzelt sind, großer Zuneigung. Sie vereinigte in ihrer Person Größe und Bescheidenheit und andere seltene Eigenschaften. Für das Alte Volk trug sie den Frieden der Großen Göttin in sich. Damit verkörperte sie das einst achtenswerteste Gesetz des Alten Volkes. Auch innerhalb anderer Sippengemeinschaften war das spürbar, wenn sie ihren Segen erteilte. Sie hatte einen außerordentlichen Ruf und war unangreifbar. Du musst verstehen, dass sie eine besondere Aura um euch verbreitete, die euch Schutz geboten hat. Ich habe Zweifel, ob das auf dich übertragbar ist.«

Trotzig verschwieg Ana einen Vorfall, der seine Worte bestätigte. Als sie zwei Tage nach dem Tod ihrer Mutter an einem der Nachbardörfer vorbeikam, um hinüber zum Fluss zu laufen, war sie von einem Fremden in eine beängstigende Situation gebracht worden. Nie vorher war so etwas geschehen, sie hatte erkannt, wie naiv sie in eine Falle getappt war, daher hatte sie auch Yarna nichts davon erzählt.

Ana war bewusst geworden, dass sie der Gegenwart weitaus mehr ins Auge blicken musste. Aber sie war fest entschlossen, ihr früheres Leben weiterzuführen und hatte Jarka erklärt, dass sie es für undenkbar hielt, ihre Heimstatt zu verlassen oder sich von Yarna zu trennen, um sich seiner Sippe anzuschließen. Sie wolle, zusammen mit ihr, eigenständig für ihren Lebensunterhalt sorgen.

Yarna war eine lebenstüchtige Frau, eine Schamanin aus einem Stamm im Nordwesten, der sich dem Alten Volk zugehörig fühlte. Als Zeichen ihrer schamanistischen Zunft trug sie das traditionelle dunkle Mal auf der Stirn. Sie hatte großes Wissen über Heilpflanzen, die sie, wenn nicht draußen in der Natur gesammelt, in ihrem Kräutergarten anpflanzte. Wegen ihres temperamentvollen Wesens und ihrer Herzlichkeit, war sie allseits beliebt. Mit ihren Fähigkeiten als Schamanin, die sich ebenso wie Ayrin auf die Ursachen und die Heilung von Krankheiten verstand, beschwor sie Geister sowohl in der Natur als auch bei Menschen.

Das brachte ihr Respekt ein und Ana wusste nur zu gut, dass sie deshalb auch gefürchtet war. Wenn sie die Schleusen zur Anderswelt öffnete, rührte sie die Trommel, rauchte eine Pfeife und versank im aufsteigenden Qualm hinter den rotglühenden Flammen ihrer Feuerstelle. Allein ihre Körpergröße war beachtlich, Ana reichte allenfalls bis zu ihrer Schulter. Yarna würde ihnen genügend Schutz geben, sie selbst würde vorsichtiger sein, und sie könnten ihr bisheriges Leben mit einigen Einschränkungen fortsetzen.

Ana hatte beigetragen, den Obst- und Gemüsegarten zu bestellen und das Haus in Ordnung zu halten. Sie hatte gelernt Brot zu backen und kleinere Mahlzeiten zuzubereiten. Sie stellte Körbe und andere Gebrauchsgegenstände aus Weiden und feine Aufbewahrungsgefäße aus Birkenrinde her. Seit ihrer Kindheit war ihre Mutter stolz auf ihre Fingerfertigkeit. Yarna hatte sie gelehrt, Wolle zu spindeln und Gewebe herzustellen, aus denen sie einen Teil ihrer Kleidung fertigten.

Und Ana war mit Heilkräutern und ihrer Wirkung vertraut, die sie im Garten pflanzten. Sie kannte auch die Heilpflanzen, die in der Umgebung wuchsen, und sie wusste bei welcher Tageszeit oder zu welchem Stand des Mondes man sie pflückte. Im Laufe der Zeit würde sie dazulernen und darin einen Sinn finden, anderen Menschen zu helfen.

Dass sie sich auf Yarnas Hilfe verlassen konnte, stand außer Frage. Sie hatte seit frühester Kindheit mit ihr gelebt, ihre Gegenwart war für Ana selbstverständlich. Nicht zuletzt hatte sie in diesen Tagen alles getan, um sie über den schmerzlichen Verlust der Mutter hinwegzubringen. Yarna hatte sie getröstet und ihr Mut gemacht.

Jarkas Argumente mochten ihre Berechtigung haben, dachte Ana, aber sie wusste keine Lösung. Mit einer leichten Verbeugung und beruhigenden Worten hatte er sich verabschiedet: »Niemand wird euch von hier verweisen. Ich werde die Sippen in eurer Nachbarschaft bitten, deinen Wunsch zu akzeptieren. Vorerst stelle ich dich und Yarna unter mein Einverständnis … , und soweit es möglich ist unter meinen Schutz. Das bin ich dir und auch deiner Mutter schuldig.«

Über all das hatte sie früher nie nachdenken müssen, und bevor sie sich weiter über ihre Zukunft Sorgen machte, wollte sie zur Ruhe kommen. In scheuer Erwartung hatte sie in den letzten Tagen darauf gehofft, ein Zeichen, einen Wegweiser zu erhalten. So hatte es ihr die Mutter beigebracht. In einer Zeit der Veränderung wartete man auf ein Symbol, dessen Ergründung bedeutend für die Zukunft war. Bisher hatte sich nichts dergleichen eingestellt.

Bei diesen Betrachtungen hielt Ana inne und stand auf, um ihren Heimweg anzutreten Sie schaute noch einmal hinauf zum Mond, der ihr, wie es ihr schien, geduldig zugehört und ihre Gedanken begleitet hatte.

Während ihr Blick auf die Mondscheibe gerichtet war, entdeckte sie eine vom Wind getragene weiße Feder, die von oben auf sie zu schwebte. Sie verfolgte sie mit ihren Blicken, es sah aus, als ob sie vom Mond zu ihr herunterfallen würde. Sie lief ihr ein paar Schritte entgegen und griff sanft danach. Sie spürte sie seidig in ihrer Hand, eine kleine, am Ansatz flaumige Schwanenfeder, die ihr jetzt wie ein tröstlicher Gruß der Mutter erschien.

Ja, der Frühling war gekommen, und mit ihm waren die Zugvögel, auch die Schwäne zurückgekehrt. Sie hatte das Rauschen ihrer Flügel gehört und war hinüber zum nahen Fluss gelaufen, um sich zu vergewissern. Sie liebte diese großen Vögel über alles, schon als Kind hatte sie mit der Mutter dort am Ufer gesessen und ihre Schönheit bewundert.

Immer wieder bat sie ihre Mutter, die mystischen Geschichten vom Alten Volk zu erzählen, in denen Schwäne als heilige Boten aus einer anderen Welt oder als Mittler zwischen den Welten vorkamen.

Ana setzte sich wieder. Sie hielt die Feder ungläubig staunend hoch, so dass sie sich gegen die Mondscheibe abhob, und betrachtete sie eine ganze Weile. Es erschien ihr wie ein Wunder, dass eine Schwanenfeder vom Wind hier herüber geweht wurde.

Fest klammerte sie sich an den Gedanken, dass dies ein Zeichen von ihrer Mutter sei. Sie ließ so lange Bilder der Erinnerung von ihr hervorkommen, bis sie ihre Gestalt und ihr Gesicht vor sich sah. In den vertrauten Zügen suchte sie nach einer Erklärung für die Mondfeder, aber die Erscheinung der Mutter glich nur stummen Traumbildern. Dabei konnte sie ihren aufsteigenden Tränen kaum Einhalt gebieten, … auch nicht einem stillen Vorwurf.

Bei aller Verehrung, Liebe und Sehnsucht kämpfte Ana, wie schon einige Male in diesen Tagen, gegen den Eindruck, dass ihre Mutter sie schutzlos und ohne ihr einen Weg in die Zukunft gewiesen zu haben, verlassen hatte. Auch wenn sie sich diese Gedanken nicht wagte einzugestehen, erschien es ihr unerklärbar; es passte nicht zu Ayrin, die einst eine große Seherin und Priesterin gewesen war. Aber Ana wollte tapfer sein, gegen den Tod waren die Menschen schließlich machtlos, auch ihre Mutter.

Nachdenklich barg sie die Feder in der Tasche ihres Umhanges, nicht ohne ihr mit ein paar Gräsern Halt zu geben. Sie würde zu Hause darüber nachdenken, worauf die Feder hinweisen sollte.

Ana schrak aus ihrer Versenkung, als sie das Geräusch von Schritten hörte. Aus dem Dämmerlicht trat ein hochgewachsener Mann neben sie. Viel mehr als die Silhouette seiner in einen Umhang gehüllten Gestalt war nicht auszumachen. Sie hatte ihn lange nicht mehr gesehen, aber sie erkannte ihn sofort, und seine Präsenz brauchte kein näheres Hinsehen. Vor ihm brauchte sie sich nicht zu fürchten.

Als er sie entdeckte und zu ihr heruntersah, hob er zum Zeichen des Erkennens nur leicht die Hand zum Gruß. Seine kraftvolle Gestalt stand ruhig im Mondlicht, er war eins mit dieser Nacht, sein Erstaunen, sie hier alleine anzutreffen, entging ihr.

Ana war beruhigt, dass sie nichts gefragt wurde, dass er die Stille und den Frieden, den sie hier fand, nicht unterbrach. Sie wollte nicht einmal dem Gedanken nachgehen, warum er neben ihr stand. Vielleicht war er seiner Eingebung gefolgt, sie hier zu finden. Bei einem Weisen konnte man das voraussetzen, seine Wege und Absichten waren unergründlich.

Sein richtiger Name war ihr nicht bekannt, er wurde ehrfürchtig nur Sidhe genannt. Er gehörte keiner der im Umkreis lebenden Stammesgemeinschaften an und wurde als Einzelgänger angesehen. Niemand hier kannte ihn näher, außer ihrer Mutter. Sie aber war Fragen um diesen Mann aus dem Wege gegangen.

Auch wenn Ana das ihr gegenüber nach seinen gelegentlichen Besuchen tat, war sie nicht sehr gesprächig. Er sei ein Seefahrer und gehöre zu den wohlhabenden Händlern, die das Zinn, das in ihrer Gegend aus der Erde geholt wurde, in entfernte Gegenden brachten. Nur einmal hatte die Mutter etwas mehr preisgegeben, als Ana gefragt hatte, warum man ihn Sidhe nennt. 'Diese ehrenvolle Bezeichnung geht zurück auf die Vorfahren einer anderen Zeit', und unter dem Siegel der Verschwiegenheit hatte sie ihr anvertraut, 'er ist ein Weiser und steht der Sonnenpriesterschaft des Alten Volkes nahe, ihm stehen die Kristallpaläste der Sidhe offen.'

Diese Antwort war rätselhaft, sie erschien ihr im völligen Widerspruch zu dem Seefahrer und Zinnhändler, und von den Kristallpalästen der Sidhe hatte sie nie gehört.

Während ihrer Kindheit hatte Ana vor Ehrfurcht kaum gewagt, zu ihm aufzuschauen. Später kam sie ihm näher, doch meist verhielt er sich zurückhaltend und wechselte nur einige Sätze mit ihr. Das aber hatte sie nicht verwundert, denn er war auch anderen als ein Mann bekannt, der mehr schwieg als er redete. Eine Ausnahme war ihre Mutter, aber mit ihr unterhielt er sich in der alten Sprache, von der sie nur wenig verstand.

Ana wusste, dass sie sich manchmal bei Versammlungen des Alten Volkes trafen. Im vorausgegangenen Jahr war es ihr erstmals erlaubt, am ersten Tag des großen Treffens teilzunehmen, das traditionell im Herbst bei der Sonnenpriesterschaft stattfand. Ayrin sah darin eine angemessene Gelegenheit, ihre Tochter vorzustellen. Dem Ereignis hatte Ana mit Spannung entgegengesehen. Der Sidhe war nicht dabei gewesen, aber ihre Mutter hatte sie in einen Kreis von Personen eingeführt, die ihr nicht weniger eindrucksvoll erschienen. Darunter waren Priester und Priesterinnen, die von weit hergekommen waren, aber auch einige andere Persönlichkeiten aus ihrer näheren Umgebung. Das Oberhaupt der Sonnenpriester, ein ehrwürdiger Mann mit grauem Haar und in edler Robe, hatte sie herzlich begrüßt.

Ana erhob sich jetzt und ging auf den Mann zu, der mitten in der Nacht neben ihr vor dem Lan-yon-quoit aufgetaucht war, sein Gesicht lag gegen das Licht des Mondes fast im Dunkel.

Der Sidhe blickte Ana aufmerksam an, auf ihren Wangen glänzten noch Spuren von Tränen. Noch mehr aber, als er daran erkennen konnte, fühlte er ihre Sehnsucht nach der Mutter. Auch ihn hatte Ayrins Verlust tief getroffen, niemals hätte er gedacht, dass sie im Alter von vierzig Jahren so unerwartet sterben würde. Ihr Tod war der Grund warum er sich sofort, nach der Rückkehr von einer langen Seereise, hierher begeben hatte.

Doch nicht erst nach seiner Ankunft hatte er davon erfahren, denn er stand mit Ayrin über jede Entfernung hinweg in geistiger Verbindung. Dabei bedienten sie sich einer unmissverständlichen Sprache von Gesten und Symbolen.

Während er am späten Abend bei den südlich vorgelagerten Inseln in ein Unwetter geraten war und gegen einen gewaltigen Sturm kämpfte, erschien Ayrin ihm in ihrer Seelengestalt und ließ ihn das Zeichen eines nahenden Todes erkennen.

Er nahm an, dass sie ihm in der Not beistehen und ihn vor der Gefahr warnen wolle. Er kannte die Gefährlichkeit der Gewässer um die Inseln, aber einen solchen Sturm hatte er noch nicht erlebt. Heftige Windböen hatten das Meer zum Toben gebracht, er und seine Mannschaft waren in höchster Gefahr. Von diesen Ereignissen war er so gefordert, dass er ihre Botschaft nicht deutlicher verstand.

Er hatte das Schiff nur mit Mühe in den Hafen manövrieren können, und nachdem er am folgenden Morgen seine Ladung in Sicherheit gebracht hatte, erschien Ayrin ihm wieder. Diesmal in einem weißen, goldverzierten Gewand, in das bei ihrer früheren Priesterschaft, den Müttern von Ennor, die Toten bei der Bestattungszeremonie gekleidet wurden, und wie dabei üblich, goss Ayrin, zu Ehren der Erdmutter in der Unterwelt, Wasser aus einem Stierhorn.

Daraus schloss er bestürzt, dass das vorausgegangene Zeichen nicht seinen, sondern ihren nahenden Tod bedeutet hatte. Bei dieser Begegnung ließ sie ein glänzendes Kleinod aus Gold und Silber in seine Hand gleiten. Als Erinnerung an ein schicksalhaftes Ereignis in ihrer beider Leben, hatte er es ihr vor vielen Jahren als Talisman übergeben. Dieser symbolischen Geste entnahm er, dass sie Anas Schicksal in seine Hände legte.

Er ahnte, warum er Ana hier an diesem Platz vor den großen Steinen antraf. Abgesehen davon, in der Einsamkeit Trost zu suchen, könnte sie noch einem anderen Ruf folgen, wenn sie den Mut aufbrachte, sich in einer Mondnacht alleine an diesem Ort aufzuhalten. Vielleicht würde Ana die anspruchsvollen Aufgaben ihrer Mutter übernehmen. Diese Möglichkeit bedurfte eingehender Prüfung, auch die Konsequenzen, die sich durch den unerwarteten und viel zu frühen Tod der Mutter ergaben.

»Ich grüße dich an diesem Ort im Namen der Großen Göttin«, flüsterte Ana, dann zögerte sie, »… meine Mutter aber wirst du hier nicht mehr antreffen, sie hat die irdische Welt für immer verlassen.« Der Sidhe senkte nur leicht den Kopf, sah Ana an und nahm wortlos ihre Hand in die seine. Es war zunächst nur diese einfache warmherzige Geste, mit der er Anas Gruß beantwortete. Dann sagte er mit ebenso verhaltener Stimme: »Ich weiß davon, sie ist in eine andere Welt gegangen.«

»Was hat dich in der Nacht hierher geführt?«, fragte Ana leise.

»Ich habe erfahren, dass deine Mutter in der Nähe des Lan-yon-quoit bestattet worden ist. Man beschrieb mir die Stelle, und ich wollte ihre Grabstätte aufsuchen. Dass ich dich hier antreffen würde, war kaum zu erwarten. Ich hatte vorgesehen, morgen in dein Haus zu kommen.«

»Dann bist du auch wegen mir gekommen?«, fragte sie mit ein wenig bebender Stimme.

»Ja, deine Zukunft liegt mir am Herzen«, sagte er mitfühlend. Diese Worte waren ermutigend, seine tiefe, feste Stimme klang beruhigend.

Dann verließen sie den Ort. In einiger Entfernung hielt Ana am Rande eines kleinen Waldstückes an und zeigte dem Sidhe die Stelle, an der man ihre Mutter der Erde übergeben hatte. Nach alter Sitte war darüber ein kleiner, runder Hügel aufgeschüttet worden, daneben hatte man einen der alten Steine aufgerichtet. Ana hatte die Grabstelle mit einem Kranz gelber Frühlingsblumen geschmückt, der im Mondlicht sanft zu leuchten schien.

Es gab vieles zu sagen, aber in dieser Nacht kehrten sie schweigend zurück zur Ansiedlung. Bei ihrem Haus angekommen, ließ er Ana wissen, dass er am nächsten Tag wiederkommen würde.

3

Ana begrüßte den Sidhe mit gebührender Achtung, als er sie am Vormittag aufsuchte. Sein Auftreten war beeindruckend. Er strahlte eine Autorität aus, die ihr von je her Respekt abverlangte. Waren es seine hochgewachsene Gestalt oder seine würdevolle Körperhaltung, seine Gesten oder die Art sich zu bewegen? Gewiss aber war es sein markantes Gesicht, das Lebenserfahrung, Gelehrtheit und Scharfsinn ausdrückte.

Seine dunklen Haare und ein schmaler, kurz rasierter Bart, umgaben ein ebenmäßiges Antlitz mit hoher Stirn. Die straffe, vom Wetter gegerbte Haut war nur um die Augenwinkel von ein paar tieferen Falten durchzogen. Den hervorstechendsten Ausdruck verliehen ihm, unter markant geschwungenen Brauen, die wachen, dunkel schimmernden Augen.

Er hatte kaum Ähnlichkeit mit irgendjemandem, den Ana kannte. Das in stufigen Wellen bis tief in den Nacken fallende Haar unterschied sich von der Haartracht aller anderen Männer und unterstrich seinen fremdartigen Ausdruck. Auch seine Bekleidung entsprach nicht der üblichen Männertracht. Über seine Schultern fiel ein langer Umhang aus hellem, weichem Leder. Darunter reichte bis über die Hüften ein blaues Oberkleid von feinster Wolle; es wurde von einem Gürtel gehalten, dessen goldene Schnalle mit rätselhaften Symbolen versehen war. Auch die dunklen Beinkleider waren bis zu den Knien mit ungewöhnlich bestickten Bändern umwickelt.

Der Sidhe ging ein paar Schritte in das Haus und sah sich um. Weit geöffnete Türen und Läden ließen das Licht der Frühlingssonne herein. Mit dem Licht schienen sich die üppigen Farben des Gartens in die Räume zu ergießen. Sie waren geprägt von der Schlichtheit, die dem Leben einer Priesterin zukam, eine denkbar einfache Einrichtung, keine Wertgegenstände, kein Tand, keine unnützen Gerätschaften. Doch das, was Ayrin in einer besonderen Anordnung wertvoll erschien, machte die Atmosphäre aus. Vornehmlich ein kleiner Altarstein für Opfergaben an die Große Göttin, er war auch heute mit bunten Blumen geschmückt. Auf einem Sims ausgebreitet lagen Heilsteine, in musterverzierten Tongefäßen standen Blumen- und Kräuterbüsche. Alle anderen Gebrauchsgegenstände waren versorgt in Laden und in Holztruhen mit kostbaren Schnitzereien.

Für einen Moment erschien ihm dieses Heim ohne Ayrins Gegenwart nur wie eine leere Hülle. Seiner Gefühle musste er sich erwehren, es wurde von diesem beeindruckenden jungen Mädchen beseelt, dem, als würdigem Abbild seiner Mutter, Anerkennung zukam.

Während er seinen Umhang ablegte, ließ er wehmütige Gedanken vorbeiziehen, die ihn in eine Zeit versetzten, die ihm weit entfernt schien. Seither hatte sich sein Leben sehr verändert. Die Jahre waren vergangen, wenn auch sein Körper in ungebrochener Kraft stand, so waren die ersten grauen Strähnen in seinem Haar nicht zu übersehen, er ging auf sein fünfundvierzigstes Lebensjahr zu.

Ana bot ihm einen bequemen Platz neben der wärmenden Feuerstelle an. Mit flinken Händen hatte sie einen erfrischenden Trank aus Kräutern und Gewürzen zubereitet, den sie ehrerbietig vor ihn hinstellte.

Er betrachtete ihren zur Jugend erwachten Körper, der unter dem lockeren, von einem Schmuckgürtel gehaltenen lichtblauen Kleid, nicht zu übersehen war. Ana war groß gewachsen und mit ihren vierzehn Jahren kein Kind mehr, sie stand im Wechsel zur Frau heranzureifen.

Trotz ihrer Zartheit war ihr ein Ausdruck von bestimmender Kraft gegeben. Eine dunkle Haarpracht fiel ihr in Wellen über den Rücken, der olivfarbige Schimmer ihrer Haut und die dunklen Augen waren das Erbe der Ahnen. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter war erstaunlich, auch wenn sie noch nicht deren vollendete Schönheit erreicht hatte.

Ana strich anmutig eine dichte Haarlocke zurück und setzte sich ihm gegenüber. Nachdem er sie aufgefordert hatte, begann sie stockend vom Tod der Mutter zu erzählen.

»Nichts hatte darauf hingewiesen, bis sie an einem Abend von einer unerklärlichen Müdigkeit überfallen wurde. Am nächsten Morgen fand ich sie wie schlafend auf ihrem Lager, aber sie erwachte nicht. Durch die offene Luke dort drüben ergoss sich ein dichter, hell schimmernder Strahl der Morgensonne über sie, ihr Körper schien wie erleuchtet, auf ihren Zügen lag ein überirdisches Lächeln. Ich rief Yarna herbei, sie sagte, 'das Herz deiner Mutter hat aufgehört zu schlagen'.«

Obwohl Ana sich um Fassung bemühte, konnte sie nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Der Sidhe holte tief Luft und sah ergriffen beiseite, dann suchte er Anas Blick.

»Wenn ihr Hinscheiden auf diese Weise für uns auch unerklärbar erscheint, so denke ich an den Lichttod, den man den Erleuchteten des Alten Volkes nachsagte. Ihre Seelen verließen das irdische Leben auf den Bahnen des Sonnenlichtes.«

Ana war tief berührt, sie dachte an die Bestattung ihrer Mutter und an ihre Wahrnehmung, dass sich ihre Seelengestalt zur Sonne erhob. Aber sie wagte nicht davon zu sprechen, weil es ihr wie ein Trugbild erschienen war.

Nachdenklich ging sie zu einer Lade und entnahm einem verborgenen Fach einen flachen altertümlichen Behälter aus feinster, geglätteter Birkenrinde. In den Deckel war ein verwittertes Symbol eingeprägt, es muss einst von besonderer Ausdruckskraft gewesen sein. Sie öffnete ihn und hervor kam ein wundervoller goldener Halsschmuck. Er lief, in der Mitte zwei Finger breit und nach hinten schmaler werdend, in offene Enden aus. In das solide, glänzend polierte Gold waren die Symbole der vier Mondphasen geprägt.

»In der Hand hielt sie diesen Schmuck. Ich habe ihn nie vorher bei ihr gesehen und weiß nicht, welche Bedeutung er in ihrem Leben hatte.«

In den vergangen Tagen hatte Ana immer wieder darüber nachgedacht. Vielleicht konnte ihr der Sidhe eine Erklärung dafür geben.

Bevor er antworten konnte, musste er einen Moment der inneren Sammlung verstreichen lassen. Während er das Schmuckstück ansah, setzte sich Ana und betrachtete ihr Gegenüber. Wenn seine Züge auch bisweilen herb erschienen, so war es die Sprache seiner Augen, die Verständnis, Mitgefühl und Liebenswürdigkeit hervorbringen konnten …, so wie jetzt, als er Ana ansah.

»Es ist ein Torvar«, sagte er, »wie ihn Priester und Priesterinnen bei größeren Zeremonien tragen. Es gibt verschiedene Ausführungen davon. Aber dieser hier ist der Golow-bras, ein legendärer Halsschmuck, den nur die Priesterinnen von Ennor zu Ehren der Großen Göttin trugen.«

Ana schüttelte den Kopf. »Warum hat sie so wenig von ihrer Vergangenheit erzählt, und warum hat sie mich von so vielen Dingen ferngehalten?«

»Das hatte verschiedene Gründe. Einst war sie Priesterin in der Gemeinschaft der Mütter von Ennor. Ihr besonderer Rang verlangte Verschwiegenheit, auch nachdem sie ihre Gemeinschaft verlassen hatte.«

Der Sidhe kannte diesen Halsschmuck, mit Bedacht entnahm er ihn der Schachtel und bewegte ihn in seinen Händen. Seine langen, schmalen Hände, so dachte Ana, waren, wenn auch kraftvoll, nicht die eines Seefahrers.

»Bevor ich deiner Mutter begegnet war, hatte ich den Golow-bras an der Ehrwürdigen Mutter von Ennor bewundert, sie stand seinerzeit der Gemeinschaft vor. Sie war Ayrin sehr zugetan, und sie spielte eine wichtige Rolle in ihrem Leben als Priesterin.«

Dann legte er den Halsreif zurück in sein Behältnis. Dabei kam unter dem langen Ärmel seines Oberteiles ein in Silber getriebener Reif hervor, der sein Handgelenk umschloss. Ana sah auf zwei kunstvolle Drachenköpfe, die ineinander geschlungen seine Enden verbanden.

»Der Golow-bras war ein Ehrenvermächtnis auf Lebenszeit«, fuhr der Sidhe fort, »die Trägerin konnte ihn behalten oder an eine andere Priesterin weitergeben, die ihr dafür würdig erschien. Das war damals deine Mutter. Sie hat ihn dir hinterlassen, und sie hat niemals etwas unbedacht herbeigeführt.« Ana schluckte, was das bedeuten konnte, drang nur schemenhaft in ihr Verständnis. »Ich bin keine Priesterin, er steht mir nicht zu.«

»Du wirst ihn vorerst behalten müssen.«

Aus einem fast unsichtbaren Seitenfach des Behälters holte Ana noch etwas hervor. Es waren zwei kleine, in einen Goldreif gefasste Scheiben, eine aus Gold, die andere aus Silber. Die silberne Scheibe überdeckte zur Hälfte die goldene Scheibe. In den umfassenden Goldreif waren magische Zeichen eingraviert. Das Licht spielte mit dem Glanz des Schmuckstückes, als Ana es auf ihrer Handfläche bewegte.

»Dieses Amulett trug meine Mutter manchmal an einem Band um den Hals«, bemerkte Ana, »es hat ihr viel bedeutet. Sie sagte es sei eine Sonnenscheibe, die vom Mond bedeckt wird.«

Der Sidhe nickte zustimmend, als er auf Anas Hand sah. Dazu wollte er ihr jetzt keine nähere Erklärung geben. Es war das Amulett, das Ayrin in seine Hände gleiten ließ, als sie ihm in seiner Vision Kunde von ihrem Tod gab. Er selbst hatte es einst anfertigen lassen. Er war dabei nicht von der Seite des Kunstschmiedes gewichen und hatte es nach alter Regel mit glückbringender Magie versehen. Doch um ihm Neutralität zu verleihen, und um Ayrin damit nicht unerlaubt an sich zu binden, hatte er das Schmuckstück an einer heiligen Quelle der Großen Göttin geweiht.

»Es gehört dir, halte es in Ehren, es ist ein magischer Glücksbringer«, sagte er nur, als Ana das Amulett zurücklegte. Glück konnte sie gebrauchen, dachte Ana, denn in den letzten Tagen hatte sie das Glück verlassen.

Jetzt, als von Zeichen und von magischen Gegenständen die Rede war, konnte sie dem Bedürfnis nicht widerstehen, ihre Mondfeder hervorzuholen. Sie sei ihr, wie vom Mond heruntergefallen, als ein Gruß der Mutter erschienen, erklärte sie ihm. »Ich habe auf ein Zeichen von ihr gewartet, nun kann ich es nicht einmal deuten. Aber die letzte Nacht hat mir nicht nur diese Feder beschert, sondern auch deine Ankunft.«

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Feder, die Ana zwischen ihren zarten Fingern hielt.

»Es sind immer mehrere Ereignisse, die sich parallel finden, wenn eine Veränderung ansteht. Nicht immer sind sie sofort erkennbar«, sagte er weise.

Auch er hatte Zeichen von ihrer Mutter erhalten, die es zu verstehen galt, ergänzt wurden sie nun durch ihr Abschiedsszenario, von dem Ana berichtet hatte.

Er hing weiter seinen Gedanken nach. Durch Ayrins Tod war die Seele des Mädchens erschüttert und äußerst empfindsam. Die Nächte danach verbrachte Ana am Lanyon-quoit unter dem Vollmond; als er sie dort antraf, ahnte er warum. Die Zeit ihrer ersten Initiation war gekommen. Als Ayrin das Amulett in seine Hände legte, hatte sie ihn zu ihrer Tochter auf den Weg gebracht. Zusammengenommen rückte das die Dinge in einen weit tieferen und größeren Zusammenhang.

Ana wendete sich wieder dem Golow-bras Torvar zu, der wie eine ungewisse Verheißung vor ihr lag. Bei der Erkenntnis dieses Vermächtnisses ihrer Mutter trat ihre Vorstellung, mit Yarna eine Zukunft aufzubauen, in den Hintergrund. Eine ganz andere Frage stellte sich.

»Wollte meine Mutter, dass ich Priesterin werde?«, fragte Ana den Sidhe.

»Deine Mutter hat als Priesterin des Alten Volkes eine kaum zu schließende Lücke hinterlassen. Der Weg dafür würde dir offenstehen und wäre ein Segen für viele, die sie schmerzlich vermissen werden.«

»Ich bin zu jung und verstehe nicht einmal die alte Sprache. Bevor ich mich den Müttern von Ennor anvertraue, würde ich gerne herausfinden, ob das mein Weg ist. Und ich kenne sonst niemanden, der mich in die Riten des Alten Volkes einführen könnte.«

Außer dem Sidhe, dachte sie, er wäre der einzige Mensch, an den sie sich wenden könnte. Schon während ihr dieser Gedanke kam, erschrak sie und wusste, dass dies unpassend war. Ihre Scheu vor ihm hielt sie zurück. Doch seit er am letzten Abend ihre Hand ergriffen hatte, und während er jetzt mit ihr sprach, erschien er ihr auf seltsame Weise vertraut. Bevor sie weiterdenken oder ihren Gefühlen nachgehen konnte, wurde sie von seiner Antwort überrascht; er hatte ihre Gedanken gelesen.

»Dass ich dich in die Lehren und in die Riten des Alten Volkes einführen könnte, liegt nicht fern. Es wäre mir eine Ehre, Ayrins Tochter auf ihrem Weg zu ihrer Bestimmung, welcher Art sie auch sein sollte, zu begleiten. Du hast das Alter erreicht, nichts steht im Wege, damit zu beginnen. Auch wenn ich sonst anderen Tätigkeiten nachgehe, wird sich das verwirklichen lassen.«

Ana sah ihn ungläubig an. Während sie mit einem tiefen Atemzug Luft holte, legte sie die Hand an die Stirn. Ihre großen, dunklen Augen schimmerten feucht, als sie ihn fragte: »Wie lange wirst du bleiben?«

»Gerade zurückgekehrt von einer langen Seereise, konnte ich nur diesen Tag vorsehen, um dich aufzusuchen«, antwortete er, »ich werde mich um verschiedene Dinge kümmern müssen, einige meiner Geschäfte dulden keinen Aufschub.«

Sie strich über die Feder in ihrer Hand und flüsterte: »Da ist noch etwas anderes. Zu den Fragen einer unbestimmten Zukunft, die mir in weiter Ferne scheint, kommt die viel drängendere Frage, ob ich mit Yarna in diesem Haus weiterleben kann wie bisher.«

Ana schilderte nun ihr Gespräch mit Jarka und was er ihr in eindringlichen Worten dargelegt hatte.

»Jarka von An-dinas ist ein besonnener und kluger Mann, er hat nicht Unrecht, wenn er dich gefährdet sieht«, sagte der Sidhe, »auch wenn er dich vorerst unter seinen Schutz gestellt hat, weiß man nicht, ob er dies einhalten kann.«

»In den letzten Tagen habe ich nicht nur das begriffen, sondern auch, dass mein Leben in gegensätzlichen Welten stattfindet. Auch wenn ich mich mit dem Gedanken angefreundet habe, dass ich zusammen mit Yarna hier alleine weiterleben würde, wäre es vielleicht besser gewesen, Jarkas Vorschlag anzunehmen«, schloss Ana.

Bevor der Sidhe bei Ana eintraf, war ihm nicht der junge Kelte entgangen, der sich gewollt unauffällig bei ihrem Haus umsah, seine Art erschien ihm merkwürdig. Er gehörte gewiss nicht zu ihren oder zu Yarnas Freunden.

Der Überlegung, das Mädchen auf Dauer selbst in seine Obhut zu nehmen, hatte sich der Sidhe in seinen Gedanken bereits in der vergangenen Nacht genähert. Auch wenn er sein Leben ändern müsste, würde ihm der Entschluss nicht schwerfallen. Aber das würde ihr Einverständnis voraussetzen, und die Zeit war nicht reif, mit ihr darüber zu sprechen.

»Deinen Wunsch, der Gegenwart zu entfliehen, verstehe ich gut, auch deine Sorge um die Zukunft. Ich schlage dir vor, mich morgen zu begleiten und für einige Tage mein Leben zu teilen.«

Im Hinblick darauf, dass sie bei ihm bleiben könnte, fügte er tiefgründig hinzu, »wenn du mit mir kommen willst, sollst du wissen, dass ich mich einem Leben verschrieben habe, das dir in mancher Hinsicht fremd erscheinen mag.« Er hielt einen Moment inne, in die atemlose Stille hinein ergänzte er: »Ich bin ein Wanderer zwischen den Welten.«

Ana spürte, dass in diesem Satz ein Doppelsinn verborgen war und noch eine Bedeutung mitschwang, die sie nicht verstand, aber sie wagte nicht, jetzt danach zu fragen. Sie war froh und dankbar, dass er in ihr Leben getreten war und sich um sie bemühte.

»Ich bin zu allem bereit«, sagte sie mutig, »wann brechen wir auf?«

»In der Frühe«, sagte er, »wenn die Morgendämmerung anbricht.«

Ana fragte auch sonst nichts, es erschien ihr besser, sich jetzt keine Gedanken zu machen und alles Weitere auf sich zukommen zu lassen. Nachdem der Sidhe gegangen war, ordnete sie das Haus so, dass sie es ohne Bedenken auf ungewisse Zeit verlassen konnte. Sie bündelte ihre Habe und legte die weiße Mondfeder dazu. In der Nacht würde sie das flache Behältnis mit dem Vermächtnis ihrer Mutter aus der Lade nehmen, es fest in ein Tuch wickeln und den kostbaren Schatz dem Sidhe zur sicheren Verwahrung übergeben.

Der Sidhe entschloss sich, Ana mit sich zu nehmen, ohne eine erklärende Ankündigung vor der Dorfgemeinschaft abzugeben. Das würde unnötige Fragen aufwerfen, und unter den gegebenen Umständen wollte er auch nicht, dass sich Ana dafür rechtfertigen musste.

Aber Ayrins Tochter konnte nicht einfach über Nacht verschwinden. Er ritt zu Jarka nach An-dinas hinüber, um mit ihm darüber zu sprechen; einem Mann, dem das Ansehen des Sidhe bekannt war. Sie begrüßten sich mit größter Höflichkeit und Hochachtung. Nachdem die üblichen Begegnungsformeln ausgetauscht waren, und der Sidhe den Grund seines Besuches dargelegt hatte, ging Jarka auf das Gespräch mit Ana ein.

»Ihre Welt ist zusammengebrochen, eine versinkende Welt, in der sie durch das Leben mit ihrer Mutter tief verankert war«, sagte Jarka, »die Realität, die sie nun erfährt, muss sie als beängstigend empfinden.«

Das verstand er nur allzu gut, gehörten doch er und sein Vater zu einem alteingesessenen Stamm, der die so rasch vor sich gehenden Veränderungen der Gesellschaftsordnung mit Sorge betrachtete. Gleichwohl war Jarka anderer Natur als seine Vorväter, er musste sich der Gegenwart stellen. Er war hineingewachsen in die neue Zeit und hatte sich eine Keltin zur Frau genommen, die mit ihrer Sippe vom Festland gekommen war, eine blonde Schönheit, mit der er zwei Kinder hatte.

»Die Tradition der alten Stämme geht unter«, fügte er hinzu. »Aber das Leben geht weiter, wir können uns nicht gegen einen Umbruch wehren, der auch viele vorteilhafte Veränderungen mit sich bringt.«

»Mit ihrer Art sich dem Leben zu stellen«, bemerkte der Sidhe, »hatte Ayrin ihrer Tochter bereits ein Beispiel für offene Wege gegeben.«

»Nicht wenige vom Alten Volk würden es begrüßen, wenn Ana ihre Position einnähme. Aber sie ist jung und braucht einen Menschen, der ihr darin Halt und Unterweisung gibt. Unter den gegebenen Umständen«, fuhr Jarka fort, »wird es Ana gut tun, mit dir zu gehen.«

Jarka wusste, wen er vor sich hatte. Der Sidhe war auch ein Freund seines Vaters, dem er bat, seine größte Hochachtung zu übermitteln. Sie verabschiedeten sich mit gegenseitiger Ehrbezeugung.

Und mit Yarna wollte der Sidhe sprechen. Er kannte sie, seit sie sich vor vielen Jahren Anas Mutter angeschlossen hatte. Auch Yarna würde dafür sorgen, dass Anas überraschende Abwesenheit akzeptiert wurde.

Bei einbrechender Dunkelheit kam er noch einmal zurück, um mit Ana zu ihrer Wohnstatt zu gehen, sie lag unmittelbar neben Ayrins Haus. Als Yarna den Sidhe begrüßte, liefen Tränen der Trauer über ihre eingefallenen Wangen, sie dankte für sein Kommen und verbeugte sich vor ihm. Mit einfühlsamen Worten teilte er ihr mit, dass Ana sich entschieden hat, für einige Tage mit ihm zu gehen. Dann sprachen sie in der alten Sprache und mit Gesten, die nur sie verstanden.

Ana beobachtete nicht zum ersten Mal, dass diese Sprache, unterstrichen durch Gesten und Mimik, viel mehr auszudrücken vermochte als der übliche Sprachgebrauch. Bei dem, was der Sidhe mit Yarna austauschte, glaubte Ana etwas Schwerwiegendes zu bemerken; auch der Sidhe schien sehr betroffen zu sein.

Ana neigte sich Yarna zu und versenkte sich in ihre Augen. Viele Worte waren nicht nötig. Aus ihrer Gürteltasche nestelte sie einen flachen, runden Stein, dem man, außer, dass er geschliffen und von einer schmalen Goldfassung gerahmt war, nicht ansah wie kostbar er war. So groß, dass man ihn fast mit Zeigefinger und Daumen umfassen konnte, war er durchzogen von zwei Adern, die wie dunkles Metall schimmerten.

»Drei Tage vor ihrem Tod nahm meine Mutter den Stein aus einer verborgen Schatulle neben ihrem Lager und ließ ihn auf geheimnisvolle Weise in meine Hände gleiten. Sie sagte nichts dazu, aber ganz bestimmt ist er es wert, von dir gehütet zu werden«, sagte sie zu Yarna und legte ihn in ihre Hand.

Der Sidhe ließ sich sein Mitgefühl und seine Berührung nicht anmerken, als Ana den magischen Seelenstein Yarna übergab. Sein Wesen war von besonderer Art:

Durch die Kraft der Liebe vermittelt die Berührung des Seelensteines Schutz für die Bande, die unabhängig von Ort und Zeit im Reich der Seelen erhalten bleiben. Seine Macht löst alle irdisch menschlichen und schicksalhaften Verstrickungen und führt sie in die Vergebung.

Yarna hatte Ayrin aus tiefstem Herzen verehrt und ihr in manchem gedient. Obwohl sehr unterschiedlich und in mancherlei Hinsicht Abstand wahrend, sind sie über Jahre eng miteinander verbunden gewesen, und sie teilten so manche Geheimnisse, von denen Ana nichts ahnte.

Yarna wusste, dass Ana die Bedeutung dieses außergewöhnlichen Steines nicht kannte. Ihre Mutter verwendete Heilsteine, deren Wirkung Ana geläufig war, doch das Geheimnis dieses Steines war ihr verborgen geblieben. Dass Ana ihn in ihre Hände legte besagte, einem intuitiven Wissen gefolgt zu sein. Gerührt nahm die Schamanin das Mädchen in die Arme. Sie verabschiedete Ana so innig, als ob dies ein Abschied für immer wäre.

»Im Namen der Großen Göttin seien eure kommenden Tage gesegnet«, sagte Yarna und sah den Sidhe vielsagend an.

Yarna war erst mittleren Alters, doch die Zeichen des Todes in ihren Händen bestätigten dem Sidhe, was sie ihm bereits vorher, für Ana verborgen, in der alten Sprache angedeutet hatte. Wahrscheinlich würde sie nicht mehr lange leben; eine düstere Ahnung sagte ihm, … früher als zu erwarten, würde sie ihrer Sehnsucht nach der Anderswelt nachgeben. Ein weiterer Grund, der seinen Entschluss rechtfertigte, Ana auf Dauer in seine Obhut zu nehmen, und wenn erforderlich, zum gegebenen Zeitpunkt auch über Yarna eine schützende Hand zu halten. Er hoffte, dass der Seelenstein bis dahin bei ihr in Sicherheit wäre. Dies war nicht der Moment einzugreifen, er war überzeugt, dass der Stein zu Ana zurückkehren würde.

Um diesen Stein hatten sich im Verlaufe langer Zeiten Legenden gebildet. Er war von den Seherinnen der alten Zeit wie eine Kostbarkeit gehütet worden. Nur wenige wussten, in wessen Besitz er sich jeweils befand oder wo er verborgen wurde. Der Legende nach soll er dennoch entwendet worden und in falsche Hände gelangt sein. Aber andere, die die Macht seiner Magie nicht kannten oder ihn gar missbrauchen wollten, waren mit dem Stein nicht glücklich geworden, denn er folgte allein seinen eigenen Gesetzen.

Ayrin hatte den Stein in einem Heiligtum des Alten Volkes in Ennor entdeckt und seinen Wert erkannt. Durch ihr Feingefühl für Steine und ihre Fähigkeiten der Erinnerung enthüllte sie die Eigenschaften und die rituelle Handhabung des Seelensteines.

Der Seelenstein war, neben dem Golow-bras Torvar und dem Amulett, einer von drei magischen Gegenständen, die nach dem Brauch des Alten Volkes von Eingeweihten als Vermächtnis hinterlassen wurden. Dieses Vermächtnis hatte Ayrin nicht ohne Grund für ihre Tochter bereitgehalten.

Er war nicht überrascht gewesen, als Ayrin ihn wissen ließ, dass Ana die erwarteten Fähigkeiten erkennen ließ, und dass sie ihre Tochter ihrem Alter entsprechend angeleitet und auf ihre mögliche Bestimmung vorbereitet hatte. Weiterführende Unterweisungen waren nach der alten Lehre erst nach Vollendung ihres vierzehnten Lebensjahres vorgesehen. Dieser Zeitpunkt war gekommen.

Der Sidhe war vom Verlauf dieses Tages tief in seinem Inneren bewegt, nicht weniger war er von Ana beeindruckt. Sie war nicht nur die Tochter einer Priesterin, die der Großen Göttin verbunden war, sie war eine wahre Tochter des Alten Volkes, auch wenn ihr das selbst nicht bewusst war.

Daher hielt er es für sinnvoll, sie mit ihren Wurzeln in Verbindung zu bringen und war auf ihren Wunsch eingegangen, sie in die Welt ihrer Ahnen einzuführen. Er war es gewohnt, Entschlüsse rasch in die Tat umzusetzen und hatte immer Wege gefunden, das Notwendige mit anderen Herausforderungen zu verbinden.

»Morgen werde ich beginnen, dir von der Vergangenheit, von der alten Zeit und von unserem Volk zu berichten«, sagte er. »Wir werden auf den geheiligten Pfaden das Land unter den Füßen spüren und an den alten Stätten anhalten, wie es unsere Vorfahren gemacht haben. Voraussichtlich wird es für dich ein Weg der Initiation werden, der dir lebensnahe und spirituelle Erkenntnisse vermittelt. Schon in alter Zeit waren bestimmte Einweihungen für dein Alter vorgesehen.«

»Meine Mutter hatte das bereits angekündigt, auf das eine und andere bin ich vorbereitet. Ich konnte aber nicht ahnen, dass nicht sie es sein würde, die mich führt. Deine Bereitschaft sehe ich als großes Geschenk an.«

»Für unsere Schritte ist jedoch nach Ayrins Tod allein deine seelische Verfassung maßgeblich. Folge deiner Intuition, wie weit du dich darauf einlassen kannst.«

Der Sidhe lächelte aufmunternd. »Mitnehmen musst du nur wenig, ein weiteres Gepäckstück kannst du hier zurücklassen, ich kümmere mich darum. Ich werde dich an einen sicheren Ort bringen, und dort können wir über deine Zukunft nachdenken.« Dann wünschte er ihr eine gute Nacht.

Er versorgte das Pferd, mit dem er hergeritten war, und brachte es in der Nachbarschaft unter. Er würde es in einigen Tagen mit Anas Gepäck von einem Vertrauten abholen lassen.

Der Abend war geeignet, noch einmal an den Ort zurückzugehen, an dem er Ana in der vorangegangenen Nacht im Mondlicht angetroffen hatte. Vor dem großen Steintisch stehend, wollte er Anas Mutter begegnen, und an dem Ort, an dem sie bestattet worden war, einen Abschied der besonderen Art vollziehen.

4

Ana war vor Sonnenaufgang bereit. Auch wenn sie froh war fortzugehen, war sie in trauriger Stimmung. Beim Erwachen, und als sie durch das leere Haus ging, hatte sie der Kummer mit neuer Wucht überfallen. Ihre Mutter schien allgegenwärtig, es war unfassbar, dass sie gegangen war. Eine Weile hatte sie sich neben eine der brennenden Öllampen gesetzt, um Licht in ihre Seele zu lassen.

Sie musste nicht lange auf den Sidhe warten. Als er eintrat und sie warmherzig begrüßte, ging es ihr schon besser und sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Bevor sie aufbrachen, übergab sie ihm das Bündel mit dem Torvar und bat ihn, es sicherheitshalber in seiner Packtasche zu verstauen, die er an einem Gurt über der Schulter trug. Für sich selbst hatte sie nur das Notwendigste zusammengelegt und in einem leichten Beutel verstaut.

Als sie das Haus verließen, drehte sich Ana auf der Schwelle noch einmal um und schlug zum Segen des Abschieds das Zeichen der Großen Göttin. Mit beklommenen Gefühlen wandte sie sich ab und ließ das Haus hinter sich.

Der Sidhe ging ihr voraus in einen Tag, der nur zögernd erwachte. Sie beschritten einen Weg, der über eine Anhöhe führte, die im Nordwesten hinunter zur Küste abfiel. Und langsam gelang es ihr, ihre düstere Stimmung abzustreifen und ihre Schritte zu beschleunigen, um mit dem Sidhe mitzuhalten. Es war ein kühler, dunstiger Morgen, die vom Meer herauf wehende Brise ließ Ana ein wenig erschauern, und obwohl sie Beinkleider unter ihrem dichten Gewand trug, straffte sie ihren wärmenden Umhang.

Nicht lange danach passierten sie den ersten Steinkreis. Auf einer weiten Grasfläche standen neunzehn Steine, die wie stumme Zeugen der Vergangenheit im dämmrigen Licht der schwindenden Nacht standen. Außer einem flüchtenden Nachttier, das über den Boden huschte, bewegte sich nichts. Die Stille des Morgens wurde nur unterbrochen von Vogelstimmen.

Ihr Weg führte weiter zu dem alten Lochstein, den man Men-an-tol nannte.

Er stand aufgerichtet zwischen zwei kleineren Steinen, die umgeben waren von einem Halbkreis niedriger Büsche.

Ana kannte die Stätte seit ihrer Kindheit. An diesem Ort versammelten sich die Frauen der Sippen im Frühjahr.

Sie hofften auf helle Mondnächte, um die Große Göttin um Fruchtbarkeit zu bitten, für die Wiedergeburt der Natur und für die Kräfte der Fortpflanzung. An dieser Stätte hatte ihre Mutter einige der Zeremonien geleitet und die Frauen gesegnet, die dann nach altem Brauch neun Mal durch den Lochstein stiegen. Ansonsten wurde der Menan-tol auch von Menschen aufgesucht, die kranke Glieder und Knochen hatten. Das waren Alte oder die schwer arbeitenden Bergleute, die an einem Ort wie diesem Heilung suchten.

Sie umgingen das nächste Dorf runder Steinhütten und rasteten kurz, um aus einer Quelle nahe der Siedlung zu trinken. Wieder war sie von der hochgewachsenen Gestalt und von der Ausstrahlung des Sidhe beeindruckt, der ihr jetzt im dämmrigen Morgenlicht gegenüberstand.

Über einem dunklen, wärmenden Umhang trug er seine Packtasche über der Schulter. Sie war von besonderer Art. In das Leder, aus dem sie gefertigt war, schien eine doppelte Schlange eingearbeitet zu sein, die ihre beiden Köpfe nach oben erhob.