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"Das Leben ist nur dann gut, wenn alle Menschen ein gutes Leben haben." Empathie und Verantwortung sind Leitmotive, wenn Renate Schmidt Episoden aus ihrem Leben bei fremden Völkern erzählt: Fernab der touristischen Routen lässt sie sich tief auf den Alltag und die Nöte der Menschen ein, in Europa ebenso wie in Südamerika, Afrika, Asien oder Australien. Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Umweltzerstörung und Kriegsgewalt sind tägliche Realität auf unserem Planeten. Daneben aber auch so viel menschliche Wärme und Solidarität. Die Traurigkeit und das Leid unserer Welt und das Staunen über ihre Herrlichkeit verbinden sich zu einem eindringlichen, wehmütigen Akkord, in dem auch die Hoffnung auf eine gerechte Welt und solidarische Menschheit mitschwingt.
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Seitenzahl: 201
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Wir wohnen
Wort an Wort
Sag mir
Dein liebstes
Freund
Meines heißt
Du
Rose Ausländer
Anakonda
Pause ist die Hauptstadt von Schule
Land aus Salz
Militärdiktatur
Kindersoldat
Wirtschaftsflüchtling
Alphabet
Manati
Woher kommen Sie? Aus Nigeria.
Jastarnia Bór
Danzig
Mockcharge
Dominica
Weihnachten in Marrakesch
Woher kommen Sie? Aus dem Kongo.
Comayagua
E10
Der Schneeleopard
Kichererbsensuppe
„Ich habe gekücht“
Schwimmen fördert die Integration
Bierzeltkultur
Der Prinz am Eisbach
Zugfahrt
Bad Tölz
Im Supermarkt
Gutmensch
Bamiyan
Goldmuseum
Schneetod
Gesegnet
Als wir rasteten
Little egg sit down
Gustav Nachtigal, „the consul in time“
Monika Mann
Capri, Piccola Marina – Capri 1907
Woher kommen Sie? Aus Afghanistan.
Tabakernte in Italien
Bella Ciao
Welwitschia Mirabilis
Graurinder und Schafe
Essgewohnheiten
Norden
Ökofesztival
Palaverbaum
Nationalhymnen
Sprungtanz
Apartheid
Messerbänkchen
Thank you
A la orden
Schlossherrin
Musik ist verboten
Stabat Mater auf dem „Platz der Toten“
Das Heimatland der Anakonda, von der hier die Rede sein wird, ist nur unwesentlich kleiner als Österreich. Ihre Muttersprache ist Französisch, aber sie ist vielsprachig aufgewachsen. Insgesamt achtzehn Ansiedelungen gibt es hier, wo sie zu Hause ist, darunter auch einige größere und kleinere Städte, doch allein Graz hat mehr Einwohner als die gesamte Bevölkerung ihres Landes, tausende von Kilometern von Graz entfernt. Nein, nicht deswegen, weil es hier Jaguare, Tapire und eben Anakondas gibt, gehört Französisch Guyana zur Europäischen Union, ist noch heute „vollintegrierter Teil des französischen Staates“1, ist Mitglied der Nato, ist der Euro Zahlungsmittel, ist es das waldreichste Land der Europäischen Union. Ja, warum eigentlich?
Unser winziges Flugzeug fliegt in Begleitung seines Schattens über ein grünes Meer aus Bäumen, in dem es von Flussschlangen wimmelt, zu einem kleinen Ort am größten Fluss des Landes, dem Oyapock.
Nach unserer Ankunft suchen und finden meine Reisegefährtin Barbara und ich, wir sind sehr hungrig, ein Lokal in einem stattlichen, heute noch hübschen Verandenhaus aus Holz aus kolonialen Zeiten. Es gibt nur dieses einzige Restaurant, wir wollen es so bezeichnen, schließlich sind wir in Frankreich, wenn auch „jenseits des Meeres“. Die Auswahl auf der Speisekarte ist reichhaltig, aber recht ungewohnt. Es gibt Krokodil, oder ist es nur ein kleiner Kaiman, Anakonda und Tapir. Auch Flussdelphin, sowie Piranya. Dazu eine „flûte“, ein französisches schmales Stangenweißbrot. Kennengelernt hatte ich die „flûte“ einst in einer Bar, in der Rue d’Eylau, in der Straße, in der ich in Paris wohnte. Mein tägliches Frühstück bestand aus einer „flûte“, mit Butter und Marmelade. Der Kaffee französisch milchdünn.
Nicht nur beim Fußball gibt es ein „Unentschieden“, auch in der 2-tägigen Schlacht bei Preußisch Eylau, 1807, zwischen der französischen Grand Armée und russischen Truppen zur Unterstützung Preußens, war die Zahl der Toten in etwa 15.000 auf beiden Seiten. (Napoléon: „Une nuit de Paris réparera tout ça“. Marschall Ney: „Quel massacre! Et sans résultat“.)2
Ich weiß, ich bin vom Thema abgekommen, aber vielleicht auch nicht.
Wünschen Sie einen Chardonnay oder lieber einen Merlot, fragt uns der Kellner. Er spricht Französisch, aber ich bin mir sicher, dass er noch eine andere Sprache beherrscht, die ihm flüssiger gelänge, wenn wir ihn nur in seiner Muttersprache verstehen wollten, denn noch gibt es sechs indigene Sprachen und auch Kreolisch in Französisch Guyana.
Ich wähle Anakonda und Rotwein. Ist ein Merlot zu Anakonda, der so gut zu dunklem Fleisch passen soll, zu Lamm, zu Wild, auch zu Anakonda die richtige Wahl, oder vertrüge sich ein Weißwein besser zu einer Würgeschlange?
Im Stillen kommen mir die Rituale der Jäger unterschiedlichster Kulturen in den Sinn, die einst ihr erjagtes Wild um Verzeihung baten und ihm dankten, dass es sie vor Hunger bewahrte. Auch ich bat die Anakonda, Herrin der Kulturpflanzen, dass sie mir verzeihen möge, sie zu essen. Diese Anakonda war nicht getötet worden, damit die Gemeinschaft überleben konnte, und man hat sicher kein Ritual der Entschuldigung vollzogen, um der Bewahrung einer harmonischen Beziehung zur gesamten Schöpfung willen. Eigenartig, dass sie mir gut schmeckt. Sollte sie mir aus unerfindlichen, durch nichts zu rechtfertigenden Gründen, vergeben haben?
Tags darauf kaufen wir auf der anderen Flussseite, und somit in einem anderen Land, Hängematten, verstauen sie in einem Kanu mit Außenbordmotor und fahren mit zwei jungen Bootsführern, die uns die französische Botschaft vermittelt hatte, den breiten Fluss bis zum Abend gegen die Strömung, meist in Ufernähe, entlang. Auf dem Fluss begegnet uns hin und wieder ein Boot mit wenigen Insassen. Man winkt einan der zu, doch im gleißenden Licht über der Wasseroberfläche verlieren sich die Umrisse des Bootes und der schemenhaften Menschen in ihm bald, das Motorengeräusch wird leiser und leiser, ist nicht mehr zu hören. Um uns nur noch Fluss und Wald. Ein bergiger Fluss, in den wir in Abständen steigen müssen, um das Boot mit großer Anstrengung die Flussabhänge hinaufzuziehen. Dann fängt es zu dämmern an. Man fährt noch dichter ans Ufer, ganz langsam. Der wildere der beiden Gesellen nimmt ein Gewehr zur Hand, bringt es in Anschlag und zielt. Der Schuss fällt und zerreißt abrupt die verführerischen, sirenen haften Melodien, die das leich te Gleiten unseres Bootes den langen Tag über dem Fluss entlockte.
Es ist ein Tukan, der vom Himmel fällt. Er ist so schön, so vollkommen in seinen Farben und seiner Form, dass diesmal keine Vergebung zu erwarten ist, auch wenn die Bitte darum besonders innig ausfällt, als er seiner Federpracht beraubt, und nach langer Garung und Räucherung serviert wird. Er schmeckt sehr fein.
Wir waren an der Stelle an Land gegangen, an der von anderen Reisenden zur Übernachtung Holzgestelle hinterlassen worden waren, und haken dort unsere Hängematten ein. Eine Hängematte dient uns beiden als Bett, mit der anderen decken wir uns zu, genauso wie unsere beiden Führer, denn die Nacht ist empfindlich kalt. Nicht alles schläft in dieser sternklaren Nacht. Der Fluss singt ein neues, sanftes nächtliches Lied. Das Faultier hängt entspannt im Halbschlaf auf dem Ast über uns, wie ein zum Trocknen übergeworfener Lumpen. Kein Vogel ist zu hören. Die Anakonda und der Ameisenbär jedoch sind spürbar unterwegs. Ozelot, Puma und Jaguar ebenso. Lautlos. Lärm machen nur die Brüllaffen.
Unsere beiden Gefährten hatten den ganzen Tag über kaum ein Wort gesprochen, mit uns nicht, und auch nicht miteinander. Sie lagen, einander abwechselnd, mit dem Steuerruder in der Hand, am Heck des Bootes, mit halbgeschlossenen Augen, und entschlüsselten blind das mäandernde Wegenetz der Flusslandschaft, mieden zu hohe Stromschnellen, meisterten andere. Senkrecht hob sich das Boot in kürzeren und längeren Abständen Richtung Himmel, drohte überzuschlagen, aber die Welle unter ihm trug es wie ein Schiffschaukelschiffchen hoch hinan, um es anschließend wieder sacht, waagrecht, abzusetzen. Da das Boot nicht vollständig verpicht war, musste immer derjenige, der nicht steuerte, Wasser schöpfen. Mit ruhigen, regelmäßigen Bewegungen gelang es beiden Männern, diese Arbeit mit Hilfe einer Blechdose, ohne Unterbrechung auch im Tiefschlaf zu verrichten. Uns gab man wortlos zu verstehen, dass wir dazu nicht in der Lage wären, auch nicht bei hellwacher Aufmerksamkeit. Wir ließen es gut sein.
Morgendämmerung am Fluss. Alles, was geschlafen hat, ist nun munter, alles was eben noch aktiv war, kletterte und lief, sprang und turnte, kroch, schläft jetzt. Das Faultier kann sich für keinen Zustand endgültig entscheiden.
Warme Sandsteine säumen das Flussbett. In den eben noch anthrazitfarben Fluss gießt die Sonne nun, sie ist schon über die Baumwipfel geklettert, flüssiges Silber, dann Gold. Im vergoldeten Silber gehe ich angstfrei schwimmen.
Wir fahren zum Frühstücken. Auf dem Weg dorthin kommen wir bei Goldsuchern vorbei. Sie arbeiten auf Flößen, inmitten des Flusses. Das vom Boden in anstrengenden Tauchgängen hochgeholte lose Gestein wird von leichtem Material auf einem schmalen Laufband durch Rütteln getrennt und mit Quecksilber amalgamiert. Dabei erhält man eine Legierung von Gold und Quecksilber, und bei anschließender Verdampfung des Quecksilbers das reine Rohgold. Das freigewordene Quecksilber wird im Fluss entsorgt. Die Folge: Die Fische im Fluss sind hochgiftig, die meisten sterben.
Mit dem Verkauf von Fellen und Schlangenhäuten versuchen die Goldwäscher ihren schmalen Lohn zu verbessern. Dennoch bleiben sie arm, denn sie arbeiten illegal, in Abhängigkeit eines korrupten Arbeitgebers. Die Haut der Anakonda, die man uns anbot, war viele Meter lang. Sie hatte am Ufer des Flusses gelebt und, wenn möglich, dann und wann, ein Wasserschwein gefressen. Eigentlich war sie sehr genügsam. Einem Menschen hatte sie nie ein Leid zugefügt. Wer ihre Haut wohl gekauft haben mag? Und weshalb? Wer hat von ihr gegessen, und weshalb? Ich? Oder war man nur auf ihre Haut erpicht für Handy-Hüllen, Handtaschen, Baseballcaps, Lederstiefel, mit Schlangenhäuten überzogene Musikinstrumente?
Der Goldwäscher, der uns alle Vorgänge auf dem Floß erklärte, war ein junger, freundlicher Franzose aus dem Elsaß.
Wir landen an einer Pontonbrücke, die als Terrasse für ein kleines Holzhäuschen am Flussufer dient. Das Häuschen ist Kramerladen, Bar und Café in einem. Die Besitzer, ein Paar, das seit vielen Jahrzehnten an dieser Stelle am Ufer des Oyapock, inmitten des Regenwaldes lebt. Sie schlafen nicht in Hängematten, sondern in einem breiten Bett ein wenig abseits von diesem winzigen Haus aus verschlagenen Brettern, darüber ein immer blühender Blätterhimmel. Mit der Welt jenseits des Waldes und des Flusses sind sie nicht durch technische Geräte, sondern ausschließlich durch die Erzählungen ihrer Besucher verbunden.
Dieses alte Paar nimmt uns so gastfreundlich auf, bewirtet uns so herzlich mit allem, was sie haben, hat solch liebevollen Umgang miteinander, dass sie nur Philemon und Baucis heißen können. Bei Ovid hatten Philemon und Baucis, in Phrygien zu Hause, der heutigen Türkei, unerkannt, Götter zu Gast. Zeus und Hermes bedankten sich, sich verabschiedend, bei ihren großzügigen Gastgebern, indem sie ihre kleine Hütte vergoldeten und ihren Wunsch, niemals voneinander getrennt zu werden, erfüllten. Uns war nur gegeben, ihnen im Stillen von Herzen zu wünschen, dass sie noch lange miteinander leben könnten. Ein goldenes Häuschen wäre für unsere, uns so wohlwollend empfangenden Wirte, so mein Eindruck, kein gutes Gastgeschenk gewesen.
Mein Kaffee bestand aus purer Herzlichkeit, wie sollte er nicht schmecken? Die Männer tranken Bier, aber auch sie, so draufgängerisch sie sonst waren, hatten beinahe schüchternen Respekt, gar Ehrfurcht vor den Wirtsleuten. Was für schöne Gesichter Philemon und Baucis hatten, alte, kluge Gesichter, mit wechselnd flussfarbenen Augen.
Wir fahren weiter. Im Blick ein Bild, wie eine Filmkulisse. Inmitten des Flusses ein Kanu. In ihm kniet, mit ruhigen Bewegungen paddelnd, mit rotem Lendenschurz und blauschwarzen, schulterlangen Haaren, ein Wayapi, Angehöriger eines Volkes, das, wie es heißt, zum Aussterben verurteilt ist. Im 18. und 19. Jahrhundert waren die Wayapi noch zahlreich gewesen. Sie lebten isoliert im Wald, jagten und fischten, kamen ihren religiösen Überzeugungen nach. Ab und an aber bekamen sie plötzlich unerwünschten Besuch. Keiner dieser Besuche tat ihnen gut. Auch wenn man es kaum glauben mag, die Malaria, mit ihren Erregern plasmodium malariae und plasmodium vivax, wurde in das Land des Mannes im Kanu durch Fremde eingeschleppt. Hinzu kamen Pocken, Masern, Grippe und Cholera, alles Krankheiten, gegen die ein Wayapi keine Abwehrkräfte besaß und bis heute nicht besitzt.
Schon lange ist das Land der Wayapi nicht mehr ihr eigenes. Fremde, sie nannten sich Franzosen, hatten es ihnen weggenommen. Andere Fremde, sie nannten sich Deutsche, versuchten das Land der Franzosen, das diese den Wayapi weggenommen hatten, den Franzosen wiederum wegzunehmen, was allerdings nicht gelang. Getötet durch einheimische Krankheiten liegen viele der neuen, erfolglosen deutschen Landräuber nun schon lange in fremder Erde, tausende von Kilometern fern ihres Heimatlandes. Am Kopfende eines dieser Gräber wurde für einen an Gelbfieber Verstorbenen ein großes Holzkreuz errichtet. Solange noch ein kleines seltsames Kreuz mit Haken deutlich auf ihm zu sehen war, besuchten regelmäßig Menschen dieses Grab, der deutsche Name war schon recht unleserlich geworden. Heute kommt nur noch ein Jaguar auf Futtersuche hin und wieder vorbei.
Wir gehen an Land. Kleine Häuschen mit Veranden liegen verstreut auf leichten Anhöhen, große Wiesen dazwischen, einzelne hohe Bäume. Alle Dorfbewohner wirken wie Statisten in einem Indianerfilm, dessen Aufführung noch nicht beginnen kann, da der Häuptling mit Federschmuck noch auf sich warten lässt. Ruhigen Schrittes gehen sie sehr aufrecht, einzeln oder zu zweit, sprachlos, die Pfade am Flussufer entlang, queren die zentrale Wiese, lehnen an mächtigen Baumstämmen, schaukeln in der Hängematte. Ein Wayapi, auch er im roten Lendenschurz wie alle anderen, schlägt seine Axt tief in die Rinde eines Baumes, zieht sie wieder heraus und schlägt sie erneut in den Stamm. Er wirkt gelangweilt, genau wie alle anderen Mitwirkenden an diesem Theaterstück, das anschaulich zeigt, dass die verlorene Zeit sich nicht mehr finden lässt. Die Frauen in gleichfarbigen roten Röcken, sitzen still am Boden oder sind mit ruhigen Handgriffen in der Küche unter freiem Himmel beschäftigt. Man sieht Kinder, aber man hört sie nicht. Dann ohrenbetäubender Motorenlärm. Unsere beiden Bootsführer haben Motorsägen mitgebracht, werfen sie an und machen sich an einem Kanu zu schaffen. Sie haben stille Zuschauer, aber keine Bewunderer ihrer Arbeit.
Die Washingtoner Konvention erlaubt den Einwohnern des Ortes zwar das Fischen, auch die Jagd, selbst auf geschützte Arten, doch wie beinahe jeden Abend kaufen sich die Dorfbewohner im kleinen Laden Fischdosen mit Tomatensoße aus der Normandie, denn sie können die Fische im Fluss, wenn sie nicht erkranken wollen, nicht sterben wollen, nicht mehr essen. Über dem Haus, auf der kleinen Anhöhe, weht eine dreifarbige Flagge: Blau-weißrot. Der Hubschrauber schwebt ein, bringt neue Vorräte an Dosen, mehr Wein, mehr Weißbrot. So hat die Jagd für die Wayapi schon lange ihren Sinn verloren, denn sie muss notwendig sein. Sie ist aufs Engste mit ihrer Mythologie verwoben. Doch ihr buntes, einst engmaschiges religiöses Gewebe beginnt sich auf Grund gefallener Maschen schon seit geraumer Zeit immer mehr aufzutrennen. Einzig auf Trophäenjagd zu gehen, gar noch sich mit dem erlegten Wild ablichten zu lassen, ist dem Volk der Wayapi ein vollkommen fremdes, unverständliches Handeln.
Es war der Bürgermeister des Ortes, der im Kanu kniete, dem wir am Morgen auf dem Fluss begegnet waren. Er hatte wieder einmal die illegalen Flöße der Goldwäscher auf dem Fluss gezählt, an dem seine Vorfahren, seit die Welt erschaffen wurde, gelebt hatten. Als er erkannte, so erzählt er, dass es kein Zurück mehr gab zu den Zeiten, da die Wayapi noch unter sich waren, fischten, jagten, und ihren religiösen Zeremonien mit Ernst nachkamen, die Gefahr, die eine Sonnenfinsternis heraufbeschwor, zu bannen verstanden, wollte er wenigstens versuchen, sein Dorf an dem Gewinn durch das Goldschürfen in ihrem Fluss Teil haben zu lassen. Es sei ihm nie gelungen. Bald, sagt er, sind die Vorräte an Gold erschöpft, auch das Leben im Fluss gehe zu Ende. Alles sei aus dem Lot geraten. Er schenkt uns die langen Schwanzfedern eines roten Aras. Er braucht sie nicht mehr. Sie stammen aus einer ehemaligen Federkrone, die in einem Land, das heute zur Europäischen Union gehört, nur noch musealen Wert besitzt, und nicht mehr den Anführer eines Volkes schmückt und auszeichnet. Schon lange ist der Bürgermeister der Wayapi kein Priester mehr, der seinem Volk in seiner existenziellen Not beistehen kann. Er ist nicht mehr wie einst der Repräsentant einer machtvollen Gottheit, die das Leben seines Volkes in einem harmonischen Gleichgewicht zu halten verstand.
1 Französisch-Guyana: Wikipedia
2 Schlacht bei Preußisch Eylau: Wikipedia
Berlin ist die Hauptstadt von Deutschland, Damaskus ist die Hauptstadt von Syrien. Kabul, Stockholm, Wien, Bagdad sind Hauptstädte.
„Pause ist die Hauptstadt von Schule“ sagt Farhad. Ich denke augenblicklich an meine eigene Schulzeit zurück und meine, wer das sagt, der gehört zu uns, der ist integriert. Neben seinem unfehlbaren Gespür für das Wichtigste eines Schultages, ist Farhad auch grammatikalisch schon auf einem guten Weg zum einwand freien Hochdeutsch, denn wenn Abuja die Hauptstadt von Nigeria ist, dann muss Pause die Hauptstadt von Schule sein. Ich, Lehrkraft für Asylsuchende, viele der Schüler in einer mittlerweile jahrelangen, meist ergebnislosen Warteschleife um ein Bleiberecht, bin recht zufrieden mit den erworbenen Deutschkenntnissen meiner Schüler und Schülerinnen. Wir sind in etwa dort angekommen, wo einst Signore Giovanni Trappatoni war mit: „Ich habe fertig“, und „ware schwach wie eine Flasche leer“. Nicht nur die Mannschaften, die Giovanni Trappatoni trainierte, gewannen mit steter Regelmäßigkeit, er ließ auch die italienische Sprache gegenüber dem Deutschen gewinnen, das Haben über das Sein. In unserem Deutschkurs sind die Vokale sehr unbeliebt, die Konsonanten aber stehen hoch im Kurs. Mrmld! Alle lesen dieses Wort, das eine Schülerin an die Tafel geschrieben hatte, vollkommen flüssig, während ich mir die Zunge breche. Mir wird deutlich bewusst, man bringt auch seine Sprache aus dem fernen Heimatland mit.
Wie wichtig war die Pause während meiner Schulzeit für uns SchülerInnen im Vergleich zum Deutschunterricht, selbst für mich, obwohl er doch in allen Schuljahren zu meinen Lieblingsfächern gehörte. („Sie beteiligte sich rege am Unterricht in Fächern, die sie interessierten“.) Nichts kam gegen die Pause auch nur im Entferntesten an. Beim ersten Klingelton standen wir alle vor dem Brez’nstand und hatten doch zwei Stockwerke hinunterzulaufen. Dann hinaus auf den Pausenhof, den schulfreien Nachmittag planen, also stundenlanges Baden am Baggersee mit verspätetem Nachhausekommen, statt am Vortrag über „Mutter Courage“ weiterzuarbeiten. „… und was noch nicht gestorben ist, das macht sich auf die Socken nun.“
Wildes, nächtliches Schlittschuhfahren mit den Schulfreunden und Schulfreundinnen, die beleuchtete Kirchturmuhr zeigt längst verbotene Uhrzeiten an. Bei Fellini heißt es: „Unser Leben ist arm an Rhythmus, aber reich an Uhrzeigertakt“. Als wir noch sehr jung waren, wussten wir darum: „Rhythm is it“. Jorge Luis Borges geht noch weiter, wenn er schreibt: „Gott ist in den Intervallen versteckt“.
In einer der jetzigen Pausen sitze ich im Sonnenschein mit einer, mir gereichten, Tasse Tee im Hof. Sermina setzt sich zu mir, hat ihr Smartphone in der Hand, wischt über Fotos, hält an, reicht es mir. Ein junger Mann ist zu sehen. Freundlich sieht er aus, hübsch. Dein Sohn? Ibni? Sie nickt. Sie nimmt das Smartphone wieder an sich, wischt erneut, reicht es mir wieder zurück. Wieder ist ein junger Mann zu sehen. Ist das auch dein Sohn? Ja. Tränen laufen ihr über die Wangen. Diese beiden Söhne sind im Mittelmeer ertrunken. Sermina will nicht in Deutschland bleiben, fliegt tatsächlich in den Irak zurück, in ihre restlos zerstörte Heimatstadt Mosul. Ein Sohn lebt noch dort.
Wir sitzen auf der Ladefläche eines Kleinlasters, vollkommen vermummt, denn es ist eisig kalt, und scharfer Wind bläst uns ins Gesicht. In sternklarer Nacht sind wir gestartet, um in einer sechsstündigen Fahrt über einen See zu fahren, der, als die Sonne sich über den Horizont schiebt, vollständig erblinden lässt. Keine andere Farbe ist auszumachen als Blau und Weiß, ein tiefes Blau, ein blendendes Weiß. Der See ist nicht zugefroren und verschneit, wie man annehmen könnte, nein, der See ist ein See aus Salz. Es ist der größte Salzsee der Erde, der „Salar de Uyuni“ in Bolivien.
Einige Tage vor unserer Abfahrt wurde noch mit Hilfe unserer Gastgeberin, Fructuosa, sie spricht Spanisch, wenn ihr Gegenüber ihre Muttersprache, Aymara, nicht beherrscht, eine schwere Erkältung auskuriert. Es gab ein Getränk aus Vielerei, so und nicht anders zubereitet, wenn es denn helfen sollte. Das Auflegen eines Kokablattes, nach Fructuosas Anordnung auf die Stirn, erzeugt bei ihr eine solch unbändige Heiterkeit, dass sie immer wieder in schallendes Gelächter ausbricht, atemlos nach Luft ringt. Wenn ich gesund werden wolle, dann müsse ich das Kokablatt schon mit der Spitze nach unten legen. Ist das möglich, dass man das nicht weiß?
In ihrem und ihres Mannes von einer hohen Steinmauer eingefassten Hof hatten wir in regelmäßigen Abständen unsere Wäsche gewaschen. Anschließend legte ich mich täglich auf ein Stück Karton und genoss, eidechsengleich, die wärmende Sonne entlang der schützenden Mauer. Nach einer kurzen Gnadenfrist, die mich die Sonne auf beinahe 4000 Meter Höhe genießen ließ, begann der Auftakt zum täglichen Wäscheritual, das sie an uns so zu bewundern gelernt hatte, und das sich nun, nachahmend, abspielen sollte.
Fructuosa holt mehrere Schüsseln herbei, sowie Wasser und Seife, und Berge von Röcken. Diese Berge von Röcken trug sie bei Tag und bei Nacht, doch fand täglich ein Wechsel statt, die Röcke wurden durchrochiert. Was gestern zuunterst getragen wurde, war heute der sichtbare Festtagsrock, um zum Einkauf auf den Markt zu gehen, das heißt, der gestrige König nahm heute die Position des Turms ein.
Das Ritual beginnt. Fructuosa sitzt auf einem Stuhl oder auf der Erde und ruft einen Namen: Candela. Ich rühre mich nicht, bin weiterhin Mauereidechse mit schläfrigen, halbgeschlossenen Augen, unbeweglich. Jimena. Die Eidechse stellt sich tot. Celia. Im Zeitlupentempo dreht sie sich auf die andere Seite. Carmen. Ich heiße nicht Carmen, mir gilt der Ruf nicht. Wie angenehm die Sonne meinen Rücken wärmt. Ewig könnte ich so liegen, auf einem Karton an der Steinmauer. Im Halbschlaf glaube ich das Rascheln von Anacletos Zeitung, Fructuosas Mann, zu hören. Es ist nicht die heutige Zeitung, die Anacleto, auf seinem schmalen Karton, auf dem Rücken liegend, aufmerksam liest, es ist nicht einmal das Neueste von gestern, sondern Nachrichten vom vergangenen Jahr. Von seiner Unterlage hatte er mir einen großen Teil abgerissen und sie für mich an die für eine Eidechse geeignetste Stelle unauffällig gastfreundlich gelegt.
Auch ich drehe mich auf den Rücken. Ein stahlblauer Himmel über mir, rotbraun die Erde im Hof, die der Frost zu feinstem Staubzucker zermahlen hat, der auf unsere gewaschene Kleidung wartet, um ihr die gleichen Farbschattierungen zu verleihen. Re-na-ta. Triumphierend klingen die gedehnten Silben durch den Hofraum bis zu der ihren Träumen nachhängenden Eidechse, darunter vor allem ein Wunschtraum, heute einmal vom Waschen vieler schwerer Wollröcke verschont zu werden. Aber Fructuosa hat wieder das Spiel gewonnen. Spielschulden sind Ehrenschulden. Ich stehe auf, schüttele mein Eidechsensein ab, wasche ergebenst ihre Röcke, hänge sie zum Trocknen auf. Fructuosa schüttet das Seifenwasser an die gelegte Kartoffelreihe, bringt die Schüsseln ins Haus.
An drei Waschtagen waren all ihre Röcke einmal gewaschen. Vermutlich hat Fructuosa sich über unseren Waschzwang, in ihrer Nachahmung dieser unnützen verschwenderischen Tätigkeit, über uns nur lustig gemacht, und nachdem wir weitergereist waren diese sträfliche Wasservergeudung wieder vernünftigerweise tunlichst vermieden, denn staubig waren die Röcke in diesen staubtrockenen Höhen Boliviens immer, das gehört zu ihrem Wesen.
Seit Stunden sind wir unterwegs. Die Ufer des Sees sind nicht mehr auszumachen, die anfängliche dünne, sulzige Eisdecke aus Salz ist schon seit langem einer bis zum Grund durchgefrorenen Salzeisdecke gewichen. Und hier, mitten auf dem See, und genau hier, sagt Fructuosa, ist ihr Kind erfroren. Sie habe es auf der Ladefläche des kleinen Lastwagens, mit dem wir heute unterwegs sind, geboren, aber, es sei erfroren. Wie um sich abzulenken, nicht weiter an das unfassbar traurige Erlebte denken zu müssen, erzählt sie die Geschichte von zwei Lastwagen, die in tiefer Nacht auf dem See, der keine Straßen kennt, zusammengestoßen seien. Beide Fahrer bezeugten, dass ihre Scheinwerfer an gewesen seien. Dem, zugegebenermaßen, unglaublichen Zufall überlassen nur wir die Geschichte, Fructuosa und Anacleto sind sich sicher, dass der Zufall bei diesem Unfall keinerlei Rolle gespielt hatte.
Als wir im kleinen Dorf auf der anderen Seite der Seescheibe angekommen sind, wird ein schwerer Hammel geschlachtet. Zubereitet wird er auf dem kleinen von drei Steinen eingefassten Holzfeuer am Boden. Da die Vorräte noch lange halten müssen, sind die Portionen nicht groß. Es ist eine Freude zu sehen, wie sehr Fructuosa und Anacleto das äußerst seltene Fleischgericht genießen.
Ich habe Äpfel und Mehl mitgebracht und backe für uns alle zum Nachtisch einen gedeckten Apfelkuchen, nach dem Rezept meiner noch im 19. Jahrhundert an der Ostsee geborenen Großmutter. Wenn sie wüsste, wo heute ein Apfelkuchen nach ihrem Rezept gegessen wird, und unter welchen Umständen er entstanden ist. Fructuosa, vollkommen fasziniert, memoriert das Rezept. Gelang es ihr auf dem viele Stunden entfernten Markt Äpfel zu erstehen, oder wurden ihr Äpfel mitgebracht, gab es jedes Mal Danziger Apfel kuchen im steinernen Häuschen am Rande des Salzsees. „Sumaq“ sagt Fructuosa auf Quechua, ihre dritte Sprache, die sie fließend kann, „lecker“.
Der Salzsee liegt inmitten einer Steinwüste. Wir gehen zu Anacletos Feldern, einer Geröllhalde an einem Hügelabhang. Mit einer Hacke bereiten wir Löcher zum Einsäen von Quinoasamen in einem Boden vor, als seien wir in der Sahara. Die Höhe, in der wir säen, spielt