AnarchaFeminismus - Silke Lohschelder - E-Book

AnarchaFeminismus E-Book

Silke Lohschelder

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Beschreibung

Der Anarchismus scheint aufgrund seiner Ablehnung jeglicher Herrschaft, feministische Forderungen überflüssig zu machen. Dennoch formulierten Anarchistinnen wie Emma Goldman oder die spanischen Mujeres Libres u.a. explizit feministische Forderungen, mit denen sie ihre Genossen konfrontierten. – In den 70er Jahren entstand in den USA mit Peggy Kornegger eine ausdrücklich anarchafeministische Theorie, mit der die befreienden Elemente von Anarchismus und Feminismus zusammengefügt werden sollten. »›AnarchaFeminismus‹ bietet eine ausgezeichnete Einführung, bei der viele der offenen Fragen kein Mangel sein müssen – die Perspektive zielt auf Bewegung und auf das Führen notwendiger, differenzierter, nicht-reformistischer Auseinandersetzung, die ein Buch niemals ersetzen kann.« – Bettina Roß, literaturkritik.de »Mit ›AnarchaFeminismus. Auf den Spuren einer Utopie‹ liegt ein exzellenter Einführungsband vor, der nichts an Aktualität eingebüßt hat.« – Regina Wamper, kritisch-lesen.de

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Seitenzahl: 314

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Silke Lohschelder, Jahrgang 1968, lebt in Marburg, wo sie Politik, Soziologie und Medienwissenschaften studierte. Ihr Schwerpunkt liegt auf feministischer Theorie und antifaschistischen Themen.

Liane M. Dubowy, Jahrgang 1970, Journalistin, Studium der Kulturwirtschaft (Kulturraum Italien), schreibt u.a. für die Jungle World (Berlin), lebt in München.

Inés Gutschmidt, Jahrgang 1960, Soziologin und Lektorin, schrieb ihre Magisterarbeit über AnarchaFeminismus, lebt in Münster.

Silke Lohschelder, Liane M. Dubowy, Inés Gutschmidt

AnarchaFeminismus

Auf den Spuren einer Utopie

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Silke Lohschelder u.a.: AnarchaFeminismus

3. Auflage, März 2018, Nachdruck von 2000

eBook UNRAST Verlag, Juni 2022

ISBN 978-3-95405-117-5

© UNRAST-Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST-Verlag, Münster

Satz: UNRAST-Verlag, Münster

Inhalt

Einleitung

Teil IAnarchistische Theorie, Geschlechterverhältnis und Frauenrollen

Anarchistische Theorie

Anarchistische Theorie, Geschlechterverhältnis und Frauenrollen bei Proudhon, Bakunin und Kropotkin

• Pierre-Joseph ProudhonProudhons sozialer Anarchismus – Geschlechterverhältnis und Frauenrolle bei Proudhon

• Michail A. BakuninBakunins kollektiver Anarchismus – Geschlechterverhältnis und Frauenrolle bei Bakunin

• Peter A. KropotkinKropotkins kommunistischer Anarchismus – Geschlechterverhältnis und Frauenrolle bei Kropotkin

• Zusammenfassung

Teil IIAnarchistinnen

Louise Michel

• Das Leben Louise Michels

• Die Pariser Kommune

• Louise Michels politische und soziale PositionenAnarchismus – Frauen und Geschlechterverhältnis

• Zusammenfassung

Anarchistinnen und Sozialrevolutionärinnen im zaristischen Rußland – von Inés Gutschmidt

• Anfänge

• Die Populistinnen

• Unter das Volk gehen

• Die Narodniki-Frauen

• Fazit

• Vera Figner – das Leben einer russischen Sozialrevolutionärin

Emma Goldman

• Das Leben Emma Goldmans

• Exkurs: Die Beziehung zu Johann Most

• Emma Goldmans politische und soziale PositionenAnarchismus – Frauenbefreiung

• Zusammenfassung

Die namenlose Geschichte der Frauen in der deutschen anarchistischen Bewegung –von Inés Gutschmidt

• Anarchismus in Deutschland – nur eine politische Randerscheinung?!

• Anarchismus in Deutschland – nur eine Männerbewegung?!

• Von anarchosyndikalistischen Fraueninitiativen zum Syndikalistischen Frauenbund

• Anarchistinnen und Syndikalistinnen im Widerstand gegen Faschismus und Krieg

Mujeres Libres – die Freien Frauen

• Exkurs: Die Situation der spanischen Frauen vor dem Beginn des Bürgerkrieges

• Die Rolle der Frauen in der anarchistischen BewegungDie libertäre Bewegung Spaniens und ihre Sicht der Frauenbefreiung – Anarchistische Inhalte und deren Relevanz für die spanischen Frauen

• Die Organisation ›Mujeres Libres‹Organisationsstruktur – Selbstverständnis – Ziele

• Praktische Arbeit

• Inhaltliche PositionenFrauenbefreiung – Geschlechterverhältnis – Freie Liebe

• Mujeres Libres – eine feministische Organisation?

• Zusammenfassung

Anarchistinnen in Italien – von Liane M. Dubowy

• Frauen in der anarchistischen Bewegung Italiens

• Anarchafeministische Gruppen in ItalienOrganizzazione delle Donne Libertarie – Collettivo Donne Libertarie di Milano – Collettivo Donne Libertarie di Trobaso (MI) – Die 80er Jahre: Collettivo Le Scimmie

• Biographien im italienischen Anarchafeminismus

Teil IIIAnarchafeminismus

Feministische Theorie

• Differenz und Gleichheit

• Sex und gender

• Radikaler Feminismus

• Ökofeminismus

• Schwarze feministische Theorie

Anarchafeministische Theorie

• Ursprünge des Anarchafeminismus

• Inhalte

• Anarchafeministische Praxis

• Diskussionsprozesse

• Der soziale Ökofeminismus

Zusammenfassung

Anarchafeministische Ansätze und die feministische Bewegung

Fazit

Anmerkungen

Literatur

Einleitung

Mehr als zehn Jahre nach dem Ende des real existierenden Sozialismus scheinen linke Utopien überholt: Der neoliberale Kapitalismus hat weltweit eine hegemoniale Stellung angenommen; Gegenmodelle zu entwickeln scheint aussichtslos. Auch vormals linke Bewegungen wirken überzeugt, daß es vor allem darauf ankommt, kapitalistische Strukturen sozialverträglich zu gestalten. Die letzten Reste der neuen deutschen Frauenbewegung schimpfen über die jungen Frauen, die ihre Unterdrückung nicht als strukturell bedingt wahrnehmen, sondern sich mit dem System eingerichtet haben und mit dem Feminismus ihrer Vorkämpferinnen nichts mehr anfangen können. Diese Entwicklung hat dazu geführt, daß sich innerhalb linker und feministischer Gruppen eine gewisse Resignation breitmacht, die sich in vielen Diskussionen widerspiegelt.

Gerade der feministischen Bewegung wird oft entgegengehalten, sie habe in den letzten zwei Jahrzehnten viele ihrer Forderungen durchgesetzt – auf institutioneller Ebene ebenso wie auf der ideologischen. Diese Argumentation unterschlägt jedoch, daß sich die tatsächlichen Verbesserungen in der Hauptsache für Mittelschichtsfrauen ausgewirkt haben: Frauen mit einer guten Ausbildung haben bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, die Möglichkeit, Berufsleben und Kinder miteinander zu vereinbaren hat sich für die, die eine Kinderbetreuung bezahlen können, ebenfalls deutlich verbessert, die weiblichen Rollenklischees sind so weit aufgeweicht, daß Frauen mehr gesellschaftliche Möglichkeiten offenstehen etc.

Was diese optimistischen Sichtweisen (die bezeichnenderweise oft gerade von Männern geäußert werden) nicht fassen, ist die Tatsache, daß die gesellschaftliche Macht- und Geldverteilung sich nur wenig zugunsten der Frauen geändert hat: Frauen werden nach wie vor im Berufsleben benachteiligt; sie bekommen die schlechter bezahlten Jobs oder verdienen für die gleiche Arbeit weniger als Männer; der Bereich der Teilzeitbeschäftigungen, besonders der ›630-Mark-Jobs‹, ist fest in Frauenhand, so daß ihre eigene Erwerbsarbeit für eine eigenständige Existenzsicherung kaum ausreicht. Auf dem Gebiet der (unbezahlten) Reproduktionsarbeit ist eine Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen lange nicht erreicht; zumindest in Verbindung mit Kindern legen es die gesellschaftliche Verhältnisse doch nahe, zur klassischen Rollenaufteilung zurückzukehren. Besonders deutlich wird der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis dort, wo das Spektrum weißer, bürgerlicher Frauen verlassen wird und mensch die weltweite Situation von Frauen betrachtet.

Dennoch gibt es Frauen, die sich als Feministinnen bezeichnen und argumentieren, die Forderungen der neuen Frauenbewegung seien weitgehend eingelöst. Diese Einschätzung liegt meiner Meinung nach im Ursprung dieser Bewegung begründet: Offensichtlich war der ausschließliche Bezug auf das Gleichberechtigungsmodell nicht geeignet, gleiche Rechte und gleiche Möglichkeiten für alle Frauen herzustellen. Bereits Anfang der achtziger Jahre kritisierten Schwarze[1] Feministinnen die weiße Frauenbewegung der USA dafür, daß die Lebenssituationen Schwarzer Frauen keinen Eingang in deren Forderungen gefunden hätten, und entwickelten daraufhin einen eigenen, Schwarzen Feminismus. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in der BRD einige Jahre später; hier waren es vor allem Migrantinnen, die die Frauenbewegung als eurozentristisch und rassistisch kritisierten. Ein Beispiel dafür ist die Debatte zwischen weißen Frauen und Migrantinnen um die ›Abtreibungsfrage‹: Während weiße Frauen für ihr Recht auf Schwangerschaftsabbrüche und gegen den § 218 kämpften, betonten Migrantinnen ihr Recht auf Nachkommenschaft, das in der BRD in Frage gestellt werde.[2]

Durch diese Kritik war es möglich, Unterschiede zwischen Frauen zu formulieren und Gemeinsamkeiten mit anderen Bewegungen in den Vordergrund zu stellen; das Primat der ›sisterhood‹, welches darauf basierte, alle Frauen hätten qua Geschlecht unter der gleichen sexistischen Unterdrückung zu leiden und seien Schwestern im gemeinsamen Kampf, wurde von einigen Feministinnen in Frage gestellt. Gleichzeitig kämpften Schwarze Frauen mit Männern gemeinsam in der antirassistischen Bewegung, und viele Lesben verorteten sich eher als Teil der ›queer‹-Bewegung und stellten ihre Gemeinsamkeiten mit schwulen Männern als heterosexistisch Unterdrückte heraus.

Kritik wurde auch von anderen Gruppen geübt. Die Forderungen von Arbeiterinnen, behinderten Frauen oder Frauen mit Kindern nach ihrem Platz innerhalb der Frauenbewegung haben dazu beigetragen, daß feministische Theorie heute vielfältiger ist: Feministinnen definieren Frauen nicht mehr nur als Opfer des Patriarchats, sondern benennen sie als Täterinnen in Unterdrückungsmechanismen. Somit akzeptieren sie Differenzen zwischen Frauen ebenso wie übereinstimmende Interessen mit anderen Bevölkerungsgruppen. Die ›klassisch-feministische‹ Dichotomie Mann=Täter versus Frau=Opfer wurde aufgebrochen.

Auch Utopien von Feministinnen haben sich geändert. Neben der Vorstellung von der Wiedererschaffung eines Matriarchats als ›klassische‹ feministische Utopie tritt zunehmend die Vorstellung, daß die Utopie einer befreiten Gesellschaft wohl auch die Befreiung der Männer beinhalten muß (natürlich unter der Voraussetzung, daß diese sich genauso von patriarchalen Strukturen freigemacht haben wie die Frauen!) und daß die klassische feministische Theorie nicht geeignet ist, um die Teilhabe von Frauen bei der Aufrechterhaltung des patriarchalen Systems zu erklären.

Bei der Suche nach einer Utopie, die radikale linke Ideen mit einem Feminismus verknüpft, der möglichst viele Frauen einbezieht, bin ich auf die anarchafeministische Utopie gestoßen. Wie die bereits erwähnten Erweiterungen feministischer Theorie geht der Anarchafeminismus davon aus, daß eine befreite Gesellschaft sich nicht nur auf die Befreiung der Frauen von sexistischer Unterdrückung oder deren gleichberechtigte Teilhabe am Kapitalismus beziehen darf, sondern einen weiter gefaßten Begriff von Befreiung beinhalten muß.

Die Freiheit aller Individuen, die der Anarchismus als Ziel formuliert, beinhaltet auch die Freiheit der Frauen. Frauenspezifische Forderungen bedeuten jedoch keineswegs automatisch ein Verständnis für die spezifische Unterdrückung der Frau, sondern sie dienten und dienen politischen Bewegungen nur zu oft als Aushängeschild, um für Frauen attraktiver zu werden. Ein Aspekt in meiner Analyse der anarchistischen Theorie und Praxis ist daher, wie der Anspruch auf die Befreiung der Frau in der Theorie verankert ist und in der Praxis umgesetzt werden konnte.

Daraus resultiert die Frage, inwieweit der Anarchismus geeignet ist, in Verbindung mit dem Feminismus eine Utopie der Befreiung zu entwickeln, die einem emanzipatorischen[3] Anspruch entsprechen kann. Die Überzeugungen, auf denen der Anarchismus basiert (bspw. daß Menschen soziale Wesen sind und gesellschaftliche Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse dieser Disposition nicht entsprechen), stelle ich dabei nicht in Frage. Wichtig ist für mich also nicht, ob eine anarchistische Gesellschaft realisierbar ist, sondern die Partizipation von Frauen in der befreiten Gesellschaft. Dabei gehe ich von der These aus, daß der Anarchismus die sexistische Herrschaft ausblendet, er also Sexismus als eigenen Unterdrückungsmechanismus nicht in seine Analysen einbezogen hat. In dieser Arbeit untersuche ich, wie sich diese Blindheit in Bezug auf gender-Unterschiede[4] in der anarchistischen Theorie und Praxis konkret manifestiert und welche Versuche unternommen wurden, sie zu benennen und aufzubrechen.

Besonders relevant in diesem Zusammenhang ist der Anarchafeminismus, der auf einer anarchistischen Grundlage eine feministisches Konzept entwickelt hat. Um dieses zu analysieren, beschäftige ich mich mit den feministischen Theorieansätzen, die dem Anarchafeminismus zugrunde liegen, untersuche seine Position in der feministischen und der anarchistischen Bewegung und arbeite die Ansatzpunkte heraus, die Anarchafeministinnen im Sinne einer emanzipatorischen Utopie bieten.

Die Grundlage des anarchafeministischen Ansatzes ist die Entwicklung der anarchistischen Theorie und Praxis. Ich beschränke mich in meiner Untersuchung auf die libertären[5] Strömungen, die für die anarchafeministischen Ansätze von Wichtigkeit sind. Das sind vor allem Kropotkins kommunistischer Anarchismus, aber auch die Lehren, aus denen dieser hervorgegangen ist: der soziale Anarchismus Proudhons und der kollektive Anarchismus Bakunins. Bei der Beschäftigung mit den theoretischen Wurzeln des Anarchafeminismus liegt ein Schwerpunkt auf der Konzeption des Geschlechterverhältnisses und der Rolle der Frau.

In einem weiteren Teil beschäftige ich mich mit Anarchistinnen, deren Positionen von dem heutigen Standpunkt aus als feministisch zu bezeichnen sind und auf die sich Anarchafeministinnen bis heute beziehen: Louise Michel, Emma Goldman und die Mujeres Libres. Einen großen Stellenwert nehmen ihre Lebensläufe ein, die die Grundlage für das soziale Engagement und die Radikalität darstellen, die die Faszination begründen, mit der wir uns heute die ihre Geschichten aneignen.

Die von mir in diesem Teil eingefügten Beiträge von Inés Gutschmidt über die russischen Sozialrevolutionärinnen und die deutschen Anarchistinnen sowie der Artikel von Liane M. Dubowy über italienische Anarchistinnen ergänzen die Darstellung der Ursprünge des Anarchafeminismus um weitere historische Aspekte.

Silke Lohschelder, September 2000

Teil IAnarchistische Theorie, Geschlechterverhältnis und Frauenrollen

Anarchistische Theorie

»Anarchismus ist die Bezeichnung für ein Prinzip oder eine Theorie des Lebens und des Verhaltens, derzufolge man sich die Gesellschaft ohne Regierung vorstellt. In einer solchen Gesellschaft wird die Harmonie nicht durch die Unterordnung unter ein Gesetz oder den Gehorsam gegenüber einer Autorität, sondern durch freie Vereinbarungen zwischen verschiedenen territorialen und professionellen Gruppen erreicht, die sich zur Regelung der Produktion und des Verbrauchs sowie zur Befriedigung der unendlichen Vielfalt von Bedürfnissen und Wünschen eines zivilisierten Wesens frei zusammenfinden.«[1]

Peter Kropotkin

»Der Anarchismus ist nicht eine Utopie, die im mutualistischen Sinne Proudhons und Bakunins, im humanistischen Kommunismus der Ethik und der gegenseitigen Hilfe Kropotkins (…) endgültig Gestalt angenommen hat. Der Anarchismus ist eine Bewegung, die sich in einer unaufhörlichen Bewegung befindet und die heute wie gestern die Fähigkeit besitzt, neue Formen anzunehmen, sich dem Marsch der Menschheit einzugliedern, alle neuen Tatsachen zu verstehen und zu akzeptieren.«[2]

Federica Montseny, spanische Anarchistin

In ihrer Verbindung sind diese beiden Definitionen meines Erachtens geeignet, das Wesen des Anarchismus zu erfassen. Kropotkin formuliert die theoretische Basis; in seiner Definition sind die wesentlichen anarchistischen Prinzipien enthalten. Ohne den Aspekt, den Montseny formuliert, wäre eine Definition jedoch unvollständig. Der Praxisbezug des Anarchismus, die stetige Überprüfung der theoretischen Grundlagen durch die praktische Arbeit ist für mich wesentlich für das Verständnis des Anarchismus als Gesamtkonzept.

Die Literatur bezeichnet mit Anarchismus im allgemeinen Theorien und Utopien, die »eine freiheitliche Gesellschaftsordnung ohne Herrschaft von Menschen über Menschen«[3] – die Anarchie – zum Ziel haben. Der Begriff Anarchie geht auf das griechische Wort anarchia zurück, der einen Zustand der Regierungs- und Herrschaftslosigkeit beschreibt.[4]

Der Anarchismus besteht »aus einer Unzahl von politischen Strömungen«[5], von denen für mich besonders der soziale (oder solidarische) Anarchismus Proudhons, der kollektive Anarchismus nach Bakunin sowie der kommunistische Anarchismus, der auf Kropotkin zurückgeht, relevant sind: Bakunins und Kropotkins Modelle sind die, auf die sich die von mir behandelten Anarchistinnen und der Anarchafeminismus beziehen; sie bieten die Grundlage für feministische anarchistische Konzeptionen. Proudhons Modell des sozialen Anarchismus stellt das erste anarchistische Modell überhaupt dar und ist von daher wichtig für alle später entwickelten Konzeptionen; seine Vorstellungen zu Frauenrollen und Geschlechterverhältnis bieten aber eher das Negativbeispiel einer patriarchalen Theorie und unterscheiden sich in diesem Punkt nicht von den politischen Theorien seiner Zeit – darauf gehe ich später noch genauer ein.

In der Literatur finden sich unterschiedliche Kategorisierungen der anarchistischen Richtungen, die sich teilweise widersprechen. Im allgemeinen wird der Anarchismus in zwei weitere Hauptrichtungen eingeteilt: den individualistischen Anarchismus, der auf Max Stirner zurückgeht, und den Anarchosyndikalismus (vgl. u.a. Holtmann (1994)). Die Ideen Stirners sind wegen des fehlenden Bezuges zu feministisch-anarchistischen Ansätzen für meine Ausführungen nicht weiter von Bedeutung (zu Stirners individualistischem Anarchismus vgl. Cattepoel (1979), S. 25-46); der Anarchosyndikalismus spielt im Zusammenhang mit den Mujeres Libres eine Rolle.

Wie auch aus den vorangestellten Zitaten hervorgeht, stellt der Anarchismus also keine einheitliche, dogmatische Lehre dar. Dennoch lassen sich anarchistische Grundprinzipien ausmachen:

Gemeinsam ist allen Anarchismen das Ziel: eine herrschaftsfreie Gesellschaftsordnung, in der die größtmögliche Freiheit aller Individuen verwirklicht ist. Diesem Ziel steht vor allem der Staat entgegen, aber auch mit ihm verbundene Institutionen wie z. B. die Kirche. Den Staat und alle unterdrückerischen Institutionen gilt es also durch eine soziale Revolution abzuschaffen; statt dessen soll eine Gesellschaftsordnung errichtet werden, in der das Zusammenleben der Individuen »auf freier Übereinkunft«[6] – d.h. Selbstverwaltung – beruht und die nach dem »Prinzip des Föderalismus«[7] organisiert ist.

Grundlegend für ein Verständnis des Anarchismus ist das Verhältnis von Theorie und Praxis. Da die Praxis mindestens als der Theorie gleichrangig – wenn nicht sogar als vorrangig – bewertet wird, vereint der Anarchismus eine Vielfalt unterschiedlicher Entwürfe. Aus diesem Grund lassen sich auch keine Vorhersagen über ein genaues Bild der befreiten Gesellschaft machen, »denn eine Vorhersage ist eine theoretische Verplanung der Zukunft und negiert alle nichtgeplanten Alternativen.«[8] Anarchistische Gesellschaftsentwürfe haben also nicht den Charakter von Dogmen oder allgemeingültigen Wahrheiten.

Als Mittel, um die soziale Revolution zu erreichen, bedienen sich die AnarchistInnen der direkten Aktion. Diese umfaßt »alle energischen revolutionären und direkten Mittel, die ohne Vermittlung und Umwege geeignet sind, die Forderungen (…) durchzusetzen«[9]. Dazu gehören etwa Streiks oder Sabotage, aber auch Aufklärung und Agitation sowie den Aufbau von Selbstverwaltungsmodellen und Gegenkultur. Je nach Standpunkt können direkte Aktionen auch militante Aktionen einschließen, sie sind aber – entgegen der verbreiteten Meinung – nicht per se gewalttätig oder gar terroristisch.

Die Beteiligung am parlamentarischen System lehnen die AnarchistInnen (bis auf wenige Ausnahmen) ab, da diese bedeuten würde, sich auf die Spielregeln des Staates einzulassen und dessen Fortbestand dadurch zu unterstützen.

Anarchistische Theorie, Geschlechterverhältnis und Frauenrollen bei Proudhon, Bakunin und Kropotkin

Im folgenden beschäftige ich mich mit dreien der wichtigsten Vertreter des Anarchismus und fasse die grundlegenden Elemente ihrer Analysen und Theorien zusammen. Ihre Erkenntnisse bilden nicht nur die Basis für die Konzepte der Anarchistinnen, denen ich mich im nächsten Kapitel zuwende, sondern auch für die anarchafeministischen Ansätze.

Proudhon, Bakunin und Kropotkin waren nicht primär Theoretiker, sondern entwickelten ihre Lehren anhand ihrer anarchistischen Praxis. Es ergaben sich immer wieder Schlüsselsituationen in ihren Lebensläufen, durch die sie zu einer Konkretisierung ihrer sozialen Positionen gelangten; ihre Biographien haben insofern einen wichtigen Stellenwert für das Verständnis ihrer theoretischen Modelle.

Ich richte meinen Blick insbesondere auf die Frauenbilder, die die untersuchten Autoren vertraten sowie auf die Konzeption des Geschlechterverhältnisses in ihren Visionen der befreiten Gesellschaft. An ihren Ausführungen lassen sich Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Analysen erkennen, die schließlich in sehr unterschiedliche Verortungen der Frauen innerhalb der anarchistischen Gesellschaftsentwürfe münden.

Pierre-Joseph Proudhon

Proudhon gilt als einer der Urheber der anarchistischen Theorie[10] und als führender Theoretiker des Sozialismus. In seinen Schriften verband er das Leitmotiv der Freiheit mit der sozialistischen Idee und kann somit als der Begründer des libertären Sozialismus angesehen werden.[11] Proudhon bezeichnete sich selbst als Anarchisten und benutzte damit bewußt den negativ belegten Begriff der Anarchie für sein Modell der herrschaftsfreien Ordnung.

Die negative Bedeutung des Begriffes ›Anarchie‹, seine umgangssprachliche Gleichsetzung mit ›Chaos‹, ›Unordnung‹ und ›Zerstörung‹ ist in seinem Ursprung noch nicht enthalten; die ihm immanente politische Dimension diente jedoch schon bald den Mächtigen zur ideologischen Legitimierung ihrer Herrschaftsansprüche und später im Sinne der Absicht, den Anarchismus als politischen Bewegung zu diskreditieren und zu kriminalisieren.[12]

Pierre-Joseph Proudhon wurde 1809 in Besançon als Sohn einer Köchin und eines Küfers geboren. Nachdem er wegen Geldmangels die Schule verlassen mußte, machte er eine Lehre als Schriftsetzer und arbeitete eine Zeitlang in diesem Beruf, bevor er sich mit zwei Freunden eine Druckerei kaufte. Gleichzeitig bildete er sich autodidaktisch weiter und verfaßte eine ganze Reihe von politischen und ökonomischen Schriften.

In seinem Aufsatz Qu’est-ce que la propriété? (Was ist das Eigentum?) von 1840 formuliert er seine radikale Kritik an den bestehenden ökonomischen und sozialen Verhältnissen und entwickelt ein eigenes Gesellschaftsmodell: »Die Herrschaft des Menschen über den Menschen ist, unter welchem Namen sie sich auch versteckt, Unterdrückung; die höchste Vollendung der Gesellschaft findet sich in der Vereinigung von Ordnung und Anarchie.«[13]

Über Proudhons Rolle während der Februarrevolution 1848 existieren widersprüchliche Aussagen. Fest steht, daß er Gewalt als revolutionäres Mittel grundsätzlich ablehnte, sich aber in seinem Beruf in den Dienst der Revolution stellte, indem er Manifeste (u.a. die Proklamation der Republik) druckte.[14]

Obwohl Proudhon sich gegen Regierungen im allgemeinen und gegen den Parlamentarismus im besonderen stellte, ließ er sich im Jahr 1848 als Abgeordneter in die französische Nationalversammlung wählen – in der Hoffnung, mit seinen Vorstellungen Einfluß auf die Wirtschaftspolitik nehmen zu können und eine Grundlage für die Errichtung von Genossenschaften zu schaffen. Seine Anträge dort waren jedoch so radikal, daß sie alle fast einhellig abgelehnt wurden.

Um die Ergebnisse seiner theoretischen Analyse praktisch umsetzen zu können, gründete Proudhon 1849 eine Tauschbank, die es ihren Mitgliedern ermöglichte, ihre Waren untereinander zu tauschen und somit den Zwischenhandel auszuschalten. Außerdem konnten die Beteiligten zinslose Kredite erhalten. Obwohl dieses Projekt innerhalb weniger Wochen 20.000 Mitglieder zählte[15], scheiterte es daran, daß Proudhon wenig später wegen verbaler Angriffe gegen den Präsidenten der Republik, Louis Napoleon, zu einer dreijährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde und sich niemand anders in der Lage sah, die Leitung der Tauschbank zu übernehmen.

1858 wurde Proudhon wegen seiner Veröffentlichungen erneut zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, es gelang ihm aber, nach Belgien zu fliehen, wo er als Journalist arbeitete. Nachdem er – ebenfalls aus politischen Gründen – aufgefordert wurde, Belgien zu verlassen, kehrte er 1860 nach Paris zurück. Dort veröffentlichte er noch einige Bücher und starb im Januar 1865.

Proudhons sozialer Anarchismus

Seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen prägte Proudhons theoretische Überlegungen nachhaltig: In vielen seiner Schriften bezeichnet er sich als Kind des Volkes, in dessen Dienst er sich stellen wolle, und er entwirft immer wieder das Ideal einer von der modernen Technik unberührten bäuerlichen Gesellschaft. Kritiker Proudhons beanstanden immer wieder die Widersprüchlichkeit seiner theoretischen Ausführungen, die dazu geführt habe, daß er »nicht nur als Begründer anarchistischer, sondern auch demokratischer, konservativer (…), reformistischer und syndikalistischer Ideen verstanden worden ist.«[16] Die Phase, in der Proudhon explizit anarchistische Ideen vertrat, wird in der Literatur von 1848 bis 1852 datiert.[17]

Herrschaft wird laut Proudhon durch die Institutionen Staat, Religion und Eigentum ausgeübt. Diese Institutionen sah er als »notwendige, wenn auch inzwischen überwundene Entwicklungsstadien der Menschheit auf dem Weg zur Humanität.«[18]

Seine soziale Utopie besteht in der Abschaffung des Staates und dessen Ersatz durch ein föderalistisches System, das auf dem Prinzip des mutualisme (der gegenseitigen Hilfe) und der wirtschaftlichen Gerechtigkeit basiert und dessen Kern handwerkliche, bäuerliche oder industrielle Produktionsgenossenschaften bilden. Staatliche Funktionen sollen durch ein System vertraglich festgelegter freier Vereinbarungen im politischen und sozialen Bereich erfüllt werden: »An die Stelle der Gesetze werden wir Verträge setzen. Es wird keine von einer Majorität oder sogar einstimmig erlassenen Gesetze mehr geben. Jeder Bürger, jede Stadt, jede industrielle Vereinigung wird sich ihre eigenen Gesetze geben. An die Stelle politischer Mächte werden wir ökonomische Kräfte setzen«[19]. Die Geldwirtschaft soll durch das Tauschprinzip ersetzt werden.

Die bestehende Gesellschaftsordnung unterdrückt nach Proudhon die arbeitende Klasse dadurch, daß der Tauschmechanismus ungerecht und unmoralisch sei. Zwischenhandel und Zinswirtschaft nähmen Lohnabhängigen die Möglichkeit, für ihre Arbeit einen gerechten Lohn zu erhalten.

Der Schlüssel zur Befreiung der Gesellschaft ist für Proudhon die Verteilung des Eigentums. Eigentum an sich sieht er – im Gegensatz zu Bakunin und Kropotkin – jedoch nicht grundsätzlich als schlecht an, sondern nur dessen Mißbrauch, der dadurch ermöglicht werde, daß Besitzende über Ressourcen verfügen, auf die andere existentiell angewiesen seien – z.B. Kreditzinsen oder Zwischenhandelsspannen. Proudhons Vorstellungen gemäß muß das Eigentum nicht abgeschafft, sondern nur gerecht verteilt werden, so daß der bestehende Mißbrauch ausgeschaltet sei. Proudhon unterscheidet folglich zwischen Besitz und Eigentum; das seiner Meinung nach existentiell notwendige Eigentum nennt er Besitz. Die soziale Frage ist ihm gemäß nur durch eine Veränderung der bestehenden Eigentumsverhältnisse zu lösen: »Der Besitz ist rechtlich, das Eigentum ist widerrechtlich. Unterdrückt das Eigentum und erhaltet so den Besitz; und durch diese eine Veränderung im Prinzip werdet ihr alles in den Gesetzen, der Regierung, der Ökonomie, den Institutionen verwandeln: ihr vertreibt das Übel von der Erde.«[20]

Die von jedem einzelnen erbrachte Arbeitsleistung solle an die Stelle von Staatsgewalt sowie Kapitalakkumulation und -zirkulation als Grundlage gesellschaftlicher Organisation treten. Nur so »würde auch das Problem der Ausbeutung verschwinden, würde jedermann nur noch für seinen eigenen und seiner Familie Lebensunterhalt schaffen, ohne Gewinne für den untätigen Arbeitgeber oder Eigentümer zu produzieren.«[21]

In seinen 1849 erschienenen Bekenntnissen eines Revolutionärs (Confessions d’un Revolutionnaire) zieht Proudhon eine kritische Bilanz der Ereignisse während der Februarrevolution und konkretisiert seine Vorstellungen von der Revolution, die er als »Explosion der organischen Kraft, Evolution der Gesellschaft von innen nach außen« versteht. Sie sei nur legitim, »wenn sie spontan, friedlich und historisch begründet« sei[22] .Grundsätzlich strebt er den Übergang zur anarchistischen Gesellschaftsordnung aber nicht zwangsläufig durch eine Revolution an, sondern befürwortet den reformistischen Weg, was er durch seine Kandidatur für die Nationalversammlung und dem Versuch, eine Tauschbank aufzubauen, deutlich machte.

Aus seiner anarchistischen Überzeugung heraus war es für Proudhon nicht zulässig, eine verbindliche Aussage über ein endgültiges Gesellschaftsmodell zu treffen, da eine solche Festlegung nur neue Dogmen schaffen würde.[23]

Die Theorien Proudhons übten einen großen Einfluß auf die französische Arbeiterbewegung aus; aber auch auf den revolutionären Syndikalismus[24] allgemein sowie auf die späteren AnarchistInnen.

Geschlechterverhältnis und Frauenrolle bei Proudhon

Den Grundstein Proudhons gesellschaftlicher Vorstellungen bildet das Ideal der Familie, innerhalb derer er die klassische Rollenaufteilung anstrebt: Der Platz der Frau sei im Haus, der Mann für die außerhäuslichen Bereiche zuständig. Die Ehe bietet für ihn die einzig mögliche Grundlage moralischer Werte; er appelliert gerade an das einfache Volk, sich von Bürgertum abzugrenzen und dieser Moral entsprechend zu verhalten: »Der Haushalt (…) ist das Königreich der Frau, das Denkmal der Familie. Nehmt den Haushalt weg, beseitigt diesen Grundstein des häuslichen Herdes, das Zentrum ehelicher Anziehung – und es bleiben zwar Paare übrig, aber es gibt keine Familien mehr. Seht nur, wie in den großen Städten die arbeitenden Klassen wegen der Unbeständigkeit des Wohnsitzes, der Armseligkeit des Haushalts und der Eigentumslosigkeit allmählich zur wilden Ehe und Lumperei heruntersinken. Menschen, die gar nichts besitzen, die sich an gar nichts halten und in den Tag hineinleben, können sich keine Garantien geben und sich daher nicht heiraten: Es ist besser, sich nicht als auf das Nichts zu verpflichten.«[25]

Mit der Bedrohung der Ehe – etwa durch den Entzug ihrer wirtschaftlichen Basis oder weibliche Emanzipationsbestrebungen – sieht Proudhon auch die Moral des Volkes gefährdet. Vehement wehrt er sich gegen Ansätze, diese Institution in Frage zu stellen. Er geht sogar so weit, seine revolutionären Bestrebungen in den Dienst der Familie zu stellen: »Ihr (der Revolution, S.L.) ganzer Einfluß (…) besteht darin, durch eine Verbesserung der wirtschaftlichen Grundlage der Familie die Verwirklichung dieses Ideals zu fördern.«[26]

In seiner Sichtweise auf Frauen bleibt Proudhon ganz der patriarchalen Haltung seiner Zeit verhaftet. Die Frau ist für ihn ein gefühlsmäßiges Wesen, der er rationales Handeln abspricht. Sie sei dem Mann in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung unterlegen und rangmäßig zwischen Mensch (= Mann) und Tier angesiedelt. Für Proudhon ist der Platz der Frau das Heim; ihre Erfüllung findet sie als Hausfrau und Mutter. Genügsamkeit, Selbstverleugnung, Einfachheit, Güte, Naivität, Arbeitseifer und Pflichtbewußtsein hält er für erstrebenswerte weibliche Tugenden.[27]

Für Frauen, die aus den von ihm propagierten Rollenmustern auszubrechen versuchen, hat Proudhon kein Verständnis, Frauenemanzipation lehnt er rundweg ab: »Lieber die Frau unter Schloß und Riegel, als emanzipiert.«[28] Vehement bekämpft er die ersten feministischen Ansätze seiner Zeitgenossinnen. In seiner Festschreibung der weiblichen Rolle sieht er jedoch keinen Widerspruch zu seiner anarchistischen Einstellung[29], da die Frau ja innerhalb ihres Bereichs frei agieren und sich ihrem Wesen gemäß frei entfalten könne:

»Der Haushalt ist das erste, von dem das junge Mädchen träumt; diejenigen, die soviel von Neigungen reden und den Haushalt abschaffen wollen, müßten eine solche Entartung des Geschlechtsinstinkts wohl erst beweisen. Was mich betrifft, so kann ich, je mehr ich darüber nachdenke, mir umso weniger Rechenschaft darüber geben, was außerhalb der Familie und des Haushalts das Los der Frau sein sollte. Dirne oder Hausfrau (…), ich sehe keine Möglichkeit dazwischen, und was ist an dieser Alternative so demütigend? In welchem Punkt ist denn die Rolle der Frau, die mit der Haushaltsführung beauftragt ist (…) niedriger zu werten als die des Mannes, dessen eigentliche Aufgabe die Leitung der Werkstatt, d.h. die Leitung der Produktion und des Austausches ist?«[30]

Bezüglich der gesellschaftlichen Position der Frau bleibt Proudhon den Vorstellungen seines kleinbürgerlich-strengen Elternhauses verhaftet und repräsentiert die reaktionären Denkmuster seiner Zeit. Dieses Denken steht in einem krassen Gegensatz zu seinen fortschrittlichen ökonomischen und sozialen Vorstellungen.

Michail A. Bakunin

Michail Alexandrowitsch Bakunin wurde am 19. Mai 1814 in Prjamuchino in der Nähe von Twer in Rußland geboren. Seine Familie entstammte einem alten ungarischen Adelsgeschlecht und war sowohl gebildet als auch vermögend. Nach der Schule wurde Bakunin auf eine Kadettenschule nach Petersburg geschickt, wo er die Offizierslaufbahn einschlug. Aus disziplinarischen Gründen wurde er wenig später nach Weißrußland versetzt, quittierte aber alsbald den Dienst, um in Moskau Philosophie zu studieren. Während seines Studiums schloß er sich intellektuellen Kreisen an, lernte die Werke Kants, Fichtes und schließlich Hegels kennen, von dem er besonders beeindruckt war, und erhielt gleichzeitig Einblick in sozialistische Ideen. Bakunin entschied sich, Philosophieprofessor zu werden und ging 1840 nach Berlin, wo er sich der philosophischen Richtung der konservativen Hegelianer anschloß.

1842 veröffentlichte er unter einem Pseudonym seine erste Schrift, Die Reaktion in Deutschland, Fragmente von einem Franzosen, in der er erstmals anarchistische Ideen beschrieb[31] und die mit den oft zitierten Zeilen endet: »Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust.(…) Laßt uns also dem ewigen Geist vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell allen Lebens ist.«[32]Bei anschließenden Aufenthalten in der Schweiz (mit dem Dichter Gottfried Herwegh[33]) und in Paris bekam er Kontakt zu aktiven SozialistInnen und KünstlerInnen, u.a.zu Proudhon, Marx und der Schriftstellerin George Sand.

Am 29.11.1847 hielt Bakunin zu Ehren des polnischen Aufstands seine erste öffentliche Rede, in der er die Annäherung der polnischen und russischen Revolutionäre und den Sturz des Zaren forderte. Während dieses Vortrags formulierte er die für ihn wesentliche Verknüpfung von russisch-polnischer Versöhnung und Befreiung der Slawen mit der sozialen Revolution, die seine Reden, Programme und Taten künftig charakterisierte.[34] Wegen seiner Äußerungen wurde Bakunin aus Frankreich ausgewiesen; nach der Februarrevolution 1848 nahm er am gleichen Ort die historische Chance wahr, seine Theorien praktisch anzuwenden: Er kehrte nach Paris zurück und agitierte mit großem Eifer auf der Seite der RevolutionärInnen.

1849 übernahm Bakunin die militärische Beratung der Revolutionsregierung in Dresden und vertrat in dieser Funktion Beschlüsse des bürgerlichen Frankfurter Parlaments, das er eigentlich aufgrund seiner anarchistischen Überzeugung hätte ablehnen müssen – was ihm den Vorwurf einbrachte, er lege mehr Wert auf den revolutionären Kampf als auf die theoretische Untermauerung seiner Ideen.[35]

Als preußische Truppen den Dresdner Aufstand niederschlugen, wurde Bakunin verhaftet und von Sachsen an Österreich und schließlich nach Rußland ausgeliefert. Dort saß er in Festungshaft, bis er 1857 wegen seines schlechten Gesundheitszustandes nach Sibirien verbannt wurde. Es gelang ihm jedoch, über Japan und Amerika nach England zu fliehen. Dort angelangt, engagierte er sich für die Zeitschrift Die Glocke und bemühte sich parallel um die Organisation revolutionärer Geheimbünde. Zu diesem Zweck begab er sich auch nach Italien (Florenz) und in die Schweiz. In Genf lernte er Sergej Netschajew[36] kennen, der eine Zeitlang einen großen Einfluß auf das Leben Bakunins ausübte. Netschajew war es, der ihn drängte, seine Übersetzungsarbeit aufzugeben (Bakunin hatte einen Vertrag für die Übersetzung des Kapitals) und sich ganz der revolutionären Propaganda zu verschreiben.

1868 trat Bakunin der Genfer Sektion der Ersten Internationalen bei und versuchte, innerhalb der Internationalen die Alliance de la Démocratie sociale zu schaffen, die sich dem politisch-revolutionären Kampf widmen sollte. 1872 wurde er zusammen mit anderen Anarchisten auf Betreiben von Marx aus der Internationalen ausgeschlossen, was zur Spaltung und damit zum Ende der Ersten Internationalen führte; die antiautoritäre Strömung gründete im gleichen Jahr in der Schweiz eine eigene Organisation.

In seinen letzten Lebensjahren beteiligte Bakunin sich an den unterschiedlichsten Aufständen, so auch 1871 an den Kämpfen der Pariser Kommune.

Sein einziges abgeschlossenes Werk, Staatlichkeit und Anarchie, erschien 1874. Im gleichen Jahr kehrte Bakunin schließlich in die Schweiz zurück und starb am 1. Juli 1876 in Bern.

Bakunins kollektiver Anarchismus

Theoretisch knüpft Bakunin an die gesellschaftspolitischen Ideen Proudhons an, erweitert sie aber um Teile der ökonomischen Analyse von Marx und ergänzt seine theoretische Konzeption mit der Hegelschen Philosophie der Tat um die Komponente des revolutionären Kampfes. Besonders faszinierend an Bakunin ist aber seine Biographie, die meisten seiner Schriften haben einen ausgesprochen fragmentarischen Charakter.

Obwohl Bakunin sich nicht zu Attentaten als Mittel des politischen Kampfes bekannte, lehnte er diese – zumindest während der Zeit, in der er von Netschajew beeinflußt war – nicht ausdrücklich ab und wird deshalb oft als Befürworter der Propaganda durch die Tat angesehen.

Als Propaganda durch die Tat wird die Strategie bezeichnet, durch gezielte Attentate auf Autoritäten diese einerseits zu beseitigen, andererseits dem Volk dadurch Mut zu machen, daß man die Verwundbarkeit von Machthabern demonstrierte. Der propagandistische Wert dieser Aktionen lag in den Reden der Angeklagten vor Gericht. Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhundert waren Attentate als revolutionäre Mittel überwiegend in Frankreich und Italien sehr verbreitet. Entgegen ihrem eigentlichen Zweck erreichten diese Attentate aber vor allem die Diffamierung der gesamten anarchistischen Bewegung und deren Verfolgung durch Polizei und Justiz.[37]

Grundlage von Bakunins Theorie bildet die Freiheit des Individuums, der die autoritäre Gesellschaft gegenüber steht, verkörpert vor allem durch die Institutionen Staat, Kirche und Eigentum.

Sein oberstes Ziel ist die Zerstörung jeglicher Herrschaft, »die radikale Auflösung aller gegenwärtig bestehenden religiösen, politischen, ökonomischen und sozialen Organisationen und Einrichtungen, und die Neubildung zunächst der europäischen und dann der universellen Gesellschaft auf den Grundlagen der Freiheit, der Vernunft, der Gerechtigkeit und der Arbeit«[38].

Da der Staat an sich die Grundlage für die Ausbeutung des Volkes bilde, lehnt Bakunin diesen auch in einer demokratisch oder kommunistisch verfaßten Form ab: »Wir wollen weder herrschen, noch der Herrschaft irgendwelcher Herren und Behörden gehorchen, unter welchem Vorwand es auch sei. Feinde jeder Art der Beherrschung von Menschen durch den Menschen sind wir eben deshalb Feinde jeder Art von Herrschaft (Staat), da wir überzeugt sind, daß jede Form von Herrschaft, in was für ein demokratisches Gewand sie auch gehüllt sein möge, für die herrschende Minderheit immer ein vorteilhaftes Privilegium, für die Volksmehrheit aber ein Gefängnis sein werde.«[39] So wandte er sich auch gegen das staatliche Recht ; es bestehe aus »Regelungen, die nie ein anderes Ziel hatten, als die Ausbeutung der Arbeit des Volkes zu verankern und ausschließlich zum Nutzen der herrschenden Klassen zu verwenden«[40].

Die menschliche Freiheit ist für Bakunin nur auf der Basis von Gleichheit und Solidarität innerhalb der Gesellschaft denkbar. Die Freiheit des Individuums wird demzufolge durch andere Menschen nicht eingeschränkt, sondern die solidarische Gemeinschaft ist im Gegenteil die Voraussetzung für ein wirkliches Menschsein.[41]

An die Stelle des Staates soll ein föderativer Zusammenschluß frei gewählter Arbeitsassoziationen treten, die nach dem Räteprinzip basisdemokratisch organisiert sein und auf freien Verträgen beruhen sollen. Eine Verbindlichkeit dieser Verträge hält Bakunin für absolut notwendig; im Falle der Nichteinhaltung haben die Assoziationen die Möglichkeit der Sanktionierung, die bis zum Ausschluß aus den frei gewählten Gemeinschaften führen kann. Dieses föderative Prinzip sei ein ausreichender Schutz gegen das Wiederentstehen einer staatlichen Macht.

Zum Erreichen einer ökonomischen und sozialen Gleichheit unter den Menschen verlangt Bakunin die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Diese sollen in den Besitz der Arbeitsassoziationen überführt werden. Die Produktion ist gemeinsame Aufgabe der Assoziationen. Eine unterschiedliche, von der Leistung der/des Einzelnen abhängige Entlohnung und ein persönliches Vermögen widersprechen seiner Vorstellung von sozialer Gleichheit nicht – entscheidend seien die gleichen Ausgangsbedingungen. Aus diesem Grund soll auch das Erbrecht aufgehoben werden.

Bakunin war radikaler Atheist, was vor allem in seiner Schrift Gott und der Staat von 1871 nachzulesen ist. So griff er die Kirche als Autorität an, da der Glaube an eine göttliche Autorität grundsätzlich einer freien Gesellschaft entgegenstehe: »Die Gottesidee enthält die Abdankung der menschlichen Vernunft und Gerechtigkeit in sich, sie ist die entschiedenste Negation der menschlichen Freiheit und führt notwendigerweise zur Versklavung der Menschen in Theorie und Praxis.«[42] Bakunin will den Gottesglauben durch die Idee der Gleichheit und Solidarität unter Menschen ersetzen.

Der Übergang zur befreiten Gesellschaft soll durch eine Revolution und nicht durch Reformen erfolgen. Innerhalb der Revolution sollen diejenigen Institutionen zerschlagen werden, die die Freiheit jeder/ jedes Einzelnen behindern, d.h. insbesondere die Enteignung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln. Die spätere Ordnung nimmt Bakunin nicht theoretisch vorweg: »Wir verstehen die Revolution im Sinne der Entfesselung alles dessen, was man heute die bösen Leidenschaften nennt, und im Sinne der Zerstörung alles dessen, was in derselben Sprache ›die öffentliche Ordnung‹ heißt.«[43]

Träger der Revolution in Bakunins Vorstellungen ist das Volk, dessen vorhandener Unmut durch bewußte RevolutionärInnen kanalisiert und in einen revolutionären Aufstand umgewandelt werden soll. Diese ›revolutionären Eliten‹ sollen sich in Geheimbünden zusammenschließen, die sich in der Revolutionären Gesellschaft, der von Bakunin gegründeten internationalen geheimen Organisation, vereinen. Die organisierten Revolutionäre sollen aber das Volk nur agitieren und keine Kader bilden, um die Kämpfe anzuführen; außerdem sollen die Geheimorganisationen nicht hierarchisch organisiert und die Funktionen nicht auf Personen fixiert, ihre Träger jederzeit austauschbar sein. Eine solche Organisationsstruktur ist meines Erachtens schwer mit anarchistischen Grundprinzipien in Einklang zu bringen und wohl nur durch die Notwendigkeit einer konspirativen Organisationsstruktur zu erklären. In der Praxis dürften diese Befehlsstrukturen in etwa so funktioniert haben, wie es George Orwell von den anarchosyndikalistischen Milizeinheiten im spanischen Bürgerkrieg berichtet.[44] Ein wichtiges Mittel der Agitation ist die ›Propaganda durch die Tat‹. Nach der Revolution haben die Geheimbünde ihre Aufgabe verloren und werden aufgelöst.

Bakunin formuliert seine soziale Utopie und seine Vorstellungen, wie eine befreite Gesellschaft aussehen könnte, 1866 in der Schrift Prinzipien und Organisation der Internationalen Revolutionären Gesellschaft[45], darüber hinaus fordert er die Abschaffung der bürgerlichen Ehe, an deren Stelle die ›Freie Ehe‹, das Zusammenleben auf der Basis von Freiwilligkeit und gegenseitiger Verantwortung, treten soll.

Alle der Gemeinschaft zugehörigen Personen sollen das Recht auf die bestmögliche Ausbildung haben. Die Verantwortung für Kinder liegt nach Bakunin nicht nur bei den Eltern, sondern bei der Gesellschaft. Die Aufgabe der Erziehung in seinem Sinn ist »die allmähliche fortschreitende Anleitung zur Freiheit durch die dreifache Entwicklung der physischen Kräfte, des Geistes und des Willens der Kinder«[46]. Oberstes Erziehungsziel Bakunins ist die Achtung vor der Freiheit des Individuums.

Geschlechterverhältnis und Frauenrolle bei Bakunin

Bakunin propagiert in seiner Utopie die rechtliche, soziale und wirtschaftliche Gleichstellung von Mann und Frau: »Die Frau, die vom Mann verschieden ist, aber ihm nicht nachsteht, intelligent, arbeitsam und frei wie der Mann, wird ihm gleich erklärt in allen politischen und sozialen Rechten wie in allen solchen Funktionen und Pflichten. (…) In der freien Ehe müssen Mann und Frau gleichfalls absolute Freiheit genießen.«[47]

Die Prinzipien der Freien Ehe und der gesellschaftlichen Verantwortung für das Wohl der Kinder eröffneten Frauen über ihre formale Gleichstellung hinaus Freiheiten und Möglichkeiten, die zu Bakunins Zeit sonst wohl kaum denkbar waren und in der gesellschaftlichen Praxis nicht vorkamen. Schwangere Frauen und Frauen mit kleinen Kindern sollen den besonderen Schutz der Gesellschaft genießen und ausdrücklich unterstützt werden: »Sobald eine Frau ein Kind im Schoß trägt, bis zur Geburt desselben, hat sie ein Recht auf eine Unterstützung durch die Gesellschaft (…). Jede Mutter, die ihre Kinder erziehen und nähren will, wird gleichfalls von der Gesellschaft alle Kosten ihres Unterhalts und ihrer den Kindern gewidmeten Bemühungen erhalten.«[48]

Bakunins Verständnis für Frauenkämpfe hat jedoch Grenzen: »Ich bin so sehr wie nur jemand Anhänger der vollständigen Emanzipation der Frauen und ihrer sozialen Gleichmachung mit den Männern, aber daraus folgt nicht, daß man diese Frauenfrage überall hineinbringen muß, selbst wo von ihr keine Rede ist.«[49] Ob er sich mit seinem theoretischen Bekenntnis zur Gleichberechtigung um eine Reflexion seines eigenen patriarchalen Verhaltens drückt, vermag ich nicht zu beurteilen.

Deutlich wird an dieser Aussage jedenfalls die fehlende Konsequenz: Bakunin sieht zwar die Notwendigkeit einer Gleichstellung der Geschlechter in der befreiten Gesellschaft; das bedeutet für ihn aber noch lange nicht, Frauenkämpfe seiner Zeit zu unterstützen.