Anarchie! - Horst Stowasser - E-Book

Anarchie! E-Book

Horst Stowasser

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Beschreibung

Bunt, bizarr und widersprüchlich, verführerisch für die einen, Inbegriff des Bösen für die anderen, zieht sich die Idee der Anarchie durch die Geschichte der Menschheit. Ist sie ein weltfremder Traum oder ein noch zu realisierender Entwurf? Das Buch berichtet von Versuchen, diese Vision zu verwirklichen. Anarchie, ein Wort, das von jeher Schrecken ausgelöst hat, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als faszinierende Wundertüte. Sie will das "brutale" Chaos der heutigen Gesellschaft durch das "sanfte" Chaos vernetzter horizontaler Strukturen ersetzen, in dem die Herrschaft des Menschen über sich und die Natur überflüssig wird. Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen lassen das Interesse an sozialen Entwürfen wieder wachsen, die bisher im Schatten standen. Horst Stowasser stellt die bestechendste Utopie vor: den Anarchismus. Verständlich geschrieben und umfassend angelegt, ist dieses Buch ein Standardwerk. Neben einer kritischen Einführung in die freiheitliche Ideenwelt macht der Autor eine Reise durch die reiche Geschichte anarchistischer Experimente.

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Horst Stowasser, (1951–2009), machte Abitur in Argentinien und Deutschland, Studium der Landwirtschaft und Romanistik, Weltreisen. Seit 1969 aktiv in der anarchistischen Bewegung, Teilnahme an den wichtigsten internationalen Treffen und Kongressen, Mitgliedschaft in verschiedenen Organisationen. Politische Verfolgung bis in die 80er Jahre, mehrere Gefängnisaufenthalte. 1971 Gründung des anarchistischen Dokumentationszentrums »Das AnArchiv«, eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten, Zeitschriften und Literatur zu internationalen libertären Themen mit dem Schwerpunkt deutschsprachiger Anarchismus.

Herausgeber diverser Zeitschriften und Magazine, Autor zahlreicher Bücher, Aufsätze und Studien zu sozialen und politischen Themen.

Horst Stowasser

ANARCHIE!

Idee | Geschichte | Perspektiven

für Till

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus 2006

Gesetzt aus der Caslon vom Autor

Umschlaggestaltung: Maja Bechert

www.majabechert.de

EPUB-Erstausgabe Mai 2020

eISBN 978-3-96054-217-9

INHALT

EinleitungVom Zorn und von der Freiheit

Teil 1:Die Idee

Kapitel 1Einiges zur Verwirrung

Kapitel 2Der Begriff »Anarchie«

Kapitel 3Wer ist Anarchist?

Kapitel 4Was wollen die Anarchisten?

Kapitel 5Was tun die Anarchisten?

Kapitel 6Kritik am Staat

Kapitel 7Kritik an der Demokratie

Kapitel 8Kritik am Kommunismus

Kapitel 9Kritik am Patriarchat

Kapitel 10Freie Liebe und andere praktische Nutzanwendungen

Kapitel 11Kunst, Kultur, Lebensart

Kapitel 12Small is beautiful – die Idee der Vernetzung

Kapitel 13Chaos, oder was …?

Kapitel 14Eine andere Ökonomie

Kapitel 15Radikale Ökologie

Kapitel 16Anarchismus und Organisation

Kapitel 17Parteien und Räte, Selbstverwaltung und Konsens

Kapitel 18Avantgarde oder Hefeteig?

Kapitel 19Die freie Gesellschaft – eine Utopie?

Teil 2:Die Vergangenheit

Kapitel 20Mama Anarchija – vom weiblichen Urgrund der Freiheit

Kapitel 21Frühformen der Anarchie

Kapitel 22Die Zeit wird reif

Kapitel 23»Eigentum ist Diebstahl!« – Proudhon und die Anfänge des Anarchismus

Kapitel 24Das große Ich – Stirner und der Individualanarchismus

Kapitel 25Empörung und Revolte – Bakunin und der kollektivistische Anarchismus

Kapitel 26Ein folgenschwerer Streit: die Spaltung der Ersten Internationale

Fotos und Bilddokumente

Kapitel 27»Vive la Commune!«

Kapitel 28»Hoch das Dynamit!« – Der Anarchismus und die Bombe

Kapitel 29Gegenseitige Hilfe – Kropotkin und der kommunistische Anarchismus

Kapitel 30Hoffnung und Resignation: Revolution in Russland

Kapitel 31Die Machnotschina: Bauernguerilla in der Ukraine

Kapitel 32Die Kommune von Kronstadt

Kapitel 33Anarchosyndikalismus – Geburtshelfer der Revolution

Kapitel 34Zwischen den Kriegen

Kapitel 35Der kurze Sommer der Anarchie – Revolution in Spanien

Kapitel 36Das hoffnungsvolle Stiefkind: Anarchismus in Deutschland

Kapitel 37Neubeginn auf Trümmern

Kapitel 38Mai ’68

Kapitel 39Der neue Anarchismus: vom Rammbock zum Wurzelwerk

Kapitel 40Ratlosigkeit am Scheideweg – Anarchismus heute

Teil 3:Die Zukunft

Kapitel 41Ist der Anarchismus noch zu retten?

Kapitel 42Von der Demokratie zur Akratie

Kapitel 43Ist die Zukunft anarchisch?

AnhangKontakte

Glossar

Register

Editorische Notiz

Hinweise zur gewinnbringenden Lektüre dieses Buches

Dieses Buch will seine Leser gleichzeitig informieren und unterhalten. Es soll ohne Vorkenntnisse allgemein verständlich und leicht lesbar sein. Deshalb habe ich mich entschlossen, auf langatmige Fußnoten und wissenschaftliche Quellenangaben zu verzichten.

Am Ende der meisten Kapitel finden sich stattdessen Literaturhinweise, die zum Weiterlesen anregen sollen; die aufgeführte Literatur ist zu einem großen Teil mit dem Quellenmaterial identisch. Erklärungsbedürftige Begriffe und Fremdworte, die im Textzusammenhang eine andere Bedeutung als die allgemein übliche haben sowie szenetypische Ausdrücke sind bei ihrer ersten Nennung mit einem* gekennzeichnet und im Glossar alphabetisch aufgeführt und erklärt. Im Register sind Personennamen und Sachbegriffe mit dem entsprechenden Seitenverweis aufgelistet. Außerdem enthält das Buch im Anhang einen Adressteil. Meine Absicht war, hiermit den praktischen Nutzwert des Buches zu erhöhen und dem Leser beim Erweitern seiner Kenntnisse und Erkenntnisse behilflich zu sein. Diesem Anspruch habe ich ganz bewusst den Vorrang vor formaler Wissenschaftlichkeit gegeben.

Der erste Teil geht der Frage nach: Was ist eigentlich Anarchie? Der zweite Teil erzählt in zeitlicher Folge die vielfältige Geschichte der An-Archismen. Im dritten Teil geht es um die Zukunftsperspektiven an-archischer Szenarien. Die einzelnen Teile und Kapitel sind so angelegt, dass sie in der Regel in sich geschlossen und verständlich sind. Deshalb kann das Buch ebensogut als Ganzes wie auch stückweise, vorwärts, rückwärts oder anarchisch gelesen werden.

H. St.

Einleitung

EINLEITUNG | Anarchie!

Vom Zorn und von der Freiheit

»Anarchie ist nicht eine Sache der Forderungen,sondern des Lebens.«

— GUSTAV LANDAUER —

AM ANFANG WAR DER ZORN. Der unsagbare, unzügelbare und unvorhersehbare Zorn, der den Sklaven bisweilen überkommt und ihn dazu bringt, seinem Herrn entweder den Schädel einzuschlagen oder sich davonzustehlen. Zorn darüber, dass ein Mensch dem anderen befehlen darf. Wut über Knechtschaft und Unterdrückung. Hass auf die Arroganz der Macht, die Menschen über Menschen ausüben.

Zorn, Rebellion, Flucht – eine uralte Triebkraft menschlicher Geschichte, ein Teufelskreis, dessen Grenzen schon ein rebellierender Sklave vor fünftausend Jahren kennengelernt haben mag. In dieser Sackgasse ohne Ziel hat sich ein Spartakus genauso bewegt wie Michael Kohlhaas oder ›Che‹ Guevara, denn alle mussten sich früher oder später die Frage nach eben diesem Ziel ihrer Rebellion stellen.

Die Freiheit, natürlich! Aber was genau ist das? Wo gab es sie? Konnte man irgendwohin gehen und sie finden? Bedeutete die Flucht vor der Herrschaft, die simple Abwesenheit des Unterdrückers automatisch die Anwesenheit der Freiheit? Und zeigt nicht alle Erfahrung, dass ›Freiheit‹ eine trügerische Hoffnung ist? Wird nicht doch immer nur eine Form der Herrschaft durch eine andere ersetzt? Vor allem aber: Ist der Mensch zur Freiheit überhaupt fähig?

Empörung, Wut, Rebellion sind negative Werte. Sie sagen nur, wie es nicht sein soll, aber nichts darüber, wie es anders, wie es besser sein könnte. Hass ist nicht konstruktiv, er ist destruktiv – wie könnte es auch anders sein. Natürlich wäre es vermessen, von dem Sklaven, der in seiner höchsten Drangsal gegen seinen Herrn rebelliert, auch sogleich einen fertigen Plan für eine freie Gesellschaft zu erwarten. Befreiung war und ist immer in erster Linie eine Reaktion auf Unfreiheit. Wenn sie aber dort stehenbleibt, wird sie niemals konstruktiv. Das jedoch bedeutet, dass ›Befreiung‹ letztendlich nicht zur Freiheit führt.

In diesem Spannungsfeld zwischen Zorn und Freiheit hat die Menschheit eine Idee geboren, die ebenso alt ist wie die Geschichte der Herrschaft: den Traum von der Anarchie oder, auf gut Deutsch gesagt, der Herrschaftsfreiheit. Im Mittelpunkt dieser Idee steht die Frage, wie Zorn sich selbst überwinden und Freiheit hervorbringen kann.

Zweifellos sind Hass und Wut schlechte Ratgeber. Und ebenso klar ist, dass Freiheit nicht mit Mitteln der Unfreiheit geschaffen werden kann. Wahr ist aber auch, dass meistens der Zorn die erste Triebfeder dafür war, über eine ›Gesellschaft der Freiheit‹ überhaupt nachzudenken und, vor allem, sie in die Tat umzusetzen. Theoretiker des modernen Anarchismus haben dies die »schöpferische Kraft der Empörung« genannt, zugleich aber unermüdlich darauf hingewiesen, dass man um den Preis des Scheiterns der Freiheit niemals an diesem Punkt verharren darf.

So ist der Anarchismus – als befreiender Kampf und Lehre von einer herrschaftsfreien Gesellschaft – von Anfang an in diesen Widerspruch hineingeboren und bis heute in ihn verstrickt: Wie lässt sich destruktiver Zorn in konstruktive Befreiung umwandeln? Denn: was nützte jedes Aufbegehren gegen Unfreiheit, wenn an ihrem Ende keine Freiheit stünde? Sie brächte nur neue Unterdrückung hervor, wenn – ja, wenn die Gedanken nicht über diese spontane Empörung, über Gefühle wie Rache und Wut hinausgingen.

Empörung braucht also eine Idee, die in eine positive Utopie* mündet; mit einem Wort: ein Ziel.

Dieses Ziel macht das Wesen jener Bewegung aus, die unter dem Namen »Anarchismus« seit jeher Begeisterung und Schrecken gleichermaßen auslöste. Bunt, bizarr und widersprüchlich wie Freiheit eben sein kann, verführerisch für die einen, Inbegriff des Bösen für die anderen, zieht sie sich seit Jahrhunderten wie ein bunter Faden durch die Geschichte der Menschheit. Zwischen konsequentester Friedfertigkeit und verzweifelter Gewalt entfaltet sich diese Idee der Hoffnung, die die Menschen bis heute zu beflügeln vermag und ihre wahre Zukunft noch vor sich haben dürfte.

Hiervon handelt dieses Buch.

Es geht der Frage nach, ob Anarchie ein weltfremder Traum ist oder ein noch zu realisierender Entwurf. Es versucht, das Knäuel der Ideen, die diese radikale Philosophie von der Freiheit bilden, zu entwirren und einige seiner Fäden zu verfolgen. Es berichtet von gescheiterten und erfolgreichen Versuchen, jenen Traum zu verwirklichen. Vor allem aber versucht es, einen Blick voraus zu tun – ein Szenario zu entwerfen und die These einiger zeitgenössischer Denker zu untersuchen, die behaupten, die Gesellschaftsform des neuen Jahrtausends werde eine anarchische* sein – oder die Menschheit gehe unter.

Die Wurzeln des modernen Anarchismus sind sehr alt. Ihre Ursprünge verlieren sich im Dunkel der Menschheitsgeschichte – schon deshalb, weil vor zwei-, dreitausend Jahren kaum ein Chronist die ›Geschichte der Empörungen‹ für überliefernswert hielt. Erst etwa einhundertfünfzig Jahre jung ist hingegen das, was man den ›modernen Anarchismus‹ nennen kann. Paradoxerweise ist er zwar ausgezeichnet dokumentiert, aber fast völlig unbekannt. Seine Suche nach einer künftigen Gesellschaft gebiert eine schier endlose Reihe von Revolten, Ideen und konkreten Experimenten. Sie alle sind voller Spannung und Aktualität, und bei fast allen ging die Auflehnung der Philosophie voraus.

Auch was die persönliche Entwicklung betrifft, dürfte bei den meisten Anarchisten irgendwann der Zorn vor der Utopie gestanden haben. Die wenigsten Menschen sind aufgrund analytischer Überlegung oder durch philosophische Denkübungen zu dem Wunsch nach einer herrschaftsfreien Gesellschaft gelangt. Selbst Unterdrückung, Herrschaft und Ungerechtigkeit erlebt zu haben, war und ist noch immer die häufigste und kräftigste Triebfeder, sich einer solchen Idee zu verschreiben.

So gesehen ist das Potenzial möglicher Empörer unerschöpflich. Wohl jeder selbstbewusste Mensch kennt diesen Zorn. Vielleicht haben auch Sie sich schon einmal die Frage gestellt, wieso da eigentlich Menschen über Ihnen sind, die Ihnen Anweisungen geben und über Ihr Leben und Ihre Zukunft entscheiden dürfen: ein ganzes System der Hierarchie, von dem wir ja schließlich wissen, dass es alles andere als gut funktioniert.

Das bedeutet indes nicht, dass alle Menschen, die unter Herrschaft leiden, automatisch ›Anarchisten‹ wären. Zum Anarchismus gehört immer auch die Suche nach Alternativen und Zukunftsmodellen. Neue Ideen für die Zukunft aber scheinen heute dringlicher denn je. Die weltweiten Problemketten auf unserem Planeten lassen uns gar keine andere Wahl: sie zwingen uns dazu, neue Lösungen zu finden. Lösungen, die in der Lage wären, die überholten Vorstellungen von Zentralismus, Hierarchie, Konzentration und Wachstumswahn abzulösen. Bei dieser Suche kann uns der reiche Fundus anarchistischer Erfahrung interessante Anregungen geben – gute wie schlechte. Nur zu einem taugt er nicht: zum blinden Nacheifern. Ideologie, Dogmatik und Fanatismus widersprechen sozusagen dem Wesensgehalt der Anarchie. Denn der besteht, salopp ausgedrückt, aus ›Freiheit pur‹.

Teil 1

Die Idee

Zur geflissentlichen Beachtung:

»… perfekt ist die Gesellschaft,die Ordnung mit Anarchie verbindet.«

— PIERRE-JOSEPH PROUDHON —

Kapitel 1

Einiges zur Verwirrung

»Das Wort ›Utopie‹ allein genügtzur Verurteilung einer Idee.«

— JACK LONDON —

WAS EIN ANARCHIST IST, weiß jeder: ein gewalttätiger Mensch, ein Terrorist zumeist, außerdem schmuddelig, die Unordnung liebend, Chaos verbreitend wo er geht und steht. Seine Lieblingsbeschäftigung besteht im Werfen von Bomben, die er üblicherweise unter einem wallenden, schwarzen Umhang verbirgt, das Gesicht von einem aus der Mode gekommenen Schlapphut verdeckt. Notfalls greift er auch zu Dolch oder Revolver – Hauptsache, er kann seinen Blutdurst stillen.

Oder aber er ist krank, erblich gar. Ein wissenschaftliches Standardwerk des 19. Jahrhunderts definiert Anarchisten schlicht als »Idioten oder angeborene Verbrecher, die noch dazu allgemein humpeln, behindert sind und asymmetrische Gesichtszüge tragen«. Anarchie als Geisteskrankheit also – das erklärt und entschuldigt alles.

Sodann die Variante der Verblendung: Anarchisten seien »kleinbürgerliche Chaoten«, die den »objektiven Gang der Geschichte« noch nicht erkannt hätten; lauter zwar in ihren Absichten, aber letztendlich doch »voluntaristische Helfershelfer der Konterrevolution«. Deshalb gehörten sie als »Linksabweichler« auch am besten »liquidiert«. Diese Tonart schlugen in der Vergangenheit mit Vorliebe Marxisten aller Richtungen an, die inzwischen angesichts des Scheiterns ihrer ›objektiven Geschichtswahrheiten‹ jedoch in Schweigen verfallen sind.

Schließlich die moderne Definition – eine Mischung aus Psychoanalyse und Düsternis: Anarchisten wären demnach frühkindlich geschädigte Psychoten, die ihre privaten Probleme in abgrundtiefen Hass auf die Gesellschaft umwandeln und sich zur Rechtfertigung eine ›Philosophie des Nichts‹ schmiedeten. Sie seien ebensosehr zu bedauern wie zu bekämpfen.

Tragisch, niemand scheint sie lieb zu haben, die Anarchisten.

Sie ahnen schon, all dies ist Unsinn, und Sie ahnen richtig. Das macht die Sache allerdings nicht einfacher, denn eine korrekte Definition ist schon deshalb schwierig, weil Anarchismus keine einheitliche Bewegung ist, sondern eine vielfältige und damit auch widersprüchliche. Das liegt in ihrem Wesen, denn ihr Wesen ist Freiheit, und Freiheit ist nicht uniform.

So gibt es unter Anarchisten denn auch alle möglichen Überzeugungen und Strategien der Veränderung. Von Ökologen über Gewerkschafter, Pädagogen, Siedler und Alternativunternehmer bis hin zu den Befürwortern revolutionärer Gewalt und Anhängern strikter Gewaltfreiheit ist alles vertreten. Es finden sich unter ihnen Atheisten und Religiöse, Asketen und Schlemmer, Materialisten und Esoteriker. Für die einen ist der entscheidende Hebel zur Überwindung der Herrschaft die Erziehung, für die anderen der zivile Ungehorsam oder die direkte Aktion; diese wollen mit dem gleichen Ziel Gegenstrukturen aufbauen, jene die Arbeiterschaft gewinnen; Selbstverwaltung ist das Credo von manchen, auch Unterwanderung ist für viele angesagt und wieder andere schwören auf Propaganda, Aufklärung oder das vorgelebte Beispiel. Schließlich gibt es auch ausgemachte Individualisten, denen der Rest der Menschheit ziemlich schnuppe ist und last but not least noch immer welche, die davon träumen, diesem Rest der Menschheit ihre Vorstellungen lieber mit Gewalt aufzuzwingen – mehr oder minder sanft. Die Spezies der blutrünstigen Bombenwerfer allerdings, die das Anarchismusbild so nachhaltig geprägt hat und die Phantasie der Bürger so angenehmgruselig beflügelt, ist, wie wir noch sehen werden, seit langem ausgestorben.

Nun betrachten Anarchisten diese Vielfalt keineswegs als Makel, im Gegenteil, sie sehen darin eine Chance und Bereicherung – die Vorwegnahme jener Vielfalt, die sie in einer künftigen Gesellschaft anstreben. In der Tat nimmt der Anarchismus für sich in Anspruch, die einzige Gesellschaftsstruktur zu sein, die der Tatsache Rechnung trägt, dass Menschen eben sehr unterschiedlich sind.

Was aber haben Anarchisten denn dann eigentlich gemeinsam? Gibt es überhaupt eine Berechtigung, von ›Anarchismus‹ und ›Anarchisten‹ zu sprechen, wenn alles so schön beliebig ist?

Versuchen wir es der Einfachheit halber mit einer vorläufigen Kurzdefinition, die sich lediglich auf die Gemeinsamkeiten beschränkt:

Anarchisten streben eine freie Gesellschaft der Gleichberechtigung an, in der es keine Herrschaft von Menschen über Menschen mehr gibt. Die Mitglieder einer solchen Gesellschaft sollen befähigt und ermutigt werden, ihre privaten und gesellschaftlichen Bedürfnisse ohne Hierarchie und Bevormundung mit einem Minimum an Entfremdung selbst in die Hand zu nehmen. So soll eine andere Ordnung entstehen, in der Prinzipien wie die ›freie Vereinbarung‹, ›gegenseitige Hilfe‹ und ›Solidarität‹ an die Stelle heutiger Realitäten wie Gesetze, Konkurrenz und Egoismus treten könnten. Autoritärer Zentralismus würde durch Föderalismus ersetzt: die dezentrale Vernetzung kleiner und überschaubarer gesellschaftlicher Einheiten. Menschenverachtende und umweltzerstörende Gigantomanie wären dann absurd; an ihre Stelle träten freie Zweckzusammenschlüsse, die die Menschen auf der Basis gleicher Rechte und Pflichten direkt miteinander eingingen. Besonders originell an diesen Vorstellungen ist die Idee, dass es auf einem geografischen Gebiet nicht mehr nur eine Gesellschaft gibt, einen für alle gleichermaßen verbindlichen Staat, sondern eine Vielfalt parallel existierender gesellschaftlicher Gebilde. »Anarchie ist eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften«, wie es der anarchistische Philosoph Gustav Landauer einst formulierte. Kurzum, und etwas einfacher gesagt: Anarchie ist nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft.

In der praktischen Umsetzung dieser eher abstrakten Ideen sind sich wohl die meisten Anarchisten darin einig, dass gewisse Institutionen einer solchen freiheitlichen Gesellschaftsform hinderlich sind, um es einmal freundlich auszudrücken. Zunächst der Staat als Institution und autoritäres Ordnungsprinzip, ebenso aber auch der ›Staat im Kopfe‹: Herrschaftsideologie und Autoritätsgläubigkeit. Ferner die ihn tragenden Säulen wie Kapital, Polizei, Kirche, Justiz, Patriarchat, die angepassten Massenmedien, die herkömmliche Erziehung, die klassische Kleinfamilie und dergleichen mehr, womit wir bei den ›Lieblingsgegnern‹ angelangt sind, mit denen sich Anarchisten traditionsgemäß und vorzugsweise auseinandersetzen.

Das alles ginge aber noch nicht wesentlich über das symbolhafte Bild jenes rebellierenden Sklaven hinaus, das wir eingangs bemüht haben. Anarchisten würden in der Tat verantwortungslos handeln, wenn sie sich darauf beschränken wollten, Negatives zu zerschlagen, ohne etwas Positives an seine Stelle setzen zu können. So zeichnen sich wirkliche Anarchisten immer auch dadurch aus, dass sie an Modellen für eine neue, freiheitliche Gesellschaft arbeiten, und diese in praktischen Experimenten beispielhaft zu verwirklichen versuchen – auch wenn das im Rahmen der bestehenden autoritären Wirklichkeit nur unvollkommen gelingen kann.

»Nett, aber naiv«, so könnte man den Tenor aller wohlwollenden Kritiker zusammenfassen. »Das ist vielleicht ein schöner Wunschtraum, aber nicht zu verwirklichen. Der Mensch ist dazu nicht geschaffen, er ist egoistisch, er braucht Autorität und die strenge Hand von Gesetz, Ordnung und Moral. Und selbst wenn er so leben könnte – die Herrschenden würden ein solches System niemals zulassen, und da diese nicht zu besiegen sind, wird es beim Traum bleiben.«

Anarchisten behaupten natürlich das Gegenteil. Für sie ist eine solche Gesellschaft nicht nur erstrebenswert, sondern auch möglich. Und sie erklären auch, warum: Gerade weil der Mensch egoistisch sei, so lautet eine ihrer Thesen, sei Anarchie eine adäquate Lebensform. Oder, dass Herrschaft und Autorität nicht dasselbe wären und erstere die Herausbildung einer wohlverstandenen und positiven, nämlich freiwilligen ›Autorität‹ überhaupt erst verhindere. Und natürlich brauche der Mensch so etwas wie ›Moral‹ und eine ›Ordnung‹, aber nicht unbedingt die, die wir heute haben. Unsere Gesetze seien das ziemliche Gegenteil von Moral – Anarchie hingegen die moralisch höchste Form der Ordnung, weil sie sich ihre Regeln und Grenzen freiwillig setze. Vor allem aber müsse es nicht eine Art der Ordnung und eine Ethik geben – es könnten derer ruhig mehrere neben- und miteinander bestehen.

So etwas klingt in den Ohren staatlich geprägter Menschen – und das sind wir alle – paradox. Diese vermeintlichen Paradoxien sollen uns jetzt nur am Rande interessieren, denn iher Widerlegung wäre theoretisch, bestenfalls plausibel, und hätte letztlich keine Beweiskraft. Beweiskraft hat das Beispiel, das Experiment. Und diese Beispiele gibt es – nur kennt sie kaum jemand. Wer hätte je davon gehört, dass es im 20. Jahrhundert bereits große, funktionierende anarchistische Gemeinwesen gab, ganze Länder umfassend, mit Großstädten, Dörfern und Industrie, in denen von der U-Bahn über die Milchwirtschaft bis hin zum Schulwesen eine moderne Massengesellschaft nach an-archischem Muster funktionierte? Oder davon, dass es anarchistischen Guerillaarmeen in den 1920er Jahren gelang, riesige Landstriche zu befreien, um in ihnen den Aufbau einer Gesellschaft in freier Selbstverwaltung zu versuchen? Kein Mensch ahnt heute, dass das Mittel des ›zivilen Ungehorsams‹, das Kolonialmächte in die Knie zwang und Regierungen stürzte, voll und ganz in der Tradition des gewaltfreien Anarchismus steht. Und wer weiß schon, dass es Anarchisten waren, die in Deutschland vor über achtzig Jahren bereits einen Sechsstundentag in der Schwerindustrie erkämpften? Auf unseren Streifzügen durch die verzweigten Pfade anarchistischer Experimente werden wir derartigen Beispielen in solch unterschiedlichen Ländern wie Argentinien und Indien, Deutschland, der Ukraine, Spanien und der Mandschurei begegnen.

Freilich – nichts von alledem existiert mehr, und viele dieser großen und kleinen Experimente blieben in der Praxis weit hinter den hohen Idealen des Anarchismus zurück. Wahr ist aber auch, dass kein einziges von ihnen an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde ging – sie wurden samt und sonders militärisch zerschlagen. Wahrlich ein ›schlagender‹ Beweis; allerdings keiner, der die Unmöglichkeit einer anarchistischen Gesellschaft beweisen könnte.

Heute existiert Anarchismus nur als Konzept, als soziale Bewegung, und in bescheidenen praktischen Ansätzen. Der endgültige Beweis, ob Anarchie eine funktionsfähige Struktur ist, steht mithin noch aus; ebenso, ob sie eine wünschenswerte Lebensform ist. Das könnten schließlich nur diejenigen Menschen beantworten, die in ihr leben.

Literatur: NN: Was ist eigentlich Anarchie? Berlin 2003 (4. [10.] Aufl.), Karin Kramer, 162 S. / Horst Stowasser: Leben ohne Chef und Staat Berlin 1993 (4. [12.] Aufl.), Karin Kramer, 194 S., ill. / Hans Jürgen Degen, Jochen Knoblauch: Anarchismus – Eine Einführung Stuttgart 2006, Schmetterling, 214 S. / Ulrich Klemm: Freiheit & Anarchie – Eine Einführung in den Anarchismus Frankfurt 2005, Verlag Edition AV, 55 S. / Nicolas Walter Betrifft: Anarchismus Berlin 1984, Libertad, 160 S. / Daniel Guérin: Anarchismus. Begriff und Praxis Frankfurt 1969, Suhrkamp, 164 S. / April Carter: Die politische Theorie des Anarchismus Berlin 1988, Ahde, 305 S. / Paul Eltzbacher: Der Anarchismus Berlin o.J. [1900], Libertad, 305 S. / Justus F. Wittkop: Unter der Schwarzen Fahne Frankfurt 1973, Fischer, 270 S., ill.

Kapitel 2

Der Begriff »Anarchie«

»Warum mir aber in neuester Welt

Anarchie gar so gut gefällt?

Ein jeder lebt nach seinem Sinn,

das ist nun also auch mein Gewinn!

Ich lass’ einem jeden sein Bestreben,

um auch nach meinem Sinn zu leben.«

— JOHANN WOLFGANG V. GOETHE —

DAS WORT ANARCHIE ist so alt wie die abendländische Zivilisation. Seit es Herrschaft gibt, gibt es auch Ideen herrschaftsfreien Lebens, und seit den alten Griechen ist uns das Wort anarchia [άυ αρκία] überliefert. Es bedeutet »keine Herrschaft«, also die Abwesenheit von Macht und Hierarchie. Ein provokantes Wort, das in den Köpfen der Menschen augenblicklich schlimme Visionen erzeugt: Chaos, Unordnung, Verwilderung, Zerstörung. So ist die Bedeutung des Wortes heute weitgehend auf die Ängste reduziert, die den Normalbürger bei dieser Vorstellung befallen; sein eigentlicher Wortsinn ging dabei komplett verloren. Was blieb, waren griffige ›Übersetzungen‹ wie »Gesetzlosigkeit«, »Zügellosigkeit«, »Chaos«. Das ist etwa genauso korrekt, wie wenn man die Begriffe »Zahnarzt« mit »Folter«, »Liebe« mit »Sünde« oder »Ökologie« mit »Rückschrittlichkeit« übersetzen würde.

In der Umgangssprache mag dies ja noch als spontaner Ausdruck eines Angstgefühls hingenommen werden. Es geht jedoch um mehr als nur um Unwissenheit oder Ungenauigkeit. Seit Jahrhunderten wird im offiziösen Sprachgebrauch dieser negative Begriff von Anarchie verwendet; seit dem 19. Jahrhundert in der offensichtlichen Absicht, den Anarchismus als Philosophie oder politische Bewegung zu diskreditieren. Aus diesem Grunde haben ganze Generationen von Politikern und Literaten, Kommunisten und Adligen, Pfarrern und Hausdamen diesen Begriff von Anarchie verbreitet. Für sie verbindet sich das Wort mit einem kalten Schauer und dem Gedanken an Weltuntergang, und diese apokalyptische Vision gaben sie millionenfach weiter.

»Aber wollen denn die Anarchisten nicht den Staat abschaffen, sind sie nicht Gegner von Justiz, Polizei und Gesetzbuch, und ist es da nicht richtig, ihnen ›Gesetzlosigkeit‹ vorzuwerfen?« könnte man fragen. Ersteres stimmt, und der Vorwurf wäre berechtigt, wenn der Anarchismus an die Stelle dieser Institutionen keine anderen Strukturen zu setzen wüsste. Die Ablehnung unseres heutigen Herrschafts-, Justiz- und Strafsystems heißt aber nicht, dass es keine Regeln, Vereinbarungen oder ethische Grenzen im gesellschaftlichen Zusammenleben mehr gäbe. Es sind schließlich auch andere Formen denkbar. Dass die Inhaber der Macht diese aus wohlverstandenem Eigeninteresse bekämpfen, liegt auf der Hand. Dass die Phantasie der meisten Menschen nicht ausreicht, über das heute Bestehende hinauszudenken, ist wiederum nicht Schuld der Anarchisten. Andere Denker haben da mehr visionäres Vermögen bewiesen.

Immanuel Kant definiert Anarchie kurz und bündig als »Gesetz und Freiheit ohne Gewalt«. Für ihn ist der Begriff »Gesetz« eben nicht das Bürgerliche Gesetzbuch, sondern die Gesamtheit sozialer Regeln. Ähnliches musste Elisée Reclus im Sinn gehabt haben, als er postulierte, »Anarchie ist die höchste Form der Ordnung«: Wenn Regeln unter Menschen freiwillig und ohne Gewaltanwendung eingehalten werden, so meint er, sei dies eine höhere Stufe gesellschaftlicher Entwicklung als die autoritäre, in der soziales Verhalten durch den Zwang des Staates, die Drohungen der Justiz und die Gewalt der Polizei ständig erzwungen werden müsste. Pierre-Joseph Proudhon, einer der Väter des modernen Anarchismus, griff das Wort »Anarchie« in seiner ursprünglichen Bedeutung wieder auf und rührte es um 1840 mittels eines witzigen Dialogs mit einem Spießbürger in die Politik ein:

»Sind Sie Republikaner?«

»Republikaner, ja: aber dieses Wort ist mir zu ungenau. Res publica, das sind die öffentlichen Belange … die Könige sind auch Republikaner.«

»Nanu, Sie sind Demokrat?«

»Nein.«

»Was, Sie wären Monarchist?«

»Nein.«

»Konstitutionalist?«

»Gott behüte!«

»Dann sind Sie Aristokrat?«

»Ganz und gar nicht.«

»Sie wollen eine gemischte Regierung?«

»Viel weniger.«

»Was sind Sie also?«

»Ich bin Anarchist«.

In den Augen Proudhons waren Staat und Regierung die eigentlichen Unruhestifter, ständige Produzenten von Chaos, Ungerechtigkeit und Armut. Folgerichtig konnte nur eine von der Regierungsgewalt befreite Gesellschaft in der Lage sein, eine »natürliche Ordnung der menschlichen Beziehungen«, die »soziale Harmonie«, wieder herzustellen. Hierfür suchte er nach einem passenden Begriff und verfiel auf den alten griechischen Terminus an archia, dem er seinen genauen etymologischen Sinn wiedergab.

Die Doppeldeutigkeit des Wortes Anarchie wurde dadurch jedoch nicht aus der Welt geschafft. Bereits im alten Griechenland wurde der Begriff ambivalent benutzt; seine negative Bedeutung setzte sich vollends in der Philosophensprache des katholischen Mittelalters durch. Spätestens seit der Aufklärung aber wird der Begriff differenzierter verwendet – wir werden diesen Wertewandel gelegentlich wieder aufgreifen. Allerdings ist es der jeweils herrschenden Ideologie stets gelungen, den Eingang solcher Unterscheidungen in die Umgangssprache zu verhindern. Heute ist der Begriff Anarchie daher durchweg negativ besetzt.

Kapitel 3

Wer ist Anarchist?

»Mir tut jeder leid,der nicht mit zwanzig Anarchist war.«

— CLÉMENCEAU —

MIT SICHERHEIT SIND MEHR MENSCHEN »ANARCHISTEN« als nur diejenigen, die sich so nennen. Viele wissen es nur nicht. Jeder kennt diese Art ›natürlicher Anarchisten‹: Menschen, die sich nicht gerne etwas vorschreiben lassen, die das, was man ihnen sagt, kritisch hinterfragen und die sich weigern, etwas Bestimmtes zu glauben oder zu tun, nur, weil es ihnen jemand, der Macht hat, so sagt. Der Widerstand gegen Herrschaft zieht sich seit alters her als stetiger Strang durch die Geschichte von Individuen und Gruppen: mal sind es listige Spaßvögel, mal rebellierende Aufrührer, mal aufmüpfige Querdenker. Ihre Taten und Figuren sind in Märchen, Liedern und Legenden überliefert, und in aller Welt erfreuen sich diese Aktionen der Kleinen gegen die Mächtigen der ungeteilten Sympathie des Publikums. Aktionen, deren Zielscheibe die Autorität und deren Wesen Freiheit und Gerechtigkeit sind.

›Natürliche‹ und ›wirkliche‹ Anarchisten

Das soll nicht heißen, dass der Anarchismus etwa alle Querdenker, kritischen Geister oder Rebellen für sich vereinnahmen wollte. Das wäre eine für Anarchisten sehr untypische Einstellung, denn es liegt ihnen fern, Menschen irgendein Etikett aufzukleben. Sie sind an Inhalten interessiert, nicht an Ideologien. Historische Bewegungen in den Sack ihrer Weltanschauung stecken zu wollen, wäre nicht nur unsinnig, es würde auch dem anarchistischen Selbstverständnis widersprechen.

Dennoch muss man diese ›natürlichen Anarchisten‹ berücksichtigen, wenn man sich die Frage stellt, wer ›Anarchist‹ ist. Denn umgekehrt wäre es borniert, nur diejenigen als Anarchisten zu bezeichnen, die sich offen und manchmal sehr lautstark so nennen und möglichst auffällig mit der schwarzen Fahne wedeln. Es kostet schließlich nichts, sich als ›Anarchist‹ zu titulieren, und ob all diejenigen, die dies tun, ihren eigenen Idealen gerecht werden, ist selbstverständlich eine offene Frage.

Ähnliche Überlegungen gelten auch für fremde Kulturen oder sogenannte ›primitive‹ Gesellschaften, von denen einige seit jeher ohne Regierung leben. Wir finden sie in aller Welt und vielen Kulturkreisen. In ihren Gemeinwesen scheinen die Menschen die eine oder andere ›utopische‹ Idee des klassischen Anarchismus einfach im täglichen Leben ›verwirklicht‹ zu haben, ohne irgendwen um Erlaubnis zu fragen… Niemandem wäre indes damit gedient, diesem sozialen Alltag den Stempel ›anarchistisch‹ aufzudrücken, denn in diesen Völkern hat man von »Anarchismus« natürlich noch nie etwas gehört. Soziologen und Völkerkundler ziehen deshalb hier den Begriff »regulierte Anarchie« vor. Die Schlüsse aber, die wir aus solchen Gesellschaften über die Machbarkeit der anarchistischen Utopie ziehen können, sind für den anarchistischen Diskurs äußerst wichtig – und oft fruchtbarer und lehrreicher als so mancher gelehrte Disput.

So interessant die Folgerungen auch sein mögen, die wir aus der millionenfachen Existenz von Menschen ziehen dürfen, die ›Anarchisten‹ sind, ohne es zu ahnen, wollen wir uns hier nun denjenigen zuwenden, die sich selber Anarchisten nennen und als Teil einer anarchistischen Bewegung verstehen. Interessanterweise waren viele dieser ›wirklichen‹ Anarchisten zuvor ›natürliche‹ Anarchisten, die irgendwann einmal ganz erstaunt entdeckt haben, dass das, was sie schon immer dachten, einen Namen hat und tatsächlich als Philosophie und Bewegung bereits seit langem existiert.

Wer also ist ›wirklicher‹ Anarchist?

Zunächst einmal jeder, der sich so nennt, denn niemand könnte es ihm ›verbieten‹. Nun sind Anarchisten allerdings für ihre Meinungsverschiedenheiten berüchtigt – in Vielem pflegen sie traditionsgemäß eher unterschiedliche Ansichten. Glücklicherweise gibt es jedoch eine Reihe von Übereinstimmungen, die auf die meisten Überzeugungsanarchisten zutreffen. Was also ist der ›gemeinsame Nenner‹?

Checkliste der Gemeinsamkeiten

Im Zentrum des anarchistischen Diskurses steht ein globaler Freiheitsbegriff. Freiheit soll Ziel sein und gleichzeitig Mittel zur Erreichung dieses Ziels. Was aber ist ›Freiheit‹? Für Anarchisten ist dieses Wort mehr als ein liberaler Wischiwaschi-Begriff; sie haben daher stets versucht, ihn mit konkreten Inhalten, Forderungen und Modellen zu füllen. Dem Anarchismus genügen dabei keine Teilfreiheiten wie etwa den Liberalen die Freiheit des Handels, den Nationalisten die Freiheit des Vaterlandes oder den Aufklärern die Freiheit des Geistes. Freiheit sollte allumfassend und unteilbar sein, ein Prinzip, das das menschliche Leben von den persönlichsten und alltäglichsten Aspekten bis hin zu weltweiten Organisationsstrukturen bestimmt. Freiheit, so behaupteten schon die frühesten anarchistischen Denker, sei aber ein leeres Wort und wertlos, wenn es nicht mit sozialer Gerechtigkeit gekoppelt wäre. Und soziale Gerechtigkeit sei ohne soziale Gleichheit nicht denkbar. Anarchisten sehen das so: Auf der Erde steht es theoretisch allen Menschen gleich frei, Millionär zu werden – aber wir alle wissen, dass diese Art von ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹ ein inhaltsleerer Unsinn ist: Schließlich können wir nicht alle auf Kosten anderer reich werden. Andererseits ist es in unseren Gesellschaften allen Menschen gleichermaßen verboten, unter einer Brücke zu schlafen – dem Millionär ebenso wie dem Stadtstreicher. Auch hier herrscht ›Gleichheit‹, aber es ist offensichtlich, dass diese Art von Gleichheit ohne soziale Gerechtigkeit absurd ist und wertlos.

Michail Bakunin, die charismatische Urgestalt des Anarchismus, hat dieses Spannungsfeld zwischen sozialem und freiheitlichem Ansatz auf den Punkt gebracht: »Freiheit ohne Sozialismus ist Privilegientum und Ungerechtigkeit – und Sozialismus ohne Freiheit ist Sklaverei und Brutalität.« Wenn man bedenkt, dass er diesen Satz um 1870 niederschrieb, könnte man seine Sicht für geradezu prophetisch halten – wer konnte damals schon voraussehen, welche Wege der ›unfreie Sozialismus‹ etwa in Russland oder Rumänien, Kambodscha oder Ostdeutschland gehen würde!

Wir können sagen, dass die meisten aktiven Anarchisten in freiheitlich-sozialen Bewegungen engagiert sind; man nennt dies den ›sozialen Anarchismus‹. Hierbei gibt es die verschiedensten Ansätze, Taktiken und Vorgehensweisen, die in der Regel eine konstruktive Zielrichtung haben. Die meisten wollen die bestehende Gesellschaft im freiheitlich-sozialen Sinne verändern, die unfreien Institutionen nach Kräften zersetzen und gleichzeitig neue Modelle ausprobieren und heranwachsen lassen, die an die Stelle der alten Strukturen treten sollen.

Leider aber lassen unsere Gesellschaften nur selten Spielräume für konstruktive Veränderungen zu – oft beschränkt sich der Anarchismus daher auf die reine Verteidigung des Bestehenden, den Kampf um die wenigen verbliebenen Freiheiten im Leben der Menschen. In der Tat sind heute die meisten Anarchisten vollauf damit beschäftigt, auf die zunehmende Einengung von Freiheit und Lebensgrundlagen zu reagieren. Solche ›reaktiven Kämpfe‹ – seien sie nun gegen Umweltzerstörung, Rüstung, Atomkraftwerke, Wohnungsnot, Armut, Behördensumpf, Polizeiwillkür, Justizarroganz, Entlassungen, soziale und geschlechtliche Diskriminierung, tarifpolitische Erpressung oder rechtsradikale Angriffe gerichtet – kennen wir alle aus Gegenwart und jüngster Vergangenheit. Gewiss sind sie notwendig und politisch wichtig, aber sie machen ›den Anarchisten‹ nicht aus: Nur allzuoft nämlich gerät den pausenlos Handelnden hierbei das Ziel aus dem Blickfeld. Die Aktionen lösen sich meist, sobald den Akteuren der Anlass verloren gegangen ist, in Nichts auf. Reine Protestktionen bieten wenig Raum für konstruktive Ansätze, die auf eine neue Gesellschaft abzielen. Häufig werden sie auch vom herrschenden System klug ausgenutzt – als ein eleganter Weg, um die Kräfte seiner Gegner in jahrelangen, aufreibenden Kämpfen zu binden.

Kein aufrechter Anarchist würde sich solchen Kämpfen entziehen wollen und teilnahmslos Unterdrückung und Unrecht zusehen. Es kommt dem Anarchismus aber entscheidend darauf an, die Verbindung zwischen bloßer Reaktion und dem konstruktiven libertären Element herzustellen. Mit anderen Worten: Aus dem Kampf gegen Atomkraft müsste ein Kampf für Ökologie werden und aus dem Kampf gegen Rüstung ein Kampf für eine friedliche Gesellschaft, aus gewerkschaftlicher Aktion müssten neue Wirtschafts- und Arbeitsmodelle entstehen und so weiter. Denn all dies ergäbe für Anarchisten auf lange Sicht nur dann wirklich einen Sinn, wenn sich schließlich alle diese Teilbereiche zum Gesamtkonzept einer anderen Gesellschaft verdichten. Kurz: der Kampf gegen die alten Verhältnisse darf nicht zum Ritual werden – er muss Ansätze für Neues hervorbringen: Widerstand gebiert Modelle.

Das ist leichter gesagt als getan. Die Inhaber der Macht tun natürlich alles – bis hin zum Einsatz direkter Gewalt –, um eine freiheitliche Konkurrenz niederzudrücken, die ihnen diese Macht nehmen will. Deshalb hat es auch zu allen Zeiten Anarchisten gegeben, die das konstruktive Element des Anarchismus irgendwann völlig aus den Augen verloren. Voller Hass und Verzweiflung gingen sie dazu über, das System, wo immer sie konnten, direkt und frontal – also gewissermaßen ›militärisch‹ – anzugreifen. Terror, bis dahin ein Monopol des Staates und der Kirche, wurde zeitweise das vorherrschende Mittel einiger anarchistischer Strömungen. Der Höhepunkt dieser Gewaltphase des Anarchismus lag zwischen 1891 und 1894; heute spielt Terror in der libertären Bewegung keine Rolle mehr. Tatsächlich gibt es im modernen Anarchismus weit mehr Pazifisten als Befürworter irgendwelcher Formen von ›Gewalt‹. Dennoch hat jene kurze, historische Phase von Attentaten, Überfällen und Tyrannenmorden bis heute das Bild vom Anarchisten nachhaltig beeinflusst: Ebensooft, wie Anarchismus mit ›Chaos‹ und ›Gesetzlosigkeit‹ gleichgesetzt wird, bringt man ihn auch mit ›Gewalt‹ und ›Terror‹ in Verbindung. Das ist allerdings Unfug, denn die Frage der Gewalt ist für den Anarchismus weder typisch noch prägend.

Wie wir gesehen haben, ist das Aktionsfeld des sozialen Anarchismus breit gefächert und entfaltet sich zwischen den Polen Widerstand, Aktion, Konstruktivität, Aufklärung und experimentellen Modellen. Die allermeisten Anarchisten sind auf diesem breiten sozialen Terrain irgendwo in irgendeiner Weise engagiert.

Es gibt indes auch Anarchisten, die den Anarchismus mehr als eine Art privater Lebensphilosophie verstehen und – aus welchen Gründen auch immer – keinen Sinn darin sehen, unsere Welt tatsächlich verändern zu wollen. Diese ›philosophischen Anarchisten‹ pflegen meist einen entsprechenden Lebensstil – zum Beispiel den des Bohemiens oder Nonkonformisten – und produzieren bisweilen kluge Bücher, kämpferische Gedichte, avantgardistische Kunstwerke. Oder sie sind derart individualistisch, dass ihr ›Anarchismus‹ überhaupt keine praktischen Konsequenzen hat. Bis etwa 1840 war der ›philosophische Anarchismus‹ die am meisten verbreitete Strömung und brachte eine wertvolle, aber eher folgenlose Literatur hervor, in der allgemeine Überlegungen über die Anarchie und den Gang der Welt angestellt wurden. Die meisten ›philosophischen Anarchisten‹ unserer Tage sind in keinerlei Bewegungen organisiert und werden deshalb auch nicht zum ›sozialen Anarchismus‹ gerechnet. Die sozial aktiven Anarchisten neigen dazu, ihre rein philosophischen Gesinnungsgenossen zu verachten. Das ist aus ihrer Sicht verständlich, wenn auch unklug, denn schließlich ist auch die anarchische Attitüde Teil der menschlichen Freiheit und trägt auf diese Weise ebenfalls zur Schaffung eines gesellschaftlichen Klimas bei, das dem sozialen Anarchismus nur dienlich sein kann.

Persönliche Konsequenzen

Bisher haben wir uns nur mit der ›Außenwirkung‹ des anarchistischen Menschen befasst. Wie aber steht es mit den persönlichen Konsequenzen im eigenen Leben? Auch hier ist der Anspruch in der Regel groß: Anarchisten streben an, ihre Ideale nicht nur für eine ferne Zukunft zu konzipieren. Sie möchten nach Möglichkeit schon hier und heute damit beginnen, sie zu verwirklichen und vorzuleben – und sei es auch nur in kleinen Ansätzen und so unzulänglich, wie dies inmitten einer autoritären Umgebung auch immer sein mag. Das bedeutet natürlich, dass sie die Messlatte anarchistischer Ansprüche auch an sich selbst legen müssen, was wiederum zu Konsequenzen führt, die nicht immer leicht einzuhalten sind – besonders innerhalb einer Gesellschaft, die in fast allen Punkten das Gegenteil predigt und belohnt. Anarchistische Toleranz, Verzicht auf Herrschaft, andere Umgangsformen zwischen Frauen und Männern, Kindern und Erwachsenen, Mehrheiten und Minderheiten, eine souveräne Einstellung zu Eigentum, Sexualität und Arbeit – all das und vieles mehr sind Dinge, an denen eine anarchistische Ethik mit privaten Konsequenzen entwickelt und eingeübt werden will. Nach tausenden von Jahren staatlich-autoritärer Ethik ist dies kein leichtes Unterfangen, und etliche scheitern an ihren eigenen Ansprüchen. Andererseits ist der Anarchismus kein Modell für Heilige, sondern für Menschen. Das schließt das Recht mit ein, unvollkommen zu sein und Fehler machen zu dürfen. Vor allem aber – und das entpuppt sich oft als das Schwierigste – gibt es darüber, was ›richtig‹ und ›falsch‹ ist, naturgemäß viele Meinungen. Der Anarchismus würde sich in dem Moment selbst verraten, wo er diese Unterschiede zwangsweise weghobeln wollte. Die Tatsache aber, dass die meisten Anarchisten ihre Ansprüche zum Prüfstein ihres eigenen Lebens machen, zeigt, dass sie keine Doktrin der Zwangsbeglückung vertreten, in der die Menschen irgendwelchen Idealen einer Avantgarde* gehorchen sollen, die diese selbst nicht einzuhalten gewillt ist.

Der Anarchismus ist ein großes Dach, ein Basar der Vielfalt, ein Feld des Experiments. Im Grunde kann sich jeder unter dieses Dach stellen und sagen »Ich bin Anarchist!« Darüber, ob das stimmt und was der einzelne unter »Anarchismus« versteht, gibt es keine endgültige Antwort. Anarchismus ist Suche und Experiment unter dem Vorzeichen der Vielfalt. Im Grunde ist jeder Anarchist, der ernsthaft sucht.

Literatur: Christian Sigrist: Regulierte Anarchie Frankfurt a.M. 1979, Syndikat, 270 S. / Harold Barclay: Völker ohne Regierung – eine Anthropologie der Anarchie Berlin 1985, Libertad, 315 S., ill. / Heide Göttner-Abendroth und Kurt Derungs (Hrsg.): Matriarchate als herrschaftsfreie Gesellschaften Bern 1997, Edition Amalia, 293 S., ill.

Kapitel 4

Was wollen die Anarchisten?

»Keine Macht für niemand!«

— TON STEINE SCHERBEN —

ES GIBT VIELE GUTE GRÜNDE, weshalb Anarchisten es immer vermieden haben, verbindliche Programme für eine künftige Gesellschaft aufzustellen; der Mangel an Ideen gehört mit Sicherheit nicht dazu. Eher das Gegenteil: die Überzeugung, dass eine an-archische Gesellschaft sich aus vielen unterschiedlichen Gesellschaften, Formen und sozialen Organismen zusammensetzen wird, hat sie seit jeher davon abgehalten, die Utopie von morgen bereits heute in das Korsett programmatischer Vorschriften zu zwängen.

Kein starres Programm

Eine Gesellschaft nach dem Geschmack der Anarchisten ist kein starres Gebilde, Anarchie wird nicht eines schönen Tages ›erreicht‹ sein. Niemand anderes als die an ihm beteiligten Menschen werden festlegen, wie sie leben und sich organisieren wollen, und deren Vorstellungen werden vermutlich unterschiedlich sein. Deshalb müssen wir uns ›die Anarchie‹ als ein Gebilde vorstellen, das in einem bestimmten geografischen Raum nicht etwa nur eine Lebensform, eine Ethik, eine Art sozialer Organisation kennt, sondern zur gleichen Zeit viele verschiedene nebeneinander, die sich je nach Interessen, Neigung, Notwendigkeiten und Bedürfnissen frei miteinander verbinden können. Zugegebenermaßen eine schwierige Vorstellung für uns, die wir gewohnt sind, dass der Staat auf seinem exakt definierten Territorium eifersüchtig darüber wacht, dass alle seine Bürger einer Norm – der staatlichen – gleichermaßen unterworfen sind. Wir kennen nichts anderes; entsprechend exotisch kommt uns die anarchistische Gesellschafts- und Organisationstheorie vor. Ihre Struktur wird oft als ein Netzwerk beschrieben, und aus der Biologie wird das Bild des Mycels bemüht – jener chaotischen Pilzgeflechte, die extrem vital und überlebensfähig sind. All das mag an dieser Stelle eher verwirrend als erklärend wirken – wir werden darauf noch zurückkommen.

Im Augenblick soll uns genügen, dass auch bei der Frage nach der anarchistischen Zielvorstellung der Wunsch nach Vielfalt eine eindeutige oder gar eine dogmatische Antwort verhindert.

Ein weiterer Grund gegen eine anarchistische Programmatik sei noch genannt, auf den besonders Bakunin hingewiesen hat. Für ihn kann eine völlig neue Gesellschaft nur aus der völligen Überwindung der alten Gesellschaft entstehen. Heutige Menschen, autoritär geprägt und staatlich geformt, seien kaum in der Lage, wirklich neue Ideen hervorzubringen; in all ihren Entwürfen schlummere der Keim des Alten, der früher oder später wieder hervorbrechen müsste. Eine neue Gesellschaft, so Bakunin, könne nur aus »Amorphismus« entstehen, das heißt, aus der Zerstörung der alten. Der Vorwurf, Bakunin wolle erst alles ›kaputtschlagen‹, um etwas Neues aufbauen zu können, tut ihm sicherlich unrecht. Mit dem Begriff ›Zerstörung‹ verband er nicht, Paläste, Museen oder Fabriken in die Luft zu sprengen – ihm ging es um die Zerschlagung von Institutionen und Herrschaftsmechanismen. Geschähe dies nicht, so Bakunin, übertrüge die neue Gesellschaft unweigerlich den Samen des Alten und Autoritären in ihre Ideen und Einrichtungen. Andererseits bleibt der radikale Denker eine plausible Antwort darauf schuldig, wie er die Lücke zwischen Amorphie und neuer Gesellschaft zu schließen gedenkt – wann und wo also die neue ›Tugenden‹ und Einrichtungen eigentlich entstehen sollen. Spontaneität und Phantasie allein dürften dazu kaum ausreichen. Spätere anarchistische Denker haben diese Frage schlüssiger beantwortet; hier soll im Moment nur interessieren, dass der von Bakunin eingebrachte Vorbehalt nicht einfach abgetan werden kann: dass nämlich Konzepte und Programme, die der unfreien Atmosphäre einer autoritären Gesellschaft entstammen, mit Sicherheit nicht so frei, kühn, souverän und visionär sein können wie die Ideen, die Menschen womöglich in einer befreiten Gesellschaft entwickeln könnten. Daher braucht der Anarchismus weniger Programme und Regeln einer künftigen Gesellschaft, als vielmehr ein allgemeines Modell wandelbarer Strukturen.

Ideen und Positionen

»Ja, zum Kuckuck, wollen die Anarchisten denn überhaupt irgendetwas Konkretes, oder verstecken sie sich nur hinter Ausflüchten, warum sie dieses oder jenes nicht wollen?!«

Doch, es gibt konkrete Vorstellungen; die Anarchisten haben nur kein starres Programm daraus gemacht.

Das Ziel des Anarchismus ist die Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen; im Zentrum seiner politischen Aktivität steht ein sozial geprägter Freiheitsgedanke. Hieraus leitet er die Notwendigkeit ab, den Staat abzuschaffen. Der Staat sei schließlich nicht irgendein Phantom, sondern der Ausdruck ganz bestimmter – vor allem wirtschaftlich bedingter – Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Es geht also nicht um die ›Feindschaft‹ zu dieser Regierung oder jenem Tyrannen, sondern darum, den Staat an sich zu bekämpfen – und zugleich Alternativen zur Staatlichkeit zu entwickeln.

Aus diesem allgemeinen Ziel ergibt sich eine Reihe praktischer Forderungen, Ideen und Ziele, die sich die anarchistische Bewegung im Laufe ihrer Geschichte zu eigen gemacht hat:

Gleiche Freiheit für alle Menschen einer Gesellschaft. Niemand soll herrschen, das Leben soll gemeinschaftlich von den betroffenen Menschen selbst organisiert werden. Daraus ergeben sich soziale Systeme, in denen soviel Kollektivität wie nötig und soviel Individualität wie möglich nebeneinander bestehen. Den Grad von ›nötig‹ und ›möglich‹ entscheidet der einzelne Mensch nach seinen Bedürfnissen, insofern er sich ›seine‹ Gesellschaft aussuchen oder schaffen kann: keine Gleichmacherei, aber gleiche Chancen und Rechte für alle.

Diese zentrale Forderung scheitert in erster Linie an wirtschaftlicher Ungerechtigkeit. Deshalb treten die Anarchisten für die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise ein, die sie als menschenverachtend, umweltzerstörend und in ihrem Wachstumszwang als irrational ansehen. An ihre Stelle wollen sie nicht etwa eine sozialistische Planwirtschaft setzen, sondern etwas völlig Neues: die dezentrale und föderierte solidarische Bedarfswirtschaft, in der die Ökologie über der Ökonomie und die Bedürfnisse der Menschen über denen des Profits stehen.

Eng mit der sozialen Gleichheit verknüpft ist die Forderung nach Überwindung von Klassen, Schichten und Machthierarchien. Menschen sind nach anarchistischer Auffassung durchaus unterschiedlich und sollen es auch bleiben – aber keine soziale Schicht soll kraft ihrer Geburt oder aus wirtschaftlichen, religiösen, rassischen oder geschlechtlichen Gründen Privilegien genießen oder gar »über den anderen stehen«. Hieraus ergibt sich ein ganzer Katalog einzelner Forderungen, der von der ›direkten Demokratie‹ über die Kritik an Religion, Patriarchat und Familie bis hin zum Besitz- und Erbrecht reicht.

Mit der Überwindung des Staates werden auch sein Apparat und seine Institutionen in Frage gestellt: Regierung, Bürokratie, Armee, Grenzen, Justiz, Polizei, Medienhoheit, Erziehungsmonopol und dergleichen. Für diejenigen Funktionen des Staates, die ihrem Wesen nach vernünftig und notwendig sind, bemüht sich der Anarchismus um die Schaffung alternativer Modelle. Ihre Basis sind gemeinsame Bedürfnisse, ihre Elemente Selbstorganisation, freie Vereinbarung, dezentrale Vernetzung und autonome Föderation. Aus den als überflüssig verstandenen Staatsfunktionen erwachsen typisch anarchistische Aktionsfelder wie beispielsweise der Antimilitarismus, der Abolitionismus*, die bürokratiefeindliche Selbstverwaltung oder die libertäre Antipädagogik.

Direkt nach dem Staat rangieren in vielen Teilen der Welt die Kirche und ihr Klerus – fast immer als traditionell freiheitshemmende Institutionen. Die meisten Anarchisten sind Atheisten und lehnen Religion ab. Sie unterwerfen sich nicht gerne höheren Wesen oder Mächten; die Kirche betrachten sie als eine gigantische Einrichtung der Verdummung und Bevormundung. In vielen Ländern der Welt dienen Religionen als nie versiegender Quell von Unterdrückung und Intoleranz, Sexismus und Gewalt – wenn nicht gar von blankem Terror. Dabei wollen Anarchisten niemandem das Recht auf Glauben absprechen, solange dieser anderen Menschen nicht die Freiheit einschränkt. Tatsächlich gibt es zwischen der Ethik einiger Religionen und der des Anarchismus zahlreiche Übereinstimmungen. Der Anarchismus ist deshalb eher antiklerikal als antireligiös.

In freien Gesellschaften darf es kein Eigentum an Menschen mehr geben. Anarchisten wenden sich deshalb gegen die alltäglichen Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnisse – speziell die von Frauen und Kindern. Viele Libertäre lehnen daher auch die Institution der Ehe und der ›bürgerlichen Kleinfamilie‹ mitsamt ihren traditionellen Autoritäts- und Rollenvorstellungen ab. In ihr sehen sie nicht zuletzt eine wichtige Stütze des Staates. Stattdessen ziehen sie freiwillige Zusammenschlüsse nach dem Prinzip der Wahlverwandtschaft vor, etwa in Großfamilien, Wohngemeinschaften oder Kommunen, deren Zusammensetzung wechseln kann. Das bedeutet übrigens nicht, dass alle Menschen so leben müssten, oder dass sich zwei Menschen nicht etwa lebenslang lieben und ›treu‹ sein dürften. Das kann jeder Mensch halten, wie er will – vorausgesetzt, er tut dies freiwillig. Dazu aber braucht er weder die erpresserischen Zwänge des Eherechts noch die Drohkulissen von Religion oder Moral. Vielmehr geht es darum, auch andere Formen zuzulassen, und die in herkömmlichen Familien üblichen Hierarchien zu überwinden: Frauen und Kinder sollen als gleichberechtigte Menschen akzeptiert sein, und die religiös gefärbte Sexualmoral soll einer lustvollen Gleichberechtigung aller Formen der menschlichen Liebe weichen. Das Patriarchat als die bei uns gängige Form der Herrschaft steht damit automatisch im Zielkreuz anarchistischer Kritik.

Eine noch so schöne Utopie kann nicht in einer sterbenden Welt gedeihen. Der Mensch kann nur im Einklang mit seiner Umwelt überleben. Anarchisten gehen davon aus, dass die dringend nötigen ökologischen Veränderungen so radikal sein müssen, dass sie im Rahmen einer kapitalistischen Profit- und Wachstumswirtschaft kaum möglich wären. Sie meinen, dass eine dezentrale Organisation kleiner Einheiten mit einer ›Bedürfniswirtschaft nach menschlichem Maß‹ die einzig wirklich ökologische Gesellschaftsstruktur ist und deshalb das Modell der Zukunft sein wird.

Kein Paradies

Anarchisten räumen ein, dass es auch in einer libertären Gesellschaft Ungerechtigkeit, Kriminalität und Aggression geben wird. Anarchistische Modelle versprechen kein Paradies, sondern versuchen, Strukturen zu entwickeln, in denen sich soziales Fehlverhalten soweit reduziert, dass man mit dem verbleibenden Rest anders verfahren kann. Kriminelle etwa sollten nicht als Delinquenten angesehen und bestraft werden, ihnen müsse Hilfe erwachsen. Psychisch kranke Menschen dürften nicht weggesperrt, sondern sollten in die Gesellschaft aufgenommen werden. Gefängnisse, psychiatrische Anstalten, Erziehungsheime und Strafen seien letztlich Bankrotterklärungen eines hierarchischen Systems vor Problemen, die es überwiegend selbst hervorbringe.

Für einen Anarchisten ist Freiheit ein unteilbares Gut. In unseren heutigen Gesellschaften sind wenige Menschen ›frei‹ auf Kosten der Unfreiheit vieler – das gilt ökonomisch, politisch und psychisch. Und mit Leichtigkeit gelingt es den Massenmedien, diese ›Freiheit‹, die sich reiche Menschen dadurch erkaufen können, dass sie ärmere Menschen ausbeuten, als das grundlegende Ideal der ›freien westlichen Welt‹ und den Motor seines ›Fortschritts‹ zu verkaufen. Ungerechtigkeit oder Ausbeutung existieren aber nicht nur innerhalb der Länder, in denen wir leben, sondern in großem Maßstab auch weltweit zwischen armen und reichen Nationen, in dem Verhältnis zwischen »Erster«, »Zweiter« und »Dritter Welt«. Anarchisten treten deshalb für weltweite Modelle der Vernetzung ein, die die wirtschaftliche und kulturelle Versklavung überwinden und allen Menschen ein Leben in Würde und ohne Mangel bieten können. Dann würden Massenfluchten aus Armut vom Süden in den Norden, vom Osten in den Westen von selbst aufhören; eine Gesellschaft ohne Grenzen müsste nicht länger eine Utopie bleiben. Das ist einer der Gründe, weshalb sich der Anarchismus aktiv gegen Imperialismus, Rassismus und Kolonialismus in all seinen alten und neuen Formen wendet.

Die Liste solcher anarchistischen Essentials könnte man noch lange fortsetzen und sich dabei in Details verlieren. Sie alle sind indes nichts anderes als die praktische Anwendung jenes umfassenden anarchistischen Freiheitsprinzips auf die soziale Realität, die uns umgibt.

Auf diese Weise ist nun doch so etwas wie ein programmatischer Katalog libertärer Forderungen entstanden, den wir im Einzelnen noch vertiefen werden. Aber auch für diesen ›Katalog‹ gilt: Anarchie ist ständig der Veränderung unterworfen. Sobald sie erstarrt und Dogmen gebiert, ist sie nicht mehr anarchistisch. Phrasenhafter »Antiimperialismus«, gebetsmühlenhafter »Klassenkampf« oder blinder »Geschlechterkrieg« werden nicht etwa dadurch gescheiter, dass sie sich mit anarchistischen Phrasen garnieren. Leider sind auch Anarchisten nicht immer so undogmatisch wie sie behaupten und keineswegs gegen doktrinäres Schwarzweißdenken immun.

Für einen Anarchisten kann sich alles ändern: die Wahrnehmung, die Erfahrungen, die Prioritäten, die persönlichen Einsichten und die eigene Kraft – nur nicht das Ziel. Das Ziel ist eine wahrhaft freie Gesellschaft. Alles weitere sind Mittel, dieses Ziel zu erreichen, und die richten sich nach den jeweiligen Umständen – und den Bedürfnissen der beteiligten Menschen.

Literatur: Errico Malatesta: Ein anarchistisches Programm Karlsruhe o. J., ABF, 15 S. / Alexander Berkman: ABC des Anarchismus Meppen 1971, AVN, 23 S. / Nestor Machno: Das ABC des revolutionären Anarchisten Osnabrück o. J., Packpapier, 40 S. / Herbert Read: Philosophie des Anarchismus Berlin 1982, AHDE, 34 S. / Monika Grosche Anarchismus und Revolution Moers 2003, Syndikat A, 129 S. / Paul Goodman: Anarchistisches Manifest Westbevern 1977, Büchse der Pandora, 64 S. / Gruppi Anarchici Federati: Ein anarchistisches Programm Berlin 1984, Libertad, 55 S.

Kapitel 5

Was tun die Anarchisten?

»Anarchisten bekämpfen keine Menschen,sondern Institutionen.«

— BUENAVENTURA DURRUTI —

IHREN KAMPF GEGEN STAATLICHE STRUKTUREN und für eine freie Gesellschaft führen Anarchisten mit den unterschiedlichsten Mitteln: durch Aufklärung und Medien, den Aufbau von Gegenkultur und Selbstverwaltungsmodellen ebenso wie durch Provokation, direkte Aktion, Streiks und Demonstrationen. All das ebensogut als Einzelkämpfer wie in losen Gruppen, Gewerkschaften oder spezifischen Organisationen. In ihrer Geschichte versuchten sie alle Arten von Protest und Widerstand bis hin zur Schaffung befreiter Gebiete, in denen soziale Experimente gedeihen konnten. Eine Eroberung der Macht im Staate jedoch, schrittweise politische Reformen im Rahmen des Systems, die Beteiligung an Wahlen, politischen Parteien und Regierungen lehnen sie in der Regel ab. Früh haben sie die Erfahrung gemacht, dass staatliche Systeme eine große Integrationskraft besitzen, und Macht korrumpiert.

Natürlich bewegen auch Anarchisten sich meist in kleinen Schritten auf ihr großes Ziel zu, sie machen sich dabei aber nicht zum Teil des staatlichen Systems. Ihre Modelle sind vielmehr so angelegt, dass sie tendenziell gegen staatliche Institutionen gerichtet sind und Herrschaftsstrukturen zersetzen, um so in ihrem Schoße bereits die Saat einer neuen, herrschaftsfreien Gesellschaft aufkeimen zu lassen.

Destruktiver und konstruktiver Anarchismus

Im Grunde gibt es zwei verschiedene Strategien der Anarchisten. Die eine sieht in erster Linie den Gegner und versucht, ihn anzugreifen, seine Macht zu zerstören. Hier reduziert sich Anarchismus genau genommen auf bloße Staatsfeindlichkeit; die Frage nach dem Aufbau einer anderen Gesellschaft ist zweitrangig. Gedacht wird zumeist in militärischen Kategorien: Verteidigung, Angriff, Sieg. Solches Verhalten erschöpft sich meist in einer pseudo-heroischen Geste der Herausforderung. Die andere sieht das Ziel als vorrangig an. Für sie ist der Staat ein Hindernis auf dem Weg zu diesem Ziel, aber nicht der indirekte Daseinszweck des Anarchismus. Sowenig sie darum herumkommt, gegen dieses Hindernis zu opponieren und es zu bekämpfen, sosehr steht für sie doch die Frage nach konkreten und gangbaren Modellen im Vordergrund – Wege, die zu einer anarchischen Gesellschaft führen können.

Etwas überspitzt könnten wir die Richtungen als destruktiven und konstruktiven Anarchismus bezeichnen. Die eine geht den Gegner direkt und frontal an, die andere will ihn zu zermürben und überflüssig zu machen. Kampf oder List, offene Feldschlacht oder Katalysator* – das sind die extremen Pole anarchistischer Aktion.

Natürlich ist das grob vereinfacht, aber beide Formen lassen sich nachweisen: Zwischen dem bombenwerfenden Schlapphut-Anarchisten und dem körneressenden Einsiedler, der Liebe und Gewaltfreiheit predigt, gab es in der anarchistischen Bewegung so ziemlich jeden denkbaren Typus. Eines allerdings lässt sich klar sagen: Der berühmte Typ des Verschwöreranarchos, der sich voll Hass aufmachte, einen König in die Luft zu sprengen und glaubte, der Staat würde dadurch zusammenbrechen und die Anarchie kraftvoll erblühen, starb praktisch schon im 19. Jahrhundert aus.

Diese sogenannte »Propaganda der Tat« war nur eine unter den zahllosen Aktionsformen, die der Anarchismus hervorgebracht hat – eine relativ kurzlebige obendrein. Zuvor haben Anarchisten an Volksaufständen teilgenommen und Geheimgesellschaften gegründet, Arbeitervereine aufgebaut, Bibliotheken und Schulen eingerichtet. Tauschbanken und Konsumgenossenschaften gehörten genauso zu ihrem Repertoire wie Zeitschriften, Theater und Gesangvereine – ebenso Bankräuber, die sich stolz »Expropriateure«* nannten und brav jeden Pfennig bei ihren politischen Organisationen ablieferten, oder Volksaufklärer, die mit dem Esel von Dorf zu Dorf zogen, den Menschen das Alphabet beibrachten und ihnen das Nahen der Anarchie verkündeten.

In späteren Jahren kamen unter dem Namen »Anarchosyndikalismus« verstärkt die Gewerkschaften ins Spiel, mit deren Hilfe Anarchisten eine freie Gesellschaft mit libertärer Wirtschaft aufbauen wollten – was sie in Spanien für kurze Zeit auch tatsächlich schafften. Aus Volksaufständen entwickelte sich andernorts die Taktik der Guerilla, die auch von Anarchisten genutzt wurde und vorübergehend in der Lage war, die Staatsgewalt zu besiegen und größere Gebiete zu befreien. Erst viel später sollte die Guerillabewegung, unter kommunistischem Vorzeichen zur reinen Taktik der Machteroberung degradiert, als Mittel der Befreiung grandios scheitern. Seit den Tagen Tolstois und den Taten Gandhis setzte sich in anarchistischen Kreisen vermehrt die Form des »zivilen Ungehorsams« durch, die eine besonders scharfe Waffe im Fundus des »gewaltfreien Aktions-Anarchismus« darstellt. Nach Studentenrevolten, autonomen Arbeiterkämpfen und heftigem Widerstand gegen Atomstaat, Militarismus und Mietspekulation begannen Anarchisten in den letzten Jahrzehnten verstärkt mit dem Aufbau konkreter »Projekte«. Diese Modelle allgemeiner Selbstverwaltung sollen im sozialen Alltag der Menschen verankert sein, ohne sich vom herrschenden System vereinnahmen zu lassen. Solche ›vorweggenommenen Utopien‹ versuchen, indem sie sich gegen die Staatsgesellschaft wenden, zugleich Experimentierfeld für eine nichtstaatliche Gesellschaft zu sein.

Grundzüge anarchistischer Aktion

Ein typisches Kennzeichen anarchistischen Vorgehens ist die »direkte Aktion«. Anarchisten lieben gerade Wege und misstrauen Winkelzügen. Die Betroffenen wenden sich daher mit Vorliebe direkt gegen die Verursacher ihres Problems, meist mit sehr wirkungsvollen Aktionen. Wo die einen Unterschriften gegen Wohnungsnot sammeln, würden Anarchisten eher ein leerstehendes Haus besetzen – der Prototyp einer direkten Aktion. Die Frage, ob ein solches Handeln legal oder illegal ist, pflegen Anarchisten mit unbekümmertem Lachen zu ignorieren: Für sie steht menschliche Ethik über formalem Recht. Wenn jemand nichts zu essen hat, muss er sich Brot nehmen, auch wenn das Gesetz das Eigentum vor dem Hungrigen schützt. Direkte Aktionen können gewaltfrei oder militant sein, lustig, symbolisch oder unerhört praktisch; sie können von einem Menschen durchgeführt werden oder von zehntausend – immer haben sie zwei entscheidende Vorteile: sie führen in der Regel ohne Umschweife zum Ziel und werden von den meisten Menschen sofort verstanden, eben weil sie direkt sind.

Spontaneität ist ein weiteres Merkmal anarchistischer Aktion. Sie ergibt sich aus der Direktheit der Betroffenen, der dynamischen Kraft der Empörung und der Lust an ungewöhnlichen Formen fast von selbst. Das Fehlen von Institutionen, Apparat und Bürokratie bei den Anarchisten erleichtert spontanes Handeln. Langweilige Entscheidungsfindung durch viele Instanzen oder biedere Vereinsmeierei sind in anarchistischen Kreisen sehr ungewöhnlich. Viel lieber wird einer spontanen und originellen Idee der Vorzug vor verkrusteter Routine gegeben. Spontan sein kann man alleine ebensogut wie in der Gruppe, und letztendlich ist jeder Mensch frei, so zu handeln, wie er es gegenüber seinen Überzeugungen und seinen Mitmenschen verantworten kann.

Das ist natürlich ein heikler Punkt. Was ist, wenn Schüler mal ›ganz spontan‹ ihre Schule anzünden? Möglich, dass bei diesem Gedanken so manches Pennälerherz höher schlägt, aber das wäre weder eine direkte noch eine spontane Aktion im anarchistischen Sinne – dem steht ein dritter libertärer Grundsatz entgegen: die »Anwesenheit des Ziels in den Mitteln«. Das, was man erreichen will, muss auch in der Wahl der Mittel zum Ausdruck kommen. Freiheit kann nicht mit unfreien Methoden erreicht werden, Wahrheit nicht durch Folter, Glück nicht durch Zwang und Friede nicht durch Krieg. Das ist ein hoher moralischer Anspruch, und Anarchisten haben in der rauen sozialen Wirklichkeit damit auch zu allen Zeiten ihre Schwierigkeiten gehabt. Kann man seinen Gegner besiegen, ohne ihm weh zu tun? Wie sollte ein anarchistischer Milizionär im spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten kämpfen, wenn nicht mit dem Gewehr? Wohl kaum mit schönen Worten und einem Blümchen in der Hand – obwohl die Idee an sich so absurd wiederum auch nicht ist, denn dass mit gewaltfreien Mitteln Revolutionen gewonnen wurden und Armeen besiegt, dafür gibt es in der Geschichte ebensogut Beispiele wie für den Sieg durch das Gewehr. Trotzdem haben die Anarchisten in der Spanischen Revolution richtig gehandelt, als sie kämpften. Das Problem liegt woanders. In der Tragik nämlich, dass anarchistische Bewegungen sich meistens die Form ihrer Aktion nicht aussuchen können – sie wird ihnen aufgezwungen. In Spanien begann die Revolution mit einem gewaltsamen Putsch der Faschisten, nicht der Anarchisten …

Nichts ist unanarchistischer als eine Armee, Krieg und Töten. Aber meist ließ die Geschichte den Anarchisten nicht die ›Wahl der Waffen‹. Um so mehr Grund für sie, auf diesem schwierigen Prinzip der Anwesenheit des Ziels in den Mitteln zu beharren und es immer dort, wo sie die Formen der Aktion bestimmen können, zu beherzigen.

Zwischen Empörung, direkter Aktion, Spontaneität und der Vision einer freien, menschlichen und gewaltlosen Gesellschaft gibt es kein besseres Regulativ.

Kapitel 6

Kritik am Staat

»Der Staat ist eine Abstraktion,die das Leben des Volkes verschlingt –ein unermesslicher Friedhof, auf demalle Lebenskräfte eines Landes großzügigund andächtig sich haben hinschlachten lassen.«

— MICHAIL BAKUNIN —

WAS SOLL AM STAAT denn schon so schlimm sein, dass die Anarchisten sich derart in ihn verbeißen? Sicher, der Staat engt mich irgendwie ein, Politiker lügen, korrupte Beamte gibt es auch; das Finanzamt ist ein Raubritternest und die Armeen verpulvern unsere Steuergelder. Aber der Staat baut auch Straßen, sorgt für Schulunterricht und Sozialhilfe – und wenn ich alt bin, hält er für mich meine Rente bereit. Leiden die Anarchisten vielleicht unter einer Staatspsychose, dass sie ihn für die Ursache allen Übels halten?«

Solche Argumente sind jedem Anarchisten geläufig. Kaum jemand liebt den Staat, viele schimpfen über ihn, und leicht stimmt der Normalbürger auch mal einem Anarcho zu, wenn er gegen diese oder jene Schweinerei wettert. Doch dann kommt stets das große »Aber …« und das bedeutet meist nichts anderes als: »Es könnte ja alles noch viel schlimmer sein.« Die glühenden Patrioten sind heutzutage fast ausgestorben; moderne Staatsbürger haben stattdessen eine »negative Identifikation« mit dem Staat, und diese Hassliebe ist zäh und schwerer zu erschüttern als der hohle Nationalismus vergangener Epochen – ein Phänomen, das Anarchisten übrigens oft unterschätzen.

Nun ist ja die unbestreitbare Tatsache, dass alles noch schlimmer sein könnte, kein Grund, nicht dafür einzutreten, dass alles noch besser werden sollte. Eben das versuchen Anarchisten, wobei sie ständig an Grenzen stoßen, die der Staat setzt. Sie haben dabei übrigens oft festgestellt, dass es auch mit den positiven Seiten staatlichen Engagements nicht immer weit her ist.