Anderland - Ingo Zamperoni - E-Book

Anderland E-Book

Ingo Zamperoni

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Beschreibung

2017 war eine Zäsur in der Geschichte der USA. Wie schnell ändern sich durch eine Regierung, die die Regeln des politischen Miteinanders bricht, das ganze Land und seine Leute? Wie vereinigt sind die Staaten noch? Ingo Zamperoni war stets ein Fan der USA und kennt das Land in all seinen Facetten. Aber als kritischer Beobachter fragt er sich: Wie stabil kann dieses urdemokratische Gemeinwesen  bleiben, wenn sein oberster Repräsentant an der Grenze des Asozialen agiert? Wie schnell verschwinden Toleranz, Rücksichtnahme und Freundlichkeit aus einer Gesellschaft, wenn dem Staatslenker diese Werte nichts zu bedeuten scheinen? Wie groß ist die Hoffnung noch, Amerika werde "great again"? In persönlichen Begegnungen und Betrachtungen erlebt Ingo Zamperoni ein Land, das er vor kaum mehr als einem Jahr verlassen hat, das ihm immer fremder erscheint ‒ und in dem die Risse sogar quer durch die eigene Familie gehen. Er schildert seine persönlichen Eindrücke aus einem Amerika, das aus den Fugen geraten ist, und zieht Parallelen zur jüngsten Entwicklung in Deutschland.

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Das Buch

Ingo Zamperoni zeichnet ein präzises Bild der Stimmungslage in den USA. Er trifft leidenschaftlich engagierte Oppositionelle, begegnet Einwanderern, die sich durch die neue Regierung bedroht fühlen, und fragt Grenzbewohner nach Sinn und Unsinn eines Mauerbaus. Er spricht mit glühenden Trump-Anhängern, die keineswegs enttäuscht sind von einem Präsidenten, der alle Konventionen über Bord wirft, und ihre Hoffnung, Amerika werde »great again«, jedenfalls noch nicht enttäuscht hat. Aber wie konnte es passieren, dass die etablierten Politiker einen Gutteil der amerikanischen Wähler offenbar völlig aus den Augen verloren haben? Wie stabil kann dieses urdemokratische Gemeinwesen unter Trump bleiben? Wie schnell verschwinden Toleranz und Anstand aus einer Gesellschaft, wenn das Handeln des Präsidenten regelmäßig nicht diesen Werten entspricht? Wie vereinigt sind die Staaten noch? Der langjährige USA-Beobachter Ingo Zamperoni beschreibt in seinem neuen Buch mit vielen persönlichen Einblicken ein Amerika, das ihm zunehmend fremder erscheint. Und zieht Parallelen zur jüngsten Entwicklung in Deutschland.

Der Autor

Ingo Zamperoni, geboren 1974, studierte Amerikanistik, Geschichte und Jura. Ein Fulbright-Stipendium führte ihn zum Auslandsstudium nach Boston. Nach dem Master arbeitete er unter anderem in Washington und als Inlandskorrespondent für die ARD, später moderierte er das Nachtmagazin. Von 2014 bis 2016 berichtete er aus den USA als ARD-Auslandskorrespondent, seit Herbst 2016 moderiert er im Ersten die Tagesthemen. Er lebt mit seiner amerikanischen Frau und den drei Kindern in Hamburg. Sein Buch Fremdes Land Amerika wurde ein Bestseller.

INGO ZAMPERONI

ANDERLAND

Ullstein

Die Namen mancher im Buch erwähnter Personen wurden zum Schutz der Privatsphäre geändert.

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ISBN 978-3-8437-1724-3

© 2018 Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinLektorat: Jan Martin OgiermannUmschlaggestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, MünchenUmschlagabbildungen: © Carolin Saage (Porträt),© RiverNorthPhotography /Getty Images

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für AHL

»Nicht immer werden aufgeklärte Staatsmänner am Ruder sein.«

James Madison, Vierter Präsident der Vereinigten Staaten, Architekt des Systems der Checks and Balances und Verfasser der Bill of Rights

Inhalt

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

Widmung

Motto

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Prolog

1 Der Schock

2 Der Sumpf

3 Anderland

4 Alternative Fakten

5 Die Mauer

6 Der Widerstand

7 Die Aussicht

Epilog

Dank

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Der Amerikaner, der dicht neben mir am Rande der vollbesetzten Stuhlreihen stand, klatschte, so laut er konnte. Vielleicht war er wirklich begeistert, vielleicht wollte er aber auch nur akustisch den bizarren Umstand übertünchen, dass der Applaus für den Redner, der keine zehn Meter vor uns auf der Bühne stand, nicht mal mehr höflich ausfiel. Aber so laut mein Nachbar auch jedes Mal klatschte, wenn sich eine entsprechende Gelegenheit dazu bot, es konnte die mitunter fast schon gespenstische Zurückhaltung im Großen Saal des Hotels »Bayerischer Hof« nicht ausgleichen. Zwar redete dort gerade der zweithöchste Vertreter eines der wichtigsten Verbündeten Deutschlands und Europas vor der versammelten Münchner Sicherheitskonferenz 2019. Aber die entgeisterten Blicke, die sich viele im Saal zuwarfen, während US-Vizepräsident Mike Pence seine Sicht der Dinge vortrug, sprachen Bände.

Diese Stimmung stand im starken Kontrast zu jener, die kurz zuvor noch im Saal geherrscht hatte, als Bundeskanzlerin Angela Merkel eine ihrer wohl leidenschaftlichsten außenpolitischen Reden hielt – was viele am Schluss sogar zu standing ovations aus ihren Stühlen gerissen hatte. Merkel hatte gelöst gewirkt, engagiert, so, als wolle sie noch mal »einen raushauen«, lautete das erstaunte allgemeine Credo auf den Gängen während der anschließenden Kaffeepause. Die Rede war eine außenpolitische Tour d’Horizon gewesen, in der Merkel fast alle aktuellen Problemfelder abhakte: von der Beziehung zu Russland, dem Streit um die Nord Stream 2-Pipeline, die Lage in der Ukraine bis zu den Handelskonflikten mit China, der Entwicklungshilfe in Afrika oder der Debatte um Rüstungsausgaben in der NATO. Auch die USA nahm sich Merkel überraschend deutlich zur Brust: Selbstbewusst zählte sie auf, was Deutschland alles leiste und bei welchen Missionen es Verantwortung übernehme, kritisierte den einseitigen Ausstieg aus dem Atom-Abkommen mit dem Iran und machte sich, zur allgemeinen Erheiterung, über die Einschätzung der Trump-Regierung lustig, deutsche Autos stellten eine Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA dar. Und sie lieferte ein klares Plädoyer für Zusammenarbeit und Multilateralismus, der nicht »immer toll, sondern schwierig, langsam und kompliziert« sei, aber besser als die simple Ansicht, »alle Dinge allein lösen zu können«.

Ganz anders dagegen dann Mike Pence, der sich zunächst gar nicht ans Publikum zu richten schien, sondern an seinen Boss in Washington. Jedenfalls überbot er sich in Huldigungen an Donald Trump, diesen »Champion der Freiheit«, unter dessen Präsidentschaft »Amerika die freie Welt einmal mehr anführt«. Mit stoischer, fast regungsloser Miene kritisierte Pence die EU scharf für ihr Festhalten am Atom-Abkommen mit dem Iran. Er postulierte einen kompromisslosen Führungsanspruch der USA im Wettbewerb der Nationalstaaten und forderte warnend Gefolgschaft ein: »Wir können nicht die Verteidigung des Westens sicherstellen, wenn unsere Verbündeten sich vom Osten abhängig machen.«

Dies mag dem Claqueur neben mir gefallen haben, ansonsten aber herrschte hauptsächlich Stirnrunzeln im Publikum. Hatte da wirklich gerade der amerikanische Vizepräsident, der zwei Jahre zuvor an selber Stelle noch die Bedeutung der NATO unterstrichen hatte, die jahrzehntelange Unverbrüchlichkeit dieses Bündnisses an Bedingungen geknüpft?

Einen deutlicheren Beweis für das derzeitige Missverhältnis zwischen den USA und uns Europäern als den Unterschied zwischen diesen beiden Auftritten hätte es wohl kaum geben können. Oder, wie es Thomas Wright in seinem am 19. Februar 2019 im Magazin The Atlantic erschienenen Artikel The Moment the Transatlantic Charade Ended zuspitzte: »Europa und die Regierung Trump haben aufgehört, so zu tun, als würden sie einander respektieren. Zwei Jahre lang haben wir eine transatlantische Scharade erlebt. Jeder wusste, es gibt Probleme, aber öffentlich beteuerten alle, alles sei im Grunde wie früher. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz (…) war Schluss mit dieser Farce.«

Keine Frage, das transatlantische Verhältnis steckt in einer Krise. Statt sich zusammenzuraufen und gemeinsam Antworten zu suchen auf die Herausforderungen, die der Aufstieg nationalistischer und autoritärer Strömungen weltweit darstellt, und statt gemeinsame Wege im Umgang mit Russland oder China zu finden, wächst das Misstrauen. Trumps impulsives Agieren in der Außenpolitik hat die Karten neu gemischt. Die Weltordnung, die die USA im 20. Jahrhundert so entscheidend geprägt haben – wirtschaftlich wie sicherheitspolitisch –, löst sich auf. Fundamentale Pfeiler verschieben sich; vieles, was Jahrzehnte verlässlich war, gilt plötzlich nicht mehr. Wie nachhaltig und fundamental diese Veränderung ist, wird sich erst nach Trumps Präsidentschaft zeigen. Aber nach mehr als der Hälfte seiner ersten Amtszeit zeigt sich bereits eine ganze Reihe von Schäden, die mehr als nur oberflächliche Kratzer darstellen.

Gleichzeitig hat Trumps unkonventionelle Art aber auch Bewegung in bestimmte Themenfelder gebracht. Auch wenn der zweite Gipfel mit Nordkoreas Machthaber Kim Jong-Un ergebnislos und vorzeitig zu Ende ging, immerhin findet ein Dialog statt. Die permanente Forderung nach höheren Verteidigungsausgaben an die NATO-Partner mag nervig sein, führt aber zu notwendigen Investitionen, die bei uns allein schon für die grundsätzliche Einsatzbereitschaft der Bundeswehr dringend geboten sind. Und sich aufgrund der Veränderung im transatlantischen Verhältnis mehr Gedanken über die eigene Verantwortung, über unsere Rolle in der Welt machen zu müssen, muss auch nicht das Schlechteste sein.

Hinzu kommt: Aus Sicht der konservativen, republikanischen Basis in den USA, auf die allein Trump ja seine komplette Politik auszurichten scheint, ist diese Präsidentschaft bislang alles andere als desolat verlaufen. Die US-Wirtschaft boomt, der Aktienmarkt verzeichnet Rekordstände, die größte Steuerreform seit Jahrzehnten ist durch den Kongress, bereits zwei konservative Richter sind auf Lebzeiten im Supreme Court nachbesetzt worden. Trump mag landesweit so niedrige Zustimmungswerte haben wie kaum einer seiner Vorgänger, unter den Republikanern aber liegen sie mittlerweile bei fast neunzig Prozent, wie das Gallup-Institut im Februar 2019 angab.

Zwar regt sich der Widerstand im liberalen, demokratischen Lager – die Rückeroberung der Mehrheit im Repräsentantenhaus bei den Mid-Term-Kongress-Wahlen 2018 und die ungewöhnlich frühe Positionierung so vieler Präsidentschaftsbewerber, vor allem so vieler Frauen, sind die deutlichsten Anzeichen dafür. Und wer weiß, was die Ermittlungen des Sonderbeauftragten Robert Mueller noch bewirken werden. Dennoch sehe ich die Chancen für Donald Trumps Wiederwahl 2020 höher als jene für eine Abwahl. Warum das so ist und was diese Präsidentschaft längerfristig mit der amerikanischen Gesellschaft und Politik macht, welche Stimmung in der Hauptstadt Washington einerseits und im Land andererseits herrscht, darum geht es in diesem Buch. Und darum, welche Folgen das alles für uns in Deutschland und Europa hat, welche Schlüsse wir daraus ziehen müssen. Natürlich ist es unmöglich, die ständigen, erratischen Wendungen und Entwicklungen dieser US-Regierung zu berücksichtigen. Selbst Tageszeitungen kommen da kaum mit. Aber die grundlegenden Auswirkungen, die Veränderungen, die Gründe für Spaltung und Konfrontation lassen sich klar und losgelöst von den neuesten Ereignissen nachzeichnen. Deshalb bleibt auch diese Taschenbuchausgabe von Anderland so aktuell. Weil sie versucht zu verstehen, was da grundsätzlich auf der anderen Seite des Atlantiks gerade passiert, ohne dass die Leserinnen und Leser Verständnis dafür entwickeln müssen. In diesem Sinne wünsche ich spannende Lektüre.

Prolog

»I don’t fucking believe it.« In ihrer Stimme schwingt neben einer Mischung aus Unglauben, Empörung und Ärger vor allem eins mit: Panik. Ich glaub es einfach nicht! Was zum Teufel passiert hier gerade? Es ist dieselbe Frage, die auch ich mir gerade stelle. Und ich habe keine Antwort.

Meine Frau war teils aus beruflichen, teils aus persönlichen Gründen eigens nach New York gereist, damit sie den historischen Moment live miterleben konnte. Der spektakuläre Rahmen: das Javits Center direkt in Midtown Manhattan am Ufer des Hudson, mit Blick auf die legendäre Skyline von New York City. In die imposante Glas- und Stahlkonstruktion hatte Hillary Clinton zu ihrer Wahlparty geladen, um vor Tausenden von Mitstreitern, Anhängern und Journalisten aus aller Welt den erwarteten Wahlsieg zu feiern. Der Ort mit all den transparenten Wänden und Decken war bewusst gewählt, die Anspielung nicht zu übersehen: Clinton würde heute Abend die sprichwörtliche gläserne Decke durchbrechen und die erste Frau in diesem mächtigsten Amt der Welt werden – der ultimative Höhepunkt ihrer so wechselvollen Karriere. Nach diesem epochal neuen Kapitel in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika hatte es den ganzen Wahltag über noch ausgesehen, die Umfragen hatten bis zuletzt einen Clinton-Sieg vorausgesagt. Die Stimmung in der Menge war entsprechend zuversichtlich, Katy Perry hatte gesungen, die Leute hatten getanzt.

»Das glaube ich verdammt noch mal nicht«, sagt meine Frau nun mit bebender Stimme ins Telefon und wiederholt ihre Frage: »Wie ist das möglich?« Sie hatte gerade noch eine Runde durch die Menge im Javits Center gedreht und plötzlich gespürt, dass etwas nicht stimmt, hatte gemerkt, dass die greifbare Zuversicht in nervöses Unbehagen und Verunsicherung kippt, als auf der gigantischen Leinwand das erstrahlt, was auch ich knapp vierhundert Kilometer weiter südlich im ARD-Studio Washington, erst einmal erfassen muss: Donald Trump hat soeben Ohio gewonnen. Ohio! Der klassischste aller swing states, weil er in seiner Durchschnittlichkeit eine Art Mikrokosmos der USA darstellt. Seit 1964 hat Ohio immer für den späteren Wahlsieger gestimmt. Obwohl Trump dort in Umfragen vorne lag, hatte sich das Clinton-Lager in diesem Staat etwas ausgerechnet.

Es ist der Abend des 8. November 2016, kurz vor 22 Uhr 30 Ostküstenzeit. Vor knapp viereinhalb Stunden haben die ersten Wahllokale geschlossen. Und zunächst ist alles wie erwartet verlaufen. Clinton hat einige der sogenannten blue states – sichere Lager für die Demokraten – gewonnen: Vermont, Massachusetts, New York. Trump hat eisern republikanische red states geholt: Texas, South Carolina, Kentucky. Doch entscheidende Staaten wie Florida bleiben nervenaufreibend lange too close to call – dort laufen Kopf-an-Kopf-Rennen, denn noch sind nicht alle Wahlkreise ausgezählt. In den drei wichtigen Staaten von Hillary Clintons sogenannter fire wall – Pennsylvania, Wisconsin und Michigan – war für einen früheren Zeitpunkt mit Klarheit gerechnet worden. Sie hatte dort in den Umfragen stets äußerst komfortabel vorne gelegen – so komfortabel, dass sie in der Endphase des Wahlkampfs im seit Jahren demokratisch wählenden Wisconsin kaum noch Geld für Wahlwerbespots ausgegeben hatte und dort auch nicht mehr aufgetreten war.

Doch die »Brandmauer« droht zu bröckeln. Mit jeder Minute, die verstreicht, pocht von tief unten ein dumpfes Gefühl herauf, erst verschwommen, dann immer heftiger und nicht mehr unterdrückbar: Er könnte gewinnen.

Er. Könnte. Tatsächlich. Gewinnen.

Unfassbar. Und jetzt also steht fest: Trump hat mit Ohio eine Herzkammer des rust belt, des Industriegürtels im Mittleren Westen der USA, eingenommen. Ein Omen?

»Naja, sieh es mal so«, versuche ich meine Frau zu beruhigen, »solange er nicht auch Pennsylvania und die anderen wichtigen Staaten im Mittleren Westen gewinnt, müsste es trotzdem reichen.«

»Aber er liegt dort überall vorne …«

»Schon, aber die ländlichen, dünn besiedelten Wahlkreise zählen immer schneller aus, und natürlich liegt Trump daher jetzt ein paar Prozentpunkte in Führung. Warte mal ab, bis etwa in Pennsylvania die liberaleren, jüngeren Wahlkreise in den Städten dazukommen … Pittsburgh, Philadelphia. Dann sieht das schon ganz anders aus.«

»Ich weiß nicht. Hier ist gerade völlig die Luft raus …«

Mit einem Knoten im Magen legen wir auf. Ich starre wieder gebannt auf den Fernseher.

Dabei hatte der Tag so unverfänglich begonnen. Es ist einer jener goldenen Spätherbsttage, die typisch für die amerikanische Ostküste sind, mit zwar frischen Temperaturen, aber strahlend blauem Himmel. Wir waren frühmorgens noch vor der Schule zusammen mit den Kindern wählen gegangen. Meine Frau gab ihre Stimme im Gemeindesaal einer alten Kirche ab, die mit einem großen Plakat im Vorgarten damit wirbt, dass sonntags eine Rockband die Messe begleitet. Der in den USA stets an einem Dienstag mitten in der Woche liegende Wahltermin ist sehr unpraktisch für die arbeitende Bevölkerung und eine der vielen anachronistischen Traditionen aus den Anfängen dieses Landes, an denen die Amerikaner unbeirrbar festhalten – ein Erbe der Puritaner: Sonntag ist der Tag des Herrn, also tabu, Montag war im landwirtschaftlichen Amerika des 18. und 19. Jahrhunderts Anreisetag zu den Wahllokalen in den entfernten Kreisstädten. Also Dienstag, und zwar immer der nach dem ersten Montag im November.

Die Kinder hatten gespürt, dass es ein besonderer Tag war. Washington ist logischerweise ohnehin eine sehr politisierte Stadt; und dem gigantischen Zirkus, den so ein fast zweijähriger Präsidentschaftswahlkampf bietet, konnten auch sie sich nicht entziehen. Besonders die zahlreichen Vorwahlen, in denen fast jede Woche ein anderer Staat über die jeweiligen Kandidaten der Parteien abstimmte, hatten sie fasziniert. Sie sahen es wie einen sportlichen Wettkampf, wie Olympische Spiele, mit den Kandidaten als Athleten. »Wer hat diesmal gewonnen?«, fragten sie morgens gleich als Erstes. Besonders meine ältere, damals achtjährige Tochter war Feuer und Flamme für die erste weibliche Präsidentschaftskandidatin der USA. Sie mochte das T-Shirt, das ihre Mutter am Election Day trug, mit dem Aufdruck »Vote for the girl!« – »Gib dem Mädchen deine Stimme!«. Allein deshalb hätte meine Frau gerne Hillary Clinton als Präsidentin gesehen: als deutliches Signal für die nächste Generation starker amerikanischer Frauen. Meine Älteste durfte dann sogar den Wahlzettel in die Urne werfen und trug für den Rest des Tages stolz einen »I voted«-Aufkleber (»Ich habe gewählt«) auf dem Pullover.

Nachdem wir die Kinder in die Schule gebracht hatten, machte sich meine Frau auf den Weg nach New York zu besagter Wahlparty, während ich zu meiner Redaktion ins ARD-Studio fuhr. Zwei Wochen zuvor hatte ich in Hamburg meinen neuen Job als Moderator der Tagesthemen begonnen. Den Schlusspunkt dieses wohl verrücktesten, unwahrscheinlichsten und bizarrsten Wahlkampfs in der Geschichte der USA, den ich von Anfang an als Korrespondent begleitet hatte, musste ich aber zum Glück nicht aus der Ferne beobachten, denn wir hatten die gesamte Sendung nach Washington verlagert.

An diesem sonnigen Dienstag senden wir also um 16 Uhr 15 Ortszeit – 22 Uhr 15 deutscher Zeit – die gesamte halbe Stunde Tagesthemen live vom Dach eines Bürogebäudes gegenüber dem Weißen Haus – vor spektakulärer Kulisse und mit ungestörtem Blick auf das Zentrum der Macht.

Direkt neben uns hat der Nachrichtensender CNN seine Kameras aufgebaut, und die Kollegen machen jetzt das, was kaum jemand so gut beherrscht wie amerikanische Fernsehjournalisten: Sendezeit füllen. Als ich zwischen zwei Ablaufproben mit dem Aufzug vom Dach hinunter ins Foyer des Gebäudes fahre, steigt im letzten Augenblick der CNN-Anchorman Jake Tapper hinzu. Wir sind uns vor einigen Monaten schon einmal über den Weg gelaufen – beim Abholen unserer Kinder. Meine jüngere Tochter ging in dieselbe Kita wie sein Sohn. Ich begrüße ihn, und in typisch amerikanischer Profimanier grüßt er sofort zurück: »Ach ja, na klar. Wie geht’s denn so?« Unheimlich höflich, aber es ist offensichtlich, dass er sich nicht die Spur an mich erinnert. Wofür ich vollstes Verständnis habe. Unsere Begegnung war sehr flüchtig, und vor allem: Wir alle haben heute den Kopf wahrlich voll mit anderen Dingen.

»Und, Jake, was meinst du?«

»Tjaaa …« Ein vielsagender Blick. »Das wird interessant. Wir werden sehen.«

Und wie wir sehen sollten.

In den Tagesthemen schalten wir zu meinem Kollegen Stefan Niemann, der sich ebenfalls nach New York ins Javits Center aufgemacht hat. Man sei dort durchaus angespannt, aber letztlich guter Dinge, sagt er, man bereite sich auf eine rauschende Party vor. Das ist am Nachmittag vor Schließung der Wahllokale. Über das Endergebnis würden wir erst in der Sendung am nächsten Tag berichten können.

Im ARD-Studio bereiten wir diese Nachwahlsendung bereits vor. Wir versuchen dabei zwar, alle Eventualitäten abzudecken, aber ehrlich gesagt ist der Ablauf mit den geplanten Beiträgen, Schalten und Expertengesprächen auf einen Clinton-Sieg ausgerichtet. Daran ändert sich zunächst auch nichts, als über die Fernseher erste Ergebnisse einlaufen.

Auch jetzt nicht, nach Ohio. Ich schaue in die Runde der angereisten Kollegen aus Hamburg und erzähle mit Blick auf die restlichen Staaten dasselbe, was ich schon meiner Frau erzählt hatte. Doch dann, keine Stunde nach Ohio, breaking news: Trump holt Florida! Und jetzt zeichnet sich sein Weg zu den erforderlichen 270 Wahlmännerstimmen sehr viel klarer ab als der von Hillary Clinton.

Ungläubige Blicke überall im Studio. Die verantwortliche Redakteurin für die morgige Sendung, Bettina Winter, reagiert pragmatisch: »Ich schätze, wir müssen umdenken und ganz andere Stücke bestellen.« Die übrigen Redakteure ahnen zu diesem Zeitpunkt schon, dass sie recht behalten wird. Trotzdem tun sich alle schwer damit, das zu akzeptieren. Wir basteln einen alternativen Sendeablauf, schauen noch ein wenig den TV-Kommentatoren zu, die größtenteils selbst nicht zu fassen scheinen, was da gerade geschieht. Dann mache ich mich auf den Weg nach Hause. Morgen wird ein langer Tag.

Auf dem Heimweg lasse ich bewusst das Radio aus, um kurz innerlich abzuschalten. Als ich nach Mitternacht die Haustür aufschließe, läuft natürlich der Fernseher. Die Babysitterin ruft mir zu, Trump liege jetzt in Pennsylvania ziemlich deutlich vorne. Beim Verabschieden sagt auch sie das Wort, das ich an diesem Abend wohl am häufigsten höre: »unbelievable« – »unglaublich«.

Natürlich kann ich nicht schlafen und sitze hellwach vor dem Bildschirm. Kurz vor halb zwei ist es so weit: Pennsylvania geht tatsächlich ebenfalls an Trump. In Deutschland wachen die Menschen gerade in dieser neuen Realität auf. Als eine halbe Stunde später Hillary Clintons Wahlkampfmanager John Podesta vor die verunsicherte Menge im Javits Center tritt, um die Party abzublasen und alle nach Hause zu schicken, gesteht er damit die Niederlage ein. Ich erreiche meine Frau nicht, kann mir aber vorstellen, wie ihr gerade zumute ist.

Gegen 2 Uhr 45 tritt Trump im New Yorker Hilton Midtown Hotel vor die siegestrunkene, euphorische Menge. President-elect Donald Trump. President Donald J. Trump. Er winkt seinen Anhängern zu. »Sorry to keep you waiting. Complicated business.« – »Tut mir leid, dass ich euch warten ließ. Komplizierte Sache.«

In der Tat. Wie, bitte schön, erkläre ich das morgen den Kindern?

1

Der Schock

Um es gleich vorwegzunehmen: Natürlich habe auch ich zu keinem Zeitpunkt mit diesem Wahlausgang gerechnet. Auch kenne ich kaum jemanden persönlich, der ernsthaft daran geglaubt hätte, dass Donald J. Trump der 45. Präsident der USA würde.

Es begann an jenem 16. Juni 2015, als Trump die Rolltreppe ins golden-marmorne Foyer seines Turms in Manhattan hinunterkam, um dem Land und der Welt zu verkünden, dass er diesmal wirklich seinen Hut in den Ring werfen würde – in einer Art und Weise, die gleich den Ton setzte für alles, was folgen sollte. Damals saß ich gerade in meinem Washingtoner Büro und twitterte: »Auweia, jetzt wird’s eng für Bush, Clinton & Co …!« Ich könnte im Nachhinein natürlich behaupten, dass ich das ernst gemeint und in weiser und fachkundiger Voraussicht gewusst hätte, was da auf uns zukommen würde; dass ich tatsächlich ahnte, welch tosender, alle Konventionen sprengender Wahlkampf über die etablierten Kandidaten und die Politik der USA hereinbrechen würde. Aber das wäre schlicht fake news. Natürlich war mein Tweet ironisch gemeint.

Diesen ruppigen ersten Auftritt empfand ich als verblüffendes und zugleich faszinierendes Spektakel. Dass Donald Trump ein gigantisches Ego hat, wusste ich schon vorher, auch, dass er gerne im Rampenlicht steht. Aber das hier versprach, den schier endlosen Präsidentschaftswahlkampf, der uns die kommenden Monate tagtäglich beschäftigen würde, interessanter und – auf ganz eigene Weise – unterhaltsamer zu machen.

Zwar hat die US-Politik schon immer schrillere, exzentrischere Typen hervorgebracht als unsere deutsche. Das amerikanische Direktwahlsystem macht es möglich, dass auch Außenseiter in die Arena treten, ganz unabhängig von einem Parteiapparat. Und ich kann mir gut vorstellen, wie in Deutschland nicht wenige den Untergang des Abendlandes befürchteten, als mit Ronald Reagan ein ehemaliger Schauspieler Präsident wurde. Aber das hier würde eine ganz andere Show werden – in der Hauptrolle ein Reality-TV-Star, der als Geschäftsmann spektakuläre Pleiten und Erfolge hinter sich hatte. Meine journalistische Neugier jedenfalls war geweckt.

Einen ersten Eindruck davon, wie anders diese bevorstehende Show sein würde, bekamen meine Familie und ich nur wenige Wochen später. Wir waren zu einer Hochzeit in Cleveland eingeladen und fuhren mit dem Auto an einem Donnerstag im August 2015 von Washington an den Erie-See – dorthin also, wo am selben Abend die erste TV-Debatte des breiten Bewerberfeldes der Republikaner stattfinden würde. Da wir zu spät losgekommen waren, würden wir es nicht rechtzeitig bis Cleveland schaffen, um den Schlagabtausch live im TV sehen zu können. Glücklicherweise fanden wir an diesem Abend – sehr zum Leidwesen unserer Kinder – einen Radiosender, der die Veranstaltung übertrug. Während wir auf dem Highway durch die Dunkelheit fuhren, wurde das Wortgefecht zu einem ganz besonderen Erlebnis, weil uns kein Gesichtsausdruck, keine Geste der Kandidaten ablenkte. Es gab nur das gesprochene Wort und das Kino im Kopf.

Verglichen mit dem, was noch folgen sollte, war diese erste Debatte fast harmlos. Aber es ging gleich ungewohnt heftig zur Sache, als Trump dem libertären Kandidaten Rand Paul mit seinen ersten Worten indirekt vorwarf, käuflich zu sein, und als er – anders als die anderen Kandidaten – das Versprechen verweigerte, keinesfalls als unabhängiger Kandidat weiterzumachen, sollte er die Nominierung durch die Republikanische Partei verpassen. Als 1992 der konservative Milliardär Ross Perot als Unabhängiger kandidierte und damit besonders George H. W. Bush Wählerstimmen abluchste, verhalf das Bill Clinton zum Sieg. Die Angst unter den Republikanern war gewaltig, dass dieser unberechenbare Außenseiter nun ausgerechnet die Clintons indirekt zurück ins Weiße Haus hieven könnte. Vor allem aber rasselte Trump mit Moderatorin Megyn Kelly zusammen, als diese ihm frühere Aussagen vorhielt, in denen er Frauen als »fette Schweine«, »Hündinnen«, »Schlampen« und »ekelhafte Tiere« bezeichnet hatte. Tags darauf würde er sich in einem Interview darüber beschweren, Kelly habe ihn mit »Blut in den Augen« angegriffen, Blut sei ihr überall, »wo auch immer«, herausgelaufen.

Mehrfach blickten meine Frau und ich uns während der Autofahrt mit diesem »Der hat doch nicht wirklich gerade …«-Ausdruck an, der uns in den folgenden Monaten schon fast zu einer Gewohnheit werden sollte. Als wir in Cleveland ankamen, war die Debatte vorbei, die Stadt aber noch in hellem Aufruhr: überall Polizeisperren, Übertragungswagen, die Busse der Delegationen. In unserem Hotel in Downtown wimmelte es nur so von Mitarbeitern der Kandidaten, die angeregt um die Deutungshoheit über diese erste Runde rangen. Wir checkten ein und hörten ringsum Wortfetzen, die unseren Eindruck bestätigten: Das wird ein brutaler Wahlkampf. Noch fast anderthalb Jahre würde dieser irre Zirkus weitergehen …

Ungewöhnliche Außenseiter sind, wie gesagt, grundsätzlich nichts Neues im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf. Schauspieler, Pizza-Ketten-Inhaber, Chirurgen, alles schon da gewesen. Weil sie ins Auge stechen, erhalten diese Kandidaten zunächst eine Menge Aufmerksamkeit, die Presse stürzt sich auf sie, was sich wiederum in hohen Umfragewerten niederschlägt. Aber normalerweise verglühen diese exzentrischen Sterne am amerikanischen Polit-Himmel genauso schnell, wie sie aufgetaucht sind, und es setzen sich die Etablierten durch, die McCains, die Romneys, die Bushs. So meinten es die Experten auch diesmal vorauszusehen. Es kam bekanntlich anders.

Was seit Donald Trumps Wahlsieg in Washington, in der amerikanischen Politik, in der amerikanischen Gesellschaft passiert – oder vielmehr: offenbar wird –, sprengt alle Vorstellungskraft. Diese Präsidentschaft ist eine tief greifende, vielfältige Zäsur. Natürlich ist das keine neue Erkenntnis. Aber die Veränderung ist teilweise so weitreichend, dass die USA in kürzester Zeit ein noch fremderes Land geworden sind, als sie es für viele zuvor schon gewesen waren. Ein rätselhaftes, immer schwerer zu verstehendes Land, das nach diesem Präsidenten ein anderes sein wird. Ein Anderland.

So gesehen, müsste ich Donald Trump fast dankbar sein. Denn seine Wahl und seine Präsidentschaft haben den Titel meines ersten Buches Fremdes Land Amerika rückblickend noch zutreffender, noch aktueller erscheinen lassen. Dessen Grundthese – die ich hier aufgreifen werde – lautet ja, dass gerade wir Deutschen gerne einer Vertrautheitsillusion verfallen, wenn es um die USA geht. Wir meinen, die amerikanische Kultur und Gesellschaft zu kennen, weil wir in Urlauben, Filmen und zahlreichen persönlichen Berichten damit in Berührung gekommen sind. Tatsächlich aber sind die Amerikaner doch in vielem sehr anders. Und gerade, wenn man glaubt, zu wissen, wie jemand »tickt«, entsteht eine umso größere Enttäuschung über ein in unseren Augen »befremdliches« Verhalten des anderen. Wie konnten die nur? Wie war das möglich? Die Wahl von Donald Trump ist ein Paradebeispiel dafür.

Diese Fragen schallen auch innerhalb der USA durch die Gesellschaft, aber ich habe den Eindruck, dass in Deutschland besonders viele empört waren und diese Wahl fast schon als persönliche Beleidigung empfanden. Das mag nachvollziehbar sein. Aber Donald Trump ist nun einmal ihr Präsident, nicht unserer. Mein Ziel ist es, das Bewusstsein für diese Tatsache und für die Andersartigkeit Amerikas weiter zu schärfen, indem ich berichte, wie ich das Phänomen Trump erlebt habe und bis heute erlebe. Und vielleicht dabei zu helfen, dieses ein Stückchen besser zu begreifen.

Falls es tröstet: Auch vielen Amerikanern ist ihr Land fremder geworden, ich würde sogar sagen, einer Mehrheit von ihnen. Nur zur Erinnerung: Zwar holte Donald Trump in absoluten Zahlen mehr Stimmen als je ein republikanischer Kandidat vor ihm, aber am Ende hatte Hillary Clinton im popular vote dennoch fast drei Millionen Stimmen Vorsprung. Noch nie wurde jemand mit einem größeren Stimmenrückstand Präsident. Aber so ist nun einmal das Wahlsystem in den USA mit seinem Winner-takes-all-System, das kleinere Bundesstaaten vor der Übermacht größerer schützt – das muss man akzeptieren, und es war auch nicht das erste Mal, dass es diese Auswirkung hatte. Wäre es anders herum ausgegangen, hätten wir uns sicher nicht beschwert.

Doch welche Konsequenzen für die USA und die Welt hat die Präsidentschaft Trumps, hat diese Phase des (Um-)Bruchs? Was macht er mit dem Land? Und wie geht das Land damit um? Was passiert jenseits der schrillen Töne und seiner »Twitterhö«? Wie steht es um die amerikanische Gesellschaft, welcher Schaden entsteht dort gerade? Und welche Auswirkungen hat das auch auf uns? Müssen wir uns ernsthaft Sorgen machen oder dürfen wir ein wenig gelassener bleiben, statt beinahe täglich vor Aufregung zu hyperventilieren?

Manches halte ich in der Tat für nicht ganz so dramatisch, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Andere Dinge liegen auch gar nicht an Trump selbst, er wirft nur das Schlaglicht auf ohnehin ablaufende Prozesse. Doch es gibt diese grundsätzlichen tektonischen Verschiebungen und gravierende, oft von Trump noch weiter geöffnete Risse in der Gesellschaft, die mich in vielerlei Hinsicht überrascht und verwundert haben. Vieles, was ich nicht für möglich gehalten habe, ist eingetreten.

Keine Frage, wir leben in bewegten Zeiten. Dass mich persönlich unter den jüngsten Weltereignissen aber nichts so beschäftigt hat wie die Entwicklungen in den USA, liegt auch an meinem Werdegang. Ich reise seit meiner Jugend regelmäßig in die Vereinigten Staaten, ich habe in dem Land studiert und durch meine amerikanische Frau nicht nur Freunde, sondern auch Familie dort. Doch selbst diesen privaten Bereich berührt die aktuelle Situation – mein Schwiegervater hat Donald Trump gewählt. Manches aus den langen Gesprächen über Politik, die ich mit ihm geführt habe, ist in dieses Buch eingeflossen.

Bevor ich auf all dies eingehe, möchte ich aber noch einmal zurückblicken und mich mit der Frage beschäftigen, mit der Hillary Clinton ihre Aufarbeitung des Geschehenen betitelte und die ihre ganze Fassungslosigkeit auf den Punkt bringt: What happened? – Wie konnte es dazu kommen? Dabei möchte ich nicht jede Wendung des Wahlkampfes noch einmal aufwärmen, denn das ist Schnee von gestern, auch wenn Trump selbst nicht müde wird, immer wieder jedem unter die Nase zu reiben, wer die Wahl gewonnen hat. Zugleich kann man sich kein Bild der aktuellen Lage in den USA machen und verstehen, was dort gerade passiert, ohne nachzuvollziehen, wie es zu diesem Ergebnis kommen konnte. Denn es gibt Gründe dafür sowie langfristige Entwicklungen und gewichtige Umstände dahinter, und vieles davon treibt den Präsidenten weiterhin an und sorgt dafür, dass sein Rückhalt an der Basis kaum schwindet. Zudem war einiges absehbar, wenn man es nur hätte sehen wollen. Denn wie impulsiv und widersprüchlich Trumps Äußerungen auch erscheinen und wie viele handwerkliche Fehler seine Politik auch prägen mögen, es wäre ein Trugschluss, bei ihm eine totale Konzeptlosigkeit anzunehmen. Eindeutig werden sein Denken und Handeln seit jeher von der Annahme gelenkt, dass Amerika vom Rest der Welt über den Tisch gezogen wird und nur eine Politik der unbeugsamen Stärke der amerikanischen Nation wieder den Respekt und die Größe verschafft, die es in seinen Augen (und denen seiner Anhänger) verdient: America first!

Was man nicht vergessen darf: Trumps Wahlsieg war eine Art Start-Ziel-Sieg. Fast von Anfang an dominierte er die Umfragen und setzte sich zunächst im eigenen Lager gegen ein breites Feld von sechzehn gestandenen und mehrheitlich erfahrenen Konkurrenten durch. Er muss also irgendetwas richtig gemacht haben. So sieht auch er es bis heute, weshalb er keine Anstalten macht, seinen Stil und seine Herangehensweise an die Dinge zu ändern. Und überhaupt – wie groß sind die Aussichten, dass ein über Siebzigjähriger sich noch groß ändert?

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